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XVII

Die Zeit fliegt (eine bekannte Tatsache) mitunter wie ein Vogel, mitunter aber kriecht sie wie ein Wurm; aber am wohlsten ist einem, wenn man gar nicht merkt, ob sie langsam oder schnell vergeht. In dieser Weise verbrachten eben Arkadij und Basarow bei Frau Odinzowa etwa vierzehn Tage. Dazu trug zum Teil die Ordnung bei, die sie in ihrem Hause und in ihrem Leben eingeführt hatte. Sie hielt sich streng an diese Ordnung und zwang auch die anderen, sich ihr zu fügen. Alles im Laufe des Tages geschah zur bestimmten Zeit. Morgens, Punkt acht Uhr, versammelte sich die Gesellschaft am Teetisch; vom Tee bis zum Frühstück tat jeder, was ihm beliebte, die Hausherrin selbst verhandelte während dieser Zeit mit dem Verwalter (die Bauern zahlten der Gutsbesitzerin Pachtzins), dem Haushofmeister und der ersten Haushälterin. Vor dem Mittagessen kamen alle wieder zusammen, um sich zu unterhalten oder zu lesen; der Abend war dem Spazierengehen, dem Kartenspiel und der Musik gewidmet; um halb elf zog sich Anna Sergejewna in ihr Zimmer zurück, erteilte Befehle für den nächsten Tag und ging zu Bett. Basarow mißfiel diese abgezirkelte, etwas feierliche Regelmäßigkeit des täglichen Lebens; »man rollt wie auf Schienen dahin«, versicherte er; die livrierten Lakaien und der zeremoniöse Haushofmeister verletzten sein demokratisches Gefühl. Er fand, daß man, um folgerichtig zu sein, zum Mittagessen nach englischem Brauch auch in Frack und weißer Halsbinde hätte erscheinen sollen. Er setzte dies einmal Anna Sergejewna auseinander.

Sie benahm sich so, daß jeder ihr gegenüber unumwunden seine Meinung aussprechen konnte. Sie hörte ihn an und sagte dann: »Von Ihrem Standpunkt aus haben Sie recht, vielleicht bin ich in diesem Fall die verwöhnte Dame; aber auf dem Lande kann man nicht unordentlich leben, man würde vor Langweile vergehen«, und sie tat weiter alles auf ihre Art. Basarow brummte; aber gerade weil im Haus der Frau Odinzowa alles »wie auf Schienen« dahinrollte, fühlten er und Arkadij sich so wohl bei ihr. Dazu kam, daß mit den beiden jungen Leuten gleich in den ersten Tagen ihres Aufenthalts in Nikolskoje ein Wandel vorgegangen war. Bei Basarow, den Anna Sergejewna offenbar begünstigte, obgleich sie sich selten mit ihm einverstanden erklärte, stellte sich eine bis dahin an ihm nie gekannte Unruhe ein: er wurde leicht erregbar, redete ungern, schaute mürrisch drein und konnte nicht lange auf demselben Fleck sitzenbleiben, als ob ihn etwas antriebe; Arkadij aber, der endgültig zu der Meinung gelangte, daß er in Frau Odinzowa verliebt sei, begann sich einer stillen Wehmut hinzugeben. Übrigens hinderte ihn diese Wehmut nicht, sich Katja anzuschließen; sie ermöglichte es ihm sogar, freundliche, ja freundschaftliche Beziehungen mit ihr anzuknüpfen. ›Mich schätzt sie nicht! Meinetwegen! … Aber dieses liebe Geschöpf stößt mich nicht zurück‹, dachte er, und sein Herz kostete von neuem die Süße hochherziger Empfindungen aus. Katja ahnte unklar, daß er in ihrer Gesellschaft einen gewissen Trost suchte, und sie versagte weder ihm noch sich selbst das harmlose Vergnügen einer halb verschämten, halb vertrauensvollen Freundschaft. In Gegenwart von Anna Sergejewna sprachen sie nicht miteinander: Katja kapselte sich stets unter dem scharfen Blick ihrer Schwester ab, und Arkadij vermochte nicht, wie es sich für einen Verliebten ziemt, in Gegenwart des angebeteten Gegenstandes etwas anderem Beachtung zu schenken; aber wohl war ihm nur bei Katja. Er fühlte sich außerstande, Frau Odinzowas Interesse zu erwecken; er wurde zaghaft und verlegen, wenn er sich mit ihr unter vier Augen befand; auch sie wußte nicht, was sie ihm sagen sollte – er war ihr viel zu jung. Bei Katja hingegen fühlte sich Arkadij wie zu Hause; er behandelte sie mit Nachsicht, ließ sie ruhig die Eindrücke wiedergeben, die die Musik, die Lektüre von Romanen, von Gedichten und anderem dummen Zeug auf sie machten, ohne zu beachten oder sich gestehen zu wollen, daß dieses dumme Zeug auch ihn fesselte. Katja ihrerseits hinderte ihn nicht, sich der Melancholie hinzugeben. Arkadij fühlte sich wohl bei Katja, Frau Odinzowa bei Basarow, und so geschah es gewöhnlich, daß, wenn sie ein wenig zusammenblieben, die beiden Paare sich trennten, was besonders auf den Spaziergängen geschah. Katja vergötterte die Natur, und auch Arkadij liebte sie, wenn er es auch nicht zu gestehen wagte; Frau Odinzowa war, genau wie Basarow, ziemlich gleichgültig gegen die Natur. Das beinahe ständige Getrenntsein unserer Freunde blieb nicht ohne Folgen: ihre Beziehungen veränderten sich nach und nach. Basarow sprach nicht mehr mit Arkadij über Frau Odinzowa, ja, er kritisierte sogar ihre »aristokratischen Allüren« nicht mehr; allerdings lobte er nach wie vor Katja und riet ihm nur, ihre sentimentalen Neigungen etwas zu dämmen, aber sein Lob war kurz angebunden, seine Ratschläge waren trocken, und er unterhielt sich mit Arkadij überhaupt weit seltener als früher …, es war, als ginge er ihm aus dem Wege, als schämte er sich vor ihm …

