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Das neue Fräulein

Sie sahen ganz gleich aus, die beiden Zwillingsschwestern Annemie und Anneli. Wenn sie des Abends in ihren Betten lagen und die Augen geschlossen hatten, konnte sie nicht einmal die Mutter unterscheiden. Dasselbe lichtbraune, krause Haargelock, die gleichen rosigen Wangen und genau dasselbe zierliche Näschen über den frischen Lippen.

Aber Muttchen mußte ganz genau, unter dem reizenden Bild, auf dem der kleine Hemdenmatz neben seiner ziemlich invaliden Puppenfamilie vor dem Bettchen kniete, um das Abendgebet zu sprechen, da schlief Annemie. Und gegenüber in den Kissen, aus denen ewig die Schnürsenkel herausgerissen waren, unter dem Bild mit dem von einer übermütigen Kinderschar bombardierten Schneemann, das war die Annelise. Jede der Schwestern hatte sich zum Geburtstag ihr Lieblingsbild wünschen dürfen, und da waren die verschiedenen Neigungen der elfjährigen Zwillinge so recht zum Ausdruck gekommen.

Am Tage, wenn ihre fröhlichen Stimmen durch Haus und Garten schallten, da brauchte man kein Unterscheidungsmerkmal, wenigstens kein äußerliches. Die am meisten tobte, am lautesten jubelte und am wildesten sprang, das war eben die Annelise. Annemie sah mit ihren Blauaugen stiller uns schüchterner in die Welt hinein, während in Annelises braunen Augensternen allerhand unnütze Teufelchen ihr Wesen trieben. Hier saß solch kleiner durchtriebener Schalk, dort machte sich Eigensinn und Trotz ziemlich breit, und öfters sprühte es auch wie Hochmut und Herrschsucht aus den dunklen Kinderaugen.

Die beiden Zwillingsschwestern waren unzertrennlich. Annemie liebte die lustige, lebhafte Annelise mit dem ganzen Gefühlsreichtum ihres warmen Herzens. Auch Annelise kannte nichts Lieberes als ihr Schwesterchen, aber sie beherrschte sie, war nicht immer verträglich und verlangte, daß die sanfte Annemie sich ihrem Willen fügte.

»Denn ich bin eine Stunde eher auf die Welt gekommen als du, folglich weiß ich es besser,« pflegte Annelise als letzten Trumpf stets anzuführen.

Heute saßen die Zwillinge still und friedlich in ihrem Zimmer. Es war ein reizendes Stübchen, das allgemein Begeisterung, ja auch ein klein wenig Neid bei sämtlichen Freundinnen erweckte. Die meisten von ihnen mußten noch im Kinderzimmer hausen. Wenn man doch auch keine kleineren Geschwister hätte, so daß man sein eigenes »Mädchenstübchen« bewohnen dürfte! Ja, wenn der Vater doch auch Baurat wäre und sich solche entzückende Villa mit Söllern und Türmchen bauen könnte, dachten die Freundinnen oft, wenn sie das schöne Heim der Schwestern verließen.

Die beiden braunen Krausköpfe waren tief über die Hefte gebeugt, die Federn kritzelten, das Papier raschelte, ab und zu unterbrach ein tiefer Seufzer von Annelises Lippen die Stille.

»Annemie, hast du das zweite Exempel schon heraus? – Gib's her, rasch, ich will es abschreiben. So dumm, mich mit der langweiligen Bruchrechnung herumzuquälen, flink, gib her!«

Annemie hielt das Löschblatt über ihre sauber geschriebene Seite und hob die Blauaugen bittend empor.

»Wir dürfen doch nicht. Vater hat erst neulich gesagt, abschreiben sei Betrug gegen den Lehrer und gegen uns selbst; bitte, Anneli, versuche es doch noch einmal,« sagte sie zögernd.

»Bloß damit ich eine schlechtere Nummer bekomme als du,« knurrte Annelise.

»Aber Anneli« – die Blauäugige streckte Ihr, ganz entsetzt über diese Zumutung, ihr Heft hin – »da, schreibe ab, aber denke nicht wieder so etwas Häßliches von mir.« Ihr zartes Gesicht war dunkelrot vor Erregung.

Die Braunäugige hielt mit beiden Händen das eroberte Heft fest und lachte dazu wie ein Kobold. »Hahaha – hab' ja nur Spaß gemacht, Kleines, sonst hättest du, ehrpusseliges Ding, es mir doch sicher nicht gegeben: nun soll die Ausrechnung aber mal schnell gehen.« Sie wirbelte die Schwester ausgelassen um den Tisch herum, daß die Tinte bedenklich zu schaukeln begann.

Mit einem zärtlichen »Böses Mädel!« machte sich Annemie frei und trat zum Fenster. Sie schob die weißgepunktete Mullgardine, die von mattblauen Seidenbändern zusammengehalten wurde, zurück und spähte hinaus. Der frühe Winterabend hatte bereits seine dunklen Schattentücher über den Garten gebreitet, nur die blendenden Schneemassen leuchteten fahl. Gespenstisch streckte der große Birnbaum, der im Sommer so lustig an das Fenster der beiden Zwillingsschwestern pochte, heute seine kahlen Zweige aus dem lichten Flockenbesatz. Die kleinen Putten drunten am Springbrunnen, die Annemie stets mitleidigen Blickes streifte, weil sie selbst im strengsten Winter unbekleidet frieren mußten, hatten sich heute wohlig in weiße Schneepelze eingehüllt. Dabei hörte es noch immer nicht auf zu schneien. Fein wie Puderzucker stäubte das Schneegeriesel hernieder; ab und zu trieb der Sturmwind eine tüchtige Schneewehe vom Dachfirst gegen das Fenster, an das sich das rosige Mädchengesicht preßte.

»Gräßliches Wetter,« sagte Annemie, indem sie sich jetzt wieder der eifrig ihre Arbeit abschreibenden Schwester zuwandte, »und keine Fahrverbindung vom Bahnhof hierher. Sie ist noch immer nicht zu sehen, Anneli.«

»Wer?« fragte Annelise zerstreut, »ach so, du meinst das neue Fräulein; na, mir ist nicht bange nach ihr!« Sie begann mit dem Lineal die Striche unter den Exempeln zu ziehen.

