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Lieschen Vogelscheuche

»Mädel, wie siehst du bloß wieder aus! Schau nur, große Tintenflecke an dem neuen rosa Waschkleidchen – hier ein Riß in der weißen Schürze, und eins von den roten Zopfbändern, die ich erst gestern gekauft, wuchs heute schon an den Stachelbeersträuchern! Kind, Kind, da arbeitet der arme Vater nun den ganzen Tag, um dir all die hübschen Sachen zu kaufen, und du nimmst sie so wenig in acht!« Bekümmert blickte die Mutter auf ihr zehnjähriges Töchterlein.

Das hatte das heiße Gesicht unter dem zerzausten Braunhaar tief gesenkt, verlegen kaute es an dem einen der hoffnungsvollen Zöpfchen, aus dem das rote Haarband wieder einmal auf unerklärliche Weise Reißaus genommen. Dann aber schlang Lisi in plötzlicher Aufwallung beide tintenbeschmierten Hände um Mutters Hals.

»Mutti – nicht böse sein – sei wieder gut mit mir, Muttichen«, bettelte sie. »Sieh mal, in mein Diktatheft darf ich keinen Klecks machen, Fräulein Eberhard ist so schrecklich streng, und irgendwo wollen die Kleckse doch hin – ich kann doch nicht dafür, wenn die alte Feder immer spritzt«, setzte sie ein ganz klein wenig trotzig hinzu.

»Du weißt wohl, Lisi, nicht die Feder hat schuld, sondern dein ungestümes Wesen, das mir schon so viel Kummer gemacht hat.« Die Mutter wandte sich ernst zur Tür. Sie war bereits im Hut, um zum Geburtstag der Frau Bürgermeister zu gehen. Lisi hatte die frischen Lippen geöffnet, aber das Versprechen, »es von nun an auch ganz gewiß nicht wieder zu tun«, blieb ihr im Halse stecken. Entsetzt starrte sie auf Mutters neues Leinenkleid. Da zeichneten sich auf dem Rücken gerade über der Stickerei, an der Mutter an langen Winterabenden so fleißig gestichelt, fünf kleine, schwarze Finger ab – lieber Gott, sie hatte durch ihre stürmische Umarmung das schöne Kleid verdorben.

Die gute Mutter wandte sich noch einmal zu ihrem Kinde zurück. »Na, Lisi, du wirst dich bessern, nicht wahr? Ein kleines Mädchen muß sauber und ordentlich sein, nimm dir doch an Bruder Rudi ein Beispiel.« Die Mutter hob das erglühende Gesicht der Kleinen zu sich empor. Aber die lustigen Blauaugen, die sonst jeden so treuherzig anzustrahlen pflegten, irrten unstet umher. Krampfhaft hielt sie die verräterische Rechte auf dem Rücken geballt.

Eben noch hatte sie der Mutter ihr neues Unrecht eingestehen wollen, aber daß ihr Rudi wieder als Beispiel vorgehalten wurde, so ein Dreikäsehoch, der eben erst anfing, mit Tinte zu schreiben, das mußte auch ein Schulmädel aus der fünften Klasse empören! Und ehe List sich mit ihrer gekränkten Würde abgefunden, sah sie Mutters Leinenkleid schon draußen durch die wilden Rosenbüsche schimmern. Jetzt bog es um das Gartenstaket – Lisi setzte sich in Trab – sie mußte der Mutter nachlaufen, sie durfte sie nicht mit dem fleckigen Kleide zum Geburtstag gehen lassen! Sie rannte den Gartensteig entlang, daß die kurzen Zöpfchen – »Rattenschwänzchen« nannte sie der Vater – nur so flogen. Die braunen Schnürsenkel ihrer Stiefel lösten sich und wanden sich wie Schlangen um ihre Beine, aber solche Kleinigkeiten kümmerten Lisi nicht.

Warum mußten Bürgermeisters so nahe wohnen, nur über den Marktplatz herüber – bums – da schlug der schwere Haustürflügel ihr gerade vor der Nase zu. Mutter war drinnen.

