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Tante Wischen

Große Schneeflocken jagten vom grauen Januarhimmel herab.

Immer mehr, immer neue, ein toller, flimmernder Wirbel. Die sonst so graue Straße schaute heute blendend weiß aus. Ein schneeiger Samtteppich war über das schmutzige Pflaster gebreitet. Jeder Giebel, jede Dachrinne, auch der kleinste Sims und Steinvorsprung trug stolz seinen weißen Hermelinpelz. Selbst der Laternenpfahl blinzelte verschlafen aus der großen Schneehaube hervor.

Plötzlich wurde es noch heller in der Straße. Viel heller. Die Mädchenschule drüben an der Ecke war aus. In Scharen strömten lachende Kinder aus dem weit geöffneten Tor. Die jungen Augen blitzten und strahlten, als es in das lustige Schneetreiben hineinging, mitten hinein in den übermütigsten, wildesten Flockentanz. Davon sah die ganze Straße plötzlich so hell aus, von all dem jungen, lachenden Leben.

Hui – da flogen die ersten Schneebälle durch die Luft.

»Au, mein Ohr!« – »meine Nase!« – »nicht so grob, Hilde!« so schwirrten lachende und kreischende Stimmen durcheinander.

»Das merkt nicht, daß wir zwölf Grad Kälte heute haben,« schmunzelte der alte Scherenschleifer an der Ecke, in die klammen Finger hauchend. Selbst auf sein verfrorenes Gesicht zauberte so viel Jugendlust ein wenig Sonnenschein.

»Hilde, hör auf, komm, wir müssen noch zu Tante Wischen, heute ist Mittwoch!« rief die zwölfjährige Lucie Werner ihrer um zwei Jahre jüngeren Schwester zu.

Die hörte nicht. Wo Hilde mit eidechsenhafter Gewandtheit ihre Schneegeschosse nach allen Seiten richtete, gab es den größten Juchhei.

Lucie nahm Gretel, das kleine, siebenjährige Schwesterchen, das ein wenig weinerlich in das wüste Schneetreiben blickte, denn es traute sich nicht so recht, mit den Großen mitzutun, entschlossen an die Hand.

»Hilde, wir gehen – Tante Wischen wartet!« rief sie noch einmal mahnend zurück.

»Herrgott – laß sie doch warten!« murrte Hilde und formte einen besonders großen Schneeball.

Gleich darauf aber schämte sie sich ihrer häßlichen Worte.

War doch Tante Wischen die beste, gütigste Tante, die ein Kind nur haben konnte. Eigentlich Großtante. Schon als Muttchen noch ein kleines Mädchen gewesen, hatte keiner so schön mit ihr zu spielen verstanden wie Tante Wischen. Und später, als Mutter selbst Kinder hatte, da erschien Tante Wischen immer als Retter in der Not. War Großreinemachen oder Waschfest im Hause, und die lärmende, kleine Gesellschaft überflüssig, dann schickte Mutter sie zu Tante Wischen. Dort wurden sie immer mit offenen Armen empfangen. In dem traulichen Stübchen, in dem die blecherne Keksbüchse für alle Kinder eine Hauptanziehungskraft bildete, verflog der lange Nachmittag nur zu schnell. Am schönsten aber war's, wenn man krank war. Ja wirklich! Die Wernerschen Sprößlinge wünschten es sich oft. Nicht gerade zu arg, nur solch kleines Schnupfenfieber, bei dem die kleinen Faulpelze nicht in die Schule zu gehen brauchten, sondern im Bett bleiben mußten. Ach, dann kam Tante Wischen! Die saß dann von morgens bis abends getreulich am Bettchen der kleinen Patientin, schnitt mit geschickten Fingern Papierpuppen aus, malte Kleider für die Püppchen und erzählte ... erzählte ... Man hätte ihr immer und ewig zuhören mögen. Wenn dann draußen die Schneeflocken herniederstoben, wie gerade jetzt, war es der Gipfel der Gemütlichkeit.

Daran dachte Hilde wohl, als sie endlich mit eiligem »der allerletzte!« ihren Schneeball Freundin Emmi an das Regennäschen warf und dann spornstreichs hinter den Schwestern herjagte.

Die gute alte Tante sollte nicht enttäuscht sein, daß sie heute bei dem regelmäßigen Mittwochsbesuch fehlte! War Hilde doch ihr ganz besonderer Liebling.

An dem großen Platz holte sie die Schwestern ein.

Hu – hier pfiff der Wind. Er nahm einem förmlich den Atem, und die Augen konnte man auch vor dem Schneegetriebe kaum noch aufmachen. Jetzt hörte die Sache bald auf, lustig zu sein.

Das fand auch Klein-Gretel, deren Tränen mit dem Schneenaß um die Wette die rotgefrorenen Bäckchen langkullerten.

