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XXI

Als Arkadij aufgestanden war und das Fenster aufmachte, war das erste, was ihm ins Auge fiel, Wassilij Iwanowitsch. Angetan mit einem Buchara-Schlafrock, mit einem Schnupftuch umgürtet, buddelte der Alte eifrig im Gemüsegarten. Er gewahrte seinen jungen Gast und rief, auf seinen Spaten gestützt:

»Ich wünsche Ihnen einen recht guten Morgen! Haben Sie wohl geruht?«

»Ausgezeichnet«, antwortete Arkadij.

»Und ich bin dabei, wie Sie sehen, einem gewissen Cincinnatus gleich, ein Beet für die Herbstrüben umzugraben. Wir leben in einer Zeit – und Gott sei gedankt dafür! –, wo jeder mit eigenen Händen für seinen Unterhalt sorgen muß; auf fremde Leute ist kein Verlaß: man muß selbst schaffen. Jean Jacques Rousseau hatte also recht. Vor einer halben Stunde hätten Sie mich, mein Verehrtester, in einer ganz anderen Lage überrascht. Eine Bäuerin kam, die über Durchfall, das heißt über Dysenterie klagte, und da habe ich ihr – wie drücke ich mich am besten aus? – Opium eingetrichtert; einer anderen hab' ich einen Zahn gezogen. Ich wollte sie ätherisieren …, aber sie ging nicht darauf ein. All das tue ich umsonst – en amateur Französisch: als Liebhaber. (Anm. d. Übers.). Übrigens gehört es sich auch so, ich bin doch ein Plebejer, ein homo novus Lateinisch: neuer Mensch, d. h. Emporkömmling. (Anm. d. Übers.) – kein Altadliger, wie etwa mein Eheweib … Aber wollen Sie nicht gefälligst hier im Schatten Platz nehmen, um vor dem Tee etwas frische Morgenluft zu schöpfen?«

Arkadij trat zu ihm hinaus.

»Willkommen noch einmal!« sprach Wassilij Iwanowitsch, indem er militärisch die Hand an das fettige Käppchen legte, das sein Haupt bedeckte. »Ich weiß, Sie sind an Luxus, an Vergnügungen gewöhnt, aber auch die Großen dieser Welt verschmähen es nicht, ein Weilchen unter dem Dach einer Hütte zuzubringen.«

»Aber ich bitte Sie!« platzte Arkadij heraus, »wie können Sie mich zu den Großen dieser Welt zählen! Ich bin auch keineswegs an Luxus gewöhnt.«

»Erlauben Sie, erlauben Sie«, fuhr Wassilij Iwanowitsch mit einer liebenswürdigen Gebärde fort, »wenn ich jetzt auch schon zum alten Eisen gehöre, so habe ich doch viel in guter Gesellschaft verkehrt und erkenne den Vogel am Fluge. Auch ich bin in meiner Art ein Psychologe und Physiognomiker. Besäße ich diese, ich darf wohl sagen, Gabe nicht, so wäre ich längst verloren; man hätte mich kleinen Mann längst an die Wand gedrückt. Es soll kein Kompliment sein, aber die Freundschaft, die ich zwischen Ihnen und meinem Sohne wahrnehme, freut mich aufrichtig. Ich war soeben bei ihm; seiner Gewohnheit gemäß, die Ihnen bekannt sein dürfte, ist er schon sehr früh aufgestanden und streift nun in der Umgegend umher. Darf ich fragen, sind Sie schon lange mit meinem Jewgenij bekannt?«

»Seit dem letzten Winter.«

»So–o! Dann erlauben Sie mir noch eine Frage – aber wollen wir uns nicht setzen? Darf ich als Vater mit aller Offenherzigkeit fragen: was halten Sie von meinem Jewgenij?«

»Ihr Sohn ist einer der bedeutendsten Menschen, die ich je kennengelernt habe«, erwiderte Arkadij lebhaft.

Wassilij Iwanowitschs Augen taten sich plötzlich weit auf, und seine Wangen färbten sich mit einer leichten Röte. Der Spaten fiel ihm aus den Händen.

»Sie glauben also …«, begann er.

»Ich bin überzeugt«, fiel Arkadij ein, »daß Ihren Sohn eine große Zukunft erwartet, daß er Ihren Namen berühmt machen wird. Diese Überzeugung habe ich gleich bei unseren ersten Zusammentreffen gewonnen.«

»Wie … wie war es?« brachte Wassilij Iwanowitsch mit Anstrengung hervor. Ein entzücktes Lächeln schob seine breiten Lippen auseinander und verließ sie nicht mehr.

»Sie möchten wissen, wie wir bekannt geworden sind?«

»Ja … und überhaupt …«

Arkadij begann von Basarow zu erzählen, und er sprach mit noch mehr Leidenschaft, mit noch mehr Begeisterung als an dem Abend, da er mit Frau Odinzowa die Masurka tanzte.

Wassilij Iwanowitsch lauschte ihm, lauschte, schneuzte sich, rollte sein Schnupftuch zwischen beiden Händen, hüstelte, fuhr sich durch die Haare – und vermochte endlich nicht mehr an sich zu halten: er neigte sich zu Arkadij hinunter und drückte ihm einen Kuß auf die Schulter.

