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XVI

Das Landhaus, das Anna Sergejewna bewohnte, befand sich auf einem sanft ansteigenden, frei liegenden Hügel in der Nähe einer gelb angestrichenen, steinernen Kirche mit grünem Dach, weißen Säulen und einer Freskomalerei über dem Hauptportal, die die »Auferstehung Christi« in »italienischem« Geschmack darstellte. Besonders bemerkenswert war durch seine rundlichen Formen ein im Vordergrund lagernder brauner Krieger mit einem Helm auf dem Kopf. Hinter der Kirche zog sich in zwei Reihen das langgestreckte Dorf hin, über dessen Strohdächern man hier und dort Schornsteine sah. Das Herrenhaus war in demselben Stil erbaut wie die Kirche, dem Stil, der bei uns unter dem Namen »Alexanderscher Stil« bekannt ist; auch das Haus war gelb angestrichen, es hatte ebenfalls ein grünes Dach, weiße Säulen und eine mit Wappen geschmückte Fassade. Der Gouvernementsarchitekt hatte diese beiden Gebäude zur Zufriedenheit des seligen Odinzow ausgeführt, der keine nichtsnutzigen und, wie er sich ausdrückte, eigenmächtigen Neuerungen leiden mochte. Dem Haus schlossen sich von beiden Seiten die dunklen Bäume eines altmodischen Gartens an, eine Allee geschorener Tannen führte zum Hauseingang.

Unsere Freunde wurden im Vorzimmer von zwei kräftigen livrierten Lakaien empfangen; der eine von ihnen eilte sofort davon, um den Haushofmeister zu holen. Dieser, ein dicker Mann in schwarzem Frack, erschien unverzüglich und geleitete die Gäste über eine teppichbelegte Treppe in ein besonderes Zimmer, wo sich bereits zwei Betten samt allen erforderlichen Toilettengegenständen befanden. Es herrschte offenbar Ordnung im Hause: alles war sauber, überall war ein gewisser anständiger Geruch zu spüren, gerade wie in den Empfangszimmern der Minister.

»Anna Sergejewna lassen bitten, gefälligst in einer halben Stunde bei ihr erscheinen zu wollen«, meldete der Haushofmeister. »Hätten Sie vorläufig irgendwelche Befehle zu erteilen?«

»Nein, mein Bester, wir haben keine Befehle«, antwortete Basarow, »es sei denn, Sie wollten geruhen, uns ein Gläschen Schnaps zu bringen.«

»Zu Befehl!« erwiderte der Haushofmeister nicht ohne Verwunderung und trat in seinen knarrenden Stiefeln wieder ab.

»Welch ein grand genre Französisch: großer Stil. (Anm. d. Übers.)!« rief Basarow, »so wird das ja wohl in eurer Sprache genannt? Die reine Herzogin.«

»Eine schöne Herzogin«, versetzte Arkadij, »lädt da gleich beim ersten Anhieb zwei mächtige Aristokraten ein, wie wir beide es sind.«

»Besonders ich, ein angehender Arzt, Sohn eines Arztes und Enkel eines Küsters … Du weißt doch: ich bin der Enkel eines Küsters …«

»Wie Speranski Gemeint ist U. M. Speranski (1772–1839), bekannter Staatsmann unter Alexander I. und Urheber verschiedener fortschrittlicher Reformen. (Anm. d. Übers.)«, setzte Basarow nach kurzem Schweigen hinzu, die Lippen kräuselnd. »Aber verwöhnt hat sich diese Dame; ach, wie verwöhnt! Sollen wir am Ende Fracks anziehen?«

Arkadij zuckte nur mit den Achseln … aber auch er fühlte sich nicht ganz geheuer.