»Laß nur, Gretel, gleich sind wir im warmen Stübchen bei Tante Wischen,« tröstete Lucie, »siehst du, hier in ihrer Straße ist's schon besser.«

Ja, es schien gerade, als ob das Behagen, das Tante Wischen auszuströmen wußte, sich selbst der Straße, in der sie wohnte, mitteilte. Der Wind heulte hier lange nicht so arg, selbst das Schneegewirbel hatte ein Einsehen.

Es war ein großes, gelbes Haus, in dem Tante Wischen wohnte. Von außen war gar nichts Besonderes daran zu sehen. Da ahnte man nicht, daß sich hinter dem steinernen Bau, mitten in der Großstadt, ein ausgedehnter Garten mit Bäumen, in dem sich die Kinder zur Sommerszeit herrlich tummeln konnten, anschloß. Tante Wischen war Stiftsfräulein. Sie wohnte in einem Stift mit Offiziersdamen zusammen, die keine eigene Häuslichkeit hatten.

Wie stets am Mittwoch, wo die Schule schon um zwölf Uhr geschlossen wurde, stand Tante Wischen an dem breiten Parterrefenster und schaute nach ihren Lieblingen aus. Zwischen den schlohweißen Mullgardinen nickte ihr liebes Gesicht über blühenden Tulpen- und Hyazinthentöpfchen den Kindern schon von weitem einen Gruß zu. Da empfanden die drei Wind und Wetter nicht mehr, es wurde ihnen warm bis ins Herz hinein.

»Na, seht ihr euch wieder mal nach der alten Tante um, das ist recht,« sagte der Pförtner, ein graubärtiger Invalide, erfreut, als sich die drei Mädelchen sorgsam auf der Strohmatte den Schnee von den Füßen traten.

Dann hier noch ein Knicks, dort noch ein Knicks auf dem langen Korridor, und nun waren sie endlich drin in Tante Wischens molligem Stübchen.

»Puh – ist das ein Wetter!« Hilde schüttelte sich wie ein nasser Pudel, nachdem die erste freudige Begrüßung vorüber war.

»Meine armen Kinder, ich hätte euch gar nicht kommen lassen sollen, aber man freut sich jetzt im Winter von einer Woche zur anderen auf das bißchen Frühling, das ihr einem mit hereinbringt.«

»Netter Frühling!« lachte Hilde, ausgelassen auf ihre beschneiten Kleidungsstücke weisend, die Tante Wischen sorgsam zum Trocknen um den weißen Kachelofen hing.

»Hier lacht Frühlingssonnenschein, du Schelm!« Die Tante hob Hildes rosiges Gesicht zu sich empor und schaute ihr in die lachenden Augen.

»Gerad' so wie mein Mathildchen selig! Ganz so sah eure Großmama, mein jüngstes Schwesterchen, aus, als sie in deinem Alter war, Hilde. Als ob fünfzig Jahre plötzlich entschwunden wären!« nickte die Tante nachdenklich. Und das schwarze Spitzenhäubchen auf ihrem weißen Scheitel nickte mit.

Lucie stand an der großen Glasservante mit den geschweiften Beinen. Da gab's allerlei für neugierige Mädchenaugen zu schauen. Altmodische Täßchen mit verblaßten Goldinschriften, zierliche silberne Döschen mit blauem Glas, altes blitzblankes Zinngerät, Perltäschchen, winzige Schuhchen, eine Puppe mit einer Krinoline, eine Lichtputzschere und kleine Medaillons mit schwarzen Schattenbildnissen. Das Schönste aber an jedem Stück war die Geschichte, die Tante Wischen davon zu erzählen wußte. Ihre ganzen Kinder- und Jugenderinnerungen hatte sie in der Glasservante aufgestapelt.

Hilde hatte ihren Stammplatz vor Mätzchens Bauer eingenommen. Sie schob ein Schnittchen von ihrem aufgesparten Frühstücksapfel zwischen die Messingstäbe und nahm dann strahlend sein Danklied entgegen. So schön wie Tante Wischens Mätzchen sang kein anderer Kanarienvogel.

Klein-Gretels Augen aber wanderten zum Wandschränkchen, und vom Wandschränkchen wieder zur Tante. Dort drinnen in dem Schrank stand die Keksbüchse! Tante Wischen folgte den begehrlichen Blicken der Kleinen. Sie lächelte und erhob sich schwerfällig aus ihrem großen Lehnstuhl. Dann humpelte sie zu dem Wandschränkchen und entnahm ihm die heißersehnte Blechbüchse.

»Na, Gretel, du magst wohl keinen Kuchen?« scherzte sie und sah wohlgefällig zu, wie ihr kleiner Besuch es sich schmecken ließ.

»Nun erzählt!« Tante machte es sich wieder auf ihrem Fensterplatz mit der grünwollenen Strickdecke bequem, und die Großnichten scharten sich eifrig kauend und durcheinander schwatzend um ihren Sitz. So hatte Tante Wischen es gern.

»Ich habe null Fehler im französischen Extemporal, Tante,« berichtete Lucie stolz.