Unschlüssig drückte sich Lisi an dem Gartengitter herum: sie merkte es nicht, daß dasselbe frisch angestrichen war. Grüne Striche klebten an ihrer Schürze, und da das kleine Mädchen aufgeregt an der Schürze zupfte und sich dann wieder die wilden Haare aus der Stirn strich, bald auch in dem gebräunten Kindergesicht. Ja, mitten auf der Nasenspitze prangte ein niedlicher grüner Klecks.

Ob sie der Mutter am Ende gar nichts von der dummen Geschichte sagte? Es war ja hinten auf dem Rücken, da merkte Mutter es nicht. Und wenn sie es später doch mal sah, na, das konnte doch keiner wissen, daß es nun gerade die Finger von der Lisi gewesen. Rudi schrieb ja auch schon mit Tinte. »Pfui, Lisi, du bist ein ganz abscheuliches Ding!« sagte sie plötzlich laut zu sich selbst. Ganz schnell, als ob sie dem bösen Gedanken davonlaufen könne, sprang sie die Stufen zu der Wohnung des Bürgermeisters empor.

Ehe sie sich noch recht überlegte, was sie tat, stand sie mitten unter den Geburtstagsgästen. Einen verlegenen Knicks machte sie der sie erstaunt durch die Lorgnette musternden Frau Landrat und stürmte dann geradeswegs auf die Mutter los.

»Mutti, Muttichen, du hast Tintenflecke an deinem Kleide, da – hinten auf dem Rücken – und ich habe sie gemacht«, rief sie ganz laut, damit alle Damen hörten, daß ihre Mutti nichts dafür konnte.

Frau Baumeister, Frau Major, Frau Pastor und Frau Apotheker, sie alle blickten verdutzt von ihrer Geburtstagstorte auf das so verwahrlost ausschauende kleine Mädchen mit der grünen Nasenspitze. Dann aber brach die ganze Gesellschaft in ein herzliches Lachen aus. Nur Mutti blieb ernst; peinlich errötend schaute sie auf ihr in so sonderbarem Aufzug erscheinendes Töchterchen.

Kein Wort sprach Mutti auf dem Heimweg. Lisi erschienen die paar Schritte bis zu ihrem Hause eine Ewigkeit. Selbst das Stück Geburtstagstorte, das ihr die gute Frau Bürgermeister noch schnell zugesteckt, versagte seine tröstende Kraft. Schuldbewußt schielte Lisi an der Mutter empor; wenn sie doch mit ihr gezankt hätte! Das Schweigen war so beklemmend, so unheilvoll!

Stumm setzte sich die Mutter an ihr Nähtischchen und sah traurig vor sich nieder.

Mutti traurig – ihre liebe, lustige Mutti – das konnte Lisi nicht mit ansehen. Die Tränen stürzten ihr aus den Augen; schluchzend eilte sie auf die Mutter zu.

»Schimpfe mit mir, Mutti, nur sei nicht mehr traurig, daß ich dir das Kleid verdorben habe, liebe, einzige Mutti – –«

Vorwurfsvoll sah die Mutter auf ihr zerknirschtes Töchterchen.

»Ich bin nicht über das Kleid traurig, Lisi, denn da hast du unbewußt gefehlt. Ich bin betrübt, daß mir mein Kind auch nur einen Augenblick mit Wissen seinen Fehler verheimlichen konnte. Daß ein großes Mädchen von zehn Jahren so wenig Überlegung hat, mit zerrissenen und beschmutzten Kleidern, zerzausten Haaren und ungewaschenen Händen in eine fremde Wohnung hineinzustürmen. Jetzt denken doch all die Damen gewiß, die Frau Amtsrichter Schönfeld scheint sich ja recht wenig um ihre Lisi zu kümmern, sonst könnte das Mädel nicht wie ein kleiner Vagabund einherlaufen.«

»Nein, Mutti, nein, das sollen sie aber nicht glauben, ich will zu allen hingehen und ihnen sagen, daß ich ganz allein schuld bin, daß du genug mit mir schimpfst, daß du sogar traurig über mich bist –« Lisis Stimme begann wieder bedenklich zu schwanken.