Eine halbe Stunde später gingen Basarow und Arkadij in das Gastzimmer hinunter. Es war ein geräumiges, hohes, ziemlich luxuriös, aber ohne besonderen Geschmack ausgestattetes Gemach. Die massiven, kostbaren Möbel standen in der üblichen steifen Reihenfolge an den Wänden entlang, die mit brauner, goldgemusterter Tapete bedeckt waren; der verstorbene Odinzow hatte sie sich durch Vermittlung eines Kommissionärs, eines befreundeten Weinhändlers aus Moskau, kommen lassen. Über dem mittleren Kanapee hing das Bildnis eines aufgedunsenen blonden Mannes, der, wie es schien, feindselig auf die Gäste hinabschaute.

»Das dürfte wohl er selbst sein«, raunte Basarow seinem Freunde zu, und dann, die Nase rümpfend, setzte er hinzu: »Sollen wir nicht lieber Fersengeld geben?«

In diesem Augenblick trat aber die Dame vom Hause ein. Sie trug ein leichtes Baregekleid; ihr glattes, hinter die Ohren gestrichenes Haar verlieh ihrem reinen, frischen Gesicht einen mädchenhaften Ausdruck.

»Ich danke Ihnen, daß Sie Wort gehalten haben«, begann sie. »Seien Sie meine Gäste, es ist nicht so übel hier. Ich werde Sie mit meiner Schwester bekannt machen; sie spielt gut Klavier. Ihnen, Monsieur Basarow, ist das gleichgültig, aber Sie, Monsieur Kirsanow, lieben, glaube ich, Musik; außer meiner Schwester lebt bei mir eine alte Tante, und einer unserer Nachbarn kommt zuweilen zu einer kleinen Kartenpartie herüber – das ist unsere ganze Gesellschaft. Und nun lassen Sie uns Platz nehmen.«

Frau Odinzowa trug diese kleine Rede besonders ausdrucksvoll vor, als ob sie sie auswendig gelernt hätte; dann widmete sie sich Arkadij. Es stellte sich heraus, daß ihre Mutter Arkadijs Mutter gekannt hatte und sogar die Vertraute ihrer Liebe zu Nikolai Petrowitsch gewesen war. Arkadij sprach mit Leidenschaft von seiner verstorbenen Mutter, während Basarow in einem Album blätterte. ›Wie zahm ich geworden bin‹, dachte er bei sich.

Ein schöner Windhund mit hellblauem Halsband kam ins Zimmer gelaufen, mit den Krallen auf dem Fußboden klappernd, ihm folgte ein etwa achtzehnjähriges Mädchen mit schwarzem Haar, gebräuntem Teint und mit einem rundlichen aber angenehmen Gesicht und kleinen, dunklen Augen. Sie hielt einen Korb voll Blumen in der Hand.

»Da ist meine Katja«, sagte Frau Odinzowa, mit einer Kopfbewegung auf ihre Schwester hindeutend.

Katja machte einen leichten Knicks, nahm an der Seite ihrer Schwester Platz und begann die Blumen zu ordnen. Das Windspiel, das Fifi hieß, kam wedelnd auf die beiden Gäste zu und stieß jedem von ihnen seine kalte Schnauze gegen die Hand.

»Hast du sie alle selbst gepflückt?« fragte Frau Odinzowa.

»Ja«, antwortete Katja.

»Kommt Tante zum Tee?«

»Gewiß.«

Beim Sprechen lächelte Katja sehr anmutig, scheu und offenherzig, wobei sie mit einer gewissen amüsanten Strenge aufblickte. Alles an ihr war unreif, jung: sowohl die Stimme und der leichte Flaum ihres Gesichts wie auch die rosaroten Hände mit den weißlichen Kreisen auf den Handflächen und die etwas zusammengezogenen Schultern … Sie errötete in einem fort und holte rasch Atem.

Frau Odinzowa wandte sich Basarow zu.

»Sie betrachten die Bildchen wohl anstandshalber, Jewgenij Wassilitsch«, begann sie. »Das wird Sie nicht interessieren. Rücken Sie lieber näher zu uns heran und lassen Sie uns über irgend etwas diskutieren.«

Basarow trat näher.