»Und ich eine Eins unter der Schreibseite,« fiel Nesthäkchen ein.

»Tante Wischen, die allermeisten Schneebälle habe ich heute den Mädels an den Kopf geschmissen, und nachmittags gehen wir auf die Eisbahn – hurra!« Die alten Möbel, die sonst friedliche Stille gewöhnt waren, sahen ganz erstaunt auf die lebhafte Hilde, den kleinen Ruhestörer.

Aber Tante Wischen empfand Hildes Jugendfrische nicht störend, die dachte an vergangene Tage, wo ihr Lieblingsschwesterchen gerade solch ein ausgelassener Kobold gewesen.

»Morgen in der Zehnuhrpause machen wir eine richtige Schneeballschlacht auf dem Hof, ich bin Feldmarschall,« fuhr Hilde mit heißen Wangen fort.

»Na, Hildchen, und weiter hast du mir nichts zu erzählen?« fragte Tante Wischen mit seinem Lächeln.

»O doch, Tante; denk' mal, ich kann mit den Ohren wackeln, am allerbesten aus der Klasse. Kannst du auch mit den Ohren wackeln, Tante Wischen?«

»Nein, soweit habe ich es allerdings noch nicht gebracht,« lachte Tante amüsiert. »Aber sind das all deine Schulerlebnisse, Hilde?«

»I wo, Tantchen,« – Hildes Arme umstrickten sie – »bitte, bitte, hilf mir doch dabei, Muttchen umzustimmen, daß ich eine Kindergesellschaft zu meinem Geburtstag geben darf. Du weißt doch, Muttchen will es nicht erlauben, weil ich auf meiner letzten Zensur nicht ›lobenswert‹ im Betragen gehabt habe. Aber wenn du sie bittest, tut sie's sicher!« Hildes Augen bettelten mit den streichelnden Händen um die Wette.

»Ei, dann muß ich wohl mal sehen, was sich tun läßt, Hilde.« Tante Wischen war es gewöhnt, daß sich die Kinder mit all ihren kleinen Anliegen und Wünschen an ihr gütiges Herz wandten. »Wird es denn diesmal ein Lobenswert geben, hm?«

»Ich weiß nicht,« meinte Hilde etwas unsicher, »Doktor Wilke fand gestern, als ich lachte und plauderte, ich sei etwas zu lebhaft für die Schulstunden. Weißt du, es sah aber zu ulkig aus, wie er immer über seine Brille hinweg blinzelte. Na, bis Ostern ist ja noch lange hin,« lachte sie schnell getröstet wieder.

»Dann würde ich mich bis dahin noch tüchtig zusammennehmen, damit Dr. Wilke es vergißt, was für eine kleine Schwatzliese du gewesen bist, Hilde. Vor allem aber nicht über den Lehrer lachen!« meinte Tante Wischen ernst. Doch gleich darauf war sie wieder heiter. »Herrgott, da hätte ich ja bald das Beste vergessen!« Lebhaft erhob sie sich und hinkte zum Kachelofen. Aus der Ofenröhre zog verlockender Duft in die drei Kindernäschen.

Es sah wohl etwas drollig aus, wie Tante Wischens kleine zierliche Gestalt so flink durch das Stübchen humpelte. Die anderen, Lucie und Gretel empfanden das gewiß auch, doch die hatten ihr altes Tantchen viel zu lieb, um darüber zu lachen.

Hilde aber, das spottlustige übermütige Ding, war eins, zwei, drei von ihrem Stuhl aufgesprungen, und da humpelte das böse Mädel auch schon hinter Tante Wischen her, gerade so wie sie den linken Fuß nachziehend.

Gretel kicherte in ihr Taschentuch hinein, doch Lucie, die Große, rief empört: »Pfui, Hilde!«

Da aber hielt Hilde auch schon inne. Mitten in dem Stübchen stand sie und sah mit erschreckten Augen zu dem großen Mahagonispiegel hin, der neben dem Ofen hing.

Himmel – hatte Tante Wischen in dem Spiegel etwa gesehen, daß sie ihr nachgemacht hatte? Hilde hatte in ihrer ausgelassenen Spottsucht nicht eher an den großen Spiegel gedacht, bis sie ihr eigenes Bild darin geschaut. Aber Tante Wischen – Herrgott, wenn die das auch erblickt hatte, wie weh mußte es ihr tun, daß gerade ihr Liebling über ihr Gebrechen gespottet hatte, überhaupt wie häßlich, wie bodenlos schlecht von ihr, wo Tante Wischen immer so gut zu ihr war! Hilde blieb beschämt in der Mitte der Stube stehen und wurde abwechselnd rot und blaß.

Da wandte sich Tante Wischen um. Ihr gütiges Gesicht sah so lieb aus wie stets, nur vielleicht einen Schein blasser. In der Hand trug sie einen Teller mit duftenden Bratäpfelchen.

»Das soll mal schmecken!« sagte sie freundlich, ihre kleinen Gäste versorgend und sich an ihrer Eßlust weidend.