»Die Ärmste, eine halbe Stunde muß sie bei diesem Hundewetter laufen; daß Vater und Mutter auch gerade heute zum Diner geladen sind und den Wagen brauchen,« fuhr Annemie nachdenklich fort.

»Sie wird nicht gleich schmelzen,« murmelte Annelise – äx – da hatte es gekleckst – ihre schöne, saubere Rechenarbeit! Daran war nur das neue Fräulein schuld! Annelises schon an und für sich wenig freundliche Gedanken über das Eintreffen der neuen Hausgenossin wurden noch abweisender.

»Hoffentlich ist sie nett,« nahm Annemie, die der Ankunft des Fräuleins erwartungsvoll entgegensah, die interessante Unterhaltung wieder auf. »Wenn sie nur nicht alt ist und eine Brille trägt: weißt du, Anneli, eigentlich habe ich ein bißchen Angst vor ihr.«

Annelise betrachtete die Schwester wie ein Wundertier.

»Angst vor dem neuen Fräulein? Du Dummchen – sie hat sicherlich Angst vor uns!«

Jetzt aber lachte Annemie, ohne der Schwester Schmeichelei im geringsten übelzunehmen. Das klang wie das Läuten eines Silberglöckchens.

»Anneli, du bist nicht gescheit, Mädel, Angst soll ein Fräulein vor uns Kindern haben!« Wieder lachte sie ihr glockenhelles Lachen.

»Ich weiß, was ich weiß,« sagte Annelise und tat ungeheuer geheimnisvoll.

»Was weißt du denn? Bitte, sag' es mir, ach, bitte!« Die kleine Neugierige hielt ihr Ohr dicht an Annelises Purpurmäulchen.

»Mutti hat neulich zu Vater gesagt – brauchst gar nicht so vorwurfsvoll zu gucken, Annemie, ich habe nicht gehorcht, ich war ganz zufällig im Nebenzimmer, und da bin ich nur drei Schritte näher gegangen, um besser zu hören – also Mutti hat gesagt, sie sähe eigentlich zu jung aus. Und ich würde am Ende keinen Respekt vor ihr haben – habe ich auch nicht – nicht die Bohne!« Sie schnippte übermütig mit den Fingern.

»Aber, Anneli,« – die sanften Blauaugen sahen entsetzt in die blitzenden Braunaugen – »es ist doch unser Fräulein, das ist doch gerade so wie eine Lehrerin, vor der man Ehrfurcht haben muß.«

»Ach was, wenn es noch eine Miß wäre oder eine Mademoiselle, aber bloß ein Fräulein – Ich wollte, wir hätten unsere alte Kinderfrau behalten, da durften wir tun und lassen, was wir wollten.«

»Vater sagt, die alte Brigitte hätte uns arg verzogen, aber ich bin froh, daß Vater sie nicht fortgeschickt hat, daß sie jetzt Mutter im Haushalt helfen soll.« Annemies Augen bekamen einen warmen Glanz in Gedanken an die gute, alte Kinderfrau.

»Na, ihr seid gewiß meine neuen Zöglinge,« erklang da plötzlich eine melodische Stimme von der Tür her.

Erschreckt fuhren die beiden Mädchenköpfe herum. Im Türrahmen stand, hell bestrahlt von dem Licht der elektrischen Glühbirnen, eine weißbeschneite, kleine Gestalt. Sie war nicht viel größer als die kräftigen Zwillinge; ein junges, kleines Gesicht sah unter dem schlichten, einfachen Hut freundlich auf die beiden Mädchen.

Blutübergossen standen die beiden Schwestern da, sie hatten vollständig das Klingeln überhört. Ob das neue Fräulein etwas von ihrer lebhaften Unterhaltung vernommen hatte? – Ach, es wäre ja ganz schrecklich! Annemie faßte sich zuerst. Sie machte einen etwas verspäteten Knicks und eilte auf die Erzieherin zu.

»Oh, Sie sind ja vollständig durchnäßt, bitte, darf ich Ihnen beim Ablegen helfen?« Ihre Verlegenheit wich vor dem Gefühl, jemand behilflich sein zu können.

»Wie ein Schneemann sehen Sie aus,« rief Annelise lachend, aber sie rührte sich nicht vom Fleck, um der Schwester nachzueifern. Auch der Knicks unterblieb, denn »sie ist ja kaum einen halben Kopf größer als wir!«

»Ich will Brigitte gleich bitten, daß Sie Ihnen heißen Tee bringt, damit Sie sich nicht erkälten, Fräulein.« Annemie eilte geschäftig davon. Mit dankbaren Blicken schaute die junge Erzieherin ihr nach. Ihr noch eben so bange schlagendes Herz durchflutete warmes Glücksempfinden. Wie gut hatte sie es doch getroffen, daß sie zu diesen reizenden, liebenswürdigen Kindern gekommen war!

Sie trat an den Arbeitstisch, an dem Annelise, das hübsche Köpfchen in die Hände gestützt, sie mit unverkennbarer Neugier musterte.

»Na, sehr elegant stehst du nicht aus,« das stand deutlich in den dunklen Kinderaugen geschrieben.

Des Fräuleins zartes Gesicht färbte sich unwillkürlich mit leisem Rot unter diesem prüfenden Blick. Dann aber streckte sie im plötzlichen Impuls dem jungen Zögling beide Hände hin.

»Wir werden gute Freundschaft miteinander halten, nicht? Ich hab' auch ein Schwesterlein daheim, so wie ihr seid.«

Annelise wurde es ganz merkwürdig zumute bei diesen herzlichen Worten. Aber sie wollte sich nicht weich machen lassen, sie hatte doch soeben noch Annemie versichert, daß sie nicht »die Bohne Respekt« vor dem neuen Fräulein habe.

So legte sie vorsichtig ihre Fingerspitzen in die gereichten Hände und sagte naseweis: »Ja, es gibt viele Mädchen von elf Jahren.«

Wie leichte Enttäuschung flog es über das blasse Gesicht. Als aber jetzt Annemie, gefolgt von Brigitte mit dem Teebrett, ins Zimmer trat, leuchtete es wieder auf in den Augen des Fräuleins.

