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V

Am andern Morgen erwachte Basarow als erster und ging sofort aus dem Hause. ›Tja‹, dachte er, indem er sich umsah, ›ein recht unscheinbares Plätzchen.‹ Als Nikolai Petrowitsch sein Land von dem seiner Bauern absteckte, mußte er sich dazu entschließen, für sein neues Landhaus vier Deßjatinen völlig flachen und kahlen Bodens zu bestimmen. Er baute sich ein Wohnhaus, Dienstwohnungen und eine Farm, legte einen Garten an, grub einen Teich und zwei Brunnen; aber die jungen Bäume gediehen schlecht, der Teich füllte sich nur sehr langsam mit Wasser, und das Wasser der Brunnen hatte einen salzigen Geschmack. Nur die Akazien- und Fliedersträuche um die Laube wucherten üppig; hier wurden zuweilen der Tee und das Mittagessen eingenommen. In wenigen Minuten hatte Basarow alle Gartenwege durchstreift, den Viehhof und den Pferdestall besucht und zwei Bauernjungen aufgestöbert, deren Bekanntschaft er sofort machte und mit denen er nach einem etwa eine Werst vom Haus entfernten kleinen Sumpf ging, um Frösche zu fangen.

»Wozu brauchst du Frösche, Herr?« fragte ihn einer der Knaben.

»Das will ich dir sagen«, antwortete Basarow, der die besondere Gabe besaß, Leuten, die unter ihm standen, Vertrauen einzuflößen, obgleich er ihnen nichts durchgehen ließ und sie lässig behandelte. »Ich schneide den Frosch auf und gucke, was in seinem Innern vorgeht; da du und ich ebenfalls Frösche sind – nur gehen wir auf zwei Beinen –, so weiß ich dann, was in unserem eigenen Innern vorgeht.«

»Und wozu brauchst du das?«

»Damit ich nicht irre, wenn du krank wirst und ich dich behandeln muß.«

»Bist du denn ein Doktor?«

»Jawohl.«

»Waska, hörst du, der Herr sagt, wir sind ebenfalls Frösche. Wie ulkig!«

»Ich fürchte mich vor Fröschen«, bemerkte Waska, ein etwa sieben Jahre alter Bub mit flachsweißem Haar, der in einem grauen Casaquin Französisch: kurze Bluse »in Kosakenart«. (Anm. d. Übers.) mit Stehkragen steckte und barfuß war.

»Warum fürchtest du dich? Beißen sie denn?«

»Nun, marsch ins Wasser, ihr Philosophen!« rief Basarow.

Inzwischen war Nikolai Petrowitsch ebenfalls aufgestanden und hatte sich zu Arkadij begeben, den er angekleidet fand. Vater und Sohn gingen hinaus auf die Terrasse, unter die Markise; auf einem Tisch, neben dem Geländer, unter großen Fliedersträußen, siedete bereits der Samowar. Ein kleines Mädchen, dasselbe, das ihnen gestern abend zuerst auf der Treppe entgegengekommen war, erschien und meldete mit einer Fistelstimme:

»Fedoßja Nikolajewna sind nicht ganz wohl und können nicht kommen. Sie lassen fragen, ob Sie sich den Tee gefälligst selber einschenken wollen oder ob sie Dunjascha herschicken sollen.«

»Ich werde ihn selbst einschenken«, versetzte rasch Nikolai Petrowitsch. »Arkadij, wie trinkst du den Tee, mit Sahne oder mit Zitrone?«

»Mit Sahne«, antwortete Arkadij, und nach kurzem Schweigen fuhr er in fragendem Tone fort: »Papa?«

Nikolai Petrowitsch blickte betreten seinen Sohn an.

»Was denn?« fragte er.

Arkadij blickte zur Erde.

»Verzeih, Papa, falls dir meine Frage unpassend erscheinen sollte«, begann er, »aber du selbst hast mir gestern mit deiner Offenherzigkeit Mut gemacht, ebenso offen zu sprechen … du nimmst es doch nicht übel …?«

»Sprich!«

»Du ermutigst mich, dich zu fragen … Sollte vielleicht Fen... kommt sie etwa deshalb nicht her, den Tee einzuschenken, weil ich hier bin?«

Nikolai Petrowitsch wandte sich leise ab.