Arkadij nahm das alles wahr, behielt aber seine Beobachtungen für sich.

Die wirkliche Ursache dieser »Neuheit« war das Gefühl, das Frau Odinzowa in Basarow wachgerufen hatte, ein Gefühl, das ihn quälte und rasend machte und das er mit verächtlichem Gelächter und zynischen Scherzen abgeschworen hätte, wenn jemand auch nur im entferntesten auf eine solche Möglichkeit dessen hingedeutet hätte, was in ihm vorging. Basarow liebte Frauen und Frauenschönheit sehr, aber die Liebe im idealen oder, wie er sich ausdrückte, im romantischen Sinne erklärte er für Unfug, für unverzeihliche Narretei; ritterliche Gefühle hielt er für eine Art von Gebrechen oder Erkrankung, und mehr als einmal drückte er seine Verwunderung darüber aus, daß man den Ritter Toggenburg samt den Minnesängern und Troubadouren nicht ins Tollhaus gesperrt habe. »Gefällt dir eine Frau«, pflegte er zu sagen, »so suche das Nötige zu erreichen; geht's aber nicht, nun, dann geht's eben nicht, kehr ihr den Rücken: die Welt ist groß genug.« Frau Odinzowa gefiel ihm; die Gerüchte, die über sie verbreitet wurden, die Freiheit und die Unabhängigkeit ihres Geistes, ihre unzweifelhafte Sympathie für ihn – alles schien zu seinen Gunsten zu sprechen; aber ihm wurde bald klar, daß bei ihr »das Nötige nicht zu erreichen« sei, und doch hatte er zu seinem Erstaunen nicht die Kraft, ihr den Rücken zu kehren. Sobald er an sie dachte, geriet sein Blut in Wallung; mit seinem Blute wäre er leicht fertig geworden, aber noch etwas hatte von ihm Besitz ergriffen, etwas, das er nie für möglich gehalten, worüber er sich stets lustig gemacht, worüber sich sein ganzer Stolz empört hatte. In seinen Unterhaltungen mit Anna Sergejewna gab er kräftiger denn je seiner gleichgültigen Verachtung jeder Art von Romantik Ausdruck; aber wenn er allein war, erkannte er mit Entrüstung den Romantiker in sich selbst. Dann ging er in den Wald, durchmaß ihn mit langen Schritten, während er die Zweige, die ihm in den Weg kamen, abbrach und mit halblauter Stimme gegen sie und sich selbst Verwünschungen ausstieß; oder er verkroch sich in einen Heuschober oder eine Scheune, hielt krampfhaft die Augen geschlossen und suchte sich zum Schlafen zu zwingen, was ihm natürlich nicht immer gelang. Plötzlich schwebte ihm vor, wie diese keuschen Arme eines Tages seinen Nacken umschlingen, diese stolzen Lippen seine Küsse erwidern, diese klugen Augen voller Zärtlichkeit – ja, voller Zärtlichkeit auf den seinen haften würden, und ihm schwindelte der Kopf, er vergaß sich für einen Augenblick, bis die Entrüstung wieder in ihm aufstieg. Als ob der Teufel sein Spiel mit ihm trieb, ertappte er sich bei allen möglichen »schmählichen« Gedanken. Zuweilen wollte es ihm scheinen, als ob auch mit Frau Odinzowa eine Veränderung vor sich ginge, als ob ihr Gesicht einen besondern Ausdruck zeigte, als ob vielleicht … Aber dann stampfte er gewöhnlich mit den Füßen oder knirschte mit den Zähnen und drohte sich selbst mit der Faust.

