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Die Letzte

Die Zwischenpause war zu Ende.

Flinke Mädchenfüße, die noch eben gar lustig auf dem geräumigen Schulhof im Schnee herumgestampft hatten, stiegen jetzt höchst gesittet die Steintreppe zu den Klassenräumen empor. Denn Fräulein Niemann, die Oberlehrerin, hatte heute die Inspektion an der Treppe.

Aber die rosigen Mäulchen hielt selbst der ernsthafte Blick des strengen Fräulein Niemann nicht im Zaum. Das lachte und plapperte durcheinander, das steckte die blonden und braunen Köpfe zusammen in eifrigem Getuschel und biß noch einmal ganz schnell von dem Frühstücksbrot ab, das für die nächste Pause bestimmt war. Wie in einer Riesenmaikäferschachtel surrte und summte es in dem ausgedehnten roten Backsteinbau.

»Zu zweien gehen – Margot Heller, muß ich selbst die Erste erinnern!« Von einem übermütigen Kleeblatt trennte Fräulein Niemann mit energischer Hand das überzählige Blättchen.

Die braunlockige Margot, die sich nicht von ihren beiden besten Freundinnen hatte trennen können und geglaubt hatte, ungesehen hindurchzuschlüpfen, blieb mit drollig verzweifeltem Gesicht zurück. Sie mußte jetzt warten, bis wieder irgendwo die gesetzwidrige Dreizahl auftrat und sie eine Gesellin bekam. Aber merkwürdig – wo eben noch drei lachende Mädchenköpfe nebeneinander sichtbar gewesen, war der eine jetzt ganz sicher verschwunden; paarweise, wie es die Schulregel vorschrieb, knicksten die Schülerinnen an Fräulein Niemann und ihrer kleinen Arrestantin vorüber.

Margot stand wie auf Kohlen. Als Klassenerste hatte sie noch verschiedene Pflichten vor der Stunde zu erfüllen. Das Ordnungsbuch und die für die Rechenstunde notwendigen Lehrbücher auf das Katheder zu legen, nachzusehen, ob die Wandtafel unbeschrieben war, und für Ruhe in der Klasse zu sorgen. Das würde ohne sie ein schöner Lärm sein, wenn Herr Doktor Wilke etwa vor ihr die Klasse betrat.

Immer noch kein drittes Anhängsel – wie eine lange, endlose Schlange zogen die Mädchenpaare vorüber. Ob sie Fräulein Niemann bitten sollte, sie aus ihrer Haft zu entlassen?

Entschlossen hob Margot das frische Gesicht mit den strahlenden Blauaugen zur Lehrerin empor. Nein – Fräulein Niemann sah doch zu streng und unnahbar aus, das sonst ziemlich kecke Mädel wagte keine Anrede.

Endlich Schluß. Henni Paulsen, die Letzte aus Margots Klasse, die man stets allein für sich sah, schlich auch hier als Letzte still hinter den anderen her.

»Da ist ja noch eine für dich übrig, so, Margot Heller, daß ich dich nicht wieder als Dritte antreffe.« Fräulein Niemann schritt ihrer Klasse zu.

Margot warf der blassen Henni einen bitterbösen Blick zu, als ob diese etwas dafür könne. Es war aber auch eine Blamage! Sie, Margot Heller, die jetzt schon ein ganzes Jahr lang den ersten Platz behauptete, war dazu verurteilt, mit der Letzten zu gehen. Mit dieser langweiligen Tranrike, die selbst im Gehen zu schlafen schien! Kaum war Fräulein Niemann hinter der Klassentür verschwunden, als Margot ihre aufgedrängte Begleiterin ohne weiteres im Stich ließ und wie gehetzt die jetzt vereinsamt daliegenden Treppen hinaufjagte. Es gelang ihr, noch gerade vor Herrn Doktor Wilke die vierte Klasse zu erreichen.

Henni Paulsen, deren schmales, bleiches Gesicht eine leise Röte überzogen hatte, als Margot Heller, die Königin der vierten Klasse, neben ihr hergeschritten war, folgte langsam; fast noch langsamer als zuvor, so, als ob jeder Schritt ihr schwer würde, als ob sie ihn lieber herunter als hinauf gemacht hätte.

Doktor Wilke, der Ordinarius, der schon beim Eintritt ungehalten über die Lebhaftigkeit seiner Klasse gewesen war, sah unwillig auf, als sich die Tür noch einmal öffnete.

»Henriette Paulsen« – Namensabkürzungen existierten für Herrn Doktor Wilke nicht – »wirst du dich denn nie an Pünktlichkeit und Ordnung gewöhnen?«

Henni schlich mit gesenkten Blicken auf ihren letzten Platz. Tränen brannten ihr in den Augen, denn sie hatte es wohl gesehen, wie die ganze Klasse gelächelt und gekichert hatte über den häßlichen Namen Henriette, mit dem der Ordinarius sie aufzurufen pflegte.

Ihr schmales, feines Gesicht war von einem zarten Liebreiz, das weiche, silberblonde Haar floß dem etwa zwölfjährigen Mädchen in zwei schweren Flechten über den Rücken. Und als Henni jetzt endlich die hellbraunen Augen wieder zu dem Lehrer emporhob, hätte ein Arzt wohl sofort gesehen, was der Grund zu ihrem oft teilnahmlosen und schlafmützigen Wesen war. Die durchsichtige Blässe des jungen Antlitzes ließ auf starke Blutarmut schließen, auf ungenügende Ernährung und unzureichenden Schlaf. In den Volksschulen konnte man wohl öfters solche Kindergesichter sehen, die von Not und Entbehrungen daheim erzählten. Aber wie sollte hier in die höhere Töchterschule der besten Gegend Berlins, wo fast nur Kinder aus begüterten Häusern eingeschult waren, solch ein Kind der Armut kommen?

Der Rechenunterricht hatte seinen Anfang genommen. Es war eine aufregende Stunde, denn es wurde Extemporale geschrieben. Ziemlich schwere Zinsrechnung mit Bruchstrich. Mit großen Schritten marschierte Herr Doktor Wilke zwischen den Bänken einher. Da wagte keine abzugucken, oder auch nur ein kleines bißchen nach links oder rechts zu schielen. Nur Rose Waldeck, die Unverbesserliche, wisperte mit vorgehaltener Hand der hinter ihr sitzenden Intima Margot Heller zu: »Du, kommt 100 über oder unter den Bruchstrich?«

Aber ehe Margot noch irgendwelche Weisung geben konnte, hatte Doktor Wilke, dem so leicht nichts entging, schon statt ihrer geantwortet: »Rosalie Waldeck, setze dich auf das Katheder und schreibe dort weiter, und du, Margarete Heller, laß dich nicht zum Vorsagen verleiten.«

Rose und Margot, die an die Veränderung ihres Namens von Doktor Wilke schon gewohnt waren, nahmen die Sache weniger tragisch als Henni, die erst seit einem halben Jahr die Schule besuchte. Sie lächelten sich schelmisch zu, und Roses blitzenden Grauaugen gelang es sogar noch, im Vorbeigehen zum Katheder festzustellen, daß 100 fast in allen Heften über dem Bruchstrich stand.