»Es genügt, wenn du dir ernsthaft vornimmst, Lisi, gegen deine Liederlichkeit anzukämpfen. Aber ich habe kein Vertrauen mehr zu dir, Kind, du hast es mir schon zu oft versprochen.«

»Ach, glaube es mir doch nur dies einzige Mal noch, Muttichen, und sei wieder gut mit mir,« bat die Kleine. Reuevoll schlug sie die Blauaugen, an denen noch die letzten Tränen zitterten, zur Mutter auf – und wenn man in diese Augen guckte, ja, dann mußte man der Lisi gut sein, selbst wenn sin grasgrünes Näschen darunter hervorlugte. Wirklich, von nun an wollte sie sich aber auch ganz bestimmt bessern! Im reinen Kleid, sauber gewaschen und gekämmt, erschien Lisi zum Abendbrot.

»Alle Wetter, Mädel, ich kenne ja meinen wilden Banditen heute gar nicht wieder,« verwunderte sich der Vater, als Lisi sich manierlich die Serviette vorband und mit ängstlicher Behutsamkeit Löffel für Löffel von der schönen Erdbeermilch in den Mund schob. »Du bist doch gesund, Kind?«

Lisi errötete und blickte zur Mutter. Die nickte dem Töchterchen aufmunternd zu.

Nein, war das leicht, ein ordentliches Mädchen zu sein, so kinderleicht hatte die List sich das doch nicht vorgestellt. Man brauchte ja bloß seine Serviette, statt sie auf den Stuhl zu schleudern, hübsch sauber zusammenzufalten, die Spielsachen in das Fach zu räumen und die Mappe zum nächsten Tage zu packen, wie es Rudi jeden Abend tat. Aber als der jüngere Bruder sie jetzt bat, mit ihm »Räuber und Prinzessin« draußen im Garten zu spielen, weil es doch gerade im »Schummern« so wundervoll graulig sei, da hatte das kleine Fräulein einen heftigen Kampf mit seiner plötzlich erwachten Ordnungsliebe zu bestehen. Brennend gern wäre es der Räuber gewesen, der sanfte Rudi mußte immer die Prinzessin vorstellen, denn »Prinzessin sein ist mopsig«.

Aber da gab es so allerlei im Garten, was sich ihrer fest vorgenommenen Besserung feindlich entgegenstellen konnte. Da waren die wilden Rosensträucher mit ihren tückischen Dornen, die gar zu gern – ritsch – ratsch – ein Dreieck in Lisis Kleider rissen. Eine Linde gab es dort mit so tief hängendem Geäst, daß man, ob man wollte oder nicht, unbedingt hinaufklettern mußte und natürlich mit zerlöcherten Strümpfen wieder unten ankam, und dann der Komposthaufen, auf dem die Küchenabfälle abgeladen wurden! Der hatte es merkwürdigerweise am allermeisten auf reingewaschene Kinderhände abgesehen. Lisi überlegte.

»Wir wollen lieber Domino spielen, Rudi, dabei kann man sich wenigstens nicht schmutzig machen,« meinte sie schließlich seufzend.

Ja, wenn es nur immer heute geblieben und niemals morgen geworden wäre, dann hätte die Lisi auch sicher stets daran gedacht, was sie ihrer Mutter versprochen. Aber solche Nacht ist lang, da vergißt man so allerlei inzwischen, nicht nur die gelernte Lektion – nein, auch noch manches andere.

Konnte die Lisi etwa dafür, daß die Morgenmilch so heiß war. daß sie dieselbe mit lautem »Au« über die bunte Kaffeedecke vergoß? Und wenn ihr rechter brauner Stiefel auf dem Schulweg plötzlich im Rinnstein steckte statt auf dem Straßendamm, das war doch auch nicht ihre Schuld. Na, und das Unterrockband, das hatte sie doch so ordentlich geknotet, denn es vor der Schule noch annähen zu lassen, dazu war keine Zeit mehr gewesen. Aber gerade, als sie das Gedicht »Die Heinzelmännchen« vom Katheder aus hersagen wollte, fing der dumme Rock an zu rutschen, und sie mußte statt an das Gedicht zu denken, immer auf ihre Füße herabschielen. Da guckte ein morastiger Stiefel neugierig unter einem weißen Stickereiröckchen hervor. Die ganze Klasse kicherte – es war schrecklich – und Fräulein Miehe setzte sich den Kneifer auf die Nase.