»Sie haben mich zu dem glücklichsten aller Menschen gemacht«, sprach er, noch immer lächelnd, »ich muß Ihnen gestehen, daß ich … meinen Sohn vergöttere; von meiner Alten will ich schon gar nicht reden – sie ist ja Mutter! –, aber ich wage es nicht, ihm meine Gefühle merken zu lassen, denn er liebt das nicht. Er ist ein Feind aller Herzensergüsse; viele tadeln ihn sogar wegen dieser Charakterfestigkeit und erblicken darin ein Zeichen von Stolz oder Gefühllosigkeit; aber Menschen seinesgleichen darf man nicht mit dem gewöhnlichen Maßstab messen, nicht wahr? Ein Beispiel: ein andrer würde an seiner Stelle den väterlichen Geldbeutel ständig zur Ader lassen, aber er hat, weiß Gott!, nie eine Kopeke zuviel angenommen.«

»Er ist ein uneigennütziger, ehrlicher Mensch«, bemerkte Arkadij.

»Eben, ein uneigennütziger Mensch. Und ich, Arkadij Nikolajewitsch, ich vergöttere ihn nicht nur, ich bin stolz auf ihn, und mein ganzer Ehrgeiz besteht darin, daß einst in seiner Lebensbeschreibung folgende Worte zu lesen sind: ›Er war der Sohn eines einfachen Stabsarztes, der jedoch schon früh sein Wesen erkannt hatte und kein Opfer scheute, um ihm eine gute Erziehung angedeihen zu lassen.‹«

Die Stimme versagte dem alten Mann.

Arkadij drückte ihm fest die Hand.

»Was meinen Sie?« fragte Wassilij Iwanowitsch nach einigem Schweigen, »doch nicht auf medizinischem Gebiet wird er die Berühmtheit erlangen, die Sie ihm prophezeien?«

»Natürlich nicht in der Medizin, obgleich er auch hierin einer der ersten Gelehrten sein wird.«

»Auf welchem Gebiet denn, Arkadij Nikolajewitsch?«

»Das ist jetzt schwer zu sagen, aber er wird berühmt werden.«

»Er wird berühmt werden!« sprach ihm der Alte nach und versank in Sinnen.

»Arina Wlassjewna läßt bitten, zum Tee zu kommen«, meldete Anfissuschka, die mit einer großen Schüssel reifer Himbeeren vorbeikam.

Wassilij Iwanowitsch wurde rege.

»Wird es kalte Sahne zu den Himbeeren geben?«

»Ja, freilich.«

»Aber kalte, hörst du? Legen Sie sich keinen Zwang auf, Arkadij Nikolajewitsch – nehmen Sie mehr! Aber wo nur Jewgenij bleiben mag?«

»Hier bin ich«, erklang aus Arkadijs Zimmer Basarows Stimme.

Wassilij Iwanowitsch wandte sich rasch um.

»Ah! Du wolltest deinen Freund aufsuchen, aber du kommst zu spät, amice Lateinisch: (mein) Freund! (Anm. d. Übers.) – wir hatten bereits eine längere Unterhaltung. Nun müssen wir zum Tee: die Mutter ruft. Apropos, ich muß mit dir über etwas sprechen.«

»Worüber denn?«

»Es ist hier ein Bauer, der an Ikterus leidet …«

»Er hat also die Gelbsucht?«

»Ja, er leidet an einem chronischen und sehr hartnäckigen Ikterus. Ich habe ihm Tausendgüldenkraut und Johanniskraut verschrieben; ich habe ihn gezwungen, Mohrrüben zu essen, ich gab ihm Soda, aber das alles sind ja nur Palliativmittel; er müßte etwas Wirksameres bekommen. Du machst dich zwar über die Medizin lustig, aber ich bin überzeugt, daß du mir einen vernünftigen Rat geben kannst. Wir werden darüber noch sprechen. Gehen wir jetzt Tee trinken.«

Wassilij Iwanowitsch sprang lebhaft von der Bank auf und begann aus »Robert dem Teufel« zu singen:

»Gesetz, Gesetz, Naturgesetz
sei uns … sei uns … das Genießen!«

»Welch bewundernswerte Lebenskraft!« sagte Basarow und trat vom Fenster zurück.

 

Der Mittag brach an. Die Sonne strahlte sengend durch einen feinen Schleier dichter weißlicher Wolken hindurch.

Überall herrschte Schweigen: nur die Hähne krähten herausfordernd im Dorfe, in jedem, der sie hörte, eine eigentümliche Empfindung von Schläfrigkeit und Langeweile erregend; und irgendwo hoch im Wipfel der Bäume klang gleich einem klagenden Hilferuf das unaufhörliche Piepsen eines jungen Habichts. Arkadij und Basarow lagerten im Schatten eines kleinen Heuschobers; jeder hatte sich ein paar Armvoll Gras untergelegt, das, noch grün und duftend, trocken raschelte.

»Jene Espe dort«, begann Basarow, »erinnert mich an meine Kindheit, sie wächst am Rand einer Grube, die von einer Ziegelscheune übriggeblieben ist, und ich war damals fest davon überzeugt, daß diese Grube und diese Espe die Kraft eines Talismans besäßen: nie empfand ich in ihrer Nähe Langeweile. Damals begriff ich noch nicht, daß ich keine Langeweile kannte, weil ich ein Kind war. Jetzt, da ich erwachsen bin, hat der Talisman seine Kraft verloren.«

»Wieviel Jahre hast du hier im ganzen verbracht?« fragte Arkadij.