»Mag sein«, brachte er endlich hervor, »sie setzt voraus … sie geniert sich …«

Arkadij warf seinem Vater einen raschen Blick zu.

»Sie braucht sich nicht zu genieren. Erstens kennst du meine Denkweise« (Arkadij war es sehr angenehm, diese Worte auszusprechen), »und zweitens – wie käme ich dazu, dich auch nur im mindesten in deiner Lebensweise, in deinen Gewohnheiten zu stören! Zudem bin ich überzeugt, daß du keine schlechte Wahl getroffen haben kannst; wenn du ihr gestattet hast, mit dir unter einem Dach zu leben, so ist sie dessen sicher würdig; jedenfalls ist der Sohn nicht der Richter seines Vaters, am allerwenigsten bin ich es, und am allerwenigsten eines Vaters, der wie du mich nie in meiner Freiheit beschränkt hat.«

Anfangs zitterte Arkadijs Stimme: er kam sich großmütig vor, und doch war er sich gleichzeitig dessen bewußt, daß er seinem Vater gewissermaßen die Leviten las. Aber der Klang der eigenen Stimme übt auf den Menschen eine starke Wirkung aus, und Arkadij brachte die letzten Worte fest, ja sogar effektvoll hervor.

»Ich danke dir, Arkascha«, begann Nikolai Petrowitsch dumpf, und seine Finger flogen wieder über Brauen und Stirn. »Deine Mutmaßungen sind wirklich nicht unbegründet. Gewiß, wenn dieses Mädchen es nicht verdiente … Es ist keine leichtfertige Laune. Ich geniere mich, darüber mit dir zu sprechen; aber du begreifst, daß es ihr schwerfällt, hier vor dir zu erscheinen, besonders am ersten Tage nach deiner Ankunft.«

»Dann will ich selbst zu ihr gehen«, rief Arkadij in einer neuen Wallung edelmütiger Gefühle und sprang vom Stuhle auf. »Ich werde ihr klarmachen, daß sie sich vor mir nicht zu schämen braucht.«

Nikolai Petrowitsch war ebenfalls aufgestanden.

»Arkadij«, begann er, »bitte, tue mir den Gefallen … es geht nicht … dort ist … ich habe dir noch nicht erzählt …«

Aber Arkadij hörte ihn schon nicht mehr und verließ eilends die Terrasse. Nikolai Petrowitsch blickte ihm nach und sank beklommen auf seinen Stuhl zurück. Sein Herz pochte heftig … Ob er sich in diesem Augenblick vorstellte, daß in Zukunft das Verhältnis zwischen ihm und seinem Sohne notwendigerweise sich etwas seltsam gestalten mußte, ob er sich gestand, daß Arkadij vielleicht achtungsvoller ihm gegenüber aufgetreten wäre, wenn er überhaupt diese Frage unberührt gelassen hätte, oder ob er sich selbst Schwäche vorwarf? – das ist schwer zu entscheiden: alle diese Gefühle wogten in ihm, aber es waren vielmehr unklare Empfindungen, die Röte verschwand nicht von seinem Gesicht, und sein Herz hämmerte.

Eilige Schritte ließen sich vernehmen, und Arkadij erschien wieder auf der Terrasse.

»Wir haben uns kennengelernt, Vater!« rief er, mit dem Ausdruck eines freundlichen, gütigen Triumphs auf dem Gesicht. »Fedoßja Nikolajewna ist heute in der Tat nicht ganz wohl und wird erst später kommen. Aber warum hast du mir nicht gesagt, daß ich einen Bruder habe? Dann würde ich ihn schon gestern abend abgeküßt haben, wie ich es soeben getan habe.«

Nikolai Petrowitsch wollte etwas erwidern, er wollte aufstehen und die Arme ausbreiten. Arkadij warf sich ihm an den Hals.

»Was ist los? Ihr umarmt euch schon wieder?« ließ sich hinter ihnen die Stimme Pawel Nikolajewitschs vernehmen.

Vater und Sohn waren in diesem Augenblick über sein Erscheinen in gleichem Maße erfreut: es gibt rührende Situationen, denen man dennoch möglichst schnell ein Ende machen möchte.