»Na, quälen Sie mir man meine beiden Mädel nicht so sehr, Fräulein,« brummte die alte Brigitte. Sie stellte das Teegeschirr ab, strich mit ihren arbeitsharten Händen liebevoll über die hellbraunen Krausköpfe und stemmte herausfordernd die Arme in die Seiten. Wie eine Henne, die ihre Küchlein vor dem Marder verteidigt, stand sie vor ihren Lieblingen.

»Aber Brigitte,« sagte die feinfühlige Annemie, der die Bemerkung der alten Kinderfrau die Schamröte in die Wangen trieb, während Annelise in übermütigem Tone rief: »Wir werden uns schon nicht quälen lassen!«

»Wir wollen zusammen arbeiten und zusammen spielen, jedes zu seiner Zeit,« meinte das Fräulein mit unveränderter Freundlichkeit, aber die Teetasse in ihrer Hand zitterte leise. »Und nun, sagt mir eure Namen, damit ich euch endlich unterscheiden lerne,« setzte sie lächelnd hinzu, nachdem Brigitte gegangen war.

Das Fräulein lachte. So jung und von Herzen kommend klang das Lachen, daß unwillkürlich auch Annelise mit einstimmen mußte.

»Anneli – Annemie –«, riefen die beiden Schwestern wie aus einem Munde.

»Anneli – Annemie – da werde ein anderer daraus klug? also die Vergißmeinnichtaugen gehören der Annelise – nein, na, dann der Annemie, und hier diese mit den braunen Schelmenaugen, das ist die Anneli – so, nun weiß ich's.«

»Ja, das weiße fromme Schaf, das ist die Annemie, und das schwarze böse, das bin ich,« fiel ihr Annelise ins Wort.

Das Fräulein überhörte die vorlaute Bemerkung. »Und ich bin Fräulein Gertrud, nun zeigt mir mal eure Schulaufgaben für morgen, Kinder.«

»Wir haben schriftlich nur eine Rechenreinschrift auf,« sagte Annemie zögernd, in Erinnerung an die abgeschriebene Arbeit.

»Und die stimmt, denn wir haben beide dasselbe herausbekommen,« setzte Annelise mit einer Unbefangenheit hinzu, die Annemies höchste Verwunderung hervorrief.

»Dann sagt mir das französische Gedicht auf, zuerst Anneli.«

»Ich kann's,« brummte Annelise, »und jetzt will ich spielen.«

Sie hatte bereits das neue Zeppelinspiel hervorgeholt.

Fräulein Gertrud mochte nicht gleich am ersten Abend Strenge zeigen, sie hoffte, die Kinderherzen mit Liebe zu gewinnen.

»Annemie wird mir das Gedicht hersagen; ist deine Mappe gepackt, Annelise?«

Anneli ließ ihr Luftschiff ärgerlich über drei Städte fliegen – um so was hatte sich die alte Brigitte nie gekümmert!

»Nein,« sagte sie schließlich, nachdem Fräulein Gertrud noch einmal gefragt, »aber dazu ist morgen früh noch reichlich Zeit.«

»Ein ordentliches Mädchen packt seine Mappe am Abend, nachher spielen wir alle drei zusammen.« Fräulein Gertrud sah ernst aus.

»Ja, ach ja, Fräulein Gertrud, ich packe meine Mappe auch gleich.« Annemie lief eifrig an das weiße Bücherschränkchen.

Aber Annelise rührte sich nicht.

»Zu dreien spielen ist langweilig,« brummte sie ungezogen.

»Du sollst auch nicht eher mitspielen, als bis du deine Mappe gepackt hast,« sagte jetzt Fräulein Gertrud mit einer Bestimmtheit, daß Annelise ganz erschreckt aufblickte.

War das noch das junge Fräulein, das nicht viel größer war als sie selbst?

»Es ist mein Spiel, Onkel Alfred hat es mir geschenkt.« Trotzig breitete Annelise ihre Hände über die Spielkarten.

»So wirst du es uns borgen.« Fräulein Gertrud schien ganz ruhig, nur ihre Stimme klang merkwürdig gepreßt. Sie verteilte die Spielmarken zwischen sich und Annemie.

Annemie hatte bittend die Arme um die Schulter ihrer Zwillingsschwester geschlungen. »Anneli, sei doch gut, verdirb uns doch den hübschen Abend nicht!« Aber jäh riß sich Annelise los.

»Geh doch zu Fräulein Gertrud, mach dich doch da lieb Kind, was brauchst du mich denn noch,« damit war sie zur Tür hinaus.

Im Souterrain bei der alten strickenden Brigitte klagte Annelise schluchzend, daß das neue Fräulein sie schulmeistern wolle, und daß sie ihr schon ganz die Liebe ihrer Annemie geraubt habe.

Brigitte nickte zu den törichten Worten des unvernünftigen Mädchens zustimmend mit dem grauen Haupt. Sie hatte es ja gleich gewußt, daß ihre Lieblinge es bei einem Fräulein schlecht haben würden. Aber man hatte ja nicht auf sie gehört. Nun mußte das arme Kind es ausbaden. Mit dem Fräulein Gertrud aber wollte sie einmal ein ernstes Wort sprechen; die sah ja selbst noch wie ein halbes Kind aus und wollte ihren Kindern befehlen!

Aus dem hübschen Zimmer der Schwestern klang gedämpftes Lachen zu den beiden herab. Dort erzählte Fräulein Gertrud der lauschenden Annemie von ihrem »Zuhause«. Wie ihr Mütterlein von morgens bis abends nur für ihre Kinder sorge, von Schwester Henny, die mit ihren zwölf Jahren schon so fleißig in der Wirtschaft Zugriff, und von den kleinen Buben, die das ganze Haus auf den Kopf stellten und allerlei lustige Streiche verübten.

Annelise lauschte drunten auf jeden Ton, der durch die Zimmerdecke zu ihr drang. Sie wäre auch gern dabei gewesen, aber sie war zu stolz, um sich wieder einzustellen.

