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Fräulein Angstmeier

Auf dem Landungssteg in Norderney schlossen Vater und Mutter zum letztenmal ihre Kinder in die Arme. Fritzi hielt den Hals der Mutter fest umklammert, damit das große Schiff, das schon zum zweiten Male sein schrilles Tuten, das Abschiedssignal, ertönen ließ, sie ihnen nur nicht fortnehmen konnte.

»Nun seid verständig, Kinder, weine nicht, Fritzi, sei brav, Hans, daß ich Gutes von euch höre – in vier Wochen sind wir wieder hier und holen euch nach Haus.« Noch schnell den allerletzten Abschiedskuß, dann stand Mutter neben Vater auf dem Schiff. Die Schiffsbrücke wurde eingezogen – klitsch – klatsch machten die Wellen, und da rauschte das große Schiff davon, und Mutter und Vater mit.

»Mutti – Muttichen – – – « ein durchdringendes Geheul gab dem Schiffe das Geleit. Dann aber, als Fritzi sah, daß der unbarmherzige Kapitän trotz allen Jammerns nicht kehrtmachte, um ihnen ihr Mütterchen wiederzubringen, biß sie krampfhaft schluchzend auf einen ihrer dicken, blonden Zöpfe. Denn Fritzi war ein Mädel. Wie würde auch ein Junge so geweint und lamentiert haben. Der bekämpfte doch mannhaft seine Tränen und kniff höchstens, wie Bruder Hans, seine sonst so übermütigen Jungenaugen fest, ganz fest zusammen, weil sie vom Sonnengeflimmer ein bißchen tränten. Nee, ein Junge heult nicht aus Abschiedsschmerz.

»Fritzi, oller Transtiebel.« Hans hatte sich in den zwei Tagen seines Aufenthaltes in Norderney bereits eine kräftige Seemannsspräche angewöhnt. »Hör auf zu blöken, sieh nur, die Badegäste gucken alle nach dir hin!«

Das half. Auslachen mochte sich Fritzi nicht lassen, sie war doch schon neun Jahre alt.

In ihrer Verlassenheit griff sie nach der derben, ausnahmsweise tintenfreien Hand des Bruders.

»Hans – ach, mir ist ja so schrecklich bange, so ganz allein hier in der fremden Kinderpension unter all den vielen fremden Gören!« Es begann bereits wieder verräterisch um Fritzis Mundwinkel zu zucken. »Ach, warum haben Vater und Mutter uns nicht mitgenommen?« Wieder mußte Fritzi auf den blonden Zopf beißen, um nur nicht aufs neue loszuheulen.

»Fräulein Angstmeier!« Hans sagte es in ungeheuer verächtlichem Ton. Aber als er das betrübte Gesicht seines Schwesterchens sah, kam ihm zum Bewußtsein, daß er jetzt eigentlich die Verpflichtung hatte, besonders nett zu ihr zu sein. Sie hatte doch vorläufig keinen anderen Freund hier als ihn. So gab er ihr einen trostvollen Puff mit dem Ellenbogen und setzte hinzu: »Fritzi, Menschenskind, ist es denn bei uns in Hamburg so schön wie hier in Norderney? Und nun noch gar mit den vielen Gören zusammen, das ist doch erst recht famos. Keine Bange, Fräulein Angstmeier, die fressen dich nicht. Und Fräulein Annchen, unsere neue Pensionstante, scheint ja auch ein höllisch nettes Frauenzimmer zu sein!«

»Aber, Hans!« Hinter ihnen stand Fräulein Annchen, die Vorsteherin der Kinderpension. Fritzis lautes Weinen hatte sie vom Strand, wo sie mit ihren Zöglingen spielte, schnell auf den Steg eilen lassen. Ohne daß die beiden es gemerkt, hatte sie schon ein Weilchen das Gespräch der Geschwister mitangehört. Jetzt aber sahen ihre freundlichen, braunen Augen unzufrieden auf den Jungen.

»Hans, schämst du dich nicht, in so wenig respektvollem Ton von mir zu sprechen?«

Hans wurde röter als sein roter Seidenschlips.

»Ich – ich – ach bitte, seien Sie mir bloß nicht böse, Fräulein Annchen – der alte Klaus hat heute morgen von Ihnen so gesagt, und – da – da habe ich gedacht, man spricht hier in Norderney so,« stotterte er. Treuherzig sahen seine Augen zu der Vorsteherin auf.

Die lächelte schon wieder.