»Worüber sollen wir diskutieren?« fragte er.

»Worüber Sie wollen. Ich warne Sie, ich bin sehr streitlustig.«

»Sie?«

»Ja, ich. Das scheint Sie zu wundern. Warum denn?«

»Weil Sie, soweit ich es beurteilen kann, ein ruhiges und kühles Gemüt haben, zum Streiten aber gehört Leidenschaft.«

»Wie wollen Sie mich so schnell kennengelernt haben? Erstens bin ich ungeduldig und beharrlich – fragen Sie nur Katja; und außerdem lasse ich mich sehr leicht hinreißen.«

Basarow sah Anna Sergejewna an.

»Wohl möglich, Sie müssen es besser wissen. Sie wollen also diskutieren, ich bin bereit. Ich habe mir in Ihrem Album die Ansichten der Sächsischen Schweiz angesehen, und da meinten Sie, das könnte mich nicht interessieren. Sie haben das gesagt, weil Sie annahmen, ich hätte keinen Sinn für Kunst, und Sie haben sich in der Tat nicht geirrt; aber diese Ansichten können mich vom geologischen Standpunkt, zum Beispiel vom Standpunkt der Gebirgsformationen aus, interessieren.«

»Verzeihung, als Geologe werden Sie eher nach einem Buch, einem Spezialwerk greifen, nicht aber nach Zeichnungen.«

»Eine Zeichnung zeigt mir anschaulich das, was in einem Buch ganze zehn Seiten erfordert.«

Anna Sergejewna schwieg ein Weilchen.

»Sie haben also wirklich nicht die leiseste Spur von Kunstsinn?« sagte sie, indem sie ihren Ellenbogen auf den Tisch stützte und durch diese Bewegung ihr Gesicht Basarow näherte. »Wie können Sie denn ohne ihn auskommen?«

»Wozu brauchen wir ihn, wenn ich fragen darf?«

»Wär's auch nur, um sich in den Menschen auszukennen und sie studieren zu können.«

Basarow lächelte etwas ironisch.

»Erstens gibt es dazu eine Lebenserfahrung; und zweitens muß ich Ihnen sagen, daß es nicht der Mühe wert ist, einzelne Personen zu studieren. Alle Menschen gleichen einander, körperlich sowohl wie geistig; jeder von uns hat Gehirn, Milz, Herz, Lungen usw. von der gleichen Beschaffenheit; und auch die sogenannten moralischen Eigenschaften sind bei allen Menschen gleich: die kleinen Abweichungen haben nichts zu bedeuten. Ein einziger Mensch genügt, um alle anderen zu beurteilen. Die Menschen sind wie die Bäume im Wald: keinem einzigen Botaniker würde es einfallen, sich mit jeder einzelnen Birke zu befassen.«

Katja, die bedächtig Blume an Blume reihte, richtete erstaunt die Augen auf Basarow; als sie seinem raschen, lässigen Blick begegnete, errötete sie bis an die Ohren. Anna Sergejewna schüttelte den Kopf.

»Die Bäume im Wald!« wiederholte sie. »Ihrer Meinung nach gibt es also keinen Unterschied zwischen dem dummen und dem geistvollen, zwischen dem guten und dem schlechten Menschen?«

»Doch, genau so wie zwischen dem kranken und dem gesunden. Die Lunge eines Schwindsüchtigen ist nicht in demselben Zustand wie Ihre oder meine, obgleich ihr Bau derselbe ist. Wir kennen annähernd die Ursachen körperlicher Gebrechen; die moralischen Krankheiten aber entspringen schlechter Erziehung, all den Albernheiten, mit denen man von Kindheit an den Menschen die Köpfe vollpfropft, kurzum, dem abscheulichen Zustand der Gesellschaft. Man verbessere die Gesellschaft, und es wird keine Krankheiten mehr geben.«

Basarow brachte das alles mit einer Miene vor, als ob er im stillen dachte: ›Es ist mir gleich, ob ihr mir glaubt oder nicht!‹ Er glättete sich langsam mit seinen langen Fingern den Backenbart, während seine Blicke durch das Zimmer schweiften.

