Mark Twain
Skizzenbuch
Mark Twain

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Wohlthun trägt Zinsen.

(In Beispielen.)

Von Kindheit auf habe ich mit besonderer Vorliebe eine gewisse Sammlung moralischer Erzählungen gelesen, aus denen ich Vergnügen und Belehrung schöpfte. Das Buch lag mir stets bequem zur Hand und sobald mein Glaube an menschliche Tugend zu wanken drohte, griff ich danach und vertrieb mir alle Zweifel. Auch wenn mich ein Gefühl meiner eigenen Schwäche und unedlen Gesinnung niederdrückte, wies mich das Buch zurecht und zeigte mir den Weg, wie ich die verlorene Selbstachtung wiedergewinnen könne.

Nur eines vermißte ich: Die schönen Geschichten brachen alle ab, sobald der Höhepunkt erreicht, die glückliche Lösung erfolgt war, und ich hätte doch so gern von dem weitern Ergehen der großmütigen Wohlthäter und ihrer Schützlinge noch etwas erfahren. Mein Verlangen hiernach ward zuletzt so dringend, daß ich beschloß, mir über den ferneren Verlauf der Geschichten selbst Klarheit zu verschaffen. Ich unternahm zu diesem Zweck lange und mühevolle Forschungen und kam dabei zu merkwürdigen Ergebnissen. Ich will nur zwei Proben davon zum allgemeinen Besten hier mitteilen. Zuerst werde ich die Geschichte, wie sie in den »Beispielen des Guten« steht, erzählen und dann die Fortsetzung beifügen, wie es mir gelungen ist, sie zu ermitteln.

Der wohlwollende Schriftsteller.

Ein armer, angehender Literat hatte sich vergeblich bemüht, für seine Manuskripte einen Verleger zu finden. Endlich, als er schon nahe am Verhungern war, klagte er einem berühmten Schriftsteller seine traurige Lage und bat ihn um Rat und Hilfe.

Der hochherzige Mann legte sogleich seine eigenen Sachen beiseite und begann eins der verschmähten Manuskripte durchzulesen. Als er dies menschenfreundliche Werk beendet hatte, schüttelte er dem jungen Manne herzlich die Hand und sagte: »Ihre Arbeit ist nicht schlecht; kommen Sie am nächsten Montag wieder.«

Zur verabredeten Zeit erschien der junge Autor; der berühmte Schriftsteller aber öffnete, ohne ein Wort zu sagen, ein Journal, das soeben erst aus der Presse kam, und zeigte dem Staunenden seinen eigenen Artikel, der in den Spalten des Blattes abgedruckt war. Der junge Mann sank auf die Kniee und brach in Thränen aus: »Wie kann ich mich Ihnen für solchen Edelmut je dankbar genug erweisen,« rief er.

Der Schriftsteller, welcher dieses gethan, war der große Snodgraß und der junge Literat, den er aus dem Dunkel hervorzog und vom Hungertode rettete, kein anderer als der später nicht minder berühmte Snagsby.

Möchten wir uns an diesem erfreulichen Vorgang ein Beispiel nehmen und bereitwillig allen Anfängern beistehen, welche der Hilfe bedürfen.

Fortsetzung.

In der folgenden Woche stellte sich Snagsby wieder ein und brachte fünf zurückgewiesene Manuskripte mit. Dies überraschte den berühmten Snodgraß einigermaßen, weil die jungen Leute, von denen das Buch erzählt, nie mehr als einmal der Handreichung bedurften um emporzukommen. Indessen arbeitete er die Schriftstücke durch, schnitt hier und da viele unnötige Blumen fort und rodete die Eigenschaftswörter scheffelweise aus. Es gelang ihm darauf wirklich zwei der Artikel bei Zeitschriften unterzubringen.