Und doch war Basarow nicht ganz im Irrtum. Er hatte auf Frau Odinzowas Phantasie Eindruck gemacht: er beschäftigte sie, sie dachte viel an ihn. In seiner Abwesenheit langweilte sie sich nicht etwa, sie wartete nicht auf ihn; aber sein Erscheinen belebte sie augenblicklich; sie war gern mit ihm allein, sie unterhielt sich gern mit ihm, selbst dann, wenn er sie ärgerte oder ihren Geschmack, ihre eleganten Gewohnheiten verletzte. Es schien, als wollte sie ihn auf die Probe stellen und sich selbst prüfen.

Als er eines Tages mit ihr im Garten spazierenging, erklärte er plötzlich in finsterem Ton, daß er in Bälde zu seinem Vater aufs Land zu reisen gedenke … Sie erblaßte, als ob sie einen Stich ins Herz erhalten hätte, einen solchen Stich, daß sie selbst in Erstaunen geriet und später lange darüber nachsann, was das zu bedeuten habe. Basarow kündigte ihr seine Abreise an, nicht um sie auf die Probe zu stellen, um zu sehen, was dabei herauskommen würde: er »erfand« niemals etwas. Am Morgen des gleichen Tages hatte er den Verwalter seines Vaters, seinen ehemaligen Wärter Timofejitsch, gesprochen. Dieser Timofejitsch, ein verhutzelter, flinker Alter mit ausgeblichenem, gelblichem Haar, einem verwitterten, roten Gesicht und winzigen Tränentropfen in den zusammengepreßten Augen, war plötzlich vor Basarow erschienen in seinem kurzen Röckchen aus grobem, bläulichgrauem Tuch, umgürtet mit einem Riemen, und in geteerten Stiefeln.

»Ah, guten Morgen, Alter!« rief Basarow.

»Guten Morgen, Väterchen Jewgenij Wassilitsch«, begann der Alte und lächelte freudig, wodurch sein ganzes Gesicht sich plötzlich mit Runzeln bedeckte.

»Was führt dich hierher? Sollst mich wohl holen?«

»Ich bitte Sie, Väterchen! Wie können Sie so was sagen!« stotterte Timofejitsch (ihm fiel die strenge Anweisung ein, die ihm sein Herr mit auf den Weg gegeben hatte), »ich hatte für den gnädigen Herrn etwas in der Stadt zu besorgen, und da ich von Ihrer Ankunft gehört hatte, machte ich einen kleinen Umweg, um Euer Gnaden zu sehen … aber beileibe nicht, um zu stören!«

»Lüg doch nicht!« unterbrach ihn Basarow. »Dieser Ort liegt ja gar nicht auf deinem Wege.«

Timofejitsch stutzte und gab keine Antwort.

»Ist Vater gesund?«

»Gott sei Dank, ja.«

»Und Mutter?«

»Auch Arina Wlassjewna, Gott sei gedankt und gelobt!«

»Sie erwarten mich wohl?«

Der Alte neigte sein winziges Köpfchen zur Seite.