»Und Sie glauben«, sprach Anna Sergejewna, »wenn die Gesellschaft verbessert ist, dann wird es keine dummen und schlechten Menschen mehr geben?«

»Wenigstens wird es bei einer richtigen Organisation der Gesellschaft vollständig gleichgültig sein, ob ein Mensch dumm oder klug, schlecht oder gut ist.«

»Ja, ich verstehe; alle werden die gleiche Milz haben.«

»Ganz recht, gnädige Frau.«

Frau Odinzowa wandte sich an Arkadij.

»Und Ihre Meinung, Arkadij Nikolajewitsch?« fragte sie.

»Ich bin mit Jewgenij einverstanden«, antwortete er.

Katja sah ihn verstohlen an.

»Sie setzen mich in Erstaunen, meine Herren«, erwiderte Frau Odinzowa, »aber wir werden darauf noch zurückkommen. Ich höre, Tantchen kommt grade zum Tee; wir müssen ihre Ohren schonen.«

Frau Odinzowas Tante, die Fürstin Ch..., ein dürres Frauchen mit zusammengeschrumpftem, faustgroßem Gesicht und starren, boshaften Augen unter einer grauen Haartour, trat ins Zimmer, machte vor den Gästen eine leichte Verbeugung und ließ sich in einen weiten, samtbezogenen Lehnstuhl sinken, auf dem niemand außer ihr sitzen durfte. Katja stellte ihr den Schemel unter die Füße; die Alte dankte ihr nicht, blickte sie nicht einmal an, sie bewegte nur die Hände unter dem gelben Schal, der ihren schmächtigen Körper fast ganz einhüllte. Die Fürstin liebte die gelbe Farbe: sogar die Bänder ihrer Haube waren hellgelb.

»Wie haben Sie geschlafen, liebe Tante?« fragte Frau Odinzowa mit lauter Stimme.

»Wieder ist dieser Hund hier«, gab die Alte brummig zur Antwort, und als sie merkte, daß Fifi einige unentschlossene Schritte auf sie zu tat, schrie sie: »Fort, fort!«

Katja rief das Tier und öffnete ihm die Tür.

Fifi stürzte vergnügt hinaus, in der Hoffnung, man würde sie spazierenführen, als sie sich aber allein vor der Tür sah, begann sie zu scharren und zu winseln. Die Fürstin runzelte die Stirn, Katja wollte hinausgehen …

»Ich glaube, der Tee ist fertig«, meinte Frau Odinzowa. »Meine Herren, wenn ich bitten darf? Liebe Tante, bitte zum Tee.«

Die Fürstin erhob sich stillschweigend vom Lehnstuhl und verließ als erste den Salon. Alle folgten ihr in das Speisezimmer. Ein Bedienter in Kosakentracht rückte geräuschvoll vom Tisch einen mit Kissen ausgelegten, ebenfalls ausschließlich für die Fürstin bestimmten Sessel ab, in den sie sich niederließ; Katja, die den Tee ausschenkte, reichte ihr zuerst die wappengeschmückte Tasse. Die Alte legte sich Honig in die Tasse (sie fand, Tee mit Zucker zu trinken, sei ebenso sündhaft wie kostspielig, obwohl sie selber keine Kopeke für etwas ausgab) und fragte plötzlich mit heiserer Stimme:

»Und was schreibt Fürst Iwan?«

Niemand antwortete ihr. Basarow und Arkadij merkten bald, daß man sich um sie nicht kümmerte, wenn man sie auch achtungsvoll behandelte. ›Sie wird aus Wichtigtuerei gehalten, weil sie Fürstenbrut ist‹, dachte Basarow … Nach dem Tee schlug Anna Sergejewna einen Spaziergang vor; aber ein leichter Regen begann, und so kehrte die ganze Gesellschaft, mit Ausnahme der Fürstin, in den Salon zurück. Der Nachbar, der gern Karten spielte, traf ein, ein gewisser Porfiri Platonytsch, ein dickliches, grauhaariges Männchen mit kurzen, gleichsam gedrechselten Beinchen, eine zuvorkommende, lachlustige Person. Anna Sergejewna, die fast nur mit Basarow sprach, fragte ihn, ob er Lust habe, sich mit ihnen auf alte Weise im Preferencespiel zu messen. Basarow bejahte die Frage, wobei er meinte, er müsse sich beizeiten auf seine Laufbahn als Provinzarzt vorbereiten.

»Nehmen Sie sich in acht!« bemerkte Anna Sergejewna, »Porfirij Platonytsch und ich werden Sie schlagen. Und du, Katja«, setzte sie hinzu, »spiel doch Arkadij Nikolajewitsch etwas vor; er liebt Musik, und wir werden dir ebenfalls zuhören.«

Katja trat unwillig an das Klavier; und obgleich Arkadij Musik wirklich liebte, folgte er ihr nur ungern: er hatte den Eindruck, als wollte Frau Odinzowa ihn loswerden, während er, wie jeder junge Mann seines Alters, in sich bereits jene unbestimmte, schmachtende Empfindung aufsteigen fühlte, die der Liebesahnung gleicht. Katja schlug den Deckel des Klaviers auf und fragte, ohne Arkadij anzusehen, mit halblauter Stimme:

»Was soll ich Ihnen vorspielen?«

»Was Sie wollen«, antwortete Arkadij gleichgültig.

»Welche Musik lieben Sie am meisten?« fragte Katja weiter, ohne ihre Stellung zu ändern.

»Klassische Musik«, antwortete Arkadij in demselben Tonfall.

»Lieben Sie Mozart?«

»Ja.«

Katja holte Mozarts Phantasie-Sonate in c-moll hervor. Sie spielte sehr gut, wenn auch etwas streng und trocken. Die Augen unverwandt auf die Noten geheftet, die Lippen fest aufeinandergepreßt, saß sie regungslos und kerzengerade da, und nur gegen Ende der Sonate rötete sich ihr Gesicht, und eine kleine Haarsträhne löste sich und fiel auf eine ihrer schwarzen Brauen nieder.

Arkadij wurde besonders vom letzten Teil der Sonate ergriffen, dem Teil, wo mitten in der bezaubernden Fröhlichkeit einer leichtbeschwingten Melodie plötzlich eine schmerzerfüllte, fast tragische Trauer hervorbricht … Aber die Gedanken, die Mozarts Musik in ihm ausgelöst hatten, bezogen sich nicht auf Katja. Wenn er sie anblickte, dachte er nur: ›Das Fräulein spielt nicht übel, und auch sie selbst ist nicht übel.‹

Als die Sonate zu Ende war, fragte Katja, ohne die Hände von den Tasten zu nehmen: »Genug?« Arkadij erklärte, er wage es nicht, ihre Freundlichkeit zu mißbrauchen, und begann mit ihr über Mozart zu reden; er fragte, ob sie diese Sonate selbst gewählt habe oder ob sie ihr von jemand empfohlen worden sei. Aber Katja gab ihm nur einsilbige Antworten: sie hatte sich versteckt, in sich verkrochen. Wenn das mit ihr geschah, dauerte es lange, ehe sie sich wieder nach außen wandte, sogar ihre Gesichtszüge nahmen dann einen starren, fast störrischen Ausdruck an. Nicht als ob sie schüchtern wäre, aber sie war mißtrauisch und durch ihre Schwester ein wenig scheu gemacht, die ihre Erziehung leitete und natürlich von alledem keine Ahnung hatte. Arkadij lockte schließlich Fifi, die wieder erschienen war, an sich und begann freundlich lächelnd ihren Kopf zu streicheln. Katja kehrte zu ihren Blumen zurück.