Margot schrieb und rechnete mit heißen Wangen. Es war eine Freude zu sehen, wie schnell sie die Aufgaben begriff und die Lösung fand. Fast immer war sie als erste mit dem Exempel fertig. Mitleidig blickte sie zu Rose hin, die mit unglücklichem Gesicht auf dem Kathederplatz hockte und am Federhalter kaute. Das arme Mädel – sicher schrieb sie wieder mangelhaft. Fast überall waren die Köpfe mit den schwarzen und farbigen Haarschleifen noch eifrig gesenkt, nur hin und wieder hob sich einer entweder in stolzem Siegesbewußtsein oder in verzweifelter Aufregung. Margots Auge glitt die Reihen hinab bis zum letzten Platz.

Nanu – döste die Henni Paulsen schon wieder? Sie hatte den Kopf in die Hand gestützt und träumte vor sich hin. Fertig war die doch sicher noch nicht, dazu war sie viel zu faul und zu dämlich. Aber Margot hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken, denn Herr Doktor Wilke liebte flottes Diktieren.

Das Extemporale war beendet. Der Ordinarius hatte eingeführt, daß die Schülerinnen sich gegenseitig die Arbeiten korrigierten. Jedesmal sagte er vorher, er hoffe, daß er sich auf seine Klasse verlassen könne, daß jede ehrlich und gewissenhaft die Arbeit ihrer Nachbarin prüfen und weder wissentlich noch unwissentlich einen Fehler übersehen werde. Die vierte Klasse setzte denn auch ihren Stolz darein, die gute Meinung und das Vertrauen, das der Ordinarius ihr schenkte, zu rechtfertigen.

»Hefte an den rechten Nebenmann geben!« Doktor Wilke war früher an einer Knabenschule tätig gewesen und konnte sich zum heimlichen Vergnügen der Mädchen noch immer nicht an die weiblichen Schüler gewöhnen. Er kommandierte kurz und knapp, wie ein Feldwebel vor seinen Rekruten.

Margot Heller, die Erste, bekam das Heft von Henni Paulsen, der Letzten, zum Korrigieren. Fast entsetzt starrte sie auf Hennis Extemporale. Na, nun hörte aber alles auf! Das faule Ding hatte ja noch nicht einmal alle Aufgaben, die der Lehrer diktierte, niedergeschrieben. Die ersten drei Exempel hatte sie noch mitzurechnen geruht. Das vierte, bei dem die Zahl fünfundzwanzig eine Hauptrolle spielte, war begonnen und dann mittendrin abgebrochen. Nur ein halbes Dutzend Fünfundzwanzig waren noch sinnlos über die Seite verstreut. Es war wirklich zu toll!

Margot hob kurz entschlossen den Zeigefinger. Sie mußte den Lehrer sofort von dem Fehlen der Aufgaben in Kenntnis setzen, sonst bekam sie am Ende noch selbst einen Verweis, daß sie die von den verschiedenen Schülerinnen vorgerechneten Aufgaben nicht mit genügender Aufmerksamkeit verfolgte.

»Margarete Heller?« Margot erhob sich von ihrem Platz.

»Henni Paulsen hat nur drei Aufgaben mitgerechnet, die anderen fehlen alle,« berichtete sie mit lauter Stimme und sah strafend zu der Letzten hin. Da aber hatte sie plötzlich ein merkwürdiges Gefühl. Wie der Jäger, der ein Reh angeschossen hat, und der plötzlich eine mitleidige Regung für sein Opfer verspürt. Hennis hellbraune Rehaugen, die so angstvoll an ihrem anklagenden Mund hingen, taten Margot in der Seele weh. Hätte sie schweigen sollen? Nein, das durfte sie doch auch nicht.

Doktor Wilke hatte bereits das Heft der Letzten ergriffen. Er runzelte unheilverheißend die Stirn.

»Henriette Paulsen, warum hast du das Extemporale nicht mitgeschrieben?«

Henni zuckte unter der Verunstaltung ihres Namens zusammen. Sie schwieg.

Doktor Wilke trat auf sie zu.

»Sag', Mädchen, warum hast du nicht mitgerechnet, bist du krank?«

Henni schüttelte gequält den Kopf.

»Na also?«

Die silberig flimmernde Haarpracht senkte sich tief, tief herab, aber kein Ton kam aus den blassen, fest zusammengepreßten Mädchenlippen.

»Henriette Paulsen, manchmal denke ich, du verstehst mich gar nicht, aber du sprichst doch vollständig die deutsche Sprache, wie?«

Henni nickte kaum merklich, sie brachte in ihrer Erregung kein Wort heraus.

»Na also,« – des Lehrers eben noch teilnehmender Ton wandelte sich wieder – »dann bitte ich mir aus, daß man sich am Extemporale beteiligt, verstanden? Paulsen wegen Faulheit getadelt!« Er schrieb mit energischen Schriftzügen den Tadel ins Klassenbuch.

Henni nahm wieder ihren Platz als Letzte ein und starrte teilnahmlos auf den gelbbraunen Papierkasten an der Wand. Zahlen schwirrten ihr am Ohre vorüber, aber sie sah und hörte nur eine einzige, die Fünfundzwanzig. Unerbittlich sah sie diese vor sich, hörte sie mit der Stimme des strengen Hauswirts an ihr Ohr gellen.

Hätte sie Herrn Doktor Wilke sagen sollen, warum sie nicht über die Aufgabe mit der Fünfundzwanzig hinausgekommen war? Daß plötzlich eine große Sorge, die sie während der Schulstunden doch ab und zu vergaß, wieder riesenhaft vor ihr gestanden und all ihr Denken in Anspruch genommen hatte? Fünfundzwanzig Mark Miete – diesen Monat würde der Hauswirt nicht stunden, er hatte schon am vorigen Ersten mit Ausweisung aus ihrem netten Stübchen gedroht. Was sollte aus ihrem Mütterchen, das sowieso schon so viele Schmerzen auszustehen hatte, werden? Wohin mit ihr?