»Na – Hans, wenn der alte Klaus, die Wasserratte, auch in diesem derben Seemannston sprechen mag, für einen zwölfjährigen Jungen finde ich es weniger nett. Aber nun wird nicht mehr »Fräulein Annchen« gesagt, sondern ich bin für euch »Tante Annchen« wie für all die anderen Kinder. Und jetzt wollen wir am Strand eine feine Burg bauen.«

»Hurra!« Hans warf jauchzend die Mütze in die Luft. Er war froh, so leichten Kaufes davongekommen zu sein. Denn man mag sich doch in seiner neuen Heimat nicht gleich als vorlaut und respektlos einführen.

Aber Fritzis Mienen hatten sich noch nicht aufgeklärt, bei der war noch lange nicht Sonnenschein. Auch als Tante Annchen den Arm liebevoll um die weiße Matrosenbluse des kleinen Mädchens schlang und sie mit fortzog, wurde sie noch nicht zutraulicher.

Von dem, was Tante Annchen gesagt, hatte Fritzi nur ein einziges Wort behalten, ein furchtbares Wort. Das ließ das Herz von Fräulein Angstmeier wieder banger schlagen. Dies Wörtchen hieß »Wasserratte«.

Hu – Ratten gab's hier, und noch dazu Wasserratten? Fritzi empfand eine lächerliche Angst vor allem, was mehr als zwei Beine hatte. Nein, sie schlief ganz bestimmt heute nicht in der Villa Kinderlust, die Tante Annchen mit ihren Zöglingen bewohnte. Ratten waren gefährlich, die konnten sogar beißen. Daß man am Meer die Fischer und Seeleute mit dem Namen »Wasserratten« zu bezeichnen pflegt, das wußte unsere dumme Fritzi nicht.

»Nun sollst du mal sehen, wie schön es bei mir ist«, redete Tante Annchen, die glaubte, Fritzis gedrückte Stimmung entspränge nur noch dem Trennungsweh, ihr freundlich zu. »Ihr werdet fein mit den fröhlichen Genossen spielen, und wenn die Eltern von ihrer vierwöchigen Seereise zurückkehren, werdet ihr überhaupt gar nicht mit nach Hause wollen. Paß mal auf, Fritzi!«

»Warum hat Vater und Mutter uns nicht mitgenommen!« Statt freudiger Zustimmung, wie Tante Annchen sie erwartet, begann Fritzi wiederum ihr Jammergeheul. Diesmal waren die schrecklichen Wasserratten wohl der Hauptgrund dazu.

»Aber Mädel, Kinder gehören doch nicht aufs Schiff, bei solch einer weiten Seereise bis nach Italien! Und deinem Vater, dessen Nerven von der Arbeit so angegriffen sind, hat der Arzt doch vollständige Ruhe verordnet,« stellte Tante Annchen vor.

»Na ja, die hätte er ja auch bei Fritzis ewigem Geplärr!« fiel Hans übermütig ein. Dann aber verstummte er schnell. Da war er doch schon wieder ein wenig vorlaut gewesen, und nett und brüderlich gegen Fritzi hatte er sich auch nicht benommen.

Aber als Tante Annchen jetzt mit ihren neuen Pfleglingen in den Kreis der sie mit Jubel empfangenden Zöglinge trat, da vergaß Hans seine Selbstvorwürfe und Fritzi ihre Tränen, ja sogar die furchtbaren Wasserratten. Wer kann auch weinen, wenn zwanzig junge Augen einem entgegenstrahlen, wenn aus jauchzendem Kindermunde ausgelassenes Scherzen und Lachen erschallt! Bald war Hans und Fritzi mitten unter der lustigen Schar. Mit heißen Wangen arbeiteten sie an ihrer Burg, schaufelten und gruben, pflanzten Fähnchen auf und legten Sitze und Gärtchen an. Kein Gedanke flog mehr mit den tanzenden weißen Wellen zu dem großen Schiff, auf dem Mutter gerade seufzend dachte, ob ihre Fritzi sich wohl endlich getröstet haben mochte. Kindertränen trocknen schnell.

Arm in Arm zog Fritzi mit ihren beiden neuen Freundinnen, dem Lenchen mit der lustigen Stubsnase aus Dresden und der Wiener Mizi mit dem kurzgeschorenen, braunen Krauskopf, zum Abendessen der Villa Kinderlust zu. Hans folgte mit seinen Kameraden.

Aber als es durch den Garten ging, da legte es sich, so freundlich auch das weiße Haus im Grünen ausschaute, wieder beklemmend auf Fräulein Angstmeiers Herz.

Herrgott – die Wasserratten!

Wie hatte sie die nur über das Spiel vergessen können! Ob sie Lenchen und Mizi, die schon über zwei Wochen in Villa Kinderlust weilten, nach den gräßlichen Tieren fragte? Aber ihre Freundschaft war noch zu neu, Fritzi schämte sich, wie daheim auch hier in Norderney gleich als Fräulein Angstmeier zu gelten.

