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2. Nordische Sage.

Die Völker des skandinavischen Nordens, Norweger, Isländer, Schweden und Dänen hatten in der ältern Zeit eine gemeinschaftliche Sprache, die nordische, tunga norraena. Diese lebt, nachdem sie sich bei den übrigen in Mundarten gespalten und ausgebildet, wozu allerdings schon ältere Verschiedenheiten den Keim enthalten mochten, im heutigen Isländischen fort. Ebenso hatten diese Völker gemeinsame Götter- und Heldensage, an der wohl jedem sein besondrer Anteil zukommen mag, die aber doch in ein großes Ganzes verschmolzen ist und deren Denkmäler in jener altnordischen oder isländischen Sprache verfaßt sind; noch bei der spätern Trennung der Sprachen läßt sich in Volksliedern und Volkssagen die einstige Gemeinschaft erkennen.

Den Isländern gebührt vorzugsweise das Verdienst, die gemeinsame Sage aufgefaßt, gesammelt, bewahrt und aufgezeichnet zu haben; und diese Bemühungen sind wohl auch nicht ohne Einfluß auf die innere Gestaltung der Lieder und Sagen geblieben. Es wird darum nicht unpassend sein, einiges über die besondern Verhältnisse, wodurch das kleine Inselvolk in diese Wirksamkeit versetzt wurde, voranzuschicken.

Die Insel Island, von Schneegebirgen starrend, baumlos der scharfen Winde wegen, von Herden beweidet, die des Schmuckes der Hörner entbehren, von Treibeis umlagert, auf dem der Bär von Grönland herunterschwimmt, nach Wintern und Nächten (wie der Norden überhaupt), statt Sommern und Tagen, die Zeit messend, scheint freilich nicht zum Garten der Poesie geschaffen zu sein. Aber wie dort oft die Eisrinde kracht und der Hekla Flammen wirft, wie aus den starren Sümpfen siedende Quellen hoch aufspringen, so hat auch die Poesie dem Eise getrotzt, und begreiflich ist, daß der gewaltige und ernste Charakter der nordischen Natur sich der nordischen Poesie mitteilen mußte.

Gegen das Ende des neunten Jahrhunderts wurde Island von Norwegen aus bevölkert. Harald Schönhaar, ein Häuptling im südlichen Norwegen, warb, wie die Sage meldet, um eine Jungfrau, die ihm ihre Hand nur um den Preis zusicherte, wenn er das ganze Norwegen, welches damals unter eine große Zahl kleiner Könige verteilt war, sich unterwerfen würde. Da gelobte Harald, sein Haar nicht eher zu schlichten oder zu schneiden, bis er des ganzen Landes Meister wäre. Er löste sein Gelübde und ward Gründer eines norwegischen Reiches. Die Stammhäupter aber und andre freie Männer, die des Eroberers Herrschaft nicht ertragen wollten, wanderten aus. Viele suchten ihre Zuflucht auf Island, und so entstand hier ein Freistaat, der sich bis über die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts unabhängig erhielt. Das Christentum wurde um das Jahr 1000 auf Island eingeführt.

Je weniger das neue Vaterland den Einwanderern darbot, um so mehr waren sie zu reger Kraftanstrengung aufgefordert und auf geistigen Lebensgenuß hingewiesen. Viehzucht und Fischfang genügten ihnen nicht, sie durchstrichen das Meer, erst als Seeräuber, bald auch als Kaufleute. Wer nicht fremde Lande gesehen hatte, galt nichts in der Heimat. Es war ein Sprichwort: »Albern ist das heimische Kind.« Hinwieder lud die Ruhe eines achtmonatlichen Winters ein, das Erfahrene in der Erinnerung aufzufassen, geistig zu verarbeiten, erzählend mitzuteilen. In der äußern Abgeschiedenheit ward das innere Leben rege und die Lieder ertönten auf Island, eben wie dort nur in den kalten und finstern Winternächten der Schwäne lieblicher Gesang gehört werden soll. Götter und Helden traten im Liede leuchtend hervor; was dem einzelnen Mann, was einzelnen Geschlechtern, was dem ganzen Volke Denkwürdiges begegnete, was auf Island, was im ganzen Norden Erhebliches sich ereignete, ward in der Sage aufbewahrt. Island war dem übrigen Norden als ein Spiegel gegenübergestellt und auch von manchem ferneren Lande fielen Bilder hinein. Von Island gingen die Skalden aus, die an den Königshöfen der nordischen Reiche und der westlichen Inseln sangen.


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