»Henriette Paulsen, wiederhole die letzte Aufgabe,« tönte da plötzlich Doktor Wilkes Baß in die Überlegungen des Mädchens.

Ratlos blickte Henni ihn an. Kein Wort von der Vorrechnung hatte sie vernommen.

»Mädchen – Schlafmütze – jetzt reißt mir wirklich bald die Geduld! Gerade du hättest doch allen Grund – – –« Der Lehrer brach plötzlich ab. »Melde dich nach der Stunde bei mir,« setzte er noch hinzu.

Henni, die eben schon die Lippen geöffnet hatte, um zu sagen, weshalb sie heute noch weniger als sonst beim Unterricht dabei wäre, schloß den Mund wieder. Vor den spöttischen Mädchenaugen ringsum brachte sie es nicht heraus. Wie würde Margot Heller, die reiche Margot, deren Eltern in einer Villa wohnten, auf sie herabsehen, daß ihre Mutter nicht einmal die Miete bezahlen konnte. Und Margots Freundinnen Rose und Gerda, wie würden die über sie spötteln und witzeln. Nein, lieber galt sie für faul und dumm!

Die Rechenstunde war vorüber.

»Ich habe null Fehler,« Margot sagte es absichtlich laut, als sie an der Letzten vorüberschritt. Stolz warf sie den hübschen Kopf mit dem braunen Kraushaar in den Nacken.

Henni war in der Klasse zurückgeblieben. Mit klopfendem Herzen trat sie zum Katheder.

»Wie lange bist du jetzt auf unserer Schule?« begann Doktor Wilke nicht gerade unfreundlich.

»Oktober war es ein halbes Jahr,« kam die leise Antwort.

»Du weißt, daß du hier den Vorzug einer Freistelle genießt?«

Henni nickte kaum merkbar. O ja, das wußte sie. Was war ihr Mütterchen von einem zum anderen ihrer einflußreichen Bekannten von früher her gelaufen, um ihrer Henni trotz der jetzt so ungünstigen Vermögenslage eine gute Schulbildung zuteil werden zu lassen.

»Aber du scheinst nicht zu wissen, Henriette Paulsen, daß es dann die Pflicht und Schuldigkeit einer Freischülerin ist, Ihre Dankbarkeit durch Fleiß und Aufmerksamkeit zu beweisen. Längst hättest du deinen Stolz darein setzen müssen, den letzten Platz, den du als Neue einnehmen mußtest, mit einem höheren zu vertauschen. Ich will keine Entschuldigung,« – Henni hatte Miene gemacht, von den häuslichen Kümmernissen zu sprechen – »nur so viel, daß ich es nicht länger als bis Weihnachten mitansehe. Änderst du dich bis dahin nicht, dann muß ich den Direktor davon in Kenntnis setzen, daß wir die Freistelle in unserer Klasse an eine Unwürdige vergeben haben.« Damit schritt Doktor Wilke aus der Klasse.

Henni war dem Weinen nahe. Auch das noch – von der Schule gewiesen werden wegen Trägheit! Solchen Schmerz sollte sie ihrem Mütterchen bereiten, der sie doch so gern recht, recht viel Freude gemacht hätte! Wenn sie nur tagsüber mehr Muße zum Lernen gefunden hätte! Zuerst, als sie aus Kopenhagen nach Berlin gekommen waren, hatte es ihr Mühe gemacht, sich in den deutschen Schulunterricht einzuleben, und seit Mutters Krankheit fand sie den ganzen Tag keine Minute Zeit für die Schularbeiten. Spät abends, wenn der kleine Haushalt besorgt und sie todmüde war, machte sie sich an das Lernen. Das rächte sich natürlich, die Arbeiten wurden schlecht und sie selbst noch blasser und unlustiger in der Klasse als zuvor.

Langsam schlenderte sie über den weißglitzernden Schulhof. überall rotbackige, lachende, junge Gesichter, die noch nicht wußten, daß es im Leben überhaupt Ernst und Sorgen gab. Ach – bis vor kurzem war sie ja auch solch ein glückliches, lachendes Kind gewesen. Erst seit Vaters Tode hatte sich alles, alles geändert. Sie waren nach Berlin gezogen, weil Mutter, die so geschickte Perlarbeiten machte, gehofft hatte, in ihrer Heimatstadt schnelleren Verdienst zu finden. Die ersten Monate war es ihnen auch nicht schlecht gegangen, Mutters zierliche Halsketten und geschmackvolle Täschchen fanden guten Absatz. Aber nun lag Hennis Mütterchen schon seit Wochen mit steifen Gliedern danieder, sie konnte die fleißigen Finger nicht mehr bewegen. »Gelenkrheumatismus,« hatte der Arzt gesagt, »gute Pflege, kräftiges Essen und am besten eine Reise nach Wiesbaden.« Ja, woher sollte man das bestreiten? Kaum Brot war im Hause, seitdem die Mutter erwerbsunfähig geworden war.

Henni schreckte aus ihrem Sinnen empor. Die übermütigen Schulkameradinnen hatten, von Margot angestiftet, heimlich einen Kreis um die verträumte Henni gebildet. Jetzt umtanzten sie das verlegen um sich blickende Mädchen lachend und sangen dazu:

»Schlaf, Kindchen, schlaf.
Du bist ein großes Schaf!«

Es meinte sicherlich keine böse von den ausgelassenen jungen Dingern, und hätten sie gewußt, wie weh es der Henni Paulsen gerade zumute war, wären ihre empfänglichen Herzen sicher vor Mitleid übergeflossen. Aber das ist der Fehler der Jugend, sie denkt, die ganze Welt müsse so zum Lachen aufgelegt sein wie sie selbst.

»Bitte, laßt mich durch!« Henni suchte vergebens, sich durch die geschlossenen Mädchenhände einen Weg zu bahnen.

Margot, der Kobold, gab noch immer keine Ruhe. Sie war tonangebend in der Klasse und liebte es, sich ein wenig hervorzutun. So begann sie jetzt zum Jubel der anderen das ostpreußische Gedicht zu deklamieren: »Seit ich Jettchen jüngst jesehen.« Die Mädchen lachten und johlten vor Vergnügen.

Da hatte der Schuldiener ein Einsehen mit dem armen Ding. Er läutete zur letzten Stunde und wie der Wind stob der Mädchenkreis auseinander. Henni ging wieder als Letzte allein hinter den anderen her. Das scheue Mädchen hatte noch keine Freundin.

In der darauffolgenden Geographiestunde erging es Henni besser. Sie hatte sich fest vorgenommen, aufzupassen, wenn sie auch noch so müde war, und an nichts anderes zu denken. Und siehe – es gelang ihr. Sogar den Gähnkrampf, der sie mitten im Atlantischen Ozean befiel, zwang sie nach einigem Mundaufreißen nieder.