Nach Ablauf einer Woche erschien der dankbare Snagsby mit einer neuen Ladung von Manuskripten. Wohl hatte es dem berühmten Autor zuerst eine hohe innere Befriedigung gewährt, dem strebsamen jungen Manne mit Erfolg helfen zu können und sich mit den großmütigen Leuten zu vergleichen, von denen das Geschichtenbuch berichtet; jetzt aber begann sich in ihm der Argwohn zu regen, daß vielleicht nicht alles in Richtigkeit sei. Trotzdem sich sein Enthusiasmus plötzlich abgekühlt hatte, gewann er es aber nicht über sich, den jungen Menschen zurückzustoßen, der sich in seiner vertrauensvollen Herzenseinfalt so fest an ihn klammerte.

Das Ende vom Liede war denn auch, daß der berühmte Schriftsteller den armen, jungen Anfänger fortdauernd auf dem Halse behielt. Die schwachen Versuche, welche er anstellte, sich der Last zu entledigen, waren vergebens. Immer wieder mußte er Snagsby Rat erteilen und ihm Mut einsprechen, mußte sich bemühen die Annahme seiner Manuskripte bei den Zeitschriften durchzusetzen und sie vorher gehörig zustutzen, weil sie sonst unbrauchbar waren. Als der junge Streber endlich im Sattel saß, schwang er sich plötzlich mit einem kühnen Sprung auf den Gipfel des Ruhms. Er beschrieb nämlich das Privatleben des berühmten Autors bis in die kleinsten Einzelheiten mit so beißendem Witz, daß sein Buch einen fabelhaften Absatz fand, dem gefeierten Schriftsteller aber vor Kränkung darüber das Herz brach. Noch mit dem letzten Atemzug seufzte er: »Ach, jenes verlockende Buch hat mich betrogen; es verschweigt die letzte Hälfte der Geschichte. Hütet euch, meine Freunde vor strebsamen jungen Literaten! Kein Mensch soll sich vermessen, jemand vom Tode zu retten, den Gott verhungern lassen will – er läuft sonst nur in sein eigenes Verderben.«

* * *

Der dankbare Gatte.

Eine Dame fuhr einmal mit ihrem Söhnchen durch die Hauptstraße einer großen Stadt, als plötzlich die Pferde scheu wurden und in wildem Laufe davonjagten. Der Kutscher ward vom Bock geschleudert und die Insassen des Wagens bebten vor Todesangst. Aber ein wackerer Jüngling, der gerade mit seinem Gemüsewagen des Weges fuhr, fiel den durchgehenden Pferden in die Zügel und es gelang ihm mit Gefahr seines eigenen Lebens, ihre Flucht aufzuhalten. Die gerettete Dame ließ sich seine Adresse sagen und erzählte daheim die Heldenthat ihrem Gatten (der das Buch mit den moralischen Erzählungen gelesen hatte.) Dieser vergoß Thränen der Rührung bei dem erschütternden Bericht und dankte im Verein mit seinen ihm wiedergeschenkten Lieben dem Allgütigen, ohne dessen Willen kein Sperling vom Dache fällt, für die wunderbare Hilfe. Dann sandte er nach dem wackern, jungen Mann, überreichte ihm einen Wechsel auf 500 Dollars und sagte: »Nimm dies zum Lohn für deine edle That, William Ferguson, und wenn du je eines Freundes bedarfst, so erinnere dich, daß Thomas Spadden ein dankbares Herz hat.«

Laßt uns hieraus lernen, daß jede gute That dem der sie thut nützt und frommt und wenn er auch aus dem niedrigsten Stande wäre.

Fortsetzung.

In der folgenden Woche fand sich William Ferguson bei Herrn Spadden mit der Bitte ein, er möge ihm durch seinen Einfluß eine bessere Beschäftigung verschaffen, da er Größeres leisten könne, als den Gemüsewagen zu fahren. Herr Spadden verhalf ihm denn auch zu einer Bureaustelle mit gutem Gehalt.