»Ach, Jewgenij Wassilitsch, wie sollte man Sie nicht erwarten! Glauben Sie mir, das Herz blutet einem, wenn man Ihre Eltern ansieht.«

»Schon gut, schon gut! Erspar dir die vielen Worte. Sage ihnen, ich käme bald.«

»Zu Befehl!« antwortete Timofejitsch mit einem Seufzer.

Als er wieder aus dem Hause war, stülpte er sich mit beiden Händen die Mütze auf den Kopf, kletterte auf die dürftige Droschke, die er am Tor stehengelassen hatte, und fuhr im leichten Trab von dannen, jedoch nicht in Richtung der Stadt.

 

Am Abend desselben Tages saß Frau Odinzowa mit Basarow in ihrem Zimmer, während Arkadij im Salon auf und ab ging und Katjas Spiel zuhörte. Die Fürstin hatte sich zurückgezogen; sie mochte Gäste überhaupt nicht leiden, namentlich aber nicht diese »neuen Flegel«, wie sie sie nannte. In den Paradezimmern schmollte sie bloß, aber in ihrem Zimmer, vor ihrer Kammerfrau, entlud sie sich mitunter in einem solchen Geschimpfe, daß ihre Haube zusammen mit der Haartour auf ihrem Kopfe wackelte. Frau Odinzowa war das alles bekannt.

»Wie können Sie nur ans Abreisen denken?« begann sie. »Und Ihr Versprechen?«

Basarow fuhr zusammen.

»Was für ein Versprechen?«

»Sie haben's vergessen? Sie wollten mir ja etwas Unterricht in der Chemie geben.«

»Was ist da zu machen! Mein Vater erwartet mich, ich kann unmöglich länger zögern. Übrigens brauchen Sie nur Pelouse und Frémy, Notions générales de Chimie, zu lesen, es ist ein gutes Buch und verständlich geschrieben. Sie finden darin alles, was Sie brauchen.«

»Aber erinnern Sie sich noch: Sie versicherten mir, ersetzen könnte ein Buch nicht …, ich weiß nicht mehr, wie Sie sich ausdrückten, aber Sie wissen, was ich sagen will … Erinnern Sie sich?«

»Was ist da zu machen!« wiederholte Basarow.

»Warum abreisen?« fragte Frau Odinzowa mit gedämpfter Stimme.

Er sah sie an. Sie hatte den Kopf auf die Lehne des Sessels zurückgeworfen und die bis zu den Ellenbogen entblößten Arme auf der Brust gekreuzt. Sie schien blasser beim Schein der mit einem ausgeschnittenen Papiernetz verhängten Lampe. Ein weites weißes Kleid hüllte sie ganz in seine weichen Falten ein, kaum daß die Spitzen ihrer ebenfalls übereinandergekreuzten Füße sichtbar waren.

»Und warum sollte ich bleiben?« antwortete Basarow.

Frau Odinzowa wandte ein wenig den Kopf.

»Warum? Amüsieren Sie sich denn nicht bei mir? Oder glauben Sie, man werde Sie hier nicht vermissen?«

»Ich bin davon überzeugt.«

Frau Odinzowa schwieg ein Weilchen.

»Sie tun unrecht, das anzunehmen. Übrigens glaube ich es Ihnen nicht. Sie können das unmöglich im Ernst gesagt haben.« Basarow saß noch immer unbeweglich da. »Jewgenij Wassilitsch, warum schweigen Sie?«

»Was soll ich Ihnen denn sagen? Man soll überhaupt keinen Menschen vermissen, und am allerwenigsten mich.«

»Warum denn?«

»Ich bin ein positiver, uninteressanter Typ. Ich besitze keine Redegabe.«

»Sie wollen Schmeicheleien hören, Jewgenij Wassilitsch?«

»Das ist nicht meine Gewohnheit. Wissen Sie denn nicht selbst, daß die elegante Seite des Lebens, jene Seite, die Sie so schätzen, mir unzugänglich ist?«

Frau Odinzowa biß auf einen Zipfel ihres Taschentuchs.

»Denken Sie darüber, wie Sie wollen, aber ich werde mich langweilen, wenn Sie fort sind.«

»Arkadij wird bleiben«, bemerkte Basarow.