»Nun, Henni,« meinte Fräulein Merget, eine liebenswürdige, junge Lehrerin freundlich, »du hast wohl heute nacht nicht gut geschlafen?«

Die vierte Klasse machte bei diesen Worten wieder Miene, loszuprusten.

»Nein, meine Mutter ist krank,« leise kam die Antwort auf die wohlwollenden Worte.

Bestürzt sahen sich die eben noch lachenden Mädchengesichter an.

»O weh – na, hoffentlich wird es bald wieder besser!« Dankbar blickten Hennis braune Augen zu der jungen Lehrerin, die so gütig sprach, empor.

Die Stimmung in der Klasse hatte sich gewandelt. Keine dachte mehr daran, wie häßlich man noch soeben Henni Paulsen gehänselt hatte, jeder tat die Letzte, auf die man bisher herabgeblickt, leid.

Dachte wirklich keine mehr an den spöttischen Singsang und an die kränkenden Worte von vorhin?

Doch, Margot Heller, die Erste, war heute gar nicht so aufmerksam und so lebhaft beim Unterricht wie sonst. Ihr Zeigefinger durchbohrte nur höchst selten die Luft. Margot machte sich Vorwürfe, denn sie war trotz ihres Übermutes von Herzen gut. Angezeigt hatte sie das arme Mädel bei Doktor Wilke, das vielleicht die ganze Nacht nicht geschlafen hatte aus Sorge für ihre kranke Mutter! Und nicht genug damit, hatte sie die Henni auch noch verhöhnt und die anderen gegen sie aufgehetzt. Dabei wußte Margot doch sehr gut, was Kranksein bedeutete. Ihr Vater war ein ebenso großer Arzt als Menschenfreund. Der hatte seinem ausgelassenen Töchterchen, das nur die Sonnenseite des Lebens kannte, hin und wieder etwas aus seiner Praxis erzählt, damit es nicht oberflächlich und leichtsinnig aufwachse. Margot wurde rot, sie schämte sich, wenn sie an Vaters klare Augen dachte, wie die ihr Verhalten wohl verurteilen würden.

Die Schule war aus. Schwatzend, zu dritt und viert eingehakt, zogen die Mädchen nach Haus. Sie hatten es alle nicht besonders eilig, die kleinen Fräulein, trotzdem auf die meisten von ihnen ein schönes, trauliches Nest daheim wartete. Man mußte den gemeinsamen Weg mit den Freundinnen doch gehörig auskosten, auch ein Weilchen vor dem großen Konfitürengeschäft an der Ecke stehenbleiben und sich all die Herrlichkeiten anschauen, die man kaufen würde, wenn man groß wäre und nicht mehr Rechenschaft über das Taschengeld abzulegen brauchte. Ja, und dann mußte man – aber nur ganz heimlich in einer stillen Seitenstraße – flink noch ein wenig auf dem blanken Eis schliddern und ganz schnell seinen besten Freundinnen ein paar Schneebälle an den Kopf werfen, denn eigentlich war man mit zwölf Jahren schon zu groß zu solchen Kindereien.

Henni hatte denselben Schulweg wie Margot und ihre Freundinnen. Nur daß ihr Stübchen in einem Gartenhaus nach hinten heraus vier Treppen hoch lag. Sie eilte stets sehr, nach Haus zu kommen, denn eher bekam ihr Mütterchen kein Essen. Auch ohnedies hätten wohl Margot, Rose und Gerda kaum daran gedacht, die Letzte aufzufordern, sich ihnen anzuschließen. Heute sahen sie Hennis ausgewachsenes Mäntelchen wieder ein Stückchen vor sich.

»Da geht dein Jettchen,« rief Gerda lachend.

»Nicht – es war nicht hübsch von mir,« meinte Margot rotwerdend.

»Ach was – sie ist und bleibt eine Schlafmütze –« Gerda war etwas eigensinnig in ihren Ansichten.

»Ihre Mutter ist doch krank –,« gab auch Rose zu bedenken.

»Es tut mir leid, daß ich die Klasse gegen sie angestiftet habe.« Margot war mit ihrem Gewissen noch immer nicht im reinen.

»So lauf ihr doch nach und bitte ab,« sagte Gerda etwas spitz.

Margot schwieg. Sie hatte es selbst schon heimlich erwogen, ob sie ihre Schuld nicht einzig und allein dadurch gutmachen konnte, daß sie Henni aufforderte, mit ihr zusammen nach Hause zu gehen. Aber die stolze Margot brachte es nicht über sich. Die Erste und die Letzte – nein, das war doch undenkbar!

An einer Zeitungsexpedition war Henni stehen geblieben. Ein großes Schild, das da zwischen all den Blättern im Schaufenster hing, hatte ihren schnellen Schritt plötzlich gehemmt. »Zeitungsausträgerin gesucht!« – war diese Tatsache denn so interessant, daß Henni sich gar nicht davon trennen konnte? Daß sie sogar ihr krankes Mütterlein darüber vergaß?

Plötzlich zuckte sie, wie bei einer schlechten Handlung ertappt, erschreckt zusammen. Eine Hand hatte sich ihr auf die Schulter gelegt. Es war Margot, die inzwischen mit ihren Freundinnen herangekommen war.

»Du interessierst dich wohl mehr für die neuesten Nachrichten als für deine Schulbücher?« sagte Gerda lachend, deren scharfe Zunge in der Klasse gefürchtet war.

Henni wurde abwechselnd rot und blaß, aber Margot warf der Freundin einen ärgerlichen Blick zu.

»Was fehlt deiner Mutter, Henni?« fragte sie teilnehmend, um die häßlichen Worte Gerdas wieder gutzumachen.

»Gelenkrheumatismus.« Hennis Gesichtchen sah trübselig drein.

»Habt ihr einen Arzt?« Das Doktorblut machte sich bei Margot bemerkbar.

Henni schüttelte stumm den Kopf. Einmal war der Arzt dagewesen, und dann hatte Mutter selbst ihn gebeten, nicht wieder zu kommen – wovon sollte man ihn denn bezahlen? Aber das konnte sie doch unmöglich erzählen, wie hätte Gerda wohl darüber erst ihre Glossen gemacht. Und auch Margot – sie war oft so hochmütig und hatte sich bisher immer von ihr, der Letzten, zurückgehalten.