»Wundert dich das?« versetzte Nikolai Petrowitsch heiter. »Lang genug hab' ich doch auf meinen Arkascha gewartet … Seit gestern habe ich mich an ihm noch nicht satt sehen können.«

»Das wundert mich keineswegs«, bemerkte Pawel Petrowitsch; »ich selbst wäre nicht abgeneigt, ihn zu umarmen.«

Arkadij ging auf seinen Onkel zu, und von neuem fühlte er dessen duftenden Schnurrbart seine Wangen berühren. Pawel Petrowitsch setzte sich an den Tisch. Er trug einen eleganten Morgenanzug in englischem Stil; ein kleines Fes schmückte sein Haupt. Dieses Fes und die nachlässig geknüpfte Krawatte sollten auf die Freiheit des Landlebens hindeuten; aber der gestärkte Kragen des allerdings nicht weißen, sondern – wie es die Mode für die Morgentoilette vorschreibt – bunten Hemdes stützte mit gewohnter Unerbittlichkeit sein rasiertes Kinn.

»Wo bleibt dein neuer Freund?« fragte er Arkadij.

»Er ist schon ausgegangen; er pflegt sehr früh aufzustehen und sich irgendwohin zu begeben. Man darf sich vor allem um ihn nicht kümmern: er liebt die Förmlichkeiten nicht.«

»Ja, das merkt man.« Pawel Petrowitsch begann langsam Butter auf sein Brot zu streichen. »Wird er längere Zeit bei uns weilen?«

»Das kommt darauf an. Er fährt zu seinem Vater und hat einen Abstecher gemacht.«

»Und wo lebt sein Vater?«

»In unserem Gouvernement, etwa achtzig Werst von hier. Er hat dort ein kleines Gut. Er ist früher Regimentsarzt gewesen.«

»Nanu … ich habe mich fortwährend gefragt: wo hab' ich bloß den Namen Basarow gehört … Nikolai, erinnerst du dich nicht, diente nicht in der Division unseres Vaters ein Medikus Basarow?«

»Ich glaube, ja.«

»Ja, es stimmt. Also dieser Arzt ist sein Vater. Hm!« Pawel Petrowitsch bewegte seinen Schnurrbart. »Und was ist eigentlich der Herr Basarow selbst?« fragte er gedehnt.

»Was Basarow ist?« Arkadij lächelte. »Wenn Sie wollen, lieber Onkel, sag' ich Ihnen, was er eigentlich ist.«

»Tu mir den Gefallen, lieber Neffe.«

»Er ist Nihilist.«

»Was?« rief Nikolai Petrowitsch, während Pawel Petrowitsch das Messer mit dem Stückchen Butter an der Spitze hochhob und so verharrte.

»Er ist Nihilist«, wiederholte Arkadij.

»Nihilist!« sprach Nikolai Petrowitsch. »Das Wort kommt, soweit ich es beurteilen kann, von dem lateinischen nihil, nichts, und bezeichnet also einen Menschen, der … nichts gelten lassen will.«

»Oder vielmehr: der nichts achtet«, fiel Pawel Petrowitsch ein und wandte sich wieder der Butter zu.

»Der alles vom Standpunkt der Kritik aus beurteilt«, bemerkte Arkadij.

»Kommt das nicht auf ein und dasselbe hinaus?« fragte Pawel Petrowitsch.

»Nein, durchaus nicht. Ein Nihilist ist ein Mann, der sich vor keiner Autorität beugt, der kein einziges Prinzip auf Treu und Glauben hinnimmt, gleichviel, in wie hohem Ansehen dieses Prinzip auch stehen mag.«

»Und hältst du das für richtig?« unterbrach ihn Pawel Petrowitsch.

»Je nachdem, lieber Onkel. Dem einen bekommt das gut, dem andern sehr schlecht.«

»So ist es also? Nun, ich sehe, für uns ist das nichts. Wir Leute der alten Zeit, wir sind der Ansicht, daß man ohne Prinzipien« (Pawel Petrowitsch sprach das Wort weich aus wie im Französischen, während Arkadij das Wort Prinzip mit der Betonung auf der ersten Silbe aussprach), »daß man ohne Prinzipien, die man, wie du dich ausdrückst, auf Treu und Glauben hinnimmt, nicht einen Schritt tun, nicht atmen kann. Vous avez changé tout cela Französisch: Ihr habt all das geändert (Anm. d. Übers.). Nun, gebe euch Gott Gesundheit und den Generalsrang, und wir wollen uns begnügen, euch zu bewundern, ihr Herren … wie sagtest du doch?«

»Nihilisten«, sprach Arkadij akzentuiert.