Herzklopfend betrat sie die hübsche Villa. Furchtsam spähte sie in alle Ecken. Und dann machte sie plötzlich einen Satz, laut heulend. Nach der andern Seite aber sprang es ebenso laut heulend. Das war jedoch keine Wasserratte, wie Fritzi bestimmt geglaubt, sondern Pluto, der große Neufundländer, dem sie auf den Schwanz getreten.

Nun hatte ja Fritzi gegen Hunde, ob klein, ob groß, da dieselben doch nun mal mehr als zwei Beine besitzen, auch stets ein gewisses Mißtrauen, ja sogar eine heimliche Scheu, um nicht zu sagen Angst. Aber als Mizi und Lenchen jetzt herzlich lachten und den armen, getretenen Köter mit Liebkosungen überschütteten, mochte Fritzi ihre Abneigung nicht zeigen. Die beiden Helden, Fritzi und Pluto, machten von nun an einen großen Bogen, einer um den anderen.

Das Abendessen, saure Milch mit Butterbrot, hatte prächtig gemundet. Tante Annchen verteilte Prämien. Wer zuerst mit seinem Teller fertig war, durfte vorschlagen, was nach dem Abendessen im Garten gespielt werden sollte.

Heute hatte das Evchen aus Bremen den Preis errungen.

»Volkslieder singen,« schlug sie vor.

Das wurde allgemein mit Begeisterung aufgenommen. Paarweise zog man in den Gartenwegen umher. Helle, reine Kinderstimmen klangen durch die Abendstille, und manch einer der Vorübergehenden blieb an Villa Kinderlust stehen und lauschte den schlichten Weisen.

Aber als der Mond sein silbermaschiges Lichtnetz über Haus und Garten, über Düne und Wogen zu knüpfen begann, hieß es »Gute Nacht«. Tante Annchen jagte die kleine Sängerschar ins Bett. Zwei geräumige Schlafsäle lagen im ersten Stockwerk der Villa. Der eine für sechs Mädchen, der andere für sechs Knaben. Mehr als zwölf Kinder nahm Tante Annchen nie zu gleicher Zeit auf, ihr Kinderpensionat sollte wie eine große Familie sein.

»Gute Nacht, Hans, schlaf wohl! Ach, ich graule mich ja tot!« flüsterte Fritzi auf dem Korridor Bruder Hans zu.

Der tippte nur ausdrucksvoll mit dem Zeigefinger auf die Stirn.

Ehe Fritzi ihm noch verraten konnte, warum sie sich denn tot graulte, war er bereits seinen Kameraden in das gemeinschaftliche Zimmer gefolgt.

Schwatzend und kichernd zog man sich aus. Fritzis Plappermäulchen war verstummt. Mit angstvollen Augen schaute sie in der fremden Umgebung umher.

Aus welcher Ecke mochten die Wasserratten kommen? War dort nicht ein Loch in der Wand – knisterte es da nicht? Nein, es war nur Mizi, die ihre Kleider ordentlich auf einen Stuhl breitete.

Das Licht war gelöscht, das letzte Gutenacht verklungen.

Fräulein Angstmeier lag mit weitgeöffneten Augen und gespitzten Ohren im Bett.

Was rauschte denn da so unheimlich?

Rauschen – ach Unsinn, das war ja ein deutliches Rascheln, gewiß bahnte sich die Ratte erst einen Weg in das Zimmer.

Fritzi stopfte den Bettzipfel gegen den Mund, um sich nicht zu verraten, und begann bitterlich zu weinen.

»Weinst du, Fritzi?« erklang ein müdes Stimmchen aus dem Bett nebenan, und ein brauner Krauskopf, zu Mizi gehörig, hob sich lauschend empor.

Aber als keine Antwort kam, nur das unterdrückte Weinen noch stärker wurde, huschten flinke Mädchenfüße über den Boden. Und da saß die gutherzige Mizi auch schon auf dem Bettrand der neuen, weinenden Genossin, hatte beide Arme um Fritzis Hals geschlungen und flüsterte mitleidig: »Warum weinst du, du armes Hascherl, hast Heimweh?«

Fritzi schüttelte den Blondkopf und weinte weiter. Sie hatte selbst innigstes Mitleid mit sich.

»Kein Heimweh – ja, was hast denn da?« ratlos streichelte Mizi ihr die nassen Wangen.

»Ich – ich – es rauscht so unheimlich, hörst du's denn nicht, Mizi? Ach Gott, ich habe ja solche Angst!«

»Aber wovor denn bloß, Fritzi?«

»Vor – vor den Wasserratten.« Jetzt im Dunkeln schämte sich Fritzi weniger ihrer Furchtsamkeit. »Da – hörst du denn nicht, wie es rauscht und raschelt – Gittigit – « Sie faßte angstvoll nach Mizis Arm.

