Mark Twain
Skizzenbuch
Mark Twain

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Die kapitolinische Venus.

Erstes Kapitel.

(Ort der Handlung: das Atelier eines Künstlers in Rom.)

O George, wie liebe ich dich!«

»Meine Mary, mein geliebtes Herz, ich weiß es. Warum ist dein Vater so unerbittlich?«

»George, er meint es gut, aber ihm ist die Kunst eine Thorheit; er versteht nur den Spezereihandel. Er meint, ich würde bei dir verhungern.«

»Verwünscht sei seine Klugheit! Sie schmeckt nach höherer Eingebung! Warum bin ich nicht ein geldmachender, herzloser Gewürzkrämer, statt eines gottbegabten Bildhauers – der nichts zu essen hat!«

»Verzage nur nicht, mein George! – Alle seine Vorurteile werden schwinden, sobald du erst einmal fünfzigtausend Dollars erworb – –«

»Fünfzigtausend Teufel! – Kind, ich bin mein Kostgeld noch schuldig! –«

Zweites Kapitel.

(Ort der Handlung: eine Wohnung in Rom.)

»Geehrter Herr, alles Reden ist unnütz. Ich habe nichts gegen Sie; aber ich kann meine Tochter nicht an ein Ragout von Liebe, Kunst und Hunger verheiraten – und sonst haben Sie, glaube ich, nichts zu bieten?«

»Mein Herr, ich bin arm, ich leugne es nicht. Aber hat denn der Ruhm keinen Wert? Der Senator Belem Fyoodle von Arkansas sagt, daß meine neue Statue der Amerika ein treffliches Werk der Bildhauerkunst ist und er die Überzeugung hegt, mein Name werde noch einmal berühmt werden.«

»Leeres Geschwätz! Was versteht der Esel aus Arkansas davon? – Auf den Marktpreis Ihrer marmornen Vogelscheuche kommt es an. Sechs Monate haben Sie daran herumgemeißelt und jetzt giebt Ihnen Keiner hundert Dollars dafür. Nein, mein Herr. Weisen Sie mir fünfzigtausend Dollars vor und Sie können meine Tochter haben – andernfalls heiratet sie den jungen Simper. Sie haben sechs Monate Zeit, die Summe herbeizuschaffen. – Guten Morgen, mein Herr.«

 

»Ach, ich Unglücklicher!«

Drittes Kapitel.

(Ort der Handlung: das Atelier.)

»O John, Freund meiner Knabenjahre! Ich bin der unseligste der Menschen.«

»Ein Einfaltspinsel bist du!«

»Nichts bleibt mir, das ich lieben könnte, als meine Statue der Amerika – und ach! selbst sie zeigt kein Mitgefühl für mich in ihren kalten Gesichtszügen – so schön und so herzlos!«

»Du bist ein Narr!«

»O John!«

»O Unsinn! – Hast du nicht gesagt, du hättest sechs Monate Zeit, um das Geld zusammen zu bringen?«

»Spotte nicht meiner Qual, John. Wenn ich sechs Jahrhunderte hätte, was würde es mir nützen? Was könnte es einem armen Schlucker ohne Namen, ohne Kapital, ohne Freunde helfen?«

»Hasenfuß, Kindskopf, Feigling, der du bist! Sechs Monate, um die Summe herbeizuschaffen, und fünf sind genug!«

»Bist du von Sinnen?«

»Sechs Monate – Zeit die Fülle! Überlasse mir's – ich verschaffe sie dir. –«

»Was sprichst du, John? Wie in aller Welt willst du eine so ungeheure Summe für mich auftreiben? –«

»Das laß meine Sorge sein, du darfst dich gar nicht hineinmischen! Willst du die ganze Sache in meine Hände legen? Willst du geloben, dich allem zu unterwerfen, was ich thue? Willst du mir schwören, alle meine Handlungen gut zu heißen?«

»Mir schwindelt – es wird mir schwarz vor den Augen – aber – ich schwöre!«

 

Hierauf ergreift John einen Hammer und schlägt der Amerika mit der größten Ruhe die Nase ab. Er holt noch einmal aus und zwei ihrer Finger liegen auf dem Boden; noch ein Streich und von dem einen Ohr fliegt ein Stück ab; noch einer und eine Reihe Zehen sind zertrümmert und abgehauen; ein letzter Hammerschlag und das linke Bein, vom Knie abwärts liegt als Trümmerhaufen da.

John nimmt seinen Hut und geht.

 

George starrt dreißig Sekunden lang sprachlos auf die verstümmelte Greuelgestalt, die vor ihm steht, dann wälzt er sich in Krämpfen am Boden.

Bald darauf kehrt John mit einem Wagen zurück, ladet den Künstler mit dem gebrochenen Herzen, sowie die Statue mit dem gebrochenen Bein auf und fährt in aller Gemütsruhe leise pfeifend davon. Den Künstler schafft er nach dessen Wohnung, fährt mit der Statue weiter und verschwindet mit ihr die via Quirinalis hinunter.