»Ei, Lisi, ich glaube, die Heinzelmännchen könntest du auch gebrauchen,« meinte sie, halb ernst, halb belustigt, auf das gerissene Band weisend. Ach, wie schämte sich die Lisi da.

Aber nun erst gar, als Apothekers Evchen in der Zwischenpause auf dem Schulhof lachend berichtete, ihre Mutter hätte erzählt, Amtsrichters Lisi sei gestern wie ein kleiner, farbenprächtiger Papagei in die Geburtstagsgesellschaft bei der Frau Bürgermeister hineingeflogen. Landrats Mariannchen aber, die Lisi schon immer nicht recht leiden konnte, überschrie sie: »Nein, meine Mutter hat gesagt, wie eine Vogelscheuche – gerade wie eine Vogelscheuche hätte die Lisi ausgesehen!«

Im Nu hatte die ausgelassene Mädchenschar das arme Ding umringt.

Und »Lieschen Vogelscheuche! Lieschen Vogelscheuche!« erscholl es jubelnd in der Runde.

Bitterböse durchbrach Lisi den Reigen der umtanzenden Schulfreundinnen. Aber das häßliche Wort folgte ihr auf Schritt und Tritt. Wo sie sich heute in der Schule sehen ließ, wisperte es lachend: »Lieschen Vogelscheuche«. Sie meinten es ja nicht schlecht, die Mädelchen, nur übermütig waren sie, und das neue Wort machte ihnen Spaß.

Doch als auf dem Heimwege von der Schule plötzlich auch die Brüder der Kameradinnen, all die Abcschützen, Sextaner und Quintaner, ja sogar die Quarta, in lautes Gejohle »Lieschen Vogelscheuche« ausbrachen, da machte sich Lisi schluchzend von dem Arm ihrer Freundinnen frei.

Wie gehetzt jagte sie durch die engen, winkligen Straßen des Heimatstädtchens, durch das große, alte Stadttor hindurch, bis hinaus aufs Feld.

Klang es da nicht schon wieder »Lieschen Vogelscheuche« hinter ihr her? Erschreckt sah sich Lisi um – nein, nur die Telegraphenstangen sangen laut im Winde. Ganz ermattet vom schnellen Lauf und dem erregten Weinen setzte sie sich am Feldrain zwischen gelben Dotterblümchen und roten Federnelken nieder.

Dort drüben, zwischen den goldenen Kornwogen, lugte es dunkel hervor; eine häßliche Vogelscheuche war es, den zerlöcherten Hut auf dem hölzernen Kopfe, nickte sie ernst zu Lisi herüber.

Lisi riß die Blauaugen auf, so weit sie nur konnte, aber die Augenlider waren ihr so schwer – so schwer – und jetzt wurden auch Arm und Bein plötzlich ganz schwer und steif. Lisi konnte sie nicht mehr bewegen. Wie Windmühlenflügel standen ihr die Arme vom Körper ab, leblos wurden die so zappeligen Glieder der Kleinen, das rosige Fleisch ward plötzlich schmutziges, braunes Holz.

Ach, und ihr nettes Schulkleid, das hatte sich in ein zerfetztes, altes Bauernwams verwandelt, und statt der blauen Matrosenmütze trug sie einen formlosen, lehmbespritzten Filzhut auf dem Kopfe.

Lisi stand als Vogelscheuche zwischen goldgelben Weizenfeldern. Da flossen die Tränen aufs neue aus ihren Augen, aber es war dickflüssiger, zäher Leim, was sie weinte.

Neugierig hoben die Ähren ringsum das blonde Köpfchen und tuschelten miteinander: »Pfui, ist die garstig, pfui!«

Der vorübereilende Wind hielt im Rennen inne und versetzte der wehrlosen Lisi wie ein ungezogener Gassenjunge einen tüchtigen Nasenstüber. Dann lief er hohnlachend davon. »Frecher Bengel!« wollte Lisi hinter ihm herrufen, aber der Mund war ihr fest zu: keinen Ton brachte sie heraus.