Die aber stopfte jetzt ihrerseits den Bettzipfel gegen den Mund, doch nicht um ihr Weinen, sondern um ihr helles, losprustendes Lachen zu dämpfen.

»O du Nockerl, du blitzdummes – das ist ja das Meer, was da so rauscht, 's ist halt jetzt Flut! Wasserratten – ha ha ha! – die gibt's hier nicht!«

»Aber Tante Annchen hat es doch gesagt,« wandte Fritzi, wenn auch ungeheuer erleichtert, doch ein klein wenig beleidigt, ein.

»Was hat sie gesagt?«

»Daß es hier Wasserratten gibt. Hast du noch keine gesehen?«

Da aber lachte die Mizi noch viel mehr, sie mußte auch noch den zweiten Bettzipfel zu Hilfe nehmen, sonst hätte sich sicherlich noch so mancher blonde und braune Mädchenkopf aus den Kissen erhoben.

»Nein, was bist du für ein Nockerl, Fritzi! Wasserratten, freilich hab' ich die hier schon gesehen, aber zweibeinige! Die Seemänner nennt man so! Sicher hat Tante Annchen die bloß gemeint – deswegen kannst ruhig schlafen!«

Aber so schnell kam die Mizi noch nicht fort. Fritzis Arme umfaßten sie, und ein verschämtes Gesichtchen, noch ein wenig naß von den Angsttränen, preßte sich gegen das ihre.

»Verrat mich nicht, nein, erzähl es den anderen nicht, wie dumm ich gewesen bin,« bat Fritzi leise. »Wenn's erst die Jungen erfahren, dann gibt's des Neckens und Foppens kein Ende.«

Das versprach denn auch die Mizi mit Handschlag und – sie hat Wort gehalten. Keine Menschenseele erfuhr was von Fritzis Wasserratten. Aber die beiden, die Mizi und die Fritzi, waren von dieser Stunde an Herzensfreundinnen.

Als der Mond ein Weilchen später mit seinem Silberschiffchen auf der himmlischen Segelfahrt an der Villa Kinderlust vorüberkam und durch die Fenster schaute, ob die kleine Gesellschaft auch allenthalben schlafe, da waren Fritzis Tränen längst getrocknet. Ein Lächeln um die Lippen, lag sie da und träumte, nicht von den Wasserratten, sondern von ihrer neuen Freundin.

Nein, durch die Mizi erfuhr keiner was. Aber leider brachte fast jeder neue Tag irgendeine Gelegenheit, bei der sich Fritzi als Fräulein Angstmeier entpuppte, bis die anderen Gefährten auch Wind davon bekamen.

Gleich am nächsten Tage. Morgens früh ging alles wunderschön. Das gemeinsame Frühstück auf der großen Veranda war sehr fidel und amüsant. Auch das Muschelsuchen nachher am Strand. Zwar schrie unsere kleine Heldin mal auf, als sie statt einer rosenroten Muschel plötzlich eine feuchte, schwarze Schnecke zwischen den Fingern hielt, aber das hatte zum Glück nur Bruder Hans gehört. Mit dem wurde eifrig besprochen, was man von den gefundenen Muscheln fabrizieren könnte.

»Ich klebe einen Nähkasten für Mutter,« sagte Fritzi.

»Und ich einen Briefmarkenkasten für den Vater,« rief Hans.

Und dann legten sie beide die Hand über die Augen, sahen durch die flirrende Silberluft über das schäumende Meer, und der Hans wies ganz, ganz in der Ferne auf einen dunklen Punkt und meinte: »Das ist bestimmt ihr Schiff!«

Fritzis Blauaugen begannen ein wenig zu tropfen, aber nicht lange, dann schauten sie wieder strahlend in die sonnige Gotteswelt.

Das war auch nur am ersten Tage, daß die beiden so ein klein wenig Sehnsucht verspürten. Bald schaute keines von ihnen mehr nach Vaters und Mutters Schiff aus. Sie fühlten sich bei Tante Annchen ganz zu Hause.

Ja, wenn nur eins nicht gewesen wäre! Das tägliche Baden!

Hans war ein mutiger Junge, der auch daheim in Hamburg täglich in der Alster schwamm. Aber Fritzi war ein etwas verzärteltes Püppchen. Die hatte Angst vor den Wellen und vor dem großen Meer überhaupt. Konnte man denn wissen, wie weit man Grund hatte? Und war es nicht möglich, daß eine besonders kräftige Welle sie mit fortriß, weit fort bis in den Ozean hinein?