Jetzt aber faßte Margot Heller lebhaft mit beiden Händen nach Hennis rotgefrorener Rechten, die, wie die Mädels schon öfter verächtlich festgestellt hatten, nicht mal in Handschuhen steckte, und rief gutherzig: »Ich werde Vater bitten, mal deine Mutter zu besuchen, Henni, ihr wohnt ja ganz in unserer Nähe, das heißt – wenn es deiner Mutter recht ist,« setzte sie etwas kleinlaut hinzu.

Hennis braune Augen bekamen einen warmen Glanz. »Ach, wenn du das tun wolltest, liebe Margot, ich wäre dir ja so dankbar!« Die heimliche Sympathie, die Henni immer schon für die Erste der Klasse, die stets so unnahbar tat, empfunden hatte, vertiefte sich zu herzlicher Zuneigung.

»Herrgott, komm doch, Margot, die Füße frieren einem ja an.« Gerda zupfte die Freundin ungeduldig am Ärmel.

»Dann gibt's heut mittag Eisbein mit Erbsen und Sauerkraut,« sagte Rose lachend.

Margot sah unschlüssig von den Freundinnen auf Henni. Dann gab sie sich einen Ruck.

»Willst du nicht mit uns gehen?« fragte sie rot werdend.

Auch Henni stieg das Blut in die blassen Wangen. Sie sah, wie schwer Margot die Frage geworden war, und wie Gerda heimlich ein Gesicht dazu schnitt.

»Danke, aber ich muß noch eine Besorgung machen.« Damit lief sie schnell davon.

»Also ich bitte meinen Vater,« rief Margot ihr noch erleichtert, daß sie die Aufforderung nicht angenommen hatte, nach.

Ja, Margot Heller hatte wirklich die allerbeste Absicht, ihren Vater auf die kranke Mutter ihrer Schulkameradin aufmerksam zu machen. Aber als sie nach Hause kam, gab es da so viel anderes, daß das Kind des Glückes nicht mehr an die Sorge der blassen Henni dachte. Onkel Heinz war von der Reise gekommen und hatte ihr einen allerliebsten kleinen Papagei mitgebracht, der schon einige Worte sprach. Darüber vergaß Margot alles übrige.

Freilich, am nächsten Tage In der Schule, als sie die braunen Augen der Letzten fragend an den ihren hängen sah, da durchfuhr es sie jäh. Himmel – heute wollte sie aber ganz bestimmt daran denken! Doch solch Vormittag ist lang, bis Margot heimkam, hatte sie ihr Vorhaben längst wieder vergessen. Wenn der Vater seinem Wildfang mittags liebevoll die widerspenstigen Locken aus der Stirn strich, dann erzählte sie ihm wohl stolz, daß sie schon wieder null Fehler im Französisch gehabt oder auch »Sehr gut« unter dem Aufsatz bekommen habe. Ihre eigene kleine Person nahm sie so vollständig in Anspruch, daß sie nicht Zeit fand, an andere zu denken. Von Tag zu Tag verschob sie es, und schließlich wollte sie sich überhaupt nicht mehr daran erinnern. Ach was, Hennis Mutter war gewiß inzwischen längst wieder gesund. Aber der Anblick der Letzten erweckte doch immer ein unbehagliches Gefühl in Margots Herzen, darum zog sie sich jetzt gerade so wie früher von ihr zurück. Nur die Klasse hetzte sie nicht mehr gegen die Mitschülerin auf.

Henni empfand Margots Verhalten mit schmerzlichem Bedauern. Sie hatte es nicht gewagt, sie nochmals an ihr Versprechen zu mahnen. Gewiß wollte der berühmte Arzt nicht zu ihnen kommen. Aber daß Margot Heller, die neulich doch so nett zu ihr gewesen, nun wieder so hochmütig tat, das schmerzte sie tief.

Henni war jetzt teilnahmloser und schlechter in der Klasse als je. Neuerdings kam sie sogar häufig zu spät. Der Lehrer empfing sie dann wohl mit einem vorwurfsvollen: »Na, hat das Fräulein wieder einmal nicht aus dem Bett herausfinden können?« Und die Schülerinnen amüsierten sich auf ihre Kosten.

An der Zeitungsexpedition blieb sie mittags nicht mehr stehen, im Gegenteil, scheuen Blickes eilte sie stets daran vorüber.

Auch ihrem Mütterchen wagte Henni nicht mehr so gerade und offen in die Augen zu sehen wie sonst. Aber die Kranke litt zu große Schmerzen, als daß ihr das veränderte Wesen ihres Kindes aufgefallen wäre. Nachtsüber war die Mutter meist schlaflos, wohl zehnmal verließ Henni das eigene Lager und tappte sich zum Bett ihres Mütterchens. Mit leiser Hand strich sie ihr die Kissen zurecht und reichte ihr einen Schluck erquickenden Wassers. Aber morgens, wenn die Mutter endlich in schweren Schlaf gesunken war, dann erhob sich Henni lautlos. Bor sechs Uhr war sie schon fix und fertig, legte ein paar Kohlen in den Ofen, daß ihr Mütterchen nicht fror, und stellte Kaffeewasser zurecht. Dann huschte sie, ein altes Tuch um Kopf und Schulter geschlungen, in den dunklen, eisigen Dezembermorgen hinaus. Wachte die Mutter inzwischen auf, so glaubte sie, ihre Henni sei Milch und Brot einholen gegangen.

Aber wo war Henni? Was hatte sie in aller Frühe, wenn ihre sämtlichen Schulkameradinnen noch schliefen, schon unterwegs zu suchen?

Henni trug Zeitungen aus! Das war das große Geheimnis, das ihr auf der jungen Seele brannte, das schuld daran war, daß sie jetzt häufig zu spät in die Schule kam, daß sie ihrem Mütterchen nicht mehr frei in die Augen blicken konnte.

Lange hatte sie geschwankt und gekämpft, ob sie sich auf jenes Schild »Zeitungsausträgerin gesucht« melden sollte. Sie wußte, ihre Mutter würde es bestimmt nicht zugeben, hatte sie doch in Kopenhagen, in den Tagen des Glücks, niemals gestattet, daß ihre Henni überhaupt allein auf die Straße ging. Und nun erst hier in der fremden großen Stadt zu so früher Tagesstunde!

Aber Weihnachten und damit der erste Januar, an dem die fünfundzwanzig Mark Miete bezahlt werden mußten, rückte näher und näher. Tausende von Kinderherzen schlugen schneller vor freudiger Erwartung – nun dauerte es bloß noch wenige Wochen! Nur ein Kinderherz sah mit bangem Zagen dem Nahen des lieben Weihnachtsfestes entgegen. Ob der Wirt wohl zufrieden sein würde, wenn sie Ihm vorläufig die paar Mark, die sie am ersten Januar für Zeitungsaustragen erhielt, als Abschlag zahlte?