Frau Odinzowa zuckte leicht mit den Achseln.

»Ich werde mich langweilen«, wiederholte sie.

»In der Tat? Jedenfalls werden Sie sich nur kurze Zeit langweilen.«

»Warum glauben Sie das?«

»Weil Sie mir selbst gesagt haben, daß Sie sich nur dann langweilen, wenn die von Ihnen eingeführte Ordnung gestört wird. Sie haben Ihr Leben so untadelhaft regelrecht eingerichtet, daß darin kein Raum bleibt weder für Langweile noch für Sehnsucht … noch für irgendwelche drückenden Gefühle.«

»Sie finden, daß ich untadelhaft bin … oder vielmehr, daß ich so regelrecht mein Leben eingerichtet habe?«

»Und wie! Ein Beispiel: in wenigen Minuten schlägt es zehn Uhr, und ich weiß schon im voraus, daß Sie mich fortjagen.«

»Nein, ich werde Sie nicht fortjagen, Jewgenij Wassilitsch. Sie dürfen bleiben, öffnen Sie dieses Fenster … mir ist so merkwürdig schwül.«

Basarow stand auf und stieß gegen das Fenster. Es flog mit einem Schlag geräuschvoll auf … Er hatte nicht erwartet, daß es sich so leicht öffnen ließ, zudem zitterten ihm die Hände. Ins Zimmer schaute eine milde, dunkle Nacht mit ihrem fast schwarzen Himmel, den säuselnden Bäumen und dem frischen Duft einer freien, reinen Luft.

»Lassen Sie das Rouleau herunter und nehmen Sie Platz«, sagte Frau Odinzowa. »Ich möchte vor Ihrer Abreise noch einmal mit Ihnen plaudern. Erzählen Sie mir etwas von sich selbst; Sie sprechen nie von sich.«

»Ich bemühe mich, mit Ihnen von nützlichen Dingen zu reden, Anna Sergejewna.«

»Sie sind sehr bescheiden … Aber ich möchte doch gern etwas von Ihnen, von Ihrer Familie, von Ihrem Vater hören, um dessentwillen Sie uns verlassen.«

›Wozu sagt sie das alles?‹ dachte Basarow.

»Das alles ist nicht unterhaltsam«, sprach er laut, »besonders für Sie; wir sind kleine Leute …«

»Und ich bin wohl Ihrer Ansicht nach eine Aristokratin?«

Basarow richtete seine Augen auf Frau Odinzowa.

»Ja«, sagte er mit übertriebener Schärfe.

Sie lächelte ironisch.

»Ich sehe, Sie kennen mich schlecht, obwohl Sie behaupten, alle Menschen seien einander ähnlich und es verlohne sich nicht, sie zu studieren. Ich werde Ihnen einmal meine Lebensgeschichte erzählen … aber zuerst müssen Sie mir die Ihrige erzählen.«

»Ich kenne Sie schlecht«, wiederholte Basarow. »Sie haben vielleicht recht. Vielleicht ist tatsächlich jeder Mensch ein Rätsel. Da sind Sie zum Beispiel: Sie fliehen die Gesellschaft, Sie fühlen sich durch sie belästigt – und doch laden Sie zwei Studenten in Ihr Haus ein. Warum leben Sie, bei Ihrem Verstand, Ihrer Schönheit, auf dem Lande?«

»Wie? Was sagen Sie?« fiel Frau Odinzowa lebhaft ein. »Bei meiner … Schönheit?«

Basarow runzelte die Stirn.

»Einerlei«, murmelte er, »ich wollte nur sagen, ich begreife nicht recht, warum Sie Ihren Wohnsitz auf dem Land aufgeschlagen haben.«

»Das begreifen Sie nicht … Doch erklären Sie es sich irgendwie?«

»Ja … ich nehme an, daß Sie an einem Fleck sitzen, weil Sie sich selbst verwöhnt haben, weil Sie zu sehr den Komfort, die Bequemlichkeit lieben und alles andre Ihnen gleichgültig ist.«

Frau Odinzowa lächelte wieder.

»Sie wollen also durchaus nicht glauben, daß ich fähig sei, mich von etwas hinreißen zu lassen?«

Basarow sah sie verstohlen an.