Mit nichts weniger als freudigem Gesicht bestieg sie in Gemeinschaft mit ihrer Freundin Mizi den hochrädrigen Badekarren, der sie ins Meer hinausfuhr, da es vorn am Strand zu flach zum Baden war. Fritzi war zwar durchaus nicht dieser Meinung. Der hätte es genügt, wenn die Wellen nur ihre Zehenspitzen umspült hätten.

In dem Badekarren war es eigentlich allerliebst. Wie ein Puppenhäuslein schaute es aus, und wenn man keine Angst zu haben brauchte, konnte es einem schon darin gefallen.

So aber pochte der Fritzi das Herzchen unter dem nagelneuen roten Badeanzug mit den weißen Litzen so laut, daß sie meinte, die Mizi müßte das angstvolle Pochen hören.

Die aber war eitel Freude. Sie hing ihren Bademantel über das Geländer der Treppe und sprang die Stufen hinab ins Wasser, mit den hüpfenden Wellen um die Wette.

»Schnell, Fritzi, komm, es ist herrlich heute!« Hopsend war der Mizi eine Welle über den kurzgeschorenen Jungenkopf gegangen. Aber lachend und sich schüttelnd tauchte sie wieder auf.

Fritzi stand auf der drittvorletzten Stufe ihres fahrenden Häusleins, daß auch die übermütigste Welle sie beim besten Willen nicht erreichen konnte. Mit beiden Händen hielt sie fest das Treppengeländer umklammert, falls es dem Wind vielleicht einfallen sollte, sie fortzuwehen.

»Aber Fritzi, sei doch nicht bange, schau, mir reicht das Wasser doch nur bis zu den Schultern, und du bist noch größer als ich!« rief Mizi und wollte Fräulein Angstmeier mit herabziehen.

Aber da kam sie schlecht an. Fritzis Hände gaben das Treppengeländer nicht frei.

»Bitte, ach bitte, laß mich!« bat sie zitternd vor Angst und vor Kälte.

»Nein, Fritzi, du verkühlst dich, wenn du so lange stehst, du mußt dich halt warm panschen, komm!« stellte Mizi verständig vor und begann, die Freundin übermütig zu spritzen.

Fritzi kreischte wie eine Seemöwe.

Rote und blaue Badeanzüge, mit lachenden Mädchengesichtern darüber, sammelten sich an der Treppe, auf der Fritzi noch immer thronte. Ein allgemeines jubelndes Bespritzen ging jetzt los. Sogar Nelli, das sechsjährige Nestküken von Villa Kinderlust, beteiligte sich dabei. Fritzi hatte nicht übel Lust, in ihrem Häuslein zu verschwinden und sich geschwind wieder anzukleiden.

Aber ehe sie diese Absicht ausführen konnte, ereilte sie ihr Schicksal. Und zwar in Gestalt von Tante Annchen.

Tante Annchen, die sich mit den Kindern im Wasser tummelte, hatte bis jetzt geglaubt, Fritzi würde von selbst so vernünftig sein und ihre Wasserscheu überwinden. Aber als sie sah, daß das dumme Mädel kehrtmachen wollte, erfaßte sie dasselbe, nahm die große Fritzi wie ein Baby auf den Arm und – plumps – und noch mal plumps – unter dem Jauchzen der übrigen Kinder tauchte sie mit ihr ins Wasser zurück.

Fritzi schrie wie am Spieß. Die Hände hatte sie nicht mehr um das Treppengeländer geschlungen, sondern um Tante Annchens Hals. Den hielt sie krampfhaft wie ein Schraubstock umklammert.

Aber als Tante Annchen sie jetzt niedersetzte, damit sie sich selbst ein wenig warm strampeln sollte, als eine große Welle noch zum Überfluß angerollt kam, da nahm Fritzi schreiend Reißaus. Hast du nicht gesehen, war sie wieder in ihrem Badekarren drin.

»So ein kleiner Angstmeier!« schalt Tante Annchen lachend hinter ihr her. Na, morgen würde sie gewiß schon mutiger sein.

Die fünf Gefährtinnen aber faßten sich bei den Händen, umtanzten lachend den Badekarren und sangen dazu: »Fräulein Angstmeier! Fräulein Angstmeier!«

Doch Fritzi war jetzt alles gleich, die war froh, noch einmal mit dem Leben davongekommen zu sein.

Natürlich hörten auch die Jungen von Fritzis Mut.