»Hintereinander nur zwei Jahre: dann kehrten wir von Zeit zu Zeit hier ein. Wir führten ein Vagabundendasein; wir trieben uns meist in den Städten herum.«

»Steht dieses Haus schon lange?«

»Ja, lange. Es ist schon von meinem Großvater, dem Vater meiner Mutter, erbaut worden.«

»Und wer war dein Großvater?«

»Das mag der Teufel wissen. Irgendein Second-Major. Er hatte unter Suworow gedient und erzählte immerfort von ihrem Zuge über die Alpen. Hat wohl aufgeschnitten.«

»Darum also hängt in eurem Wohnzimmer ein Bildnis Suworows! Ich habe solche Häuschen wie das eure sehr gern; sie sind so alt und warm und haben einen ganz eigentümlichen Geruch.«

»Sie riechen nach Lampenöl und Ziegenbart«, sagte Basarow gähnend. »Und die Fliegenplage in diesen netten Häuschen … Puh!«

»Sag mal«, begann Arkadij nach einem kurzen Schweigen, »wurdest du in deiner Kindheit streng behandelt?«

»Du siehst, was ich für Eltern habe. Sie kennen keine Strenge!«

»Und liebst du sie, Jewgenij?«

»Ja, Arkadij, ich liebe sie.«

»Sie lieben dich so!«

Basarow antwortete nichts.

»Weißt du, woran ich denke?« sagte er endlich, die Arme unter den Kopf legend.

»Nein. Woran denn?«

»Ich denke, wie leicht es meine Eltern im Leben haben! Mit sechzig Jahren noch macht sich mein Vater zu schaffen, redet von ›Palliativ‹mitteln, kuriert die Leute, übt Großmut gegen die Bauern – kurz, lebt wie ein Gott in Frankreich. Und meine Mutter kann's ebenfalls nicht schöner haben: ihr Tag ist so vollgepfropft mit allen möglichen Beschäftigungen, mit so viel Gestöhne und Geächze, daß sie nicht zur Besinnung kommt, während ich …«

»Während du?«

»Während ich denke: da liege ich nun hier beim Heuschober … Das schmale Plätzchen, das ich einnehme, ist im Vergleich zu dem übrigen Raum, wo ich nicht bin und wo man nichts mit mir zu schaffen hat, so winzig klein; und die kurze Zeit, die mir zu leben vergönnt ist, ist im Vergleich zu der Ewigkeit, da ich nicht war und nicht sein werde, so verschwindend … Aber in diesem Atom, in diesem mathematischen Punkt zirkuliert das Blut, arbeitet das Gehirn, will etwas … Wie scheußlich! Welch dummes Zeug!«

»Erlaube mir eine Bemerkung: was du da sagst, gilt überhaupt von allen Menschen …«

»Du hast recht«, versetzte Basarow. »Ich wollte sagen, daß diese Leute – meine Eltern nämlich – stets geschäftig sind und sich keine Gedanken über ihre eigene Nichtigkeit machen, deren üblen Geruch sie nicht empfinden … ich aber … ich fühle nur Langeweile und Wut.«

»Wut? Warum denn Wut?«

»Warum? Welche Frage! Hast du denn vergessen?«

»Ich habe nichts vergessen, aber dennoch räume ich dir nicht das Recht ein, wütend zu sein. Du bist unglücklich, ich gebe es zu, aber …«

»Ach, Arkadij Nikolajewitsch, ich sehe, du faßt die Liebe genau so auf wie alle diese jungen Leute von heute: Kluck, kluck, kluck, Hühnchen! Und sobald das Hühnchen näher kommt, macht man sich auf und davon! So bin ich nicht. Aber genug davon. Wenn man etwas nicht ändern kann, da soll man sich schämen, darüber auch nur zu reden.« Er drehte sich auf die Seite. »Ha! Schau, wie diese wackere Ameise eine halbtote Fliege fortschleppt. Schlepp sie nur, meine Liebe, schleppe! Achte nicht darauf, daß sie sich stemmt, mach dir zunutze, daß du als Tier das Gefühl des Mitleids verachten darfst, ja ganz anders als unsereiner, der sich selbst zerbricht!«

»Gerade du solltest nicht so reden, Jewgenij! … Wann hast du dich zu zerbrechen versucht?«

Basarow hob den Kopf.

»Ich bin eben stolz darauf. Da ich mich selbst nicht zerbrochen habe, so wird es auch keine Frauensperson fertigbringen. Amen! Schluß! Du wirst von mir kein einziges Wort mehr über die Sache zu hören bekommen.«

Die beiden Freunde lagen eine Zeitlang schweigend da.

»Ja«, begann Basarow wieder, »der Mensch ist ein merkwürdiges Geschöpf. Sieht man sich als Unbeteiligter von der Ferne das dumpfe Dasein an, das die ›Väter‹ hier führen, so glaubt man, es könnte gar nicht schöner sein … Iß, trink und wisse, daß du in der richtigsten, in der vernünftigsten Weise handelst. Aber nein: bald packt dich die Sehnsucht. Du möchtest dich mit den Leuten abgeben, sei es auch nur, um auf sie zu schimpfen und um sich mit ihnen herumzubalgen.«

»Man müßte das Leben so einrichten, daß ein jeder Augenblick bedeutend ist«, sprach Arkadij sinnend.

