Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV

Vom Hausgesinde war auch nicht das kleinste Trüpplein zum Empfang der Herrschaft auf der Freitreppe herbeigeeilt; nur ein zwölfjähriges Mädchen erschien, und nach ihr trat aus dem Hause ein junger Bursche, der Pjotr sehr ähnlich sah und eine graue Livree mit weißen Wappenknöpfen anhatte, der Diener Pawel Petrowitsch Kirsanows. Schweigend öffnete er den Schlag der Kalesche und knöpfte das Spritzleder ab. Nikolai Petrowitsch ging, gefolgt von seinem Sohn und Basarow, durch einen dunklen, fast leeren Saal, wo an der Tür das Gesicht einer jungen Frau vorbeihuschte, und betrat ein schon nach neuestem Geschmack eingerichtetes Gemach.

»So wären wir denn zu Hause«, sagte Nikolai Petrowitsch, indem er seine Mütze abnahm und seine Haare schüttelte. »Vor allem wollen wir Abendbrot essen und ausruhen.«

»Ein Bissen wäre tatsächlich nicht zu verschmähen«, bemerkte Basarow, sich dehnend und reckend, und ließ sich auf ein Sofa nieder.

»Ja, ja, tragt das Essen auf, aber schnell, schnell!« Nikolai Petrowitsch begann ohne jeden ersichtlichen Grund mit dem Fuß zu stampfen. »Ah, da kommt auch Prokofjitsch!«

Ein hagerer Mann von etwa sechzig Jahren mit weißem Haar und dunkler Gesichtsfarbe, in braunem Frack mit kupfernen Knöpfen und mit einem rosa Tüchlein um den Hals, war ins Zimmer getreten. Er schmunzelte, küßte Arkadij die Hand, machte eine Verbeugung vor dem Gast, stellte sich an die Tür und legte die Hände auf den Rücken.

»Da wäre er nun, Prokofjitsch«, begann Nikolai Petrowitsch. »Endlich haben wir ihn hier … Nun, wie findest du ihn?«

»In bester Verfassung«, versetzte der Alte und schmunzelte von neuem; aber sofort zog er seine buschigen Brauen zusammen. »Befehlen Sie, den Tisch zu decken?« fragte er gewichtig.

»Ja, ja, bitte! Aber wollen Sie vielleicht erst auf Ihr Zimmer gehen, Jewgenij Wassilitsch?«

»Nein, danke, wozu denn! Nur lassen Sie meinen Koffer dorthin schaffen – und dieses Kleidungsstück«, setzte er hinzu, seinen Staubmantel ablegend.

»Sehr schön, Prokofjitsch, nimm den Mantel des Herrn!« Prokofjitsch faßte einigermaßen verwundert mit beiden Händen das »Kleidungsstück« Basarows an, hob es hoch über den Kopf und entfernte sich auf den Zehenspitzen. »Und du, Arkadij, möchtest du dich nicht auf einen Augenblick zurückziehen?«

»Ja, ich muß mich etwas säubern«, antwortete Arkadij, und er ging schon auf die Tür zu, als ein mittelgroßer Mann, der einen dunklen englischen Anzug, eine nach der neuesten Mode tief geknüpfte Krawatte und lackierte Halbstiefel trug, das Zimmer betrat. Es war Pawel Petrowitsch Kirsanow. Er schien ungefähr fünfundvierzig Jahre alt zu sein; sein kurzgeschnittenes graues Haar hatte den dunklen Glanz von Neusilber; sein galliges, aber noch runzelfreies, ungewöhnlich regelmäßiges und reines, wie von einem zarten und leichten Stichel gemeißeltes Gesicht verriet die Spuren außerordentlicher Schönheit; besonders schön waren seine klaren, schwarzen, ovalen Augen. Arkadijs Onkel hatte in seinem ganzen eleganten und rassigen Äußern die jugendliche Schlankheit und das Aufwärtsstrebende – von der Erde weg – bewahrt, das meist mit zwanzig Jahren zu verschwinden pflegt.