Es schmeckte auch – bloß einer nicht. Die sah unsicher von ihrem Bratäpfelchen zu Tante Wischen und von der Tante wieder auf den Apfel. Er wollte ganz und gar nicht rutschen. Wie Schneewittchen glaubte Hilde an jedem Bissen zu sticken.

Der Spiegel mußte es ja Tante Wischen verraten haben, was für ein herzloses Ding ihr Liebling war. Sollte sie nicht lieber gleich um Verzeihung bitten? Aber wenn Tante Wischen es am Ende doch nicht gesehen hatte? Dann klagte sie sich umsonst an und betrübte die alte Tante noch überdies. Hilde hatte Mühe, die Reuetränen über ihre häßliche Tat zurückzuhalten.

Ehe sie noch mit sich ins reine kommen konnte, was sie tun sollte, hatte sich Schwester Lucie erhoben. Es war Zeit, an den Heimweg zu denken. Ein großes Stück Schokolade wanderte wie stets auch heute in jede Manteltasche der Kinder. Hilde, die böse Hilde, bekam ebenfalls ihr Teil.

Beim Abschied ging die kleine Sünderin als letzte. Sie zögerte etwas. Hätte Tante Wischen jetzt irgendeine bezügliche Bemerkung gemacht, oder auch nur traurig ausgesehen, dann würde Hilde ja nur zu gern ihr Unrecht gebeichtet haben. Denn es brannte ihr auf der Seele. So aber sagte Tante Wischen: »Also ich werde mit Mutter wegen deines Geburtstages sprechen, Hilde.« Da empfand das kleine Mädchen die Güte der alten Tante geradezu beschämend, ihre eigene Schlechtigkeit aber doppelt und dreifach.

Ganz gegen ihre Gewohnheit trabte sie stumm neben den Schwestern her. Auch beim Mittagessen war sie einsilbig.

»Na, Hilde, in der Schule was ausgefressen, etwa in Arrest gewandert?« fragte Hauptmann Werner ganz erstaunt und nahm sein sonst so lebhaftes Töchterchen bei den hellblonden Zöpfen.

Hilde schüttelte mit unsicherem Lachen den Kopf und versuchte fidel auszusehen. Aber das wollte ihr nicht so recht gelingen.

Selbst nachmittags auf der Eisbahn kam sie, trotzdem sie sich besonders auf das Sportvergnügen gefreut hatte, nicht zum uneingeschränkten Genuß.

Es hatte aufgehört zu schneien. Das Laufen zwischen dem zuckerbestreuten Buschwerk am Ufer des gefrorenen Sees war herrlich, wenn – ja wenn man ein gutes Gewissen gehabt hätte. So aber war Hilde, selbst als man sie einstimmig zum führenden Kopf der langen Mädchenschlange erwählte, nicht so recht bei der Sache. Und als eine Mitschülerin noch harmlos meinte: »Herrgott, Hilde, unsere Schlange humpelt aber heute mächtig,« da stieg ihr das Blut bis an den blonden Scheitel. Hilde, der Unermüdlichen, die man nie zum Abschnallen bewegen konnte, war das Schlittschuhlaufen plötzlich verleidet.

Abends im Bett konnte Hilde nicht beten. Sie pflegte stets auch Tante Wischen in ihr Gebet einzuschließen. Aber wie vermochte sie heute den lieben Gott zu bitten, die alte Tante zu behüten, wo sie dieselbe verhöhnt hatte. Ein Gebet aus so bösem Herzen hörte der liebe Gott am Ende gar nicht. Und wenn man nicht beten kann, kann man auch nicht schlafen. Ruhelos wälzte sich Hilde hin und her.

Klein-Gretel schlief längst, und auch aus Lucies Bett kamen gleichmäßige Atemzüge. Da endlich löste sich der schwere Druck, der die Kinderseele einengte, in befreiende Tränen.

»Warum weinst du, Hildchen?« Lucie, die eben erst im Einschlafen begriffen, hob erstaunt lauschend den Kopf.

»Ich – ich – ich bin so schlecht heute zu Tante Wischen gewesen, ich habe sie verspottet und ihr nachgemacht,« kam es schluchzend aus Bett Nummer zwei.

»Ja, du warst sehr häßlich, aber weine nicht mehr, Hilde, Tante Wischen ist so gut, sie verzeiht dir, wenn du sie bittest. Gehe doch morgen von der Schule aus zu ihr,« tröstete die Schwester.

»Morgen mittag habe ich Klavierstunde.« Es war der Hilde im Grunde des Herzens eine ungeheure Erleichterung, daß sie ihren Beichtbesuch nicht gleich morgen ausführen konnte. Aber übermorgen, ja übermorgen wollte sie es ganz bestimmt tun!

In diesem festen Vorsatz fand sie endlich Ruhe und schlief ein.