»Vielleicht aus Neugierde, aber nicht anders.«

»In der Tat? Nun, jetzt begreife ich, warum wir uns gefunden haben; Sie sind ja wie ich.«

»Wir haben uns gefunden …« wiederholte Basarow dumpf.

»Ja! … ich habe ganz vergessen, daß Sie abreisen wollen.«

Basarow stand auf. Die Lampe brannte matt inmitten des verdunkelten, durchdufteten, abgeschlossenen Zimmers; durch das zitternde Rouleau ergoß sich die aufregende Frische der Nacht und ließ geheimnisvolles Raunen vernehmen. Frau Odinzowa rührte kein Glied, aber eine geheime Erregung bemächtigte sich ihrer allmählich … Diese übertrug sich auf Basarow. Er wurde sich plötzlich bewußt, daß er mit einer schönen jungen Frau allein war …

»Wohin wollen Sie?« sprach sie langsam.

Er antwortete nichts und sank auf den Stuhl zurück.

»Sie halten mich also für ein ruhiges, verweichlichtes und verwöhntes Geschöpf«, fuhr sie, ohne die Augen vom Fenster abzuwenden, in demselben Tone fort. »Ich muß Ihnen aber sagen, daß ich sehr unglücklich bin.«

»Sie unglücklich! Warum? Sollten Sie albernen Klatschereien eine Bedeutung beilegen?«

Frau Odinzowa runzelte die Stirn. Es ärgerte sie, daß er sie so verstanden hatte.

»Diese Klatschereien erscheinen mir nicht einmal komisch, Jewgenij Wassilitsch, und ich bin viel zu stolz, um mich durch sie beirren zu lassen. Ich bin unglücklich, weil … ich kein Verlangen, keine Lust zu leben habe. Sie sehen mich argwöhnisch an, Sie denken: so spricht eine ›Aristokratin‹, die, in Spitzen gehüllt, in einem Samtsessel sitzt. Ich mache kein Hehl daraus: ich liebe das, was Sie Komfort nennen, zugleich aber hänge ich nicht am Leben. Vereinigen Sie diese Widersprüche, wie Sie wollen. Übrigens ist das alles in Ihren Augen Romantik.«

Basarow schüttelte den Kopf.

»Sie sind gesund, unabhängig, reich; was wünschen Sie noch mehr? Was wollen Sie denn?«

»Was ich will?« wiederholte Frau Odinzowa und stieß einen Seufzer aus. »Ich bin sehr müde, ich bin alt; mir ist, als hätte ich schon sehr lange gelebt. Ja, ich bin alt«, fügte sie hinzu, langsam die Enden der Mantille über ihre entblößten Arme ziehend. Ihre Augen begegneten denen Basarows, und sie errötete leicht. »Ich habe schon so viele Erinnerungen hinter mir: das Leben in Petersburg, der Reichtum, darauf die Armut, dann der Tod meines Vaters, meine Heirat, die Reise ins Ausland … Wie viele Erinnerungen und doch keine einzige, bei der ich verweilen möchte, und vor mir – ein langer, langer Weg, aber kein Ziel … Ich möchte auch nicht weitergehen.«

»Sind Sie so enttäuscht?« fragte Basarow.

»Nein«, sagte Frau Odinzowa stockend, »aber ich bin unbefriedigt. Mir scheint, wenn ich etwas gern haben könnte …«

»Sie möchten lieben«, unterbrach sie Basarow, »aber lieben können Sie nicht: das eben ist Ihr Unglück.«

Frau Odinzowa begann, die Ärmel ihrer Mantille zu mustern.

»Ich kann nicht lieben?« sagte sie.

»Wohl kaum! Nur habe ich unrecht, wenn ich es als Unglück bezeichne. Im Gegenteil, Mitleid verdient eher derjenige, dem so etwas zustößt.«

»Was zustößt?«

»Zu lieben.«

»Woher wissen Sie das?«

»Vom Hörensagen«, antwortete Basarow ärgerlich.

›Du kokettierst‹, dachte er, ›du langweilst dich, und um dir die Zeit zu vertreiben, reizt du mich, aber ich …‹ Sein Herz wollte in der Tat zerspringen.