Horch, da stieg eine Lerche auf, sie trillerte und jubilierte, was sang denn die kleine Lerche?

»Tirilili – tirilili –
Guckt doch bloß die – nein, schaut doch die –
Solch einen Schmierfink sah ich noch nie –
Tirilili – tirilili.«

Und all die Vöglein in der blauen Luft stimmten jubelnd in das Tirilili ein.

Die kecken Spatzen aber wagten sich ganz dreist heran, die hatten auch nicht die Spur Respekt vor der Lisi. Sie mausten vor ihren Augen die fettesten Weizenkörnlein fort und schimpften:

»Lieschen Vogelscheuche – piep –
Kein Mensch hat dich jetzt mehr lieb!«

»Doch, meine Mutter hat mich lieb, wenn ich auch eine Vogelscheuche bin,« rief Lisi eifrig, aber die Spatzen verstanden sie nicht, denn sie bekam ja ihren Mund nicht auf.

Drüben am Wiesenrain stand der Storch auf einem Bein. Er hielt bedenklich den Kopf auf die Seite geneigt, blinzelte zu Lieschen Vogelscheuche herüber und klapperte:

»Klapp-klapp, klapp-klapp, klapp-klapp,
Ist der Kerl schmutzig-schlapp,
Klapp-klapp, klapp-klapp, klapp-klapp!«

»Wenn ich doch wieder ein kleines Mädchen wäre,« dachte Lisi weinerlich, »wie wollte ich jetzt sauber und ordentlich sein! Nie, nie mehr sollte Mutti über mich böse werden, aber nun ist es zu spät!« Traurig stand sie im hellen Sonnenlicht.

Aber selbst der lieben Sonne war Lieschen Vogelscheuche zu garstig. Sie verschwand in ihrem Wolkenhaus und schickte den Gevatter Regen hinaus, der sollte das schmutzige Ding sauber waschen. Es begann zu pladdern – klitsch – klatsch, von allen Seiten versuchte der Regen Lieschen Vogelscheuche abzurubbeln.

Lisi wollte fortlaufen – doch o weh – ihre hölzernen Füße steckten tief in der Erde – und husch – husch – da sprang ein fürwitziges Feldmäuschen ihr Über das Bein. Laut auf schrie Lisi: »Mama – Mutti – eine Maus –« Sie hatte gräßliche Angst vor Mäusen.

»Kind – Gott sei Dank – daß ich dich endlich gefunden habe!« War das nicht die liebe Stimme ihrer Mutti, die ihr da plötzlich ans Ohr klang?

Und jetzt noch einmal: »Lisi – Kind – wach doch auf – du bist ja pudelnaß, den Tod kannst du dir hier draußen auf freiem Felde im Regenwasser holen –« Lisi schlug verwundert die Augen auf.

Vor ihr stand mit besorgtem Gesicht ihre Mutti. Da schlang Lisi glückselig beide Arme um der Mutter Hals? Hurra, sie waren nicht mehr steif und hölzern! Die Füße steckten nicht mehr in der Erde und das schmutzige Bauernwams und der zerlöcherte Hut waren verschwunden.

Ja, wenn eine Mutter kommt, dann ist alles gleich wieder gut!

»Bin ich nun keine Vogelscheuche mehr. Muttichen?« flüsterte Lisi, immer noch ein klein wenig verängstigt, als sie in ein großes, warmes Tuch verpackt, dicht an die Mutter geschmiegt, heimschritt.

Mutti lächelte unmerklich.

»Das wird von dir abhängen, Lisi, ob du dich nun endlich an Ordnung und Sauberkeit gewöhnen wirst.«

Diesmal war es Lisi Ernst mit ihrer Besserung.

Aus Lieschen Vogelscheuche wurde ein ordnungsliebendes, gewissenhaftes Kind.

Aber wenn Lisi am Sonntag mit den Eltern und Geschwistern hinaus aufs Feld zieht, dann schaut sie mitleidig zu jeder armen Vogelscheuche hinüber, die so hilflos ihre Arme in die Luft reckt, das war sicherlich früher einmal ein liederliches, kleines Mädchen.


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