Bald darauf wurde Williams Mutter krank und er – doch ich will mich möglichst kurz fassen: Spadden willigte ein, sie zu sich ins Haus zu nehmen. Nicht lange, so fühlte sie Sehnsucht nach ihren jüngern Kindern, worauf Marie, Julie und Jaköbchen gleichfalls bei Spadden Aufnahme fanden. Jaköbchen hatte ein Taschenmesser, mit dem er sich eines Tages allein ins Wohnzimmer begab und ehe noch Dreiviertelstunden vergingen, war das Mobiliar, welches etwa zehntausend Dollars gekostet hatte, so von ihm bearbeitet worden, daß sein Wert sich nicht mehr schätzen ließ. Einige Tage später fiel Jaköbchen die Treppe hinunter und brach den Hals. Siebzehn Anverwandte kamen in das Haus, um seiner Leiche zu folgen. Bei der Gelegenheit wurden sie dort bekannt und fanden sich seitdem häufig in der Küche ein. Auch bekamen die Spaddens vollauf zu thun, um ihnen nicht nur einmal Stellen zu verschaffen, sondern auch stets neue Beschäftigung, wenn sie Abwechslung brauchten.

Die alte Frau Ferguson war trunksüchtig und führte oft gottlose Reden; da hielten es denn die Spaddens, aus Erkenntlichkeit gegen den Sohn, für ihre Pflicht, sie von diesen Lastern zu bekehren und widmeten sich der Aufgabe mit hohem Edelsinn. William kam häufig, erhielt immer kleinere Geldbeträge und forderte immer höhere und einträglichere Beschäftigung, zu welcher ihm die dankbaren Spaddens mehr oder weniger rasch verhalfen. Nach verschiedenen Einwendungen verstand sich Spadden sogar dazu, William auf die Universität zu schicken; aber als der Held vor den ersten Ferien das Verlangen stellte, man möge ihn aus Gesundheitsrücksichten nach Europa reisen lassen, da empörte sich der bedrängte Spadden endlich gegen seinen Tyrannen. Er schlug ihm die Forderung rundweg ab.

William Fergusons Mutter war darüber so verblüfft, daß sie die Schnapsflasche fallen ließ und eine Verwünschung ihr in der Kehle stecken blieb. Als sie sich vom ersten Schrecken erholt hatte, stieß sie keuchend hervor: »So also beweisen Sie ihre Dankbarkeit? Wo wäre Ihre Frau und Ihr Junge jetzt ohne meinen Sohn?«

William sagte: »So also beweisen Sie Ihre Dankbarkeit? Sagen Sie einmal – habe ich Ihrer Frau das Leben gerettet oder nicht?«

Sieben Anverwandte liefen aus der Küche herbei und sagten einer nach dem andern: »So also beweisen Sie Ihre Dankbarkeit?«

Williams Schwestern standen starr vor Verwunderung. »So also beweisen Sie – –« fingen sie an, kamen jedoch nicht weiter, da ihre Mutter sie mit vor Schluchzen erstickter Stimme unterbrach und rief: »Und im Dienst eines solchen Ungeheuers hat mein seliger, kleiner Jakob sein teueres Leben geopfert!«

Da schwoll dem empörten Spadden der Mut und in der Erregung des Augenblicks rief er voll edlen Zornes:

»Hinaus aus meinem Hause, ihr Bettlerpack! Ich weiß es jetzt, jenes Geschichtenbuch hat mich bethört, aber es soll mich nie wieder zum Narren halten. – Ja, du hast meiner Frau das Leben gerettet,« donnerte er William an, »und dem nächsten welcher das thut, mache ich auf der Stelle den Garaus!«


Zum Schluß bemerke ich noch, daß sich die Geschichte mit William Ferguson in meiner persönlichen Bekanntschaft wirklich zugetragen hat; doch sind von mir alle Einzelheiten dergestalt verändert worden, daß William sein Spiegelbild nicht wiedererkennen wird.

Jeder Leser dieser Skizze ist wohl einmal den »Beispielen des Guten« gefolgt von welchen die Bücher berichten, und hat in irgend einer schönen, begeisterungsvollen Stunde seines Lebens eine edelmütige That vollbracht. Es wäre mir lieb zu erfahren, wie viele dieser Großmütigen Lust haben, über jenes Erlebnis nachträglich zu reden und sich gern an die Folgen erinnern lassen, welche aus demselben entstanden sind!? –

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