Inzwischen hatte Basarow Remis auf Remis gemacht. Anna Sergejewna spielte Karten meisterhaft, und Porfirij Platonytsch stand ebenfalls seinen Mann. Basarow verlor, und obgleich der Verlust nicht erheblich war, berührte er ihn etwas unangenehm. Beim Abendessen brachte Anna Sergejewna die Rede wieder auf die Botanik.

»Lassen Sie uns morgen früh einen Spaziergang machen«, sagte sie zu ihm. »Ich möchte von Ihnen die lateinischen Namen und die besonderen Eigenschaften der Feldblumen erfahren.«

»Wozu brauchen Sie die lateinischen Namen?« fragte Basarow.

»In allem muß Ordnung herrschen«, antwortete sie.

 

»Welch ein wunderbares Weib, diese Anna Sergejewna!« rief Arkadij, als er und sein Freund in dem ihnen angewiesenen Zimmer allein waren.

»Ja«, antwortete Basarow, »das Frauenzimmer hat Hirn im Kopf. Na, sie hat ja auch schon manches durchgemacht.«

»In welchem Sinne meinst du das, Jewgenij Wassiljewitsch?«

»Im guten, nur im guten Sinne, mein lieber Arkadij Nikolajewitsch! Ich bin überzeugt, daß sie auch ihr Gut ausgezeichnet verwaltet. Aber wunderbar ist nicht sie, sondern ihre Schwester.«

»Wie, diese kleine Schwarze?«

»Ja, diese kleine Schwarze. Da hast du etwas Frisches, Unberührtes, etwas Scheues und Schweigsames – und alles, was du willst. Die verdient, daß man sich mit ihr abgibt. Aus der kann man noch alles machen, was man will. Aber die andre – das ist eine raffinierte Person.«

Arkadij gab Basarow keine Antwort, und jeder von ihnen ging mit seinen eigenen Gedanken zu Bett.

Auch Anna Sergejewna dachte an diesem Abend an ihre Gäste. Basarow gefiel ihr – durch seine ungekünstelte Art und selbst durch die Schroffheit seines Urteils. Sie sah in ihm etwas Neues, was sie noch nicht gekannt hatte, und sie war neugierig.

Anna Sergejewna war ein recht seltsames Geschöpf. Ohne Vorurteile, ja selbst ohne starken Glauben an irgend etwas, schreckte sie vor nichts zurück, hatte aber auch kein festes Ziel. Für vieles hatte sie einen klaren Blick, für vieles interessierte sie sich, aber nichts befriedigte sie ganz; vielleicht begehrte sie nicht einmal völlige Befriedigung. Ihr Geist war wißbegierig und gleichgültig zugleich; niemals traten ihre Zweifel so weit zurück, daß sie sie vergaß, und nie wurden sie stark genug, um sie in ihrer Ruhe zu stören. Wäre sie nicht reich und unabhängig gewesen, hätte sie sich vielleicht in die Schlacht gestürzt, hätte Leidenschaften kennengelernt … Aber ihr Leben floß leicht dahin, wenn sie sich auch von Zeit zu Zeit langweilte, und so fuhr sie fort, von einem Tage zum andern zu leben, ohne Eile und mit wenig Aufregung. Auch vor ihren Augen erglänzten zuweilen rosige Farben; aber wenn sie verschwunden waren, sank sie ohne Bedauern in ihre Ruhe zurück. Ihre Phantasie überschritt sogar die Schranken dessen, was nach den Gesetzen der üblichen Moral als erlaubt gilt; aber auch dann durchpulste ihr Blut sanft ihren bezaubernd ebenmäßigen und ruhigen Körper. Wohl geschah es zuweilen, daß sie, warm und wohlig aus dem duftenden Bad steigend, in Träumereien versank über die Nichtigkeit des Lebens, über seine Leiden, Mühen und Unbilden … Wagemut ergriff dann plötzlich ihre Seele, ein edles Streben brauste in ihr auf – aber es brauchte nur Zugluft durch das halbgeöffnete Fenster ins Zimmer zu dringen, und Anna Sergejewna schrumpfte ein und klagte, ja geriet fast in Zorn und hatte in diesem Augenblick nur den einen Wunsch: daß dieser häßliche Wind nicht wehe.