»Laß sie man lachen, Annelischen,« sagte die alte Brigitte, die den sehnsuchtsvollen Blick der Kleinen aufgefangen hatte. »Wir werden auch lachen, und wer zuletzt lacht, lacht am besten.« Damit stellte sie ein großes Stück Torte vor Annelise.

Aber dem Süßschnäbelchen, das sonst für derartige Liebesbeweise Brigittes ein dankbares Gemüt besaß, mundete es heute nicht so recht.

Sie mußte an die Worte der Mutter denken, als diese ihren Töchterchen zuerst von einem Fräulein gesprochen. »Brigitte ist ja sehr gut zu euch, unverständig gut, aber sie ist schon zu alt, um junge Mädchen zu erziehen.«

Ja, Mutti hatte recht, im tiefsten Herzensgrunde fühlte Annelise, daß es nicht richtig war von Brigitte, so zu sprechen, aber sie mochte dieses Gefühl nicht aufkommen lassen. Immer mehr bestärkte sie sich in ihrem Trotz gegen das neue Fräulein. Diese hatte ihr Zimmer aufgesucht, die beiden Zwillinge lagen in ihren Betten.

»Anneli, liebe Anneli,« kam ein leises Stimmchen unter dem Bilde, auf dem der kleine Hemdenmatz mit seinen Puppen und Püppchen betete, hervor, »sei doch wieder gut, sag' mir doch wie immer ›Gute Nacht‹, ich kann es sonst nicht ertragen. Und sei doch auch nett und höflich gegen Fräulein Gertrud, sie ist so lieb, du glaubst es gar nicht.«

»Dann wirst du mich ja nicht entbehren,« antwortete es von dem Schneemannsbilde her, aber die Stimme schwankte bedenklich.

»Anneli, hast du mich denn nicht mehr lieb?« wie leises Schluchzen klang es Annelise ans Ohr.

Da ging es tapp – tapp über den Fußboden, schon saß Annelise auf dem Bettrand der Schwester und drückte ihr einen zärtlichen Kuß auf die Lippen.

»Gute Nacht, meine Annemie – ich hab' dich lieb – aber das neue Fräulein muß wieder aus dem Hause – wir brauchen kein Fräulein – Brigitte sagt es auch.«

Im Nebenzimmer aber betete Fräulein Gertrud so recht innig, daß es ihr doch gelingen möge, die Liebe des schönen, trotzigen Kindes zu erringen.

*

»Wie schade, daß Fräulein Gertrud sich so gar nicht mit unserer Annelise stellen kann,« sagte vierzehn Tage später Frau Baurat Gebhardt zu ihrem Gatten. »Sie ist ein so liebes, sympathisches Mädchen, daß ich sie gern recht lange im Hause behielte. Annemie ist ja auch ganz begeistert von ihrem neuen Fräulein, aber Annelise ist wilder und störrischer als je. Dabei hockt sie ewig bei Brigitte, ich werde doch wohl eine ältere Erzieherin engagieren müssen, die mehr die Disziplin aufrechtzuerhalten weiß.«

Ja, mit der Disziplin sah es dort oben in dem netten Mädchenzimmer böse aus. Annelise versuchte dem armen Fräulein Gertrud die Stellung so schwer als irgend möglich zu machen. Entweder sie gehorchte gar nicht, oder nur verdrossen. Fräulein Gertrud versuchte es mit Güte wie mit Strenge; nichts fruchtete. Sprach sie lieb und freundlich zu Annelise, dann flimmerte es in den braunen Augen wohl wie von verhaltenen Tränen. Aber wenn Fräulein Gertrud schon glaubte, gewonnenes Spiel zu haben, hatten Übermut und Schelmerei längst wieder jede weiche Regung erstickt. Einem strengen Ton gegenüber aber kehrte Annelise Trotz und Eigensinn hervor. Fräulein Gertrud mochte nicht immer bei den Eltern über das ungehorsame Mädel Klage führen, von Tag zu Tag hoffte sie, daß Anneli sich an Annemie ein Beispiel nehmen würde.

Annemie machte ihr nur Freude und versuchte die Unart der Schwester durch doppelte Liebe wieder gutzumachen. Dadurch entfremdeten sich aber auch die Kinderherzen. Die Zwillingsschwestern, die bisher nicht ohne einander leben konnten, zankten sich jetzt beständig. Annelise war auf Annemies Liebe zu Fräulein Gertrud eifersüchtig und wurde darin noch immer von der alten Brigitte bestärkt. Annemie grämte sich, daß die sonst so liebenswürdige, wenn auch wilde Schwester gegen Fräulein Gertrud so ungezogen war.

Dabei hatte Annelise ein weiches, gutes Herz, das empfand Fräulein Gertrud trotz all des Ärgers, den ihr das Mädel bereitete. Sie fühlte sich gleichzeitig von dem hübschen Trotzkopf abgestoßen und angezogen. Ähnliches ging auch in Annelise vor. Sie konnte sich der gütigen, sanften Art der jungen Erzieherin nicht verschließen, wenn sie sich auch mit Verstocktheit dagegen wappnete.

An einem Nachmittag war es, in der Dämmerstunde.

Die abgeschriebenen Rechenaufgaben waren heute zurückgegeben worden, unter der Arbeit beider Schwestern prangte in blutroten Lettern ein großes »Ungenügend«. Annemie hatte falsch gerechnet, und Annelise die Fehler getreulich abgeschrieben. Professor Kaul hatte sie beide unter Tadel ins Klassenbuch eingetragen, denn »Hehlen ist so gut wie Stehlen«!

Annemie kam weinend nach Hause und beichtete Fräulein Gertrud die schlimme Geschichte sogleich, Annelise aber, die Hauptschuldige, schleuderte das Rechenheft mit lachendem »Na, diesmal bin ich reingeplumpst, das nächste Mal lasse ich mich nicht wieder abfassen« unter den Kleiderschrank.

»Annelise, hebe dein Heft aus und komme dann einmal her zu mir, ich habe mit dir zu reden,« sagte Fräulein Gertrud traurig.

Annelise stand mit den Händen auf dem Rücken und pfiff einen Gassenhauer.

»Pfeife nicht, wenn ich böse bin.« Fräulein Gertrud hatte sich vollständig in der Gewalt, sie sah nur noch blasser aus als gewöhnlich.

