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XX

Basarow schob den Kopf aus dem Wagen, und Arkadij blickte über seines Freundes Schulter hinweg und gewahrte auf der Freitreppe des Herrenhauses einen großen, hageren Mann mit zerzaustem Haar und einer feinen Adlernase. Der Mann, der einen alten, aufgeknöpften Militärrock trug, stand mit gespreizten Beinen da, rauchte aus einer langen Pfeife und blinzelte in der Sonne.

Die Pferde hielten.

»Endlich bist du da!« rief Basarows Vater, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, obwohl das Pfeifenrohr zwischen seinen Fingern geradezu hüpfte. »Komm, steig aus, steig aus, laß dich ans Herz drücken!«

Er begann seinen Sohn zu umarmen … »Jenjuscha, Jenjuscha!« ließ sich eine zitternde Frauenstimme vernehmen. Die Haustür ging weit auf, und auf der Schwelle erschien eine rundliche kleine Alte in weißer Haube und kurzem, buntem Jäckchen. Sie stieß ein »Ach« aus, wankte und wäre ohne Zweifel gefallen, wenn Basarow sie nicht aufgefangen hätte. Ihre vollen Ärmchen schlangen sich im Nu um seinen Hals, ihr Kopf drückte sich an seine Brust, und alles verharrte in Schweigen. Man hörte nur ihr verhaltenes Schluchzen.

Der alte Basarow atmete tief und blinzelte noch stärker als vorhin.

»Nun, genug, genug, Arischa, hör auf!« sagte er, nachdem er einen Blick mit Arkadij gewechselt hatte, der unbeweglich neben dem Wagen stand, während der Bauer auf dem Bock sich sogar abgewandt hatte. »Das ist ganz unnötig! Bitte, hör auf!«

»Ach, Wassilij Iwanowitsch«, lallte die alte Frau, »eine Ewigkeit habe ich ihn, mein Täubchen, meinen Jenjuschenka …« und ohne die Arme zu lösen, hob sie ihr tränenfeuchtes, zerknülltes und gerührtes Gesicht empor, blickte ihn mit einem seligen und komischen Blick an und drückte sich wieder an ihn.

»Nun ja, natürlich, das alles liegt in der Natur der Dinge«, meinte Wassilij Iwanowitsch, »nur täten wir besser, ins Haus zu gehen. Jewgenij hat ja einen Gast mitgebracht.« – »Entschuldigen Sie«, setzte er hinzu, sich an Arkadij wendend und einen Kratzfuß machend, »Sie begreifen: die weibliche Schwäche, und dann das Mutterherz …«

Aber seine eigenen Lippen und Brauen zuckten, und sein Kinn zitterte …, doch war er sichtlich bemüht, sich zu überwinden, ja sogar teilnahmlos zu erscheinen. Arkadij verbeugte sich.

»Nun komm, Mutter, wirklich«, sagte Basarow und führte die schwach gewordene alte Frau ins Haus. Nachdem er sie in einem bequemen Lehnstuhl hatte Platz nehmen lassen, umarmte er nochmals flüchtig seinen Vater und stellte ihm Arkadij vor.

»Es freut mich von Herzen, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sprach Wassilij Iwanowitsch, »nehmen Sie mit dem wenigen fürlieb; alles ist hier bei mir einfach, auf militärische Art. Arina Wlassjewna, so beruhige dich doch, ich bitte dich; welcher Kleinmut! Unser Herr Gast wird sonst eine schlechte Meinung von dir bekommen.«

»Ach, Väterchen«, brachte die alte Frau unter Tränen hervor, »ich habe nicht die Ehre, Ihren Namen und Vatersnamen zu kennen.«

»Arkadij Nikolajewitsch«, fiel Wassilij Iwanowitsch mit wichtiger Miene halblaut ein.