»Wenn es ginge! Das Bedeutende, mag es verlogen sein, ist süß; aber auch mit dem Unbedeutenden könnte man sich abfinden … doch der Kleinkram, der Kleinkram … das ist das Unglück.«

»Der Kleinkram ist nicht vorhanden für den, der ihn nicht gelten lassen will.«

»Hm … Du hast da einen umgekehrten Gemeinplatz verzapft.«

»Wie? … Was verstehst du darunter?«

»Folgendes: sagt man zum Beispiel, die Aufklärung sei nützlich, so spricht man einen Gemeinplatz aus; sagt man aber, die Aufklärung sei schädlich, so ist das ein umgekehrter Gemeinplatz. Das klingt etwas pompöser, aber im Grunde kommt es auf ein und dasselbe hinaus.«

»Aber wo ist die Wahrheit, auf welcher Seite?«

»Wo? Ich antworte dir wie das Echo: wo?«

»Du bist heute in melancholischer Stimmung, Jewgenij.«

»Wirklich? Die Sonne hat mich wohl schlapp gemacht, auch darf man nicht so viel Himbeeren essen.«

»Dann wäre es angebracht, sich aufs Ohr zu legen«, bemerkte Arkadij.

»Richtig. Aber schau mich nicht an: jeder Mensch hat ein dummes Gesicht, wenn er schläft.«

»Ist es dir nicht gleichgültig, was man von dir denkt?«

»Ich weiß nicht, was ich dir antworten soll. Ein wirklicher Mensch sollte sich darum nicht kümmern; ein wirklicher Mensch ist der, von dem man nichts zu denken hat, dem man gehorchen oder den man hassen muß.«

»Seltsam! Ich hasse niemand«, sagte Arkadij nach einigem Nachdenken.

»Ich hingegen sehr viele. Du bist eine zartbesaitete Seele, eine Schlafmütze, wie solltest du auch hassen! … Du bist zaghaft, du hast wenig Selbstvertrauen …«

»Und du?« unterbrach ihn Arkadij, »hast du Selbstvertrauen? Hast du eine hohe Meinung von dir selbst?«

Basarow schwieg.

»Sobald ich einem Menschen begegne, der vor mir nicht den Nacken beugt«, sprach er langsam, »ändere ich meine Meinung über mich selbst. Hassen! Als wir heute an dem netten weißen Häuschen unseres Dorfschulzen Philipp vorbeikamen – da sagtest du zum Beispiel, Rußland werde Vollkommenheit erreicht haben, wenn selbst der letzte Bauer eine solche Behausung besitzt, und daß jeder von uns dazu beitragen sollte … Ich aber fühlte in mir einen Haß gegen diesen letzten Bauer aufsteigen, heiße er Philipp oder Sidor, für den ich mich schinden soll und der mir nicht einmal Dank wissen wird … Wozu brauche ich auch seinen Dank? … Angenommen, er wird in einem weißen Häuschen wohnen, aus mir aber werden Kletten wachsen, – nun, und dann?«

»Hör doch auf, Jewgenij … Wenn man dich heute sprechen hört, möchte man fast versucht sein, denen beizupflichten, die uns einen Mangel an Prinzipien vorwerfen!«

»Du sprichst wie dein Onkel. Prinzipien gibt es überhaupt nicht – du bist bis jetzt noch nicht darauf gekommen! Es gibt nur Empfindungen. Von ihnen hängt alles ab.«

»Wieso denn?«

»Nämlich so. Nimm zum Beispiel mich: ich vertrete kraft meiner Empfindungen eine negative Richtung. Das Verneinen bereitet mir Vergnügen, mein Hirn ist darauf abgestellt – und damit basta! Warum finde ich Gefallen an der Chemie? Warum ißt du gern Äpfel? Auch nur kraft der Empfindungen. Es läuft immer auf dasselbe hinaus. Tiefer werden die Menschen nie eindringen. Nicht jeder wird dir das sagen, und auch ich werde es dir nicht ein zweites Mal sagen.«

»So–o! Und die Ehrlichkeit, ist sie auch eine Empfindung?«

»Erst recht!«

»Jewgenij …«, begann Arkadij mit trauriger Stimme.

»Ah! Was denn? Das ist wohl nicht nach deinem Geschmack?« unterbrach ihn Basarow. »Nein, mein Lieber, wenn du beschlossen hast, alles niederzureißen, dann schone auch deine eigenen Glieder nicht! … Doch genug des Philosophierens. ›Die Natur haucht das Schweigen des Schlafes aus‹, sagte Puschkin.«

»Puschkin hat nie derartiges gesagt«, versetzte Arkadij.

»Na, wenn er es nicht gesagt hat, hätte er es als Dichter sagen können und sagen sollen. Nebenbei bemerkt, er hat doch in der Armee gedient?«

»Puschkin ist nie Soldat gewesen.«

»Geh doch, auf jeder Seite heißt es bei ihm: ›In den Kampf, in den Kampf! Für die Ehre Rußlands!‹«

»Was erfindest du da für Blödsinn! Das ist ja geradezu eine Verleumdung.«

»Eine Verleumdung? Welch ein Verbrechen! Glaubst du, mich mit diesem Wort zu schrecken? Was für Verleumdungen man über einen auch verbreiten mag, so verdient er in Wirklichkeit noch zwanzigmal Schlimmeres.«

»Laß uns lieber schlafen!« sagte Arkadij ärgerlich.

»Mit dem größten Vergnügen«, antwortete Basarow.

Aber weder der eine noch der andere fand Schlaf. Ein fast feindseliges Gefühl hatte sich der Herzen der beiden jungen Männer bemächtigt. Nach etwa fünf Minuten schlugen sie die Augen auf und sahen einander stillschweigend an.