Aber wenn man etwas erst einmal hinausschiebt, dann schiebt es sich ganz von selbst immer weiter. Nicht umsonst pflegt man zu sagen: »Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.«

Als übermorgen herangekommen war, da machte es sich zufällig, daß Hilde mit ihrer Lieblingslehrerin zusammen nach Hause gehen konnte, na, und da wäre sie doch schön dumm gewesen, wenn sie sich solchen Glückszufall hätte entgehen lassen. Am darauffolgenden Tage gab es wieder etwas anderes. Und schließlich beruhigte Hilde ihr sich doch noch öfters meldendes Gewissen mit dem bequemen Trost: »Tante Wischen hat es bestimmt nicht gesehen!«

Das ging so, bis der Mittwoch wieder herangekommen war. Ein häßlicher grauer Mittwoch. Er hatte nichts von der hellen Schneefreudigkeit des vergangenen. Das lichte Weiß war geschmolzen, die Straßen waren voll gelbbraunem Matsch. Vom Himmel aber ging gleichmäßiger grauer Regen hernieder.

Den ganzen Vormittag kämpfte Hilde mit sich. Sie war unaufmerksam in den Stunden und wurde deshalb getadelt. Konnte sie es wagen, mit den Schwestern zu Tante Wischen zu gehen?

Ihr Herz trieb sie hin, aber ihr böses Gewissen riet ab. Und als es zum Schulschluß läutete, da hatte das böse Gewissen das schüchtern sie zur Tante drängende Herzchen besiegt.

»Ich kann heute nicht mit zu Tante Wischen gehen, Lucie,« sagte sie, aber nicht ganz so sicher wie sonst. »Wir haben zu morgen schrecklich viel zu arbeiten – meinen ganzen Aufsatz muß ich noch ins reine schreiben,« setzte sie schnell hinzu, als sie den vorwurfsvollen Augen der Schwester begegnete.

Aber es wurde vor Tisch nicht viel aus dem Arbeiten. Hildes Gedanken wanderten von den unbeschriebenen Heftblättern zu dem traulichen altmodischen Stübchen mit den blühenden Blumen am breiten Fenster. Da saßen jetzt die Schwestern um Tantes großen Lehnstuhl. Ach – daß sie sich selbst um diese Freude gebracht hatte!

»Das schickt dir Tante Wischen!« Die heimkehrende Gretel zog ein großes Stück Schokolade aus der Tasche.

»Hat sie weiter nichts gesagt?« Hilde wandte sich so hastig, daß ein mächtiger Klecks auf der weißen Seite prangte.

»Nein, nur grüßen läßt sie dich noch schön!« bestellte die Kleine getreulich.

Hilde atmete auf.

Gott sei Dank – dann hatte Tante Wischen bestimmt nichts gesehen. Wenn Tante sie grüßen ließ und ihr noch obendrein Schokolade schickte, war sie nicht böse auf sie. Nächsten Mittwoch konnte sie sich wieder hinwagen.

Aber als die Wernerschen Kinder am Sonnabend aus der Schule kamen, machte Mutter ein geheimnisvolles Gesicht.

»Ich habe eine Einladung zu Sonntag nachmittag für euch, nun ratet mal von wem?«

Wie aus einem Munde riefen Lucie und Gretel: »Von Tante Wischen!« Etwas Angenehmes kam immer von dort.

Auch Hilde hakte es rufen wollen, aber der Name ging ihr nicht über die Lippen.

»Richtig,« lächelte Mutter. »Tante Wischen war hier und hat euch alle drei zu Schokolade und Kuchen eingeladen.«

Lauter Jubel übertönte Mutters Worte.

»Und von dir, Fräulein Unnütz, hat sie mir noch besondere Sachen erzählt!« Die Mutterhand strich Hildes blonden Scheitel.

Der blieb das Herz vor Schreck stehen.

Hatte Tanke Wischen Klage über sie geführt?

»Sie meinte, du würdest Ostern sicher lobenswert im Betragen auf der Zensur erhalten, du gibst dir wenigstens redlich Mühe, na, und da habe ich ihr denn versprochen, diesmal noch ein Auge zuzudrücken. Du kannst dich bei Tante Wischen bedanken, Hilde, daß du deine Freundinnen zum Geburtstag einladen darfst.«

Das »Hurra!«, das Hilde herausjubeln wollte, blieb ihr in der Kehle stecken. Die alte Tante häufte Guttat über Guttat auf sie, die das doch so wenig verdiente.

Die Freude über Mutters lang ersehnte Erlaubnis betreffs des Geburtstages wagte sich nicht so recht hervor. Und wenn Hilde an die morgige Nachmittagseinladung dachte, pochte ihr sogar ein wenig das Herz.

Und als sie dann am Sonntag mit den Schwestern den langen Korridor zu Tante Wischens Stube entlangging, da pochte das Herz noch viel stärker. Es war der Hilde fast, als ob es den lauten Hall ihrer Schritte übertöne.