»Verzeihen Sie, ich bin dumm!« Die Alte schneuzte sich, und den Kopf bald nach rechts, bald nach links neigend, trocknete sie sorgfältig das eine Auge und dann das andere. »Entschuldigen Sie mich! Ich glaubte schon, ich müßte sterben, ohne ihn wiedergesehen zu haben, mein Täub...chen.«

»Und so hast du ihn denn wieder, meine Teure«, versetzte Wassilij Iwanowitsch. »Tanjuschka«, wandte er sich an ein etwa dreizehnjähriges Mädchen, das mit nackten Füßen, in grellrotem Kattunkleid schüchtern zur Tür hereinblickte, »bring der gnädigen Frau ein Glas Wasser – auf einem Tablett, hörst du? Und Sie, meine Herren«, setzte er mit einer besonderen altfränkischen Jovialität hinzu, »erlauben Sie, Sie in das Kabinett eines ausgedienten Veteranen zu bitten.«

»So laß dich doch wenigstens noch ein einziges Mal umarmen, Jenjuschenka«, stöhnte Arina Wlassjewna. Basarow bückte sich zu ihr. »Und welch ein hübscher Junge du geworden bist!«

»Nun, hübsch hin, hübsch her«, bemerkte Wassilij Iwanowitsch, »aber ein Mann ist er geworden, wie man sagt, homme fait Französisch: »ein gemachter Mann«. (Anm. d. Übers.). Und nun, hoffe ich, Arina Wlassjewna, daß, nachdem du dein mütterliches Herz gesättigt hast, du für die Sättigung unserer teuren Gäste sorgen wirst, denn wie du weißt, lebt die Nachtigall nicht vom Singen.«

Die alte Dame erhob sich vom Lehnstuhl. »Der Tisch wird augenblicklich gedeckt sein, Wassilij Iwanowitsch, ich laufe selbst in die Küche und lass' den Samowar anrichten, alles wird gleich fertig sein, alles. Hab' ich ihn doch schon drei Jahre nicht gesehen, ihm nicht zu essen, nicht zu trinken gegeben – ach, es war nicht leicht.«

»Sieh zu, Frau Wirtin, spute dich, mach deine Sache in Ehren. Und Sie, meine Herren, haben Sie die Freundlichkeit, mir zu folgen. Da kommt ja auch Timofejitsch, um dich willkommen zu heißen, Jewgenij. Freut sich ja ebenfalls, der alte Bullenbeißer. Ist's nicht so, du alter Bullenbeißer? Bitte, folgen Sie mir.«

Und Wassilij Iwanowitsch ging ihnen mit geschäftiger Miene voran, mit seinen geflickten Pantoffeln scharrend und schlurfend.

 

Sein ganzes Häuschen bestand aus sechs winzigen Zimmern. Das eine, wohin er unsere Freunde brachte, wurde das Kabinett genannt. Ein dickbeiniger Tisch, auf dem Papierstapel herumlagen, die von uraltem Staub dermaßen angedunkelt waren, daß sie wie geräuchert aussahen, nahm den ganzen Raum zwischen den beiden Fenstern ein; an den Wänden hingen Türkenflinten, Kosakenpeitschen, ein Säbel, zwei Landkarten, anatomische Zeichnungen, ein Bildnis Hufelands, ein aus Haaren geflochtenes Monogramm in schwarzem Rahmen und ein Diplom unter Glas; zwischen zwei riesigen Bücherschränken aus karelischem Birkenholz befand sich ein an mehreren Stellen durchgescheuerter und zerrissener Lederdiwan; auf den Regalen häuften sich unordentlich Bücher, Schächtelchen, ausgestopfte Vögel, Phiolen und Fläschchen; in einer Ecke des Zimmers stand eine zerbrochene Elektrisiermaschine.

»Ich habe Sie gewarnt, mein verehrter Besucher«, begann Wassilij Iwanowitsch, »daß wir hier sozusagen im Biwak leben …«

»So hör doch auf mit deinen Entschuldigungen!« fiel ihm Basarow ins Wort. »Kirsanow weiß sehr wohl, daß wir keine Krösusse sind und daß du keinen Palast besitzt. Wo wollen wir ihn unterbringen? – das ist die Frage.«

»Sei unbesorgt, Jewgenij. Ich habe im Seitengebäude ein ausgezeichnetes Stübchen – dein Freund wird sich dort wohlfühlen.«

»Du hast also einen Flügel angebaut?«

»Gewiß doch; dort, wo das Bad ist«, mischte sich Timofejitsch in die Unterhaltung.