Wie alle Frauen, denen es nicht gegeben war zu lieben, hatte sie Verlangen nach etwas, ohne selbst zu wissen, wonach. Im Grunde wollte sie nichts, mochte es ihr auch scheinen, daß sie alles wollte. Den verstorbenen Odinzow hatte sie kaum ausstehen können (sie hatte ihn aus Berechnung geheiratet, obwohl sie wahrscheinlich nicht eingewilligt hätte, seine Frau zu werden, wenn sie ihn nicht für einen guten Menschen gehalten hätte), und so hatte sie einen geheimen Ekel vor den Männern überhaupt bekommen, die ihr nur als unsaubere, schwerfällige, träge, kraftlose, zudringliche Geschöpfe erschienen. Einmal war sie irgendwo im Auslande einem schönen jungen Schweden mit einem ritterlichen Gesichtsausdruck und ehrlichen blauen Augen unter einer freien Stirn begegnet; er hatte einen tiefen Eindruck auf sie gemacht, das hatte sie jedoch nicht gehindert, nach Rußland zurückzukehren.

›Dieser Mediziner ist ein seltsamer Mensch!‹ dachte sie in ihrem luxuriösen Bett, auf Spitzenkissen, unter einer leichten seidenen Decke liegend … Anna Sergejewna hatte von ihrem Vater zum Teil seine Vorliebe für Luxus geerbt. Sie hatte ihren sündhaften, aber guten Vater sehr geliebt; und er hatte seine Tochter vergöttert, mit ihr freundschaftlich gescherzt wie mit seinesgleichen, ihr sein vollstes Vertrauen entgegengebracht und sich mit ihr beraten. An ihre Mutter konnte sie sich kaum noch erinnern.

›Dieser Mediziner ist ein seltsamer Mensch!‹ wiederholte sie bei sich. Sie räkelte sich, lächelte und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, dann überflog sie zwei, drei Seiten eines dummen französischen Romans, worauf sie das Buch fallen ließ und, rein und kalt wie sie war, in der sauberen duftenden Wäsche einschlief.

 

Am folgenden Morgen ging Anna Sergejewna sofort nach dem Frühstück ins Freie, um mit Basarow zu botanisieren, und kehrte erst zum Mittagessen zurück: Arkadij blieb zu Hause und verbrachte etwa eine Stunde in Katjas Gesellschaft. Er langweilte sich nicht mit ihr, sie erbot sich sogar, ihm noch einmal die Sonate von gestern vorzutragen; aber als Frau Odinzowa endlich zurückkehrte, als er sie wiedersah – da schnürte sich im Nu sein Herz zusammen … Sie ging mit etwas müdem Gang durch den Garten; ihre Wangen waren gerötet, und ihre Augen leuchteten unter dem runden Strohhut mehr als sonst. Sie drehte zwischen den Fingern den dünnen Stengel einer Feldblume, die leichte Mantille war ihr auf die Arme geglitten und die breiten, grauen Bänder ihres Hutes schmiegten sich an ihren Busen. Basarow ging hinter ihr her, selbstbewußt und lässig wie immer, aber sein Gesichtsausdruck, der zwar heiter und sogar freundlich war, wollte Arkadij nicht gefallen. Basarow murmelte durch die Zähne: »Guten Morgen!« und begab sich auf sein Zimmer, während Frau Odinzowa Arkadij zerstreut die Hand drückte und ebenfalls an ihm vorüberging.

›Guten Morgen!‹ dachte Arkadij … ›Haben wir uns denn heute noch nicht gesehen?‹


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