Pawel Petrowitsch zog seine schöne Hand mit den langen rosaroten Nägeln aus der Hosentasche, eine Hand, deren Schönheit noch erhöht wurde durch eine schneeweiße, am Handgelenk von einem großen Opal zusammengehaltene Manschette, und streckte sie seinem Neffen entgegen. Nachdem zuerst das europäische »shake hands« ausgeführt worden war, küßte er ihn nach russischer Sitte dreimal, das heißt, er streifte ihm dreimal mit seinem parfümierten Schnurrbart die Wangen und sagte:

»Willkommen!«

Nikolai Petrowitsch stellte ihm Basarow vor. Pawel Petrowitsch neigte ein wenig seinen geschmeidigen Oberkörper und lächelte fein, reichte ihm aber die Hand nicht – er steckte sie sogar wieder in die Hosentasche.

»Ich glaubte schon, ihr würdet heute nicht mehr kommen«, begann er mit einer angenehmen Stimme, indem er sich anmutig wiegte, die Schultern emporzog und seine schönen, weißen Zähne sehen ließ. »Ist euch unterwegs etwas passiert?«

»Nichts ist passiert«, erwiderte Arkadij. »Wir haben uns nur ein wenig Zeit gelassen. Dafür haben wir jetzt einen Wolfshunger. Papa, sag Prokofjitsch, daß er sich sputet, ich bin im Augenblick wieder da.«

»Warte, ich gehe mit dir«, rief Basarow und stand plötzlich vom Sofa auf. Die beiden jungen Leute entfernten sich.

»Wer ist der da?« fragte Pawel Petrowitsch.

»Ein Freund von Arkascha – wie er sagt, ein sehr gescheiter Mensch.«

»Wird er unser Gast sein?«

»Ja.

»Dieser behaarte Kerl?«

»Ja, freilich.«

Pawel Petrowitsch trommelte mit den Nägeln auf dem Tisch.

»Ich finde, daß Arkadij – s'est dégourdi Französisch: »seine Steifheit verloren hat«. (Anm. d. Übers.)«, meinte er. »Es freut mich, daß er wieder da ist.«

Beim Abendessen wurde wenig gesprochen. Namentlich Basarow sagte so gut wie nichts, aß aber viel. Nikolai Petrowitsch erzählte verschiedene Vorfälle aus seinem, wie er sich ausdrückte, Farmerleben und ließ sich über die bevorstehenden Regierungsmaßnahmen aus, über Komitees, Deputierte, über die Notwendigkeit, Maschinen einzuführen usw. Pawel Petrowitsch ging langsam im Speisezimmer auf und ab (er aß nie zu Abend), nippte von Zeit zu Zeit an einem mit Rotwein gefüllten Gläschen und ließ nur selten ein Wort oder vielmehr einen Ausruf vernehmen, wie: »Ah! Oh! Hm!« Arkadij übermittelte einige Petersburger Neuigkeiten, aber er empfand eine gewisse Verlegenheit, jene Verlegenheit, die sich eines jungen Menschen zu bemächtigen pflegt, der, soeben der Kindheit entwachsen, an den Ort zurückkehrt, wo man gewohnt war, ihn als Kind zu betrachten und auch als solches zu behandeln. Er zog die Sätze unnötig in die Länge, vermied das Wort »Papa« und ersetzte es sogar einmal durch »Vater«, was er allerdings nur durch die Zähne murmelte; er schenkte sich mit übertriebener Nonchalance viel mehr Wein ein, als ihm selbst lieb war, und trank ihn ganz aus. Prokofjitsch verwandte kein Auge von ihm und kaute nur an den Lippen. Gleich nach dem Abendessen zogen sich alle zurück.