»Das heißt, neben dem Baderaum«, beeilte sich Wassilij Iwanowitsch hinzuzufügen. »Jetzt ist ja Sommer … Ich gehe geschwind hin und lasse alles herrichten, und du, Timofejitsch, könntest inzwischen ihr Gepäck besorgen. Dir, Jewgenij, stelle ich natürlich mein Kabinett zur Verfügung. Suum cuique Lateinisch: »Jedem das Seine«.«(Anm. d. Übers.)

»Seht mal an! Ein amüsanter und herzensguter Alter!« rief Basarow, sobald Wassilij Iwanowitsch sich entfernt hatte. »Genau so ein Sonderling wie dein Vater, aber in anderer Art. Er schwatzt nur ein wenig zu viel.«

»Deine Mutter scheint mir ebenfalls eine ausgezeichnete Frau zu sein«, bemerkte Arkadij.

»Ja, sie ist ohne Arg. Du sollst einmal sehen, was für ein Essen sie uns auftischt.«

»Wir hatten Sie heute nicht erwartet, Väterchen, haben kein Rindfleisch besorgt«, sagte Timofejitsch, der gerade Basarows Gepäck hereinschleppte.

»Wir werden auch ohne Rindfleisch auskommen. ›Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren‹ und ›Armut ist keine Schande‹, sagt das Sprichwort.«

»Wieviel Seelen besitzt dein Vater?« fragte auf einmal Arkadij.

»Das Gut gehört nicht ihm, sondern meiner Mutter; soweit ich mich erinnere, hat es fünfzehn Seelen.«

»Im ganzen zweiundzwanzig«, bemerkte Timofejitsch mit unzufriedener Miene.

Pantoffelschlurfen wurde hörbar, und Wassilij Iwanowitsch erschien von neuem.

»In wenigen Minuten wird Ihr Zimmer zu Ihrem Empfang bereit sein«, rief er feierlich. »Arkadij … Nikolajewitsch? Das ist doch Ihr werter Name? Und da ist Ihre Bedienung«, fügte er hinzu und zeigte auf einen Jungen, den er mitgebracht hatte, einen Jungen mit kurzgeschnittenem Haar, in blauem, an den Ärmeln zerrissenem Kaftan und in nicht für ihn gemachten Stiefeln. »Er heißt Fedjka. Nehmen Sie mit dem wenigen fürlieb, ich muß es wiederholen, obgleich mein Sohn es mir verboten hat. Übrigens versteht er sich gut darauf, eine Pfeife zu stopfen. Sie rauchen doch?«

»Ich rauche meist Zigarren«, antwortete Arkadij.

»Und daran tun Sie sehr gut. Ich gebe Zigarren ebenfalls den Vorzug, aber es ist außerordentlich schwer, sie in unserem Krähwinkel zu bekommen.«

»Nun hör doch aber mit deinem Gejammer auf«, fiel ihm Basarow wieder ins Wort. »Setz dich lieber hierher auf den Diwan und laß dich beäugen.«

Wassilij Iwanowitsch brach in ein Lachen aus und nahm Platz. Er glich äußerlich seinem Sohne sehr, nur war seine Stirn niedriger und schmaler und sein Mund etwas breiter, er war beständig in Bewegung, er bewegte fortwährend die Schultern, als ob ihm der Ärmelausschnitt seines Rockes zu eng wäre, er blinzelte, hüstelte und rührte die Finger, während sein Sohn sich durch eine gewisse nachlässige Unbeweglichkeit auszeichnete.

»Gejammer!« wiederholte Wassilij Iwanowitsch. »Glaub nicht etwa, Jewgenij, daß ich sozusagen das Mitleid unseres Gastes erregen möchte, weil wir hier in einem so weltentlegenen Nest leben. Ich bin im Gegenteil der Ansicht, daß es für einen denkenden Menschen keine weltentlegenen Nester gibt. Wenigstens tue ich mein möglichstes, um nicht, wie man zu sagen pflegt, Schimmel anzusetzen und hinter meiner Epoche zurückzubleiben.«

Wassilij Iwanowitsch zog aus seiner Tasche ein neues, gelbseidenes Schnupftuch, das er sich eingesteckt hatte, als er in Arkadijs Zimmer eilte, und es in der Luft schwenkend, fuhr er fort:

»Ich will schon gar nicht davon reden, daß ich beispielsweise – natürlich nicht ohne empfindliche Opfer für mich – bei meinen Bauern Pachtzins eingeführt und mein Land gegen Halbpacht in Naturleistung abgetreten habe. Ich hielt es für meine Pflicht und Schuldigkeit, die Vernunft selbst gebietet, in dem vorliegenden Fall so zu handeln, obgleich die anderen Eigentümer nicht einmal daran denken; ich spreche von den Wissenschaften, von der Bildung.«

»Ja, ich sehe, du hast hier den ›Gesundheitsfreund‹ für das Jahr 1855«, bemerkte Basarow.