Tante Wischens Stübchen war heute nachmittag noch viel traulicher als sonst. Auf dem Tisch am Sofa brannte die alte, blitzblanke Messinglampe, und der Lampenschleier dämpfte ihr Licht.

Da konnte Tante Wischen zum Glück nicht sehen, wie puterrot die Hilde beim Gutentagsagen wurde.

Nein – zu gemütlich war es bei Tante. Auf jedem Platz stand eins von den bunten Erinnerungstäßchen mit Goldschrift, so ehrte Tante Mischen ihre jungen Gäste. Der Spirituskocher aber, auf dem die bauchige Schokoladenkanne stand, summte und schnurrte behaglich wie eine alte Katze.

Hm – das schmeckte. Der Kuchenkorb leerte sich, und der braune Schokoladenbart, den Gretels rundes Gesichtchen aufwies, zeigte, daß auch die Schokolade nicht verachtet wurde. Sogar Hildes durch das Schuldbewußtsein zuerst ziemlich gedrücktes Wesen taute allmählich bei den süßen Genüssen wieder auf. Nur wenn sie die rosa Blümchentasse an den Mund führte und darauf »Meinem Liebling« las, gab es ihr einen Stich ins Herz.

»Was machen wir jetzt?« fragte Tante Wischen, nachdem ihre kleinen Gäste ihr möglichstes beim Vertilgen der guten Sachen geleistet hatten.

»Trip-trap-trudel spielen!« rief Gretel selig. Das war ein altmodisches Spiel mit Pfeffernüssen aus Tante Wischens Jugendzeit.

Hilde, sonst als erste mit dem Munde vorweg, traute sich heute nicht mit einem Vorschlag heraus.

Lucie aber meinte: »Ach nein – lieber Geschichten erzählen!«

»Ja – ach ja, Tante, erzählen!« baten nun auch die anderen.

»Na meinetwegen!« lächelte die alte Tante und holte sich ihren weißen Strickstrumpf hervor.

»Was erzählst du uns, Tante? Wieder eine Geschichte von deinen hübschen Sachen in der Glasservante?« fragte Lucie eifrig.

Die Tante dachte einen Augenblick nach.

»Nein, heute mal etwas anderes – aber auch aus meiner Jugendzeit. Ich will euch erzählen, wie eure alte Tante dazu gekommen ist, durch das Leben humpeln zu müssen.« Sie tat, als ob sie nicht sähe, wie Hilde bei ihren Worten zusammengezuckt war, daß ihr Gesicht so weiß wie die Kaffeedecke geworden und gleich darauf blutrot. Ruhig fuhr Tante Wischen fort: »Woher glaubt ihr wohl, stammt mein Gebrechen?«

»Du wirst sicher im Kriege verwundet worden sein wie der Pförtner, der alte Invalide,« sagte Gretel nach kurzem Nachdenken.

Tante lachte.

»Nein, Gretel, das bin ich nicht, Frauen ziehen nicht mit in den Krieg. Wißt ihr's, Lucie und Hilde?«

Hilde wußte augenblicklich nur eins, daß sie am liebsten hunderttausend Meilen weit fortgewesen wäre von Tante Wischens gemütlichem Stübchen. Aber das dachte sie bloß. Sie hielt ihr Gesicht tief gesenkt und sagte keinen Ton.

Lucie aber, die mitleidig auf die mit den Tränen kämpfende Schwester blickte, fragte schüchtern: »Bist du vielleicht sehr wild gewesen als Kind, Tante, und von einem Baum herabgefallen?«

»Nein, auch das nicht,« lächelte die Tante, ohne scheinbar Hildes Verwirrung zu beachten. »Ein wilder Springinsfeld war ich freilich, manchmal bin ich von einem Baum heruntergerutscht, aber dafür hat mich der liebe Gott nicht gestraft. Also hört zu, Kinder!«

Die Stricknadeln klapperten, und Tante Wischen erzählte:

»Was wir für eine schöne Kinderzeit verlebt haben in der kleinen brandenburgischen Garnison, in der mein Vater, Euer Urgroßvater, damals als Major stand, das habe ich euch oft genug erzählt. Ihr kennt unseren großen Garten mit der alten Linde, unter der im Sommer der Kaffee getrunken wurde, aus meinen Erzählungen fast so gut wie ich selbst. Wir wohnten im Eckhaus am Markt, und neben uns hatte ein Wollhändler sein Geschäft und Lager. Das heißt, sein Lager befand sich auf der Straße. Da lagen die Wollsäcke um die ganze Ecke herum bis zu unserem ersten Stockwerk hin übereinander aufgestapelt. Ich kann mich kaum erinnern, daß wir Kinder jemals die Treppe hinunter benutzt hätten. Heidi – ging's aus dem Fenster, auf die Wollsäcke herauf, und dann lustig von Sack zu Sack, bis man schließlich unten auf der Straße war. Der Nachbar war ein gutmütiger Mann, der hatte seine Freude an unserer Ausgelassenheit und ließ uns ruhig gewähren. Manchmal aber gelangten wir noch schneller herunter, nämlich so: Auf den Wollsäcken hoch oben thronten wir den ganzen Tag. Da wurde gespielt, gearbeitet, gelesen, das Vesperbrot verzehrt und nach dem Abendessen gemeinsame Lieder gesungen. Und wenn dann eins sich bei einem schönen Buch so recht verlesen in einen Wollsack vergraben hatte, dann kam das lustige Versteck manchmal plötzlich ins Wanken. Denn drunten standen die Brüder, die bösen, nebst ihren Freunden und zogen mit vereinten Kräften den untersten Wollsack hervor. Hui – da ging's schnell mit dem Herunterkommen.«