»Ist das ein Sonderling, dein Onkel!« sagte Basarow, der im Schlafrock an Arkadijs Bett saß und sein kurzes Pfeifchen schmauchte. »Eine solche Eleganz auf dem Lande! Man denke nur! Und seine Nägel, seine Nägel! Man könnte sie auf eine Ausstellung schicken!«

»Du weißt nicht, daß er seinerzeit ein Salonlöwe gewesen ist«, antwortete Arkadij. »Ich werde dir gelegentlich seine Geschichte erzählen. Er ist ein schöner Mann gewesen und hat allen Frauen den Kopf verdreht.«

»Soso. Also aus alter Gewohnheit. Leider sind hier keine Eroberungen zu machen! Ich bewunderte geradezu seine fabelhaften, steinharten Vatermörder, und wie glattrasiert sein Kinn ist! Arkadij Nikolajewitsch, ist das nicht urkomisch?«

»Magst recht haben, aber trotzdem ist er ein vortrefflicher Mensch.«

»Eine archaische Gestalt! Aber dein Vater ist ein braver Bursche. Nur sollte er keine Verse lesen, und von der Landwirtschaft scheint er auch nicht viel zu verstehen; aber er ist ein guter Kerl.«

»Mein Vater ist ein Prachtkerl.«

»Hast du bemerkt, wie verlegen er wird?«

Arkadij nickte, als ob er selbst nicht verlegen würde.

»Merkwürdig, diese alten Romantiker«, fuhr Basarow fort. »Sie verfeinern ihr Nervensystem bis zur Überreizung, und dann ist das Gleichgewicht gestört. Nun aber – gute Nacht! Ich habe zwar in meinem Zimmer einen englischen Waschtisch, aber die Tür schließt nicht. Immerhin muß man das unterstützen, nämlich das mit den englischen Waschtischen, denn sie bedeuten einen Fortschritt!«

Basarow ging, und Arkadij wurde von einem freudigen Gefühl erfaßt. Wie süß ist es, unter dem väterlichen Dach einzuschlafen, im wohlvertrauten Bett, unter der Decke, an der geliebte zärtliche Hände – vielleicht die der Wärterin –, gütige und unermüdliche Hände gearbeitet haben. Arkadij erinnerte sich an Jegorowna, stieß einen Seufzer aus und wünschte ihr das himmlische Paradies … Für sich selbst betete er nicht.

Sowohl er wie auch Basarow schliefen bald ein, aber die anderen Bewohner des Hauses fanden noch lange keinen Schlaf. Nikolai Petrowitsch war durch die Heimkehr seines Sohnes ergriffen worden. Er legte sich zu Bett, löschte aber das Licht nicht aus; den Kopf auf die Hand gestützt, versank er in langes Sinnen. Sein Bruder saß noch lange nach Mitternacht in seinem Arbeitszimmer in einem weiten Gambes-Sessel So genannt nach dem Schotten Gambes, der 1809–1848 in Petersburg als Hoftischler lebte und eine Möbelfabrik besaß. (Anm. d. Übers.) vor dem Kamin, in dem Steinkohle schwach glomm. Pawel Petrowitsch hatte sich nicht ausgekleidet, sondern nur die lackierten Halbstiefel mit roten, offenen chinesischen Pantoffeln vertauscht. Er hielt in der Hand die letzte Nummer des »Galigmani«, las aber nicht darin; seine Augen waren unverwandt auf den Kamin gerichtet, in dem, bald dem Verlöschen nahe, bald aufzuckend, eine bläuliche Flamme züngelte … Gott mag wissen, wohin seine Gedanken irrten, aber sie irrten nicht bloß in der Vergangenheit: sein Gesichtsausdruck war konzentriert und düster, was nicht der Fall ist, wenn man sich lediglich Erinnerungen hingibt. In einem kleinen Hinterzimmer auf einer Truhe saß aber, mit einer blauen Wattejacke angetan und mit einem weißen Tuch über dem dunklen Haar, eine junge Frau, Fenitschka. Bald horchte sie, bald nickte sie wieder ein, bald schaute sie auf die geöffnete Tür hin, hinter der ein Bettchen zu sehen und die regelmäßigen Atemzüge eines schlafenden Kindes zu hören waren.


 << zurück weiter >>