»Ein früherer Kollege schickt ihn mir aus alter Erinnerung«, beeilte sich Wassilij Iwanowitsch zu bemerken, »aber wir haben auch zum Beispiel von der Phrenologie eine Vorstellung«, fügte er hinzu, indem er sich übrigens hauptsächlich an Arkadij wandte und auf einen auf dem Schrank stehenden kleinen Gipskopf hinwies, der in numerierte viereckige Felder eingeteilt war; »auch Namen wie Schönlein und Rademacher sind uns nicht unbekannt geblieben.«

»Im *** Gouvernement glaubt man noch an Rademacher?« fragte Basarow.

Wassilij Iwanowitsch bekam einen Hustenanfall.

»Im Gouvernement … Natürlich werdet ihr es besser wissen, meine Herren, wie wollten wir es auch mit euch aufnehmen? Ihr seid ja unser Nachwuchs. Zu meiner Zeit kam uns der Humoralist Vertreter der Humoralpathologie. (Anm. d. Übers.)Hoffmann oder Brown mit seinem Vitalismus sehr lächerlich vor, und doch hatten sie einst viel von sich reden gemacht. Ein neuer Gelehrter wird Rademacher verdrängt haben, und ihr verehrt ihn, aber zwanzig Jahre später wird man auch über ihn lachen.«

»Zu deinem Trost kann ich dir sagen«, sprach Basarow, »daß wir jetzt über die Medizin überhaupt lachen und niemanden verehren.«

»Wie ist das möglich? Du willst ja Arzt werden?«

»Freilich – aber das eine schließt das andere nicht aus.«

Wassilij Iwanowitsch stocherte mit seinem Mittelfinger im Pfeifenkopf, in dem noch etwas heiße Asche übriggeblieben war.

»Na, mag sein, mag sein, ich will nicht streiten. Wer bin ich schließlich? Ein ausgedienter Stabsarzt, voilà tout Französisch.: »das ist alles!« (Anm. d. Übers.)! Nun bin ich unter die Landwirte gegangen. – Ich habe in der Brigade Ihres Herrn Großvaters gedient«, wandte er sich wieder an Arkadij, »jawohl, ja, ich habe in meinem Leben manches erlebt. In was für Gesellschaften habe ich mich nicht bewegt, mit wem nicht alles verkehrt! Ich selbst, ja ich, wie ich hier stehe und sitze, habe dem Fürsten Wittgenstein und dem Dichter Shukowski den Puls gefühlt! Auch habe ich in der Südarmee die Männer vom Vierzehnten Gemeint sind die Dekabristen, die Teilnehmer am Aufstande vom 14. (25.) Dezember 1825. (Anm. d. Übers.) kennengelernt – Sie verstehen mich.« (Hier preßte Wassilij Iwanowitsch vielsagend die Lippen aufeinander.) »Sie alle habe ich vom Ersten bis zum Letzten gekannt. Übrigens ging mich ja die Sache nichts an; unsereiner hat mit seiner Lanzette zu hantieren, und damit basta! Ihr Herr Großvater, das muß ich sagen, war ein sehr achtungswerter Mann, ein echter Soldat.«

»Er war recht blöde, gesteh es nur«, brachte Basarow träge hervor.

»Aber Jewgenij, wie kannst du dich nur so ausdrücken! Sei doch nicht so respektlos! … Gewiß, General Kirsanow gehörte nicht zu denen …«

»Nun, laß ihn in Ruhe!« fiel ihm Basarow ins Wort. »Wie ich hierherfuhr, habe ich mit Vergnügen bemerkt, daß sich dein Birkenwäldchen ausgezeichnet gemacht hat.«

Wassilij Iwanowitsch wurde lebhaft.