»Hast du dir dabei dein Bein gebrochen, Tante Wischen?« fragte Lucie teilnehmend.

»Nein, Kind, man fiel weich, es war ja alles rings Wolle, nur einen Schreck bekam man. Aber den zeigte man nicht, sondern lachte mit den Jungen um die Wette.

Ich, Luise oder Wising, wie man mich damals nannte, war die älteste von vier Geschwistern. Gerade so wild wie die Brüder war ich bis zu meinem vierzehnten Jahr, Vater nannte mich immer seinen dritten Jungen. Na, das könnt ihr euch heute wohl nicht mehr so recht vorstellen.« Tante Wischen lächelte wehmütig.

»Aber dann hieß es mit einem Male verständig werden, und statt auf den höchsten Bäumen herumzuklettern und Löcher in die Sachen zu reißen, die Löcher, welche die Geschwister rissen, zuzustopfen. Mutter starb. Ich war damals noch nicht fünfzehn Jahr. Unsere Jüngste, Mathildchen, aber, eure Großmutter, war eben erst in die Schule gekommen.

Die ganze Wirtschaft ruhte plötzlich auf meinen jungen Schultern und die Erziehung der Geschwister dazu. Vater war vom Dienst zu sehr in Anspruch genommen, der fuhr nur dazwischen, wenn meine Autorität bei den Jungen nicht ausreichte. Es ist mir, wilden Hummel, nicht immer leicht geworden, heute darf ich's ja sagen, daheim zu hocken und an ernste Wirtschaftssorgen zu denken, während sich meine Altersgenossinnen draußen tummelten. Aber wenn Vater mir abends dafür die Wange klopfte und in seiner knappen Art sagte: ›Brav, Mädel – bist ein wackerer Soldat auf deinem Postens!‹, dann fühlte ich mich für alle jugendlichen Entbehrungen reich entschädigt.

Und noch eins war es, was die schwere und durch Mutters Tod auch düstere Zeit wie ein Sonnenstrahl vergoldete: Mein Mathildchen. Die Liebe zu dem Kinde, das mit der ganzen Zärtlichkeit seiner Seele an der großen Schwester hing, machte mich glücklich. Mathildchens Wohl und Wehe lag mir am meisten am Herzen. Seht euch die Hilde an, so sah sie aus, gerade so!«

Hilde kroch bei diesen Worten noch mehr in sich zusammen, aber Tante Wischen fuhr fort: »Dieselben Augen, dieselben Haare, derselbe Schalk und leider auch dieselbe Spottlust. Ja, ja, manche sorgenvolle Stunde hat diese mir gemacht. ›Kleine Spottdrossel‹ nannte ich Mathildchen oft, wenn sie den gebrochenen polnisch-deutschen Dialekt von Vaters Burschen nachahmte, wenn sie wie die Frau Bürgermeister über den Marktplatz stolzierte oder als dicker Herr Apotheker mit wehenden Rockschößen ihren kleinen Körper herantrudelte.

›Pfui, Mathildchen, wie weh täte dir das, wenn die Leute dir nachmachen würden!‹ Aber sie lachte nur zu meinen ernsten Worten.

An einem schönen warmen Frühlingstag war's, so recht dazu geschaffen, ein junges Herz froher schlagen zu lassen. Die Schwalben schossen zwitschernd um unseren Giebel, und drüben auf dem alten Stadtturm war Meister Storch schon wieder eingekehrt.

Auch ich hatte zum erstenmal wieder meine Sommerwohnung auf des Nachbars Wollsäcken bezogen. Das war der Platz, den ich noch aus meinen Kinderjahren her vor allen anderen liebte. Nur daß ich jetzt nicht wie damals mit heißen Wangen über ein Geschichtenbuch saß, sondern eifrig Strümpfe stopfte.

Aber die Augen wollten heute nicht bei den rot und blau geringelten Strümpfen bleiben, die flogen überall anderswo herum. Daran war sicher der Frühlingssonnenschein schuld. Die Straße wanderten sie hinab bis zum Stadttor. Dahinter auf den Wiesen hatte der Frühling sicher über Nacht Schlüsselblümchen, Tausendschönchen und Anemonen gezaubert. Ei – das sollte ein lustiger Spaziergang nachmittags mit meinem Mathildchen werden!