»Ich soll ja auch sonst nicht pfeifen, weil es sich für ein Mädchen nicht schickt«, antwortete Annelise keck.

Annemie sah mit entgeisterten Augen von der naseweisen Schwester zur Erzieherin. Sie hatte das Rechenheft unter dem Schrank aufgehoben und es Annelise in die Hand gedrückt.

»Geh, Anneli, bring es Fräulein Gertrud, so geh doch.« Sie versuchte, die Schwester vorwärts zu schieben. Aber die stand störrisch wie ein Maulesel auf demselben Fleck.

»Annelise, hast du dich innerhalb fünf Minuten nicht bei mir entschuldigt, so muß ich die Mutter von deinem ungehörigen Benehmen in Kenntnis setzen.«

»Mutti ist zum Kaffee eingeladen.« stieß das junge Mädchen, dem es jetzt doch ungemütlich zu werden begann, erleichtert hervor.

»Aber der Vater ist unten in seinem Arbeitszimmer, der wird sich sehr über seine Tochter freuen.«

Fräulein Gertrud nahm die unterbrochene Weihnachtsarbeit wieder auf.

Tick-tack-tick-tack ging der Pendel der kleinen, zierlichen Wanduhr, er flog förmlich von Sekunde zu Sekunde. Annelise hielt den Blick starr auf das Zifferblatt geheftet.

Annemie hatte sich mit flehentlichem Blick auf die Schwester aus dem Zimmer geschlichen, sie wollte ihr die Abbitte erleichtern.

In Annelise kämpften Trotz und Angst. Vater würde sehr böse werden, er hatte erst neulich seinen Wildfang bei den widerspenstigen Locken gefaßt und in warnendem Tone gesagt: »Wenn du, Unband, nicht bescheiden und artig zu Fräulein Gertrud bist, tue ich dich in eine ganz strenge Pension.«

Davor hatte Annelise eine schreckliche Angst. Aber die alte Brigitte hatte mit ihr um die Wette geweint, daß der Vater sein eigenes Kind wegen einer Fremden aus dem Hause geben wollte. Ja, Brigitte – was hätte die wohl gesagt, wenn die stolze Annelise dem jungen Fräulein Gertrud wie ein Baby abgebeten hätte – nein, sie bat nicht um Entschuldigung!

Die Fünfminutenfrist war verstrichen, Fräulein Gertrud erhob sich. Ohne noch einen Blick aus das böse Mädel zu werfen, schritt sie aus dem Zimmer.

Annelise klopfte das Herz zum Zerspringen. Sie stand am Fenster und lauschte. Vaters Arbeitszimmer lag im Parterregeschoß, kamen da nicht Schritte die Treppe herauf, wollte man sie holen? –

Es waren langsame, müde Schritte, Fräulein Gertrud trat wieder ins Zimmer.

Da drinnen hatte die Dämmerung inzwischen ihre grauen Netze über all die zierlichen weißen Möbel gesponnen, auch das schlanke Mädchen, das sich zitternd in die Fensternische preßte und in das verschwimmende Grau hinausstarrte, hüllte sie in ihre Schleier.

Fräulein Gertrud gewahrte sie nicht.

Sie ließ sich schwerfällig auf einen Stuhl nieder und stützte den Kopf in beide Hände. So saß sie unbeweglich in der wachsenden Dunkelheit.

Annelise wagte nicht zu atmen. Da aber traf ein Ton ihr Ohr, ein Seufzer, so traurig und weh, daß der häßliche Mädchentrotz plötzlich in alle Winde zerstob.

Annelise stand neben Fräulein Gertrud und drückte liebevoll ihre tränenüberströmten Wangen gegen die pochenden Schläfen der Erzieherin.

»Annemie,« – Fräulein Gertrud sah nicht auf – »um deinetwillen, Annemie, tut es mir in der Seele weh, daß ich von euch gehen muß, ich habe eurem Vater eben gesagt, daß ich nur noch bis zum ersten Januar bleibe.«

»Fräulein Gertrud – nein – Sie dürfen nicht fort – liebes Fräulein Gertrud –« Stürmisch schlang Annelise beide Arme um die zarte Gestalt.

War das die ruhige Annemie, die da so ungestüm flehte? Waren das die sanften Blauaugen, die so leidenschaftlich in der Dunkelheit blitzten?

Fräulein Gertrud sah empor, sie fuhr sich wie im Traume über die Stirn. Aber da war die Mädchengestalt schon aus dem Zimmer, Fräulein Gertrud saß allein im Dunkeln.

»Es muß doch wohl eine Täuschung gewesen sein,« dachte die junge Erzieherin traurig, als Annelise beim Abendessen stumm und verstockt an ihrer Seite saß. In den braunen Augen stand nichts von Bitten und Flehen, nur trotzige Befangenheit war darin zu lesen.

Vaters Strafpredigt war ausgeblieben, er beachtete Annelise überhaupt nicht, keinen Blick hatte er heute für seinen wilden Liebling. Auch die Mutter schwieg, nur ab und zu irrte ihr Auge vorwurfsvoll zu ihrem Töchterchen hin.

Es war Annelise recht unbehaglich zumute, sie schämte sich vor Vater und Mutter, vor Annemie, vor Brigitte und vor sich selbst. Vor allem aber vor Fräulein Gertrud. Wenn sie doch bloß nicht dahinterkam, daß sie, Annelise, es gewesen war, die sie gebeten hatte, zu bleiben, so dachte das kindische Mädchen.

Die Tage vergingen. Weihnachten stand vor der Tür.

In dem Zimmer mit den weißlackierten Möbeln herrschte eifrige Geschäftigkeit. Die Schwesterherzen hatten sich bei den alljährlichen Weihnachtsarbeiten wieder eng aneinandergeschlossen. Annelise fand jetzt gar keine Zeit, ungezogen gegen Fräulein Gertrud zu sein. Die guten Eltern hatten ihr auf das Versprechen hin, sich nun auch ganz gewiß zu bessern, verziehen, Annemie und sie waren sich wieder so gut wie früher – was hinderte Annelise nur daran, fröhlich und ausgelassen zu sein, wie sie es sonst stets vor Weihnachten gewesen? Waren die stillen Augen der jungen Erzieherin, die manchmal so nachdenklich auf ihr ruhten, daran schuld? Ja, hinter dem lieben Weihnachtsfest, da stand, wie Knecht Ruprecht mit der Rute, der erste Januar, an dem Fräulein Gertrud von ihnen fortgehen wollte.