»Zudem sind Sie vielleicht allzu anspruchsvoll«, fuhr er fort, mit dem ganzen Körper vornübergebeugt und mit den Fransen des Lehnstuhles spielend.

»Möglich. Aber ich meine: alles oder nichts. Leben um Leben. Hat einer das meine genommen, so soll er das seine hingeben, und dann ohne Bedauern und für alle Ewigkeit. Sonst lieber nicht.«

»Ja«, bemerkte Basarow. »Diese Bedingung ist durchaus gerechtfertigt, und mich wundert nur, daß Sie bis jetzt … nicht gefunden haben, was Sie suchten.«

»Glauben Sie denn, es sei so leicht, sich an etwas ganz hinzugeben?«

»Es ist nicht leicht, wenn man anfängt zu überlegen und abzuwarten, seinen eigenen Wert abzuwägen, das heißt, sich zu hoch einzuschätzen; aber sehr leicht, wenn man sich ohne Besinnen hingibt.«

»Warum soll man sich selbst nicht hoch einschätzen? Wenn ich ganz wertlos bin, wer braucht dann meine Hingabe?«

»Das geht mich schon nichts an: es ist Sache des andern, zu beurteilen, was ich wert bin. Die Hauptsache ist, daß man sich hinzugeben versteht.«

Frau Odinzowa löste sich von der Lehne des Sessels.

»Sie sprechen so«, begann sie, »als ob Sie das alles selbst erfahren hätten.«

»Wir kommen gerade darauf zu sprechen, Anna Sergejewna. Sie wissen, alle diese Dinge gehören nicht zu meinem Fach.«

»Aber würden Sie es verstehen, sich hinzugeben?«

»Ich weiß nicht, ich will mich nicht rühmen.«

Frau Odinzowa antwortete nicht, und Basarow verstummte. Aus dem Salon klangen Klaviertöne zu ihnen herüber.

»Wie lange Katja heute abend spielt«, bemerkte Frau Odinzowa. Basarow erhob sich.

»Ja, es ist in der Tat schon spät, es ist Zeit für Sie, zur Ruhe zu gehen.«

»Warten Sie, warum eilen Sie so? … Ich habe Ihnen noch ein Wort zu sagen.«

»Welches denn?«

»Warten Sie!« flüsterte Frau Odinzowa.

Ihre Augen blieben auf Basarow hängen, sie schien ihn aufmerksam zu betrachten.

Er schritt durch das Zimmer, dann näherte er sich ihr plötzlich, warf ein hastiges »Adieu!« hin, drückte ihr die Hand so, daß sie fast aufgeschrien hätte, und ging hinaus. Sie führte ihre aneinandergeklebten Finger an die Lippen, blies auf sie und dann stand sie mit einer jähen Bewegung auf und eilte auf die Tür zu, als wollte sie Basarow zurückholen …

Das Zimmermädchen trat mit einer Karaffe auf silbernem Tablett ins Zimmer. Frau Odinzowa blieb stehen, schickte sie fort, setzte sich wieder und versank von neuem in Gedanken. Ihr Zopf hatte sich gelöst und fiel ihr wie eine schwarze Schlange auf die Schultern. Noch lange brannte in Anna Sergejewnas Zimmer die Lampe, und noch lange saß sie unbeweglich da, nur von Zeit zu Zeit sich mit den Fingern über die Arme streichend, die das Prickeln der nächtlichen Kühle empfanden.

Ein paar Stunden später kehrte Basarow mit taufeuchten Stiefeln, zerzaust und mürrisch in sein Schlafzimmer zurück. Er fand Arkadij in einem bis ans Kinn zugeknöpften Überrock mit einem Buche in der Hand am Schreibtisch sitzend vor.

»Du bist noch nicht zu Bett?« sagte Basarow mit einem gewissen Unwillen.

»Du bist heute abend lange bei Anna Sergejewna geblieben«, bemerkte Arkadij, ohne auf seine Frage zu antworten.

»Ja, ich bin so lange bei ihr geblieben, als du und Katharina Sergejewna Klavier gespielt habt«

»Ich habe nicht gespielt …«, begann Arkadij und verstummte. Er fühlte, daß ihm Tränen in die Augen traten, er wollte aber vor seinem höhnischen Freunde nicht weinen.


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