Viertes Kapitel.

(Ort der Handlung: das Atelier.)

»Heute um zwei Uhr sind die sechs Monate um. O Höllenqual! Mein Leben ist vernichtet! Ich wollte, ich wäre tot! Gestern nicht zu Nacht gegessen – heute kein Frühstück! Ich wage mich in kein Speisehaus hinein. Aber hungrig bin ich – o, still davon! – Mein Schuster plagt mich bis aufs Blut – mein Schneider liegt mir in den Ohren – mein Hauswirt mahnt mich zu zahlen. Wie elend bin ich! John habe ich seit jenem entsetzlichen Tage nicht wieder gesehen. Sie lächelt mir zärtlich zu, wenn wir uns auf einer der Hauptstraßen begegnen, aber auf den grausamen Wink ihres Vaters mit dem Kieselherzen muß sie gleich nach der andern Seite sehen. – Horch! Wer klopft an der Thür? Wer verfolgt mich schon wieder? Gewiß dieser boshafte Halunke, der Schuster –

Herein!«

 

»Ach – Glück und Segen über Ew. Hoheit! Der Himmel beschütze Ew. Gnaden. Ich habe Dero neue Stiefel gebracht. – Bitte – von Bezahlung ist garnicht die Rede – damit hat es keine Eile – nicht die allergeringste; ich werde stolz sein, wenn der gnädige Herr mich auch fernerhin mit seiner Kundschaft beehren will – ergebenster Diener – empfehle mich unterthänigst.«

»Er bringt die Stiefel selbst! Braucht keine Bezahlung! Empfiehlt sich mit einem Kratzfuß wie für eine Majestät. Wünscht meine fernere Kundschaft! – Steht denn das Ende der Welt bevor? Was bei allen – Herein!«

 

»Verzeihung, Signore, aber ich bringe Ihren neuen Anzug zum –«

»Herein!!«

»Bitte tausendmal um Entschuldigung, wenn ich störe, gnädiger Herr. Ich habe die Reihe schöner Zimmer im unterm Stock für Sie hergerichtet. Dieses elende Loch paßt ja durchaus nicht für –«

»Herein!!«

»Ich komme Ihnen zu melden, daß Ihr Kredit in unserem Bankhause, der leider seit einiger Zeit unterbrochen war, in durchaus befriedigender Weise aufs neue wieder eröffnet ist. Wir stehen mit Vergnügen zu Ihren Diensten, welchen Betrag Sie auch zu entnehmen wünschen –«

»Herein!!!«

»Mein wackerer Junge! Sie ist die Deinige! Sogleich wird sie hier sein. Nimm sie, heirate sie, liebe sie, seid glücklich! Gott segne euch beide. Hurra! Hoch!«

»Herein!!!!«

»O George, mein Geliebter, wir sind gerettet!«

»O Mary, mein teueres Herz, wir sind gerettet! Aber, bei meiner Seele – ich weiß weder warum noch wie! –«

Fünftes Kapitel.

(Ort der Handlung: ein Kaffeehaus in Rom.)

Mehrere amerikanische Herren sitzen beisammen. Einer derselben liest und übersetzt aus dem Wochenblatt: Il Slangwhanger di Roma den folgenden Artikel:

Wunderbare Entdeckung.

»Vor etwa sechs Monaten kaufte Signore John Smitthe, ein amerikanischer Herr, seit einigen Jahren in Rom wohnhaft, für eine unbedeutende Summe ein kleines Stück Land in der Campagna, gerade hinter dem Grabmal der Familie Scipio, von dem Eigentümer, einem bankerotten Verwandten der Prinzessin Borghese. Hierauf begab sich Signor Smitthe zum Minister der öffentlichen Angelegenheiten und ließ das Grundstück auf einen armen amerikanischen Künstler namens George Arnold übertragen, indem er erklärte, er thäte das als Vergütung und Ersatz für einen baren Schaden, welchen er vor langer Zeit zufällig an Signor Arnolds Eigentum angerichtet habe. Auch fügte er hinzu, er wolle, um den Herrn völlig zufrieden zu stellen, verschiedene Verbesserungen auf dem Grundstück für eigene Rechnung und Kosten ausführen lassen.