Nur einmal abends im Bette hatte Anneliese mit Annemie davon zu sprechen gewagt, da hatte Annemie mit leisem Weinen gemeint: »Sie geht, sie läßt sich nicht erweichen – ich habe sie schon so viel gebeten. Vielleicht wenn du sie mal bitten würdest, Anneli –«, hatte sie zögernd hinzugesetzt.

Aber Annelise hatte diese Zumutung empört von sich gewiesen.

Auch Fräulein Gertrud stichelte eifrig an allerlei Gaben für ihre Lieben daheim. Für die Mutter hatten ihre geschickten Finger eine schwarzseidene Sonntagsschürze gearbeitet, für Henny hatte die gute Schwester eine lange weiße Golfjacke gestrickt, die Kleinen sollten Spielzeug bekommen. Hennys weiße Jacke erregte Annemis helle Begeisterung.

»Solche Jacke wünsche ich mir auch zu Weihnachten,« hatte sie ausgerufen, und selbst Annelise warf heimlich bewundernde Blicke auf das Kunstwerk.

Seitdem saß Fräulein Gertrud, wenn die beiden Schwestern längst schon im Bette lagen, mit Holzstricknadeln und einem Riesenknäuel weißer Wolle nebenan in ihrem Zimmer. Nur der gelbliche Zitterschein, der durch die Türritzen huschte, erzählte Annelise, die jetzt oft nicht einschlafen konnte, davon, daß dort drinnen noch jemand fleißig bei der Arbeit war.

Aber das Herz der jungen Erzieherin schlug diesmal nicht freudig bei ihren Liebesgaben. Es wurde ihr doch viel schwerer, als sie geglaubt hatte, sich von den beiden Schwestern zu trennen. Nicht nur von Annemie, nein, sonderbarerweise auch von Annelise. Wie wohl hätte sie sich in dem Hause des Baurats gefühlt, wenn Annelise und Brigitte ihr nicht so feindlich gegenübergetreten wären. Sie konnte nicht bleiben – nein – aber weh tat das Scheiden. Was war aus ihren schönen Plänen geworden, die Mutter von ihrem reichlichen Gehalt zu unterstützen, die Geschwister etwas Tüchtiges lernen zu lassen. Sie mußte ihren Wanderstab weitersetzen, sich aufs neue das Vertrauen Fremder erringen.

»Fräulein Gertrud – Fräulein Gertrud –« wie zwei Federbälle flogen andern Tags die beiden Mädel in das Zimmer der einsam Sinnenden. »Hurra – wir verreisen –« Annelise war plötzlich wie ausgetauscht – »und Sie kommen auch mit, Fräulein Gertrud,« setzte Annemie selig hinzu.

Fräulein Gertrud blickte erstaunt auf.

»Nach Krummhübel geht's, ins Riesengebirge, Vater ist so angestrengt, er will über Weihnachten ausspannen – da können wir rodeln und Schneeschuh laufen, und Hörnerschlitten gibt es dort, ach, und auf die Schneekoppe dürfen wir auch – Hurra!« Die Zwillinge waren ganz aus dem Häuschen.

Ein großer Koffer mit warmen, wollenen Kleidungsstücken wurde gepackt, mit Pelzen und Decken – »als ob es nach Sibirien ginge.« riefen lachend die Kinder. Aber der Vater, der schon öfters zum Wintersport in den Bergen gewesen, meinte: »Lieber eine Decke zu viel als zu wenig. Der Herr Rübezahl ist böse, daß die Stadtleute ihn in seinem Winterschlaf stören, da bläst er ihnen seinen Eishauch tüchtig unter die Nase.«

Endlich saß man in dem überheizten Eisenbahnzug. Es war Heiligabend. Die Bescherung daheim für die Leute hatte bereits am Morgen stattgefunden. Die alte Brigitte war böse gewesen, daß Fräulein Gertrud ihre Kinder begleiten sollte, nicht einmal die warme Kapotte, welche die gutherzige Gertrud ihr trotz aller Kränkung gestrickt hatte, konnte sie ganz versöhnen.

Droben im Gepäcknetz lagen wohlverstaut allerlei geheimnisvolle Kistchen und Schachteln. Das Christkind mußte diesmal seine Gaben hoch hinauf in das verschneite Gebirgsdörflein bringen.

Gertrud wußte nicht, ob sie sich freuen sollte oder nicht. Während die Zwillinge, strahlend vor Glück, die herrlichsten Pläne für die kommenden Tage schmiedeten, sah sie versonnen in die feierlich stille Schneelandschaft, die der Zug durcheilte, hinaus.

Wie anders war doch der heutige Heiligabend, als die, welche sie bisher im Elternhause verlebt hatte. Ringsum lachende, schwatzende Menschen im Sportkostüm, allenthalben wurden zierliche Rodelschlitten und die langen, hölzernen Schneeschuhe verladen. Aber von der fröhlichen Geschäftigkeit, von der wohltuenden Herzenswärme, wie sie ihr Mütterlein daheim in den kleinen Stuben verbreitete, von der seligen Vorfreude, die aus den Augen der kleinen Geschwister am Heiligabend gesprüht, merkte man hier nicht viel.

Auch die Eltern konnten sich diesem Gefühl nicht verschließen, als man endlich in dem überfüllten Gasthaus das vorherbestellte Quartier bezogen hatte, – Heiligabend ist es am schönste» daheim!

Wohl flammte in dem großen Speisesaal ein mächtiger, bis zur holzgetäfelten Decke reichender Tannenbaum, aber die Menschen, die ringsum an den festlich gedeckten Tischen saßen, waren sich fremd. Gleichgültig gingen sie aneinander vorüber.