»Schau!« rief plötzlich Arkadij, »ein trockenes Ahornblatt hat sich losgelöst und fällt zur Erde: seine Bewegung gleicht dem Flug des Schmetterlings. Ist es nicht merkwürdig? Das Traurigste und Tote gleicht dem Heitersten und Lebendigen!«

»O Freund, Arkadij Nikolajewitschl« rief Basarow, »ich bitte dich nur um das eine: rede nicht schön!«

»Ich rede, wie ich kann … Schließlich ist das Despotie. Wenn mir ein Gedanke einfällt, warum soll ich ihn nicht aussprechen?«

»Ja, gewiß, aber warum soll auch ich nicht meinen Gedanken aussprechen? Ich finde, es ist unanständig, schön zu reden.«

»Und was ist anständig? Schimpfen?«

»Schau, schau, ich sehe, du bist tatsächlich dabei, in die Fußtapfen deines Herrn Onkels zu treten. Wie würde sich dieser Idiot freuen, wenn er dich hörte.«

»Wie hast du Pawel Petrowitsch genannt?«

»Ich habe ihn genannt, wie es sich gehört – einen Idioten.«

»Das ist geradezu unerträglich!« rief Arkadij.

»Ah, dein Familiensinn regt sich!« erwiderte Basarow ruhig. »Ich habe bemerkt, daß dieses Gefühl tief im Menschen wurzelt. Der Mensch ist fähig, auf alles zu verzichten, alle Vorurteile abzustreifen, aber einzugestehen, daß beispielsweise sein Bruder, der fremde Taschentücher stiehlt, ein Dieb ist – das geht über seine Kraft. Wahrhaftig: mein Bruder, mein … und der sollte kein Genie sein … unmöglich!«

»In mir regt sich der einfache Gerechtigkeitssinn und keineswegs das Verwandtschaftsgefühl«, erwiderte Arkadij hitzig. »Da du aber kein Verständnis für dieses Gefühl hast, da dir diese Empfindung abgeht, so kannst du sie auch nicht beurteilen.«

»Mit anderen Worten: Arkadij Kirsanow ist viel zu erhaben, als daß ich ihn verstehen könnte – ich beuge mich und halte den Mund.«

»Ich bitte dich, Jewgenij, hör doch auf; wir verkrachen uns sonst am Ende noch.«

»Oh, Arkadij, tu mir diesen Gefallen! Zanken wir uns einmal ordentlich, so daß sich die Balken biegen, bis zur Vernichtung.«

»Wenn es so weitergeht, werden wir in der Tat damit enden …«

»... daß wir uns verprügeln?« fiel Basarow ein. »Warum auch nicht? Hier auf dem Heu, in dieser idyllischen Umgebung, fern der Welt und den Blicken der Menschen – das wäre was! Aber du wirst mit mir nicht fertig werden. Ich packe dich sofort an der Gurgel …«

Basarow spreizte seine langen, harten Finger … Arkadij drehte sich um und schickte sich halb lachend an, Widerstand zu leisten … Aber das Gesicht seines Freundes erschien ihm so unheildrohend, er glaubte, in dem Lächeln, das seine Lippen verzog, und in seinen blitzenden Augen eine so ernsthafte Drohung wahrzunehmen, daß ihn unwillkürlich ein Gefühl der Schüchternheit beschlich …

»Hier seid ihr also!« ertönte in diesem Augenblick die Stimme Wassilij Iwanowitschs, und vor den jungen Leuten tauchte der alte Stabsarzt auf, angetan mit einem Rock aus hausgewebter Leinwand und mit einem ebenfalls hausgemachten Strohhut auf dem Kopf. »Ich habe euch gesucht und gesucht … Aber ihr habt ein ausgezeichnetes Plätzchen ausfindig gemacht und gebt euch einem herrlichen Zeitvertreib hin: auf der ›Erde‹ liegen und den ›Himmel‹ anschauen … wißt ihr, darin steckt ein ganz besonderer Sinn!«

»Ich schaue nur dann den Himmel an, wenn ich niesen will«, brummte Basarow und fügte, sich zu Arkadij wendend, mit gedämpfter Stimme hinzu: »Schade, daß er uns gestört hat.«

»Aber genug damit!« sagte Arkadij leise und drückte seinem Freunde verstohlen die Hand. »Keine Freundschaft ist auf die Dauer solchen Zusammenstößen gewachsen.«

»Wie ich euch so anschaue, meine jungen Gesprächspartner«, sprach inzwischen Wassilij Iwanowitsch, indem er den Kopf wiegte und die gekreuzten Hände auf einen kunstvoll gewundenen Stock eigener Fabrikation, mit einem Türkenkopf an Stelle des Knaufs, legte, »wie ich euch so anschaue, kann ich mich nicht satt sehen. Wieviel Kraft, blühende Jugend, Begabung, Talent! Ganz wie … Kastor und Pollux!«

»Also in die Mythologie hast du dich verstiegen!« rief Basarow, »man sieht sofort, daß du seinerzeit ein tüchtiger Lateiner warst! Hast du nicht eine silberne Medaille für den Aufsatz erhalten – wie?«

»Dioskuren! Dioskuren!« rief Wassilij Iwanowitsch.