»Und wenn du erst unseren Garten sähst! Ich habe selber jedes Bäumchen gepflanzt! Da gibt es Obst und Beeren und allerhand Arzneipflanzen. Ihr mögt anstellen, was ihr wollt, meine jungen Herren, aber der alte Paracelsus hat dennoch eine tiefe Wahrheit ausgesprochen: in herbis, verbis et lapidibus Lateinisch: in Kräutern, Worten (= Ratschlägen) und Steinen. (Anm. d. Übers.) … Wie du weißt, habe ich bereits die Praxis aufgegeben, aber zwei-, dreimal in der Woche muß ich doch zu meinem alten Handwerk zurückkehren. Man kommt, mich um Rat zu fragen – da kann ich doch die Leute nicht vor die Tür setzen. Es geschieht, daß mich arme Leute in Anspruch nehmen. Zudem gibt es hier überhaupt keine Ärzte. Wir haben hier einen Nachbar, einen Major a. D., der sich ebenfalls aufs Kurieren verlegt hat. Ich erkundige mich: hat er Medizin studiert? ›Nein‹, sagt man mir, ›er hat nicht studiert, er tut es eher aus Menschenliebe!‹ … Ha–ha! aus Menschenliebe! Wie gefällt euch das? Ha–ha! Ha–ha!«

»Fedjka, stopf mir die Pfeife!« sagte Basarow rauh.

»Wir haben noch einen anderen Doktor hier«, fuhr Wassilij Iwanowitsch mit einer Art Verzweiflung fort, »da geht er zu einem Kranken, und der ist schon ad patres Lateinisch: zu seinen Vätern (gegangen), d. h. gestorben. (Anm. d. Übers.); der Diener will den Doktor nicht hereinlassen, er sagt: ›Jetzt brauchen wir Sie nicht mehr.‹ Der Mann hat das nicht erwartet, er wird ganz verwirrt und fragt: ›Hat der Kranke vor dem Tode den Schlucken gehabt?‹ – ›Jawohl.‹ – ›Stark?‹ – ›Ja, sehr stark.‹ – ›Ah, dann ist alles in Ordnung.‹ Und fort ist er. Ha–ha–ha!«

Nur der Alte lachte; Arkadij zeigte ein Lächeln auf seinem Gesicht, während Basarow nur Tabakswolken vor sich hinblies. In dieser Weise zog sich die Unterhaltung etwa eine Stunde hin; Arkadij hatte inzwischen sein Zimmer aufgesucht, das sich als Vorraum zum Badezimmer erwies, aber sehr gemütlich und sauber war. Endlich erschien Tanjuscha und meldete, das Essen sei angerichtet.

Wassilij Iwanowitsch erhob sich als erster.

»Bitte, meine Herren! Verzeiht, wenn ich euch angeödet habe. Meine Hausfrau wird euch wohl besser gefallen als ich.«