Selbst die reichen Gaben droben in den eigenen Zimmern konnten dieses Empfinden, das sich erkältend einem jeden auf die Brust legte, nicht ganz bannen. Wohl schmückten sich die Zwillingsschwestern jubelnd mit den weißen Sportmützen, nahmen immer wieder auf den rot und blau gepolsterten neuen Rodeln probeweise Platz und bauten geheimnisvoll ihre Arbeiten für die Eltern auf. Auch für Fräulein Gertrud hatte Annemie einen allerliebsten Handschuhkasten gearbeitet, da empfand die junge Erzieherin zum ersten Male an diesem Abend ein inniges Glücksgefühl. Annelise stand scheinbar teilnahmlos mit leeren Händen daneben. Aber als Fräulein Gertrud jetzt zwei selbst gearbeitete weiße Golfjacken vor ihnen ausbreitete, gerade solche, wie Schwester Henny sie bekommen, und Annemie dankbar die Arme um ihren Hals schloß, wandte sich Annelise blutübergossen in peinlichster Verlegenheit ab. Kaum ein »Danke schön« brachte sie über die Lippen. Fräulein Gertrud, die sie so gekränkt, die ihretwegen fortging, hatte viele Nächte ihren Schlaf geopfert, um ihr eine Freude zu machen! Das brannte wie Feuer in dem Herzen der stolzen Annelise.

»Habt ihr Lust, noch einen Gang durch das Dorf zu machen?« fragte Fräulein Gertrud.

Dazu waren die Mädchen sogleich bereit. Mutter wickelte ihre Kinder in Mäntel und Tücher, daß nur die Nasenspitze hervorlugte, und auch Gertrud mußte sich warm vermummen lassen. Mit Staunen sahen die Zwillinge, daß Fräulein Gertrud ihre Taschen mit Äpfeln, Nüssen und Pfefferkuchen vollstopfte; wollte sie das alles unterwegs essen? Man trat in den klaren Winterabend hinaus. Annemie hatte sich in Fräulein Gertruds Arm gehängt, Annelise wagte es nicht. Sie trabte drei Schritte hinterher. Aber Annemie blieb stehen und wartete auf ihre Schwester: »Komm, Anneli,« sagte sie, zärtlich ihre Hand fassend, »heute muß man miteinander gehen.« So stapften sie einträchtig zu dreien durch den knirschenden Schnee.

Funkelnder Sternenhimmel spannte sich über das friedliche Dörfchen, das blitzte und glitzerte wie Tausende von Weihnachtslichtern. Da durchzog auch die Herzen der drei ein frommes, erhebendes Gefühl. Majestätisch schauten die vereisten Bergriesen auf die winzigen, verschneiten Häuslein herab, hinter deren gefrorenen Fensterscheiben Weihnachtsschein aufblitzte. Doch jetzt – Fräulein Gertrud hemmte an einem armseligen Hüttlein den Schritt, von hellen Kinderkehlen klang es »Stille Nacht, heilige Nacht« in den Winterabend hinaus.

Lächelnd öffnete Fräulein Gertrud die schiefe, kleine Tür um einen Spalt. »Fröhliche Weihnacht!« rief sie mit tiefer Stimme, und da rollten Äpfel, Nüsse und Pfefferkuchen den singenden Blondköpfchen vor die Füße.

»Der Herr Riebezahl, der gutte Herr Riebezahl, Mutterle, kumm ooch und sieh!« Die Kleinen stürzten jubelnd zur Tür. Aber dort gab es nichts mehr zu sehen, Fräulein Gertrud stand mit ihren jungen Begleiterinnen bereits am nächsten Hüttlein, aus dem Kinderstimmen schallten. Weiter ging es von Tür zur Tür, bis die Taschen leer waren.

»So, Kinder, nun haben wir doch auch unsere Weihnachtsfreude gehabt«, sagte sie, die Schritte zum Hotel zurücklenkend, mit frohen Augen. Die Schwestern nickten still.

Aber als Fräulein Gertrud ihr Lager aufsuchte, da lag ein kleines, in weißes Seidenpapier gewickeltes Etwas auf ihrem Kissen.

Verwundert schlug Gertrud die Hülle zurück. Es war ein seidenes Taschentuch, aus dem in großen Lettern ihr Monogramm prangte. Fräulein Gertrud hatte zwar noch nie seidene Taschentücher benutzt, auch war die Arbeit ziemlich ungleichmäßig und nicht einwandfrei sauber, aber die junge Erzieherin strich mit glänzenden Blicken über die ungeübten Stiche.

»Annelise,« sagte sie leise, »das ist mein liebstes Weihnachtsgeschenk.«

Aber der kleine Übermut tat am anderen Morgen, als ob er ganz und gar nichts von der geheimnisvollen Weihnachtsarbeit wisse. Was auch Fräulein Gertrud für Anspielungen machte, sie hatte nur ein erstauntes Achselzucken zur Antwort.

»Am Ende war es der ›gutte Herr Riebezahl‹«, meinte sie schließlich schalkhaft.

Da ließ es Fräulein Gertrud ohne Dank bewenden.

Wonnige Tage kamen. Goldener Sonnenschein stieg täglich von den schimmernden Kuppen in das beschneite Tal hernieder, leuchtend blauer Himmel umfing den schweigenden Wald. Der Rauhreif hatte jedes Zweiglein, jedes Hälmchen mit seinem glitzernden Silberkleid umsponnen, wie Prinzessinnen in wehenden Spitzenkleidern standen die Föhren im Bergwald. Ein bezauberndes Wintermärchen.

Aus ihren weißen Allongeperücken schauten die Schneekoppe, das Hohe Rad und die Sturmhauben verwundert auf das aus tiefem Winterschlaf wachgeküßte Dornröschen.

Über die Schneehänge aber glitten mit lautem Jauchzer die übermütigen Rodler, lachend purzelte man bei dem schwierigen Skilauf in den tiefen Schnee, und dazwischen sausten die Hörnerschlitten von der Prinz-Heinrichs- und der Riesenbaude mit seltsam vermummten Gestalten zu Tal.