Auch Hennis Mutter quälte der Gedanke an die fällige Miete. Sie lag jetzt oft im Fieber, dann sprach sie unaufhörlich davon. Nicht eher beruhigte sie sich, als bis Henni versprach, zum Wirt zu gehen und ihn zu bitten, ein Einsehen zu haben.

Aber mit leeren Händen wagte sich das scheue Mädchen nicht zu dem rücksichtslosen Wirt, lieber trug sie heimlich Zeitungen aus. Das schlimme war nur, daß sie ihrem Mütterchen nicht den wahren Sachverhalt erzählen durfte, um diese nicht aufzuregen. Morgens konnte sie sich ganz gut fortstehlen, aber nachmittags um sechs Uhr, wenn es galt, die Abendzeitung auszutragen, kam sie nicht ohne Ausrede davon.

Die wahrheitsliebende Henni litt unter dieser Tatsache mehr als unter Sturm und Schnee, dem sie jetzt oft Trotz bieten mußte. »Bin ich schlecht, daß ich die Unwahrheit spreche, daß ich etwas heimlich tue?« Immer wieder quälte sie diese Frage. So oft sie sich auch die Antwort gab: »Nein, ich tu's ja nur meinem Mütterchen zulieb,« ganz ruhig und froh wurde ihr nicht ums Herz.

Sie hatte es gut getroffen. Gerade in den ihrer Wohnung benachbarten Straßen wohnten die ihr zugewiesenen Zeitungsabonnenten. Auch in die elegante Villa des Doktor Heller mußte sie die Zeitung bringen, das war das schwerste an dem ganzen Amt. Des Morgens ging es noch, da brauchte Henni eine Begegnung mit Margot nicht zu fürchten. Die Erste der Klasse lag noch bis über das Näschen zugedeckt im warmen Bette, wenn die Letzte in grauer Frühdämmerung mit klammen Händen von Haus zu Haus treppauf, treppab lief. Aber nachmittags war die Sache schlimmer. Da schlich sich Henni herzklopfend wie ein Dieb die breite Marmortreppe zu Hellers hinauf, das dunkle Tuch tief über die Haarpracht ins Gesicht gezogen, um nicht erkannt zu werden.

Einmal war ihr Margot drunten im Vorgarten schön geputzt begegnet, sie ging zu Gerdas Geburtstagsgesellschaft. Aber da hatte sie für das arme, vermummte Zeitungsmädel zum Glück keinen Blick gehabt. Wenn Margot Heller oder eine ihrer Freundinnen es herausbekam, daß sie Zeitungen austrug, wie würden sie dann erst die Nase über sie rümpfen, dann war es um ihre Stellung in der Klasse vollends geschehen. Henni lebte in steter Angst davor.

Noch eines lag ihr schwer auf der Seele. Ob der Ordinarius seine Drohung, ihr die Freistelle zu entziehen, wahrmachen würde. Sie fühlte es ja selbst, wie unzufrieden die Lehrer mit ihr sein mußten. Selten war es ihr jetzt noch möglich, die häuslichen Aufgaben zu erledigen. Während des Unterrichts aber lag es wie eine bleierne Müdigkeit über ihr, sie war unfähig, den Worten des Lehrers zu folgen. Da gab es viele Verweise und Tadel. Die Klasse hatte es gerade so gemacht wie Margot Heller. Sie hatte ihr Mitleid mit der Letzten längst wieder vergessen und lachte und amüsierte sich über die »Schlafmütze«, wie man sie allgemein nannte.

Da aber kam etwas, daß Henni Paulsen all ihre Sorgen darüber vergaß – ihr Mütterchen wurde kränker. Das Fieber stieg, die Schmerzen nahmen zu, sie erkannte ihr Kind nicht mehr. –

Vierzehn Tage vor Weihnachten war es. Draußen fegte ein toller Schneesturm durch die Straßen und blies den eilig dahinhastenden Fußgängern feuchtkaltes Flockengewirbel ins Gesicht. Wer heute nicht unterwegs sein mußte, der blieb bei dem häßlichen Wetter daheim in der warmen Stube.

In der Hellerschen Villa, da war es gar traulich und gemütlich. In dem geräumigen Wohnzimmer flackerte lustig das Kaminfeuer und verbreitete eine angenehme Wärme. Die elektrischen Glühbirnen bestrahlten ein behagliches Familienbild. Der Vater, der eben erst von der Praxis heimgekommen war, saß, seine Zigarre rauchend, mit der Abendzeitung im Klubsessel. Die Mutter zog für die kranken Kinder in der Klinik ihres Mannes Weihnachtspuppen an. Margot aber, die bisher bei der hübschen Arbeit geholfen hatte, schrieb jetzt ihren Wunschzettel. Sie schrieb ihn wohl schon zum zwanzigsten Male, immer fiel ihr etwas Schöneres ein.

Ob sie den feinen Tennisschläger bekam? Ach, und den kleinen, süßen, weißen Seidenspitz, den sie sich so sehnlichst wünschte? Für Joko, ihren Papagei, brauchte sie auch ein feines Bauer, und dann das neue, mattblaue Kleid zur Hochzeit von Tante Elli. Und Bücher und Lackschuhe und für ihr Zimmer eine kleine Ampel. Ja, aber einen Bücherriemen mußte sie sich auch noch wünschen, es war doch zu kindisch, noch mit der Mappe auf dem Rücken zu gehen.

»Margot, es ist bald genug,« lächelte die Mutter, auf ihr eifrig schreibendes Töchterchen blickend.

»Ach, nur noch Sportschlittschuhe und ein neues Pelzwerk und –« Da klingelte es plötzlich.

»Wenn du bloß bei dem furchtbaren Wetter nicht fort mußt,« meinte die Mutter besorgt zu ihrem Gatten.

»Kind, dafür bin ich Arzt.« Der Vater blickte fragend auf das eintretende Stubenmädchen.

»Herr Doktor, das Zeitungsmädel ist draußen und läßt den Herrn Doktor doch um Himmels willen bitten, mit zu seiner kranken Mutter zu kommen. Ganz durchnäßt ist sie!« setzte sie hinzu.

»Geben Sie ihr eine Tasse warmen Kaffee!« sagte Frau Doktor Heller mitleidig, während ihr Mann hinausschritt, um zu hören, was der Kranken fehle. Er hatte die Tür halb offen gelassen.