Das Essen, obgleich in aller Eile zubereitet, war sehr gelungen, es war sogar reichlich; nur der Wein ließ zu wünschen übrig: der fast schwarze Xeres, von Timofejitsch in der Stadt bei einem Kaufmann seiner Bekanntschaft eingekauft, hatte einen leichten Nachgeschmack von Kupfer oder Geigenharz; auch waren die Fliegen sehr lästig. Sonst pflegte ein kleiner Hofjunge sie mit einem langen, grünen Zweig fortzujagen; aber diesmal hatte ihn Wassilij Iwanowitsch fortgeschickt, aus Furcht, die junge Generation könnte es mißbilligen. Arina Wlassjewna hatte sich herausgeputzt: sie setzte eine hohe Haube mit Seidenbändern auf und schlug einen blaugemusterten Schal um ihre Schultern. Kaum erblickte sie ihren Jenjuschka, so standen ihr von neuem die Tränen in den Augen; aber ihr Mann brauchte ihr diesmal nicht ins Gewissen zu reden: sie selbst trocknete ihre Tränen so schnell wie möglich, um den Schal nicht zu benetzen. Nur die jungen Leute aßen: die Hausbewohner hatten schon längst zu Mittag gespeist. Mit der Bedienung war Fedjka beauftragt, den seine ungewöhnlichen Stiefel offenbar stark behinderten; er wurde unterstützt von einer einäugigen Frau mit männlichen Zügen, namens Anfissuschka, die die Ämter der Haushälterin, der Geflügelzüchterin und der Wäscherin versah. Während der ganzen Mahlzeit ging Wassilij Iwanowitsch im Zimmer auf und ab und setzte mit einem glückstrahlenden, ja seligen Gesichtsausdruck auseinander, welche schweren Befürchtungen die Politik des Kaisers Napoleon und die Verworrenheit der italienischen Frage in ihm erweckten. Arina Wlassjewna schien Arkadij nicht zu sehen, aber sie forderte ihn immer wieder zum Essen auf. Ihrem runden Gesicht verliehen die kleinen, schwellenden, kirschroten Lippen und die Muttermale auf den Wangen und über den Brauen einen sehr gutmütigen Ausdruck. Auf die Faust gestützt, wandte sie kein Auge von ihrem Sohne und seufzte in einem fort; sie hätte um ihr Leben gern erfahren, wie lange er zu bleiben gedenke, aber sie wagte es nicht, ihn zu fragen. ›Am Ende sagt er: nur zwei Tage?‹ dachte sie, und ihr Herz krampfte sich zusammen. Nach dem Braten verschwand Wassilij Iwanowitsch auf einen Augenblick und kam bald mit einer entkorkten halben Flasche Champagner zurück. »Siehe da!« rief er aus, »obgleich wir in der Wildnis leben, so haben wir doch bei feierlichen Gelegenheiten etwas, was das Herz erfreut.« Er füllte zwei Pokale und ein Gläschen, brachte einen Trinkspruch auf das Wohl der »unschätzbaren Gäste« aus, spülte den Inhalt seines Pokals auf Soldatenart hinunter und zwang Arina Wlassjewna, das Gläschen bis auf die Neige zu leeren. Als die Reihe ans Eingemachte kam, hielt es Arkadij, der nichts Süßes mochte, doch für seine Pflicht, von vier verschiedenen, erst vor kurzem eingekochten Sorten Konfitüren zu kosten, um so mehr, als sich Basarow kurzweg weigerte und sofort eine Zigarre anzündete. Dann erschien der Tee mit Sahne, Butter und Brezeln auf der Bildfläche, darauf führte Wassilij Iwanowitsch alle in den Garten, um den schönen Abend zu genießen. Als sie an einer Bank vorbeikamen, raunte er Arkadij ins Ohr: »An diesem Platz liebe ich zu philosophieren und den Sonnenuntergang zu bewundern: so ziemt es sich für einen Eremiten. Und dort, etwas weiter weg, habe ich die Bäume gepflanzt, die Horaz liebte.«

»Was sind das für Bäume?« fragte Basarow, aufmerksam geworden.

»Nun … Akazien.«

Basarow begann zu gähnen.

»Ich glaube, es ist bald Zeit, daß unsere Reisenden sich Morpheus' Armen anvertrauen«, bemerkte Wassilij Iwanowitsch.

»Das heißt, sich schlafen legen«, versetzte Basarow. »Ein sehr vernünftiger Ausspruch. Ja, es ist höchste Zeit.«

Als er seiner Mutter gute Nacht wünschte, küßte er sie auf die Stirn, sie aber umarmte ihn und bekreuzigte ihn hinter seinem Rücken dreimal. Wassilij Iwanowitsch geleitete Arkadij in sein Zimmer und wünschte ihm »die wohltuende Ruhe, die auch ich in Ihrem glücklichen Alter genoß«. In der Tat schlief Arkadij in seinem Badevorraum ausgezeichnet; es duftete darin nach Pfefferminz, und hinter dem Ofen zirpten einschläfernd zwei Heimchen um die Wette. Aus Arkadijs Zimmer begab sich Wassilij Iwanowitsch in sein eigenes Kabinett, kauerte sich zu den Füßen seines Sohnes auf den Diwan und machte Anstalten, ein wenig mit ihm zu plaudern; aber Basarow schickte ihn augenblicklich fort, indem er ihm sagte, er sei schläfrig; er schlief aber bis zum Morgen nicht ein. Mit weitaufgerissenen Augen starrte er in verhaltener Wut in die Dunkelheit: Kindheitserinnerungen hatten keine Macht über ihn, auch war er seine letzten bitteren Eindrücke noch nicht losgeworden. Arina Wlassjewna betete erst nach Herzenslust; dann unterhielt sie sich lange, lange mit Anfissuschka, die, wie angewurzelt vor ihrer Herrin stehend und ihr einziges Auge auf sie geheftet, ihr in geheimnisvollem Flüsterton alle ihre Beobachtungen und Vermutungen über Jewgenij Wassiljewitsch übermittelte. Vor Freude, vom Wein und vom Tabakrauch war der alten Frau ganz schwindlig geworden; ihr Mann wollte mit ihr sprechen, mußte es aber aufgeben.