»Aber nun laß es genug sein, Vater – laß die Zärtlichkeiten beiseite!«

»Einmal ist keinmal«, murmelte der Alte. »Übrigens habe ich euch, meine Herren, nicht aufgestöbert, um euch Komplimente zu machen, sondern erstens, um euch zu melden, daß wir bald zu Mittag essen werden; und zweitens, um dich zu warnen, Jewgenij … Du bist ein kluger Kopf, du kennst die Menschen, kennst auch die Frauen und wirst also verzeihen … Deine Mutter wollte gern aus Anlaß deiner Heimkehr einen Dankgottesdienst abhalten lassen. Denke nicht etwa, daß ich dich auffordere, dem Gottesdienst beizuwohnen: er ist schon vorüber, aber Vater Alexis …«

»Der Pope?«

»Nun ja, der Geistliche; er wird mit uns … speisen … Ich hatte das nicht erwartet und nicht einmal dazu geraten … aber ich weiß nicht, wie's gekommen ist … er hat mich mißverstanden … Nun, und Arina Wlassjewna … Übrigens ist er ein anständiger und vernünftiger Mensch.«

»Er wird doch hoffentlich meine Portion nicht wegessen?« fragte Basarow.

Wassilij Iwanowitsch lachte.

»Ich bitte dich, was fällt dir ein!«

»Weiter verlange ich auch nichts! Ich bin bereit, mich mit jedem an den Tisch zu setzen.«

Wassilij Iwanowitsch schob seinen Hut zurecht.

»Ich war im voraus sicher«, sagte er, »daß du über alle Vorurteile erhaben bist. Habe ich, ein alter Mann von zweiundsechzig Jahren, doch selber keine.« (Wassilij Iwanowitsch wagte nicht einzugestehen, daß er selbst den Gottesdienst gewünscht hatte … Er war nicht weniger gottesfürchtig als seine Frau.) »Aber Vater Alexis möchte gern deine Bekanntschaft machen. Er wird dir gefallen, du wirst sehen. Er macht auch gern ein Spielchen mit und sogar … aber das bleibt unter uns … und raucht sogar ein Pfeifchen.«

»Gut, wir wollen nach dem Essen eine Partie Whist spielen, und ich werde ihn schlagen.«

»Ha–ha–ha! Das wollen wir erst noch abwarten.«

»Wie, willst du etwa wie einst in alter Zeit?« fragte Basarow mit besonderer Betonung.

Die bronzenen Wangen Wassilij Iwanowitschs verfärbten sich tief.

»Schämst du dich nicht, Jewgenij … Was gewesen, ist gewesen. Nun ja, ich bin bereit, vor ihnen zu gestehen, daß ich in meiner Jugend dieser Leidenschaft frönte, gewiß, aber ich habe sie teuer genug bezahlt! … Wie heiß es doch ist! Erlaubt mir, mich zu euch zu setzen. Ich störe doch nicht?«

»Aber keineswegs«, antwortete Arkadij.

Wassilij Iwanowitsch ließ sich ächzend auf dem Heu nieder.

»Dieses Lager hier, meine lieben Herren«, begann er, »erinnert mich an meine Soldatenzeit, an Biwaks und Ambulanzen. Wie oft haben wir auf einem Heuhaufen kampiert – falls einer da war.« Er stieß einen Seufzer aus. »Ich habe viel, sehr viel in meinem Leben durchgemacht. Da war zum Beispiel – wenn ihr's erlaubt, will ich euch eine interessante Episode aus der Zeit der Pestepidemie in Bessarabien erzählen.«

»Die dir den Wladimir-Orden eingebracht hat?« fiel Basarow ein. »Kennen wir, kennen wir … Apropos, warum trägst du deinen Orden nicht?«

»Ich habe dir doch gesagt, daß ich frei von Vorurteilen bin«, murmelte Wassilij Iwanowitsch (er hatte sich erst am Tage vorher das rote Bändchen vom Rock abtrennen lassen) und begann, die Pestepisode zu erzählen. »Er ist ja eingeschlafen«, flüsterte er plötzlich Arkadij zu, auf Basarow zeigend und freundschaftlich zwinkernd. »Jewgenij! steh auf!« setzte er laut hinzu, »wir wollen zum Essen gehen …«

Vater Alexis, ein stattlicher, korpulenter Mann mit dichtem, sorgfältig gekämmtem Haar und einem gestickten Gürtel über dem lilaseidenen Priesterrock, erwies sich als ein sehr gewandter, schlagfertiger Mensch. Er reichte als erster Arkadij und Basarow die Hand, als hätte er im voraus gewußt, daß ihnen an seinem Segen nichts gelegen sei, und trat überhaupt unbefangen auf. Er verstand es, niemand zu verletzen, ohne sich selbst etwas zu vergeben; er machte sich gelegentlich über das Seminarlatein lustig, trat jedoch für seinen Bischof ein; er trank zwei Gläschen Schnaps, lehnte jedoch ein drittes ab; er nahm die Zigarre an, die ihm Arkadij anbot, rauchte sie aber nicht und sagte, er wolle sie mit nach Hause nehmen. Nicht ganz angenehm war an ihm nur, daß er in einem fort langsam und vorsichtig die Hand dem Gesicht näherte und Fliegen fing, wobei er sie manchmal zerquetschte. Er setzte sich an den Spieltisch, ohne besonderes Vergnügen an den Tag zu legen, und gewann Basarow schließlich zwei Rubel fünfzig Kopeken in Papiergeld ab – von einer Rechnung mit Silberrubeln hatte man im Hause der Arina Wlassjewna keine Ahnung … Sie saß nach wie vor neben ihrem Sohn (Karten spielte sie nicht), nach wie vor das Kinn auf die Faust gestützt, und stand nur auf, um das eine oder andere Gericht auftragen zu lassen. Sie fürchtete sich, Basarow zu liebkosen, und er ermutigte sie auch nicht dazu, auch hatte ihr Wassilij Iwanowitsch den Rat gegeben, ihn nicht allzusehr zu »inkommodieren«. – »Die jungen Leute lieben das nicht«, redete er auf sie ein. (Es erübrigt sich, davon zu reden, wie das Mittagmahl an diesem Tag ausfiel: Timofejitsch war bereits mit Tagesanbruch in eigener Person nach der Stadt geeilt, um Rindfleisch von der feinsten Sorte einzukaufen; der Dorfschulze war nach einer anderen Richtung aufgebrochen, um Quappen, Kaulbarsche und Krebse aufzutreiben; allein für die Pilze bekamen die Bäuerinnen aus dem Dorf an die zweiundvierzig Kopeken in Kupfer bezahlt.) Aber die unverwandt auf den Sohn gerichteten Augen Arina Wlassjewnas drückten nicht bloß Hingabe und Zärtlichkeit aus: man las in ihnen auch Traurigkeit, gemischt mit Neugier und Furcht, ja auch einen gewissen demütigen Vorwurf.