Vor vier Wochen nun, bei Gelegenheit einer notwendigen Umgrabung auf dem Grundstück, förderte Mr. Smitthe die herrlichste antike Statue zu Tage, welche jemals den reichen Kunstschätzen Roms hinzugefügt worden ist. Es war eine wundervolle Frauengestalt, die, obgleich auf traurige Weise im Erdboden von dem Moder der Jahrhunderte beschädigt, dennoch jedes Auge durch ihre hinreißende Schönheit entzücken muß. Die Nase, das linke Bein vom Knie an, ein Ohr, zwei Finger einer Hand, sowie die Zehen des rechten Fußes fehlen; im übrigen ist die edle Gestalt aber wunderbar gut erhalten. Die Regierung sandte sofort eine Wache ab, um Beschlag auf die Statue zu legen und setzte eine Kommission von Kunstkennern, Altertumsforschern und Kirchenfürsten ein, um ihren Wert abzuschätzen und die Höhe der Entschädigung zu bestimmen, welche dem Besitzer des Grund und Bodens gebühre, auf dem sie gefunden worden. Bis zum gestrigen Abend herrschte über die ganze Angelegenheit das tiefste Geheimnis und die Kommission hielt ihre Sitzungen bei verschlossenen Thüren. Schließlich ward einstimmig festgestellt, daß die Statue eine Venus sei und von einem unbekannten aber hochbegabten Künstler aus dem dritten Jahrhundert vor Christo herrühre. Sie ward für das tadelloseste Kunstwerk erklärt, das die Welt je gesehen hat.

Um Mitternacht erfolgte die Schlußberatung, in welcher die Venus auf die ungeheure Summe von zehn Millionen Franken geschätzt ward. Da nach römischem Gesetz und Brauch der Staat zur Hälfte Eigentümer aller in der Campagna gefundenen Kunstschätze ist, so hat die Regierung weiter nichts zu thun, als Herrn Arnold fünf Millionen Franken zu zahlen und dauernden Besitz von der schönen Statue zu nehmen. Heute morgen wird die Venus auf das Kapitol geschafft und dort bleibend aufgestellt werden. Am Nachmittag begiebt sich darauf die Kommission zu Signor Arnold, um ihm eine Anweisung für die päpstliche Schatzkammer zu übergeben, welche auf die fürstliche Summe von fünf Millionen Franken in Gold lautet.«

Chor von Stimmen: »Ein unerhörtes Glück. So etwas ist noch gar nicht dagewesen!«

Eine Stimme: »Meine Herren, ich schlage vor, daß wir sofort eine amerikanische Aktiengesellschaft gründen zur Erwerbung von Landbesitz und Ausgrabung von Bildwerken. Für rechtzeitiges Steigen und Fallen der Papiere sollen unsere Newyorker Börsenagenten Sorge tragen.«

Alle: »Einverstanden!«

Sechstes Kapitel.

(Ort der Handlung: das römische Kapitol.)
Zehn Jahre später.

»Teuere Mary, dies ist die berühmteste Statue der Welt, die gefeierte ›kapitolinische Venus‹, von der du so viel gehört hast. Da steht sie – ihre kleinen Schäden sind restauriert, (das heißt ausgeflickt) durch die angesehensten römischen Künstler. Die bloße Thatsache, daß sie an einer so edlen Schöpfung jene bescheidenen Ausbesserungen vorgenommen haben, wird ihrem Namen Glanz verleihen, so lange die Erde steht. Wie sonderbar kommt er mir doch vor – dieser Ort! Einen Tag vor dem, an welchem ich zuletzt hier stand, vor zehn glücklichen Jahren – war ich kein reicher Mann. Gott bewahre! Ich besaß nicht einen roten Heller. Und doch hatte ich auch meinen Anteil daran, daß Rom in den Besitz dieses größten Werkes antiker Kunst gelangt ist, welches die Welt kennt.«

»Die angebetete, die gefeierte kapitolinische Venus! Und wie hoch schätzte man ihren Wert – auf zehn Millionen Franken, nicht wahr?«

»Ja – jetzt

»Aber, George, sie ist auch göttlich schön!«

»Ja wohl – doch nichts gegen das, was sie war, ehe der treffliche John Smith ihr das Bein zerbrach und die Nase abschlug. Erfindungsreicher Smith! – erleuchteter Smith! – edler Smith! Urheber all unseres Glücks! – – – Aber Mary, um des Himmels Willen, horch! – Weißt du, was das Röcheln bedeutet? – Das Kleine hat den Keuchhusten und du bringst es hierher! Wirst du denn niemals lernen auf Kinder acht geben?«

Schluß.

Die kapitolinische Venus steht noch auf dem Kapitol zu Rom und ist immer noch das bezauberndste und berühmteste antike Kunstwerk, dessen die Welt sich rühmen kann. Wenn der Leser jemals das Glück haben sollte, davor zu stehen und in das übliche Entzücken darüber auszubrechen, so möge ihn diese wahre und geheime Geschichte ihres Ursprungs bei dem Genuß nicht stören.

Wer aber von dem »Versteinerten Menschen« liest, der bei Syracuse im Staate Newyork oder anderswo ausgegraben worden ist, der sei auf seiner Hut. Will der Barnum, der ihn dort eingegraben hat, ihn für eine Unsumme verkaufen, so soll er sich damit an den Papst wenden.

Anmerkung. Obige Skizze wurde zu einer Zeit geschrieben, als der Schwindel mit dem »Versteinerten Menschen« in Amerika Aufsehen erregte.

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