Wo blieb sie denn? Die Schule mußte doch schon aus sein. Ich lugte nach der anderen Seite über den Marktplatz.

Da kam sie ja – mein Frühlingssonnenschein. Inmitten der Kameradinnen, ihr übermütiges Lachen und Durcheinanderschwatzen schallte wie das Schwalbengezwitscher über den ganzen Marktplatz. Nun hatte sie mich auf meinem hohen Eckplatz entdeckt.

›Hurra!‹ schrie sie und winkte mir einen Gruß zu.

Nanu – was machte denn Mathildchen jetzt? Mitten auf dem Fahrdamm stand sie, ihren Schulatlas wie ein Kuchenblech vorsichtig auf den Händen balancierend. Die kleinen Beine aber hatte sie eingeknickt, die Knie fest zusammenpressend, so watschelte sie ixbeinig hinter dem Bäckergesellen her, seinen Gang bis aufs kleinste nachahmend.

Na warte, du böse kleine Spottdrossel, komm du nur nach oben, da setzt es eine tüchtige Strafpredigt ab.

Die Freundinnen auf dem Bürgersteig jubelten Beifall, Mathildchen gab ihr Kunststück immer wieder aufs neue zum besten.

›Mathildchen!‹ wollte ich ärgerlich rufen, da – blieb mir das Wort vor Schreck in der Kehle stecken. Aus dem Postgebäude drüben kam etwas Gelbes angerast mit vier Pferden davor – eine Extrapost. Gerade auf mein Herzblatt los.

Barmherziger Himmel – das Kind war so in seine spöttische Nachahmung vertieft, daß es der Gefahr nicht achtete, in der es schwebte. Und ich – keinen Laut brachte ich heraus. Aber wenn mir auch die Stimme nicht gehorchte, die Glieder mußten ihren Dienst tun. Wie ein Eichhörnchen war ich von meinem hohen Sitz herab, und da – da kam ich gerade noch zurecht, um meinen Liebling unter dem Schreckensschrei der Freundinnen vor den Hufen der heransprengenden Pferde hinwegzureißen.

Dann aber war's zu Ende mit meiner Kraft. Ich vermochte nicht mehr, mich selbst in Sicherheit zu bringen. Man trug mich schwer verletzt ins Haus. Viele Wochen lag ich da auf meinem Schmerzenslager. Mathildchen saß getreulich neben mir, pflegte mich, weinte und klagte sich an, daß ihre Spottsucht schuld sei an meinen Leiden.

Ach, was galten mir alle Schmerzen in dem Bewußtsein, meinen kleinen Liebling davor bewahrt zu haben.

Aber als ich endlich aufstehen durfte, da sah es böse aus. Der linke gebrochene Fuß war ein ganzes Stück kürzer geworden. Ich, Vaters ›dritter Junge‹, der einst kein Baum zu hoch gewesen, ich mußte von nun an durch das Leben humpeln.

Gott hatte schwer gestraft. Mein armes Mathildchen schleppte von nun an das Bewußtsein mit sich herum, durch ihre Spottsucht die Lebensfreude und das Lebensglück ihrer Schwester zum Teil vernichtet zu haben.

Nun wißt ihr es, Kinder, wo eure alte Tante ihr Humpelbein her hat – und was für böse Folgen solch Spottmäulchen nach sich ziehen kann.«

Tante Wischen schwieg.

Zum erstenmal blickte sie von ihrem Strickzeug zu Hilde herüber. Die hatte das Gesicht in beide Hände vergraben, Tränen rieselten durch ihre Finger.

Still war's im Stübchen.

Keiner sprach.

Tante Wischen schien in ihre Erinnerungen versunken, Lucie und Gretel wagten nicht, die andächtige Stimmung zu unterbrechen.

Da aber schlangen sich zwei Arme um den Hals der Tante, ein nasses Gesichtchen preßte sich gegen ihr altes, faltenreiches, und eine tränenerstickte Stimme flüsterte: »Vergib, Tante Wischen, verzeih' mir, daß ich so schlecht gewesen bin. Ich will ganz gewiß niemals wieder spotten!«

Die gütige Tante hob das Gesicht, das dem ihres Mathildchens so ähnlich war, zu sich empor. Verzeihend drückte sie einen Kuß aus Hildes Stirn. Sie wußte es, auch ohne das Versprechen, daß Hilde nie wieder jemand verhöhnen oder verspotten würde.

»So – und nun wollen wir noch Trip-trap-trudel spielen, Tränenweiden mag ich hier nicht pflanzen.« Tante Wischen schlug plötzlich wieder ihren alten heiteren Ton an und langte nach der Tüte mit den Pfeffernüssen.

Das wurde noch ein lustiger Abend. Am frohesten dabei war Hilde, der war das Herz mit einem Male so leicht, so federleicht.

Nun konnte sie sich wieder wie die anderen Kinder von einem Mittwoch zum anderen freuen auf den Besuch in Tante Wischens traulichem Stübchen.


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