»Ach, lieber Herr Doktor, kommen Sie doch bloß mit mir mit, sonst muß meine Mutter sterben!« Diese flehende Stimme klang merkwürdig bekannt – Margot spitzte aufgeregt die Ohren.

Und jetzt wieder die Antwort auf die Frage des Vaters: »Gelenkrheumatismus schon seit Wochen!« Da huschte Margot herzklopfend zur Tür hinaus.

Draußen im Vorsaal stand ein zartes Mädchen, über und über beschneit. Das Tuch war ihr von den silberig flimmernden Flechten herabgerutscht, hell fiel das Licht auf ihr blasses, verweintes Gesicht.

»Henni,« rief Margot, »du bist das Zeitungsmädel – du?«

Glühende Röte jagte über Hennis Stirn.

»Ja, ich bin es, ich trage heimlich Zeitungen aus, damit uns der Wirt zum Ersten nicht unser Stübchen nimmt! Und wenn ihr auch nichts mehr von mir wissen wollt, mich verlacht und verhöhnt, wenn man mich selbst aus der Schule weist, mir ist jetzt alles gleich – wenn nur mein Mütterchen mir erhalten bleibt!« Wieder umklammerte sie flehentlich die Hand des erstaunt lauschenden Arztes.

»Margot, du kennst das Mädchen?« wandte sich der Vater, Aufschluß heischend, an sein Töchterchen.

Dieses nickte peinlich errötend.

»Es ist die Letzte aus unserer Klasse!« Das Hochmutsteufelchen meldete sich wieder in Margots Herzen. Zeitungen trug sie aus, die Henni Paulsen, wie ein Kellerkind ... pfui!

Da fühlte sie den Blick des Vaters ernst und vorwurfsvoll aus ihren sprechenden Gesichtszügen ruhen. Vor Vaters klaren Augen hielt das Hochmutsteufelchen nicht stand. In Margots sonst stets lachendem Gesicht begann es zu arbeiten und zu zucken, und plötzlich schmiegte das leicht erregbare Mädchen aufschluchzend den Kopf an des Vaters Arm.

»Ich bin schuld daran. Vater, wenn Hennis Mutter sterben muß, ich habe es ihr schon vor Wochen versprochen, dich zu bitten, nach ihrer Mutter zu sehen, und immer hab' ich's vergessen, ich bin so schlecht – – –«

»Ja, Kind, mir scheint es ebenfalls, daß du hier viel gutzumachen hast, auch abgesehen von deiner Vergeßlichkeit. Ich habe meine Tochter für weniger stolz und äußerlich gehalten. Sagtest du nicht, die Henni wäre die Letzte in der Klasse, wo du die Erste bist? Meiner Ansicht nach müßte die Sache umgekehrt sein – an solcher Kindesliebe kann sich jeder ein Beispiel nehmen! – Komm, Kind.« Der Arzt griff freundlich nach Hennis erstarrter Hand und schritt mit ihr in das Unwetter hinaus.

Margot aber blieb weinend zurück. So unzufrieden hatte der Vater noch nie zu seiner Tochter gesprochen, seine Worte waren ihr tief zu Herzen gegangen. Und dabei wußte er doch noch gar nicht, wie häßlich sie sich oft der armen Henni gegenüber benommen halte.

Drinnen in dem traulichen Wohnzimmer saß Margot, in dem sie noch vor kurzem so erwartungsvoll ihren Weihnachtswunschzettel geschrieben hatte, und klagte sich immer wieder an. Aber wenn man eine Mutter hat, die einen liebevoll verzeihend in den Arm nimmt, die tröstet, daß es ja noch immer Zeit sei, sein Anrecht gutzumachen, dann fließen die Tränen allmählich langsamer. Ach, Margot wollte ja von nun an so nett zu der blonden Henni sein, mit ihr gehen wollte sie in der Pause und mittags auf dem Heimweg. Und wenn Gerda wieder so verächtlich tat, dann wollte sie ihr schon sagen, daß Henni Paulsen viel mehr wert sei als sie alle zusammen. Vaters eindringliche Worte hatten Margot die Augen geöffnet.

Es wurde spät, bis der Vater wieder heim kam. Aber Margot bettelte inständig, doch wachbleiben zu dürfen, sie könne doch nicht eher schlafen, als bis sie wüßte, wie es um Frau Paulsen stände.

Endlich hörte man den Vater draußen die Tür schließen. Margot eilte ihm entgegen. Er kam nicht allein. Ein schüchternes, blondes Mädchen im ausgewachsenen, mausgrauen Mantel, die Schulmappe auf dem Rücken, schob er vor sich her.

»Ich bringe dir hier jemand mit, Margot. Henni wird vorläufig bei uns bleiben. Leg' ab, Kind,« sagte der menschenfreundliche Mann.

»Henni, deine Mutter – – –« Margot rief es in höchster Erregung, sie fürchtete das Schlimmste.

»Ich habe sie in meine Klinik aufgenommen, damit sie die richtige Wartung und Pflege hat.« Beruhigend legte der Arzt die Hand auf das braune Haar des aufgeregten Mädchens. »Mit Gottes Hilfe werden wir sie durchbringen.«

Margot atmete tief auf. Dann schlang sie plötzlich den Arm um Hennis Hals und küßte sie stumm. Zu sprechen vermochte sie nicht.

Doktor Heller klopfte anerkennend die rosige Wange seiner Margot, jetzt war er mit seinem Kinde zufrieden.

In Margots nettem Mädchenstübchen wurde ein zweites Bett aufgestellt, aber so bald kamen die beiden nicht zur Ruhe. Sie hielten noch trauliche Zwiesprache. Als das Licht gelöscht war, da lösten sich die Worte von den Lippen der scheuen Henni. Leise erzählte sie Margot, wie es gekommen, daß sie in der Schule so schlecht, so faul und so schläfrig war. Und noch leiser berichtete sie, wie schwer es ihr geworden war, das Amt eines Zeitungsmädels anzunehmen, daß sie sich aber keinen Rat mehr gewußt habe.

»Wir brauchen ja nicht zusammen zur Schule zu gehen, Margot, wenn du dich vielleicht vor den anderen meiner schämst, weil ich doch die Letzte bin,« setzte Henni noch selbstlos hinzu.

Da aber hielt es Margot nicht länger in ihrem Bett aus. sie tappte sich zu Henni hin und küßte sie innig.

»Für mich wirst du von nun an immer die Erste sein, auch wenn du zehnmal die Letzte bist!« flüsterte sie zärtlich.

Dann schliefen sie endlich ein.