Annelise war in ihrem Element, das war so recht etwas für den unbändigen Wildfang. Sie nahm die tollkühnsten Kurven mit ihrem neuen Rodelschlitten und schoß pfeilgeschwind die steilsten Berglehnen herab, so daß es Fräulein Gertrud oft himmelangst wurde. Annemie war zaghafter, »Angsthase« nannte sie Annelise neckend, wenn sie gar so wenig wagte. Aber auch Fräulein Gertrud lebte bei dem fröhlichen Wintersport in der kräftig reinen Bergluft und der märchenhaft schönen Umgebung auf. Ihre bleichen Wangen hatten sich gerötet, ihr frischer Jugendmut brach hervor. Sie rodelte mit den Schwestern um die Wette, lag wie sie beim »großen Telemarck«, dem schwierigen Skisprung, auf der Nase und zeigte sich bei der winterlichen Koppentour als ausdauernde Hochtouristin.

So würden die Tage uneingeschränkt herrlich gewesen sein, wenn sie nur nicht – dem ersten Januar zugeeilt wären.

Der letzte Tag in Krummhübel war herangekommen. Morgen, Silvester, wollte man wieder daheim sein, und am nächsten Tage hieß es dann – Lebewohl. Annemie war schon in weicher Abschiedsstimmung, sie ging ihrem Fräulein Gertrud nicht von der Seite und hatte, sobald sie sie ansah, Tränen in den Augen.

Annelise dagegen versuchte unter doppelter Unbändigkeit zu verbergen, daß auch ihr der Abschied nahe ging. Sie war heute von einer Tollkühnheit, daß das leidlich gute Einvernehmen der letzten Tage mit Fräulein Gertrud wieder Schiffbruch zu leiden schien.

»Annelise, wenn du so ungestüm und unvernünftig bist, gehen wir in das Hotel zurück,« rief Fräulein Gertrud erregt, ihren Rodelschlitten geschickt lenkend. Wie die wilde Jagd kam es hinter ihr hergebraust, da – ein Krach – ein Schrei – Annelise war mit gewaltigem Stoß gegen Fräulein Gertruds Rodel angefahren. Im Bogen flog die leichte Gestalt der Erzieherin gegen den nächsten Baumstamm.

Annelises Schreckensschrei brachte im Nu Annemarie herbei, leichenblaß standen die Zwillingsschwestern neben der leblosen Gestalt ihres Fräuleins.

Fräulein Gertruds Augen waren fest geschlossen, dunkle Blutstropfen sickerten von ihrer Stirn in den weißen Schnee.

Annemie weinte und jammerte, Annelise aber griff mit zuckenden Lippen zu. Sie band die beiden Rodelschlitten aneinander, breitete ihren Mantel darauf aus und legte kühlen Schnee auf die verletzte Stirn. Da schlug Fräulein Gertrud die Augen auf – nur einen Moment – dann schloß sie sie wieder mit einem Wehlaut.

»Faß an,« sagte Annelise mit tonloser Stimme, und behutsam betteten die kräftigen Mädchen die zarte Gestalt auf den Schlitten. »Wir spannen uns vor; wenn wir quer durch den Wald fahren, kommen wir auf die Fahrstraße, dort werden wir Hilfe finden.«

So zogen die beiden Kinder keuchend den Schlitten durch den tiefen Schnee, Schweißtropfen rannen ihnen von der Stirn und die Tränen über die Wangen.

Endlich stießen sie auf einen Trupp Holzfäller, die den seltsamen Zug erstaunt nahen sahen.

»Kindersch, nee, aber ooch esu eene Wunde, nu, da mecht ma ja sprechen, das junge Weibsbild hat sich halt totgefahren.«

»Nu, 's hat halt noch a bissel,« meinte ein anderer, auf die leise atmenden Lippen deutend, tröstend zu den fassungslosen Schwestern.

Hilfsbereit trugen die Männer die leichte Last heim.

Das wurden schwere Stunden für die ausgelassene Annelise.

Der schnell herbeigerufene Arzt fand die Verletzung zwar nicht lebensgefährlich, aber er trug ernste Bedenken, ob das Gehirn der Patientin durch die starke Erschütterung nicht Schaden gelitten habe.

Annelise war nicht von Fräulein Gertruds Lager fortzubringen. »Lieber Gott,« so flehte sie, »lade nicht diese entsetzliche Schuld auf mich, durch leichtsinnigen Übermut Fräulein Gertruds Leben zerstört zu haben.«

Und Gott erhörte das Gebet aus gepreßter Kinderseele.

An einem sonnigen Wintertage war es, als Annelise wieder einmal feuchten Auges auf Fräulein Gertruds abgezehrte Züge blickte, während von draußen das Jauchzen der Rodler in das stille Krankenstübchen drang.

Da schlug Fräulein Gertrud zum ersten Male bewußt die Augen auf.

»Annelise,« flüsterte sie und streckte ihr die Hand hin.

Annelise aber sank auf die Knie und drückte ihre Lippen auf die schmale, blaugeäderte Rechte der jungen Erzieherin.

Nun schritt die Besserung schnell vorwärts. Annemie und Annelise pflegten ihr Fräulein Gertrud mit einer Liebe und einer Sorgfalt, daß diese lächelnd behauptete, sie käme sich wie eine Prinzessin vor.

Aber als Fräulein Gertrud einmal halb scherzend meinte: »Nun, Annelise, wie steht es mit dem ersten Januar?« da fiel ihr Annelise mit dem alten Ungestüm um den Hals.

»O Fräulein Gertrud, der erste Januar ist ja längst vorbei, jetzt müssen Sie für immer bei uns bleiben!«

Auch Annemie stand daneben und streichelte sie: »Fräulein Gertrud, nun lassen wir Sie nicht mehr fort – Vater und Mutti haben es heute erst wieder gesagt!«

Da war auch Fräulein Gertrud mit glücklichem Lächeln einverstanden.

Und ob die alte Brigitte im Anfang, als man endlich wieder heim konnte, auch ein wenig murrte, schließlich siegte ihr treues Herz. »Na, denn muß ich dem neuen Fräulein ja wohl auch gut sein,« sagte sie eines Tages zu Frau Baurat, »denn unsere Kinder und Fräulein Gertrud, die sind doch jetzt ein Herz und eine Seele. Das sind schon keine Zwillinge mehr, nee, das sind ja die reinen Drillinge!«


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