Übrigens hatte Basarow anderes zu tun, als in den Augen seiner Mutter zu lesen; er sprach sie nur selten an, und auch dann nur mit einer kurzen Frage. Einmal bat er sie, ihre Hand möge ihm »Glück im Spiel« bringen, stillschweigend legte sie ihr weiches Händchen auf die rauhe, breite Handfläche ihres Sohnes.

»Nun«, fragte sie nach einer Weile, »hat's geholfen?«

»Es geht noch schlechter«, antwortete er mit einer wegwerfenden Grimasse.

»Der Herr Sohn riskieren zu viel«, sprach gleichsam bedauernd Vater Alexis und strich sich den schönen Bart.

»Ganz wie Napoleon, Väterchen, ganz wie Napoleon«, versetzte Wassilij Iwanowitsch und spielte ein As aus.

»Und das brachte ihn auf die Insel Sankt Helena«, erwiderte Vater Alexis und stach das As mit einem Trumpf.

»Jenjuschenka, möchtest du vielleicht ein Glas Johannisbeerwasser?« fragte Arina Wlassjewna.

Basarow zuckte nur die Achseln.

 

»Nein!« sagte er am andern Tag zu Arkadij, »morgen reise ich ab. Wie langweilig! Ich möchte arbeiten, hier ist das aber unmöglich. Ich gehe auf euer Gut zurück; ich habe alle meine Präparate dort gelassen. In eurem Hause kann man sich wenigstens einschließen. Hier versichert mir mein Vater unablässig: ›Mein Kabinett steht dir zur Verfügung – niemand wird dich stören‹, er selbst aber weicht mir keinen Schritt vom Leibe. Ich geniere mich, ihm die Tür vor der Nase zu schließen. Und erst meine Mutter! Ich höre sie hinter der Wand seufzen, und bin ich bei ihr, so weiß ich nicht, was ich ihr sagen soll.«

»Deine Abreise wird sie sehr betrüben«, sagte Arkadij, »und ihn ebenfalls.«

»Ich komme zu ihnen noch zurück.«

»Wann?«

»Wenn ich nach Petersburg reise.«

»Deine Mutter tut mir besonders leid.«

»Warum gerade sie? Sie hat dich wohl mit ihren Beeren bestochen?«

Arkadij blickte zur Erde.

»Du kennst deine Mutter nicht, Jewgenij. Sie ist nicht nur eine ausgezeichnete Frau, sie ist auch sehr klug, wahrhaftig. Heute morgen haben wir uns wohl eine halbe Stunde unterhalten, sie sprach so vernünftig und interessant.«

»Sie hat wohl lang und breit über mich gesprochen?«

»Nicht allein über dich.«

»Mag sein; als Fremder kannst du es besser beurteilen. Es ist schon ein gutes Zeichen, wenn eine Frau eine halbe Stunde lang eine Unterhaltung zu führen weiß. Aber ich fahre trotzdem.«

»Es wird dir nicht leicht fallen, es ihnen mitzuteilen. Sie reden schon davon, was wir in vierzehn Tagen anfangen werden.«

»Nicht leicht, gewiß. Und da mußte mich heute morgen der Teufel verführen, den Vater zu necken – er hatte dieser Tage einen seiner Bauern auspeitschen lassen; und er hat recht daran getan: ja, ja, schau mich nicht so entsetzt an – er hat richtig gehandelt, denn der Kerl ist ein fürchterlicher Dieb und Trunkenbold; nur hat mein Vater nicht erwartet, daß ich davon erfahre. Er geriet arg in Verlegenheit, und da muß ich ihm noch diesen Kummer bereiten … Nicht zu ändern! Er wird nicht daran sterben.«

Basarow sagte zwar: »Nicht zu ändern!«, aber der ganze Tag verging, ehe er es übers Herz brachte, seinem Vater sein Vorhaben mitzuteilen. Endlich, als er ihm im Kabinett gute Nacht wünschte, sagte er mit gezwungenem Gähnen:

»Halt … fast hätte ich vergessen, dir's zu sagen – schicke morgen unsere Pferde zu Fedot nach der Station.«

Wassilij Iwanowitsch fiel aus allen Himmeln.