An seinem Schreibtisch aber sah Margots Vater und schrieb drei Briefe. Einen an die Zeitungsexpedition, der er mitteilte, daß Henni Paulsen ihr Amt aufgäbe. Einen an den Hauswirt, in dem er die Paulsensche Wohnung zum ersten Januar kündigte und die fällige Miete, die Henni soviel Sorgen gemacht, beifügte. Den dritten aber an den Klassenlehrer Doktor Wilke. Offen und rückhaltlos hatte sich die verschlossene Henni dem menschenfreundlichen Arzt anvertraut, ihm erzählt, daß man sie aus der Klasse weisen wollte, da es ihr unmöglich gewesen war, ihre Pflichten für die Schule zu erfüllen. Da hielt es Doktor Heller für angebracht, dem Lehrer als Arzt den Sachverhalt klarzulegen.

Als Margot Heller und Henni Paulsen, die Erste und die Letzte, Arm in Arm am anderen Tage die vierte Klasse betraten, da gab es ein Tuscheln und ein Verwundern. Nanu, was hatte denn das zu bedeuten? Gerda war geradezu empört.

In der Zehnuhrpause aber trat Margot, den Arm um Hennis Schulter geschlungen, vor Rose und Gerda.

»Henni Paulsen ist jetzt meine beste Freundin und wohnt bei mir, mein Vater sagt, sie sei zehnmal besser als wir alle, aber wenn ihr nicht mit uns beiden verkehren wollt, dann laßt ihr's eben bleiben!« Margot sah mit blitzenden Augen auf die überrascht Dreinschauenden.

Rose faßte sich zuerst. »Red' doch keinen Unsinn,« sagte sie und schüttelte Henni fast den Arm aus dem Gelenk.

Gerda überlegte noch etwas. Margot Heller war das lustigste und beliebteste Mädchen in der Klasse, und schließlich war es doch immerhin eine Ehre, mit der Ersten befreundet zu sein. So folgte sie Roses Beispiel und reichte Henni Paulsen, wenn auch etwas weniger ungestüm, die Hand.

Doktor Wilke hatte den Brief des Arztes im Konferenzzimmer vorgelesen, damit alle Lehrer über Henni Paulsen unterrichtet wären. Nach der Stunde rief er sie zu sich.

»Henriette,« sagte er ernst, »du hättest mehr Vertrauen zu deinem Lehrer haben sollen, da hättest du dir manche trübe Stunde ersparen können. Na, von nun an wird's besser werden, was?«

Henni schlug die Augen voll zu dem Ordinarius auf, und in ihren Braunaugen las Doktor Wilke die allerbesten Vorsätze.

Ja – es wurde besser. Das sorglose Leben, die gute Pflege, die innige Freundschaft mit der ausgelassenen Margot, und vor allem die Gewißheit, daß es ihrem Mütterchen gut ging, blieben nicht ohne Einfluß auf Henni. Ihre blassen Wangen begannen sich zu röten, und mit dem körperlichen Fortschritt ging auch der geistige Hand in Hand. Margot half Henni getreulich bei ihrem Vorwärtsstreben.

Weihnachten stand vor der Tür, da sagte eines Tages Doktor Heller: »Es geht deiner Mutter jetzt so gut, Henni, daß man bald an eine Reise nach Wiesbaden denken kann.«

Henni verfärbte sich. Eine Reise nach Wiesbaden kostete viel Geld, Mutter empfand jetzt schon die großen Wohltaten Doktor Hellers drückend, nie würde sie sich entschließen, solche Opfer von ihm anzunehmen. Sie sprach mit Margot, vor der sie kein Geheimnis mehr hatte, darüber.

Nachmittags, als Henni in der Klinik war, bat Margot: »Mutti, bitte, gib mir doch meinen Wunschzettel zurück.«

»Nanu,« rief Frau Doktor Heller lachend, »ist es noch nicht genug?«

Margot schwankte noch einen Augenblick. Dann griff sie nach ihrem so oft geschriebenen Wunschzettel und riß ihn mitten durch.

»Ich will diesmal gar nichts geschenkt haben, Mutti, nur die Reise nach Wiesbaden für Hennis Mutter,« sagte sie leise.

Da schloß Frau Doktor Heller ihr Töchterchen, das so selbstlos auf eigene Wünsche verzichtete, erfreut in die Arme.

Auch in der Klinik hielt eine Mutter ihr Kind im Arm. Zum ersten Male hatte Henni es heute gewagt, ihrem Mütterchen von ihrem heimlichen Zeitungsamt zu beichten. Eher fand sie keine Ruhe. Und die Mutter verzieh. Sie fühlte es ja, daß nur die innigste Liebe ihr Kind zur Heimlichkeit verleitet hatte.

Der Weihnachtsbaum in der Hellerschen Villa erstrahlte. Auch Frau Paulsen durfte schon im Rollstuhl der Bescherung beiwohnen. Trotz des zerrissenen Wunschzettels hatte der Weihnachtsmann sich fast alle Wünsche Margots gemerkt, jubelnd stand sie vor der reichen Tafel. Auch Henni betrachtete erfreut die mit Liebe für sie gewählten Geschenke. Frau Paulsen aber hielt mit schwimmenden Augen ein Blatt Papier in der Hand. Darauf stand geschrieben, daß ihr auf Befürwortung des Doktor Heller aus der Stiftung eines hochherzigen Mannes die Mittel für einen Winteraufenthalt in Wiesbaden zur Verfügung gestellt wurden. Das durfte sie ohne Skrupel annehmen. In stummer Dankbarkeit drückte sie ihrem Wohltäter die Hände.

Den ganzen Winter über währte das herrliche Zusammenleben der beiden Freundinnen. Hellers hatten die bescheidene Henni so lieb gewonnen, daß sie das Mädchen am liebsten gar nicht wieder hergegeben hätten.

Ostern kehrte Frau Paulsen vollständig geheilt nach Berlin zurück. Aber auch für die Zukunft hatte Doktor Heller Sorge getragen. In seiner Klinik war das Amt einer Empfangsdame und Leiterin freigeworden; mit tausend Freuden nahm Hennis Mutter die ihr gebotene Stellung an. Nun hatte die schwere Zeit ein Ende.

Die blonde Henni siedelte wieder zu ihrem Mütterchen über, doch die innige Freundschaft zwischen ihr und Margot blieb bestehen. Als aber die Osterzensuren verteilt wurden, da fand sich das emsige Streben Hennis belohnt. Sie wanderte auf den zweiten Platz neben ihre Margot, und Doktor Wilke überreichte ihr das so gut ausgefallene Zeugnis mit den anerkennenden Worten: »Brav – Henriette Paulsen, in der Bibel schon steht es geschrieben, die Letzten sollen die Ersten sein!«


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