»Du, Fritzi,« meinte Hans warnend als guter Bruder, »ich rate dir, sei morgen verständiger. Wenn die Kinder sehen, was du für ein Angstmeier bist, ziehen sie dich allenthalben damit auf.«

Ja, Fritzi hatte wirklich die allerbeste Vornahme, sich morgen weniger feige zu benehmen, wenn – ja, wenn das Wasser nur nicht so schrecklich naß gewesen wäre!

Acht Tage lang fand stets dasselbe Manöver statt. Fritzi steckte nur behutsam die äußerste Spitze der großen Zehe ins Meer, bis Tante Annchen dafür sorgte, daß sie die nähere Bekanntschaft der Nordsee machte.

Aber nach einer Woche war sie dann endlich kuriert. Da sprang sie wie die anderen Kinder in den blauen Wogen umher und war der lustigsten eine. Es will eben alles gelernt sein.

Auch der Krabbenfang.

»Morgen Punkt zehn ist Krabbenfang angesagt,« rief Herbert eines Tages, und die anderen wiederholten es im Chor: »Au, fein – Krabbenfang!«

»Äx!« Fritzi schüttelte sich, sie hatte eine starke Abneigung gegen alles krabbelnde Getier. Und der Name allein krabbelte schon so!

»Du, Fritzi, laß dich bloß nicht wieder von den andern auslachen! Sollen die dich am End' gar wie neulich ›Fräulein Angstmeier‹ nennen?« Mizi schlang den Arm um die Freundin.

»Ich bin kein Angstmeier!« Fritzi rief es mit großartigem Ton, und doch schlug ihr das Herz – poch – poch – wenn sie an den morgigen Krabbenfang dachte.

Aber heute ist erst heute! Da geht einem das Morgen überhaupt noch nichts an. Der Nachmittag auf den Dünen war so herrlich, den mochte man sich nicht mit unbequemen Gedanken auf morgen verderben. Nie hatten Fritzi und Hans, die beiden Hamburger Stadtkinder, so schön ›Räuber und Prinzessin‹ gespielt wie hier in den Sandburgen. Und als die Sonne flammend rot übers Meer ihr »Gutenacht« herübergrüßte, da sah Evchens, der Prinzessin, Flachskopf wie das aus lauter Gold gesponnene Haar einer richtigen Märchenprinzessin aus.

Für unsere kleine Gesellschaft aber hieß es nun auch »Gute Nacht«.

Am nächsten Morgen war es nicht ganz so schön wie sonst. Schon beim Aufstehen ertönte das beängstigende Wort »Krabbenfang« und legte sich schwer auf Fritzis Brust.

»Hast du auch dein kürzestes Kleid an? Wir waten tief hinein.« Lenchens Frage war nicht gerade dazu angetan, Fritzis Mut zu heben. Auch beim Frühstück drang das krabbelnde Wort fortwährend an Fritzis Ohr, daß ihr fast das Brötchen im Halse stecken blieb. Die Zungen redeten von nichts anderem. Jeder prahlte damit, daß er die meisten fangen würde.

Herrgott – nun war's soweit.

Am Strand wurden – heidi – Schuhe und Strümpfe abgezogen, die kurzen Röckchen und Höschen noch höher gekrempelt und – Hurra – da wateten die munteren Krabben auch schon auf den Krabbenfang. Lachend, hopsend, kreischend und sich gegenseitig bespritzend.

»Na, Fritzi, willst du nicht mit?« Hans, der sein mutiges Schwesterchen kannte, kam zum Strand zurück, wo Fritzi zwar barfuß, aber immer noch unschlüssig hinter den andern dreinschaute.

»Ich mache mir mein Kleid naß!« Fritzi war froh, einen Ausweg gefunden zu haben.

»Steck's hoch wie die anderen Mädel, komm nur, das sind ja alles nur Flausen und Ausflüchte, Fräulein Angstmeier!« lachte Hans.

Der Ehrentitel half. Fritzi raffte mit der einen Hand ihr Kleid zusammen, mit der anderen aber umspannte sie Bruder Hans' Rechte.

»Hans, lieber Hans, halte mich ganz fest – laß mich bloß nicht los!« Hurra – da watete auch die Fritzi hinein in die See.

Hei – war das eine Lust! Wer hopste höher, die übermütigen Wellen oder die ausgelassenen Kinder? Selbst Fritzi begann Freude an dem Herumwaten zu empfinden.

Da plötzlich – ein entsetzlicher Schrei.

Er kam von Fritzis Lippen.

»Au – au – eine Krabbe oder ein Hummer kneift mich ins Bein – Gittigit – ich kann nicht wieder los!« so brüllte sie und schaute mit angstvollen Augen in die Tiefe.

»Es wird ein Haifisch sein!« neckte Herbert lachend.

»Nein, ein Walfisch!« schrie Nelli, die kleinste, aber dreisteste Krabbe, dazwischen.