Arina Wlassjewna war der richtige Frauentyp des russischen Kleinadels aus alter Zeit; sie hätte zweihundert Jahre früher, in den altmoskowitischen Zeiten leben sollen. Sie war sehr gottesfürchtig und gefühlvoll und glaubte auch an alle möglichen Vorbedeutungen, Wahrsagungen, Besprechungen und Träume; sie glaubte an Besessene, an Haus- und Waldgeister, an unheilbringende Begegnungen, an den bösen Blick, an Hausmittel, an das Gründonnerstagssalz, an den baldigen Weltuntergang; sie glaubte, daß der Buchweizen gut gedeihen werde, wenn am Ostersonntag während der Mitternachtsmesse die Kerzen nicht verlöschten, und daß die Pilze nicht mehr wüchsen, sobald der Blick eines menschlichen Auges auf sie fiele; sie glaubte, daß der Teufel sich mit Vorliebe an wasserreichen Orten aufhielte, und daß alle Juden auf der Brust einen Blutfleck hätten; sie fürchtete sich vor Mäusen, Nattern, Fröschen, Spatzen, Blutegeln, dem Donner, kaltem Wasser, Zugwind, Pferden, Ziegenböcken, rothaarigen Menschen und schwarzen Katzen und hielt Heimchen und Hunde für unreine Tiere; sie aß weder Kalbfleisch noch Tauben, noch Krebse, noch Käse, noch Spargel, noch Kartoffeln, noch Hasenfleisch, noch Wassermelonen, weil eine angeschnittene Melone an das Haupt Johannes des Täufers erinnere; und von Austern sprach sie nicht anders als mit Schaudern; sie aß gern – und fastete strenge; sie schlief zehn Stunden täglich – aber legte sich überhaupt nicht nieder, wenn Wassilij Iwanowitsch Kopfweh bekam; sie hatte kein Buch gelesen, außer »Alexis, oder die Hütte im Walde«; sie schrieb einen, höchstens zwei Briefe im Jahr und verstand sich in der Wirtschaft ausgezeichnet auf das Trocknen und Einmachen von Obst, obgleich sie mit ihren eigenen Händen nichts anfaßte und sich überhaupt nur ungern von der Stelle rührte. Arina Wlassjewna war herzensgut und in ihrer Art durchaus nicht dumm. Sie wußte, daß es in der Welt Herren gibt, die zu befehlen haben, und das gemeine Volk, das zum Dienen dasei – und darum hatte sie weder gegen Liebedienerei noch gegen Verbeugungen bis zur Erde etwas einzuwenden; aber die Untergebenen behandelte sie freundlich und milde, ließ keinen Bettler ohne Almosen gehen und verurteilte nie jemanden, obgleich sie manchmal gerne klatschte. In ihrer Jugend war sie sehr niedlich gewesen, hatte Klavizimbel gespielt und ein wenig Französisch parliert; aber während des langen Herumstreifens mit ihrem Mann, den sie gegen ihren Willen geheiratet hatte, war sie in die Breite gegangen und hatte sowohl Musik als auch Französisch vergessen. Ihren Sohn liebte und fürchtete sie unaussprechlich; die Verwaltung ihres Gutes überließ sie Wassilij Iwanowitsch – und ließ ihn schalten und walten; sobald ihr Mann von den bevorstehenden Reformen und seinen Plänen zu reden begann, ächzte sie, fächelte sich mit dem Taschentuch und zog vor Schrecken die Brauen immer höher und höher. Sie war argwöhnisch, sah ständig irgendein großes Unglück im Anzug und brach sofort in Tränen aus, sobald ihr etwas Trauriges in den Sinn kam … Frauen dieser Art fangen an, selten zu werden. Gott weiß, ob man darüber froh sein soll!


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