»Ja, früher gab es Hegelisten, jetzt gibt es Nihilisten. Wir wollen zusehen, wie ihr im Nichts, im luftleeren Raum existieren werdet. Und jetzt, lieber Bruder Nikolai Petrowitsch, sei so gut und klingle; es ist Zeit, daß ich meinen Kakao trinke.«

Nikolai Petrowitsch klingelte und rief laut: »Dunjascha!« Aber statt Dunjascha erschien Fenitschka selbst auf der Terrasse. Sie war eine junge Frau von etwa dreiundzwanzig Jahren, weiß und rundlich, mit dunklem Haar und schwarzen Augen, mit roten, kindlich vollen Lippen und zarten Händchen. Sie hatte ein sauberes Kattunkleid an; ein neues blaues Tuch war um ihre rundlichen Schultern geworfen. Sie hielt in der Hand eine große Tasse Kakao, und als sie sie vor Pawel Petrowitsch hinstellte, wurde sie ganz befangen: ihr heißes Blut trieb eine rote Welle unter die feine Haut ihres anmutigen Gesichts. Sie schlug die Augen nieder und blieb, sich leicht auf die Fingerspitzen stützend, neben dem Tische stehen. Es hatte den Anschein, als ob sie sich ihres Kommens schämte, zugleich aber fühlte, daß sie ein Recht hatte zu kommen.

Pawel Petrowitsch runzelte streng die Stirn, während Nikolai Petrowitsch in Verwirrung geriet.

»Guten Morgen, Fenitschka«, stieß er durch die Zähne.

»Guten Morgen«, antwortete sie mit einer etwas leisen, aber hellen Stimme, bückte Arkadij, der ihr freundschaftlich zulächelte, von der Seite an und entfernte sich leise. Beim Gehen wiegte sie sich ein wenig in den Hüften, aber auch das stand ihr gut.

Auf der Terrasse herrschte einige Minuten lang Schweigen. Pawel Petrowitsch schlürfte seinen Kakao. Plötzlich richtete er den Kopf empor.

»Da geruht auch der Herr Nihilist zu erscheinen«, sagte er halblaut.

Tatsächlich erschien im Garten, über die Blumenbeete hinwegschreitend, Basarow. Sein leinener Überrock und seine Beinkleider waren mit Schlamm beschmutzt; um seinen alten runden Hut rankte sich eine sumpfige Schlingpflanze; in der rechten Hand hielt er einen kleinen Sack; in dem Sack bewegte sich etwas Lebendiges. Er näherte sich rasch der Terrasse, nickte und rief:

»Guten Morgen, meine Herren. Verzeihen Sie, daß ich zu spät zum Tee komme; ich bin im Augenblick wieder hier. Zunächst muß ich mich meiner Gefangenen entledigen.«

»Was haben Sie da, Blutegel?« fragte Pawel Petrowitsch.

»Nein, Frösche.«

»Pflegen Sie sie zu essen oder zu züchten?«

»Ich brauche sie für Experimente«, antwortete Basarow gleichgültig und ging ins Haus.

»Er wird sie sezieren«, bemerkte Pawel Petrowitsch. »An Prinzipien glaubt er nicht, wohl aber an Frösche.«

Arkadij warf einen bedauernden Blick auf seinen Onkel, und Nikolai Petrowitsch zuckte verstohlen die Achseln. Pawel Petrowitsch selbst fühlte, daß ihm sein Witz mißlungen war, und er begann von wirtschaftlichen Dingen und von dem neuen Verwalter zu sprechen, der am Tage vorher zu ihm gekommen war, um sich über den Arbeiter Foma zu beklagen, mit dem nichts anzufangen, der ganz außer Rand und Band geraten wäre. »Er ist ein wahrer Äsop«, sagte der Verwalter unter anderm; »überall ist er als ein widerhaariger Bursche verrufen; kaum ist er an einer Stelle, schon muß er wegen einer Dummheit seinen Abschied nehmen.«


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