Mizi jedoch, die Herzensfreundin, eilte getreulich zur Rettung herbei. Während Hans die immer noch schreiende Schwester im Arm hielt, löste Mizi das Bein Fritzis von dem sie fest umschlingenden – Seetang. Denn das war der Hummer, der sie ins Bein gekniffen.

Da hatte Fräulein Angstmeier für diesmal genug vom Krabbenfang. Sie zog es vor, lieber an ihrer Burg zu bauen, dabei war man wenigstens sicher vor Meerungetümen.

Beim Mittagessen wurde Tante Annchen die Erlaubnis abgeschmeichelt, nachmittags Esel reiten zu dürfen. Eselreiten war das größte Vergnügen für alle Kinder, und wurde von Tante Annchen nur als Belohnung für besonderes Bravsein gestattet.

Jubelnder Dank ertönte denn auch, als Tante Annchen lächelnd nickte.

Nur eine jubelte nicht – unsere Fritzi.

Die saß vor ihrem Suppenteller, die großen Blauaugen erschreckt aufgerissen.

Ein Esel – himmlischer Vater – das war ja noch viel schlimmer als eine Krabbe! Der war ja größer und stärker als sie, der konnte störrisch werden, wenn er sonst wollte – Fritzis Gesicht schaute durchaus nicht beglückt drein.

»Na, Fritzi, freust du dich?« fragte der lange Herbert, der die Mädels am meisten aufzog und Fritzis Heldenmut längst durchschaut hatte, zwinkernden Auges herüber.

Fritzi tat, als ob sie seine Frage überhaupt nicht gehört habe.

»Kind, du brauchst nicht mit,« mischte sich Tante Annchen gütig hinein. »Das Eselreiten soll ein Vergnügen sein, und wenn du Angst hast, bleibst du eben bei mir. Ich reite auch nicht.«

»Ich habe keine Angst – i wo!« beteuerte Fritzi und wurde rot. Denn sie blieb sonst stets bei der Wahrheit, aber warum machte auch der Herbert solch niederträchtiges Gesicht.

Jan, der Eseljunge, war ein guter Freund von allen Kindern. Er grinste von einem Ohr zum andern, als er die kleine Karawane ankommen sah.

Hoppla – da saßen sie alle im Sattel, Hans schnalzte sogar unternehmungslustig mit der Zunge.

Nur Fritzi blieb in respektvoller Entfernung von ihrem Grauchen, mit furchtsamen Augen, als ob sie vor dem Löwenkäfig im Zoologischen Garten stände.

»Na, da möt ick woll noch'n beten helpen,« grinste Jan, der Eseljunge, freundlich und streckte die Hände nach Ihr aus, um sie in den Sattel zu heben.

Aber Fräulein Angstmeier war nicht dazu zu bewegen, das gutmütige Grauchen zu besteigen. Der Esel konnte sie abwerfen, der konnte nach ihr schnappen – nein, lieber trabte sie auf ihren eigenen Beinen hinterher. Und selbst das mit ängstlichem Gesicht. Wenn es dem Vierfüßler plötzlich einfiel, nach hinten auszuschlagen!

»Fritzi, sei doch nicht so fad, tu doch mit,« bat Mizi.

Bruder Hans sah sich gar nicht nach der Schwester um. Er war ärgerlich auf sie. Ja, er schämte sich ihrer sogar. So ein feiges Gör!

Jetzt wandte sich der lange Herbert im Sattel zurück. »Aber Fritzi,« rief er lachend, »sogar jeder Esel reitet mit!« Und neckend und johlend erklang es im Chor: »Fritzi, jeder Esel reitet mit!«

Das war zuviel für Fräulein Angstmeier.

Auslachen mochte sie sich nicht von allen Kindern lassen. Lieber wagte sie das Leben!

Mit Todesverachtung und fest geschlossenen Augen ließ sie sich von Jan auf das graue, langohrige Ungeheuer heben und – welches Vergnügen! Nein, das hatte Fritzi wirklich nicht gedacht, daß ihr das Reiten so viel Spaß machen würde!

Das Eselein war zahm und fromm, Fritzis Arme, die den Hals des Eseljungen liebevoll umklammert hielten, lösten sich allmählich. Und als die Stunde um war und man wieder absteigen mußte, da sagte sie wie die anderen Kinder aus vollem Herzen: »Schade!«

»Wenn es doch bloß Sonntag schönes Wetter wäre!« Unzählige Male erklang dieses Stoßgebet in Pension Kinderlust. Auch Hans und Fritzi beteiligten sich an diesem Wunsch. Obgleich sie eigentlich gar nicht wußten, weshalb gerade am Sonntag schönes Wetter sein sollte. Hier in Norderney war ja jeder Tag für sie Sonntag.