»Will uns denn Herr Kirsanow verlassen?«

»Ja, und ich fahre mit ihm.«

Wassilij Iwanowitsch drehte sich auf seinem Platz um:

»Du willst fort?«

»Ja … ich muß. Sei so gut, und sage wegen der Pferde Bescheid.«

»Gut«, stammelte der alte Mann, »nach der Station … gut … nur … Wie ist's möglich?«

»Ich muß auf kurze Zeit zu ihm 'rüber. Dann komm' ich wieder hierher.«

»Ja! Auf kurze Zeit … Schön.« Wassilij Iwanowitsch zog sein Taschentuch hervor und schneuzte sich, wobei er sich fast bis zur Erde vorbeugte. »Also, es … es soll geschehen. Ich dachte, du würdest bei uns … länger … Drei Tage … das, das ist nach drei Jahren etwas wenig, etwas wenig, Jewgenij!«

»Ich sag' dir ja, daß ich bald zurückkehre. Ich muß fort.«

»Muß … Na! Die Pflicht geht allem voran … Also, die Pferde soll ich schicken? Schön. Das hatten wir, Arina und ich, natürlich nicht erwartet. Sie hat sich gerade bei einer Nachbarin Blumen ausgebeten, um dein Zimmer auszuschmücken.« (Wassilij Iwanowitsch verschwieg, daß er jeden Morgen bei Tagesanbruch, die nackten Füße in den Pantoffeln, sich mit Timofejitsch beriet und, mit zitternden Fingern eine zerfetzte Banknote nach der andern hervorholend, ihm verschiedene Käufe in Auftrag gab, wobei er vor allem auf Eßwaren und Rotwein Gewicht legte, der, wie er merkte, den jungen Leuten ganz besonders mundete.) »Die Hauptsache ist die Freiheit; das ist mein Grundsatz … nur keinen Zwang antun … nicht …«

Er hielt plötzlich inne und ging auf die Tür zu.

»Wir sehen uns bald wieder, Vater, wahrhaftig.«

Aber Wassilij Iwanowitsch winkte nur, ohne sich umzusehen, mit der Hand ab und ging hinaus. Im Schlafzimmer traf er seine Frau schon im Bett und begann, um sie nicht zu wecken, im Flüsterton zu beten. Sie wachte jedoch auf.

»Bist du's, Wassilij Iwanowitsch?« fragte sie.

»Ja, meine Liebe.«

»Kommst du von Jenjuscha? Weißt du, ich fürchte, daß er auf dem Diwan schlecht gebettet ist. Ich habe der Anfissuschka gesagt, sie soll ihm deine Feldmatratze und die neuen Kissen unterlegen; ich hätte ihm unser Federbett gegeben, aber ich glaube, er liegt nicht gern weich.«

»Mach dir keine Sorgen, Liebste. Er liegt gut. Herr, vergib uns unsere Schuld!« fuhr er fort, mit gedämpfter Stimme zu beten. Wassilij Iwanowitsch tat seine Alte so leid, daß er ihr vor dem Schlafengehen nicht sagen wollte, welch ein Kummer ihrer harrte.

Am andern Tage reisten Basarow und Arkadij ab. Vom frühen Morgen an hatte alles im Haus den Kopf hängen lassen; der Anfissuschka fiel das Geschirr nur so aus den Händen, sogar Fedjka war ganz baff und legte zu guter Letzt die Stiefel ganz ab. Wassilij Iwanowitsch war geschäftiger denn je: er suchte offenbar den Mutigen zu spielen, sprach laut und stampfte mit den Füßen auf, aber sein Gesicht war eingefallen, und seine Augen streiften stets an seinem Sohn vorbei. Arina Wlassjewna weinte still vor sich hin; sie wäre ganz und gar aus der Fassung gekommen und hätte sich nicht beherrschen können, wenn ihr Mann ihr nicht früh am Morgen zwei geschlagene Stunden hindurch gut zugeredet hätte. Als aber Basarow nach wiederholten Versprechungen, spätestens in vier Wochen zurückzukehren, sich endlich aus den ihn zurückhaltenden Umarmungen losriß und im Wagen Platz nahm, als die Pferde anzogen und die Schellen zu läuten und die Räder sich zu drehen begannen – als es bereits vergeblich war, ihnen noch nachzuschauen, als sich der Staub wieder gelegt hatte und sich Timofejitsch, gekrümmt und schwankend, auf sein Stübchen zurückzog; als die beiden alten Leute sich allein sahen in ihrem gleichsam zusammengekauerten und hinfällig gewordenen Hause – da brach Wassilij Iwanowitsch, der noch vor wenigen Minuten von der Freitreppe herunter so verwegen sein Taschentuch geschwenkt hatte, auf einem Stuhl zusammen und ließ den Kopf auf die Brust sinken. »Er hat uns verlassen, verlassen!« murmelte er, »verlassen; er langweilte sich bei uns … Nun bin ich mutterseelenallein, allein«, wiederholte er mehrmals und streckte dabei jedesmal seine Hand hervor. Da trat vor ihm Arina Wlassjewna hin, legte ihren grauen Kopf an seinen grauen Kopf und sagte: »Was ist da zu machen, Wassja? Ein Sohn ist wie ein losgelöstes Stück. Er ist wie ein Falke: wenn er will, kommt er herbeigeflogen, will er, fliegt er wieder von dannen; aber wir beide sind wie zwei Stockschwämme an einem hohlen Baum, wir sitzen dicht beieinander und rühren uns nicht vom Fleck. Ich bleibe für dich in alle Ewigkeit unverändert dieselbe, wie auch du für mich.«

Wassilij Iwanowitsch nahm seine Hände vom Gesicht fort und umarmte seine Frau, seine Lebensgefährtin, so fest, wie er es selbst in seiner Jugend nie getan: sie hatte ihm in seinem Kummer Trost gespendet.


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