Aber bald wurde es ihnen klar. Fritzi sogar erschreckend klar. Bei schönem Wetter nahm der alte Fischer Klaus, die Wasserratte, seine kleinen Freunde des Sonntags im Segelboot mit auf See. Der alte Klaus war so zuverlässig, daß Tante Annchen ihm ruhig ihre Pflegebefohlenen anvertrauen konnte.

Fritzi wünschte jetzt nicht mehr ganz so inbrünstig, daß Sonntag schönes Wetter sein sollte. Ja, sie ertappte sich sogar bei dem Gedanken, daß es eigentlich viel netter wäre, wenn es am Sonntag regnete. Fritzi hatte nun mal eine Abneigung gegen das Wasser – Wasser hat keine Balken!

Tiefblauer, wolkenloser Himmel spannte sich am Sonntag über das tiefblaue Meer – echtes Sonntagswetter. Und die Sonne lachte vom Himmel mit dem schmunzelnden alten Klaus um die Wette.

Der verlud seine Gören in das große Segelboot.

Fritzi hatte zum Glück den Platz neben dem Alten erwischt. »Wenn ich reinfalle, kann er mich wenigstens gleich rausfischen,« dachte sie gottergeben.

Zuerst ging alles wunderschön. Das Segelboot glitt wie ein Pfeil durch den weißen Wellengischt. Das machte Spaß, selbst der Fritzi, wenn sie sich auch aus Vorsicht an des alten Klaus' Teerjacke festhielt.

Besorgt blickte sie in den Himmel. Der sah jetzt nicht mehr ganz so wolkenlos aus.

»Es wird doch kein Wetter geben, Klaus?« erkundigte sie sich bang.

»I – man so'n büschen Wind, dat schad' nix, wenn der so 'ner lütten Landratt mal büschen um die Näs weht,« war die tröstliche Antwort.

Na, der Wind wehte der Fritzi ganz gehörig um die kleine »Näs«, je weiter sie hinaus in das Meer kamen.

Wind – das war gar kein Wind mehr, das war ja schon Sturm! Fräulein Angstmeier klammerte sich mit beiden Händen an das Knie des Alten.

Warum scherzten und sangen die anderen Kinder bloß? Sahen die denn die Gefahr nicht? Und Klaus rauchte auch voll Seelenruhe ganz gemütlich seine Piep Tobak.

Jetzt packte der Wind das Boot heimtückisch in die Flanke, er legte es auf die Seite – tiefer – und immer tiefer – die anderen lachten und kreischten, Fritzi aber schrie Zetermordio.

»Ich will zurück, ich will wieder an Land, ich will nicht ertrinken!« so heulte und jammerte sie.

»Wat 'n oller lütter Banghas – so fixing versauft sich dat nich!« Kopfschüttelnd schob der alte Klaus sein Pfeifchen in den anderen Mundwinkel.

Aber als das Geschrei kein Ende nehmen wollte, als Fritzi bei jedem Bootsstoß aufs neue lostrompetete, da machte der Alte kurz entschlossen kehrt und brachte sie zum Landungssteg zurück.

»Dat olle Jammerwurm« nahm er nicht wieder mit auf See hinaus.

Doch wie die Woche um war, hatte Fritzi ihre Angst vor dem Segeln vergessen und der alte Klaus sein Wort. Wer konnte auch Fritzis bettelnden Blauaugen widerstehen? Um alles in der Welt mochte sie nicht als einzige zurückbleiben. Die Schande war zu groß.

Diesmal hielt sie sich tapfer. Sie kniff zwar, so oft das Boot seitwärts trieb, den alten Klaus vor Aufregung in den Arm, aber durch dessen dicke Jacke kam das nicht durch. Vor allem machte Fritzi bei den Segelfahrten künftig kein Freikonzert.

Und bald erging es ihr mit dem Segeln wie mit den übrigen Vergnügungen des Nordseebades. Nachdem die Angst erst mal überwunden war, stellte sich die Freude daran ein.

Als die Eltern von ihrer vierwöchigen Seereise nach Norderney zurückkehrten, um ihre braungebrannten Kinder heimzuholen, da gab es dort kein Fräulein Angstmeier mehr. Fritzi badete, watete, ritt und segelte, als ob ihr Herz niemals ängstlich dabei geschlagen hätte. Selbst mit Pluto hatte sie sich angefreundet.

Und so groß die Wiedersehensfreude mit den Eltern auch war, keines, sowohl Hans als Fritzi, wollte aus Pension Kinderlust wieder fort nach Haus. Na, nächstes Jahr geht's wieder hin!


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