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Puckis Heimkehr

Doktor Gregor hatte es abgelehnt, seine Kinder im Auto mit nach dem Bahnhof zu nehmen. Er fürchtete den Lärm, den die drei anstellen würden, wenn die heißersehnte Mutti aus dem Abteil stieg. Sie sollten daheim bleiben und bekamen, während draußen das Auto stand, vor der Abfahrt zum Bahnhof nochmals vom Vater Verhaltungsmaßregeln.

»Wer mein Verbot übertritt«, sagte Doktor Gregor warnend, »den sperre ich den ganzen Tag ein. Er darf die Mutti dann erst am Abend sehen. – Also noch einmal: Ihr bleibt am Hauseingang stehen, ihr rennt nicht dem vorfahrenden Wagen entgegen, ihr haltet die beiden Säulen an der Tür fest und könnt dabei aus Leibeskräften schreien, wenn die Mutti aus dem Wagen steigt: ›Hurra, unsere liebe Mutti ist wieder da!‹ – Dann wartet ihr, bis die Mutti ausgestiegen und die Stufen heraufgekommen ist. Die Säulen laßt ihr nicht los. – Verstanden?«

»Vati – dürfen wir aber wie die Löwen brüllen, wenn die Mutti ankommt?«

»Karl«, mahnte die Oberin.

»Ja«, lachte der Vater, »ihr dürft noch lauter als die Löwen brüllen, aber an den Säulen stehenbleiben und nicht in den vorfahrenden Wagen laufen, und die Mutti auch nicht auf der Treppe umreißen.«

»Dann schreie ich, bis ich platze!«

Die Knaben schrien schon, als der Vater zum Bahnhof fuhr. Sie standen an den Säulen wie festgebunden, und alle Ermahnungen der Oberin fruchteten heute nichts.

»Es dauert noch eine halbe Stunde, ehe die Mama hier sein kann.«

»Bitte, Frau Oberin, erlauben Sie, daß wir hier warten.«

»Ihr habt eures Vaters Ermahnungen gehört.«

Die drei lehnten an den Säulen. Karl nickte mit dem Kopf. »Wir bleiben hier stehen. Bitte, Frau Oberin, könnten Sie mir vielleicht etwas Watte bringen?«

»Watte? – Wozu brauchst du Watte?«

»Bitte, wir wollen doch nachher recht großen Krach machen, da möchte ich mir Watte in die Ohren stopfen, weil der Peter furchtbar neben mir schreien wird.«

»Der Peter wird sich maßvoll betragen.«

»Ich schreie wie ein Löwe, Frau Oberin.«

»Ich will hoffen, daß ihr der lieben Mama bei ihrer Rückkehr Freude bereitet. Ich wäre tief betrübt, wenn es anders wäre.«

Da standen die Knaben nun an den Säulen und warteten. Karlchens Lippen bewegten sich. Leise murmelte er: »Jubelhimmel lasset schallen, zum Empfang vom Mütterlein.«

Wenn ein Wagen auf der Straße rollte, so kam Erregung in die drei Kinder, und um so fester hielten sie sich an den Säulen. Wagen auf Wagen fuhr am Doktorhause vorüber. – Endlich eine Hupe:

»Das Auto – das Auto!« Nur sekundenlang drohten die Säulen verlassen zu werden, dann standen die drei Knaben wieder regungslos da. Im nächsten Augenblick setzte ein ohrenbetäubender Lärm ein: »Hurra – unsere liebe – liebe – liebe Mutti ist wieder da!« Sie schrien, bis sie krebsrot in den Gesichtern waren, sie schrien noch, als die Mutti die Stufen emporgeschritten kam und beide Arme weit ausbreitete.

»Jetzt könnt ihr loslassen!« tönte des Vaters Stimme über den Lärm hinweg. Da hingen die drei der geliebten Mutti am Halse. Der Empfang schien kein Ende nehmen zu wollen. Ein Knabe stieß den andern beiseite, immer wieder drängten sie sich an die Mutti heran.

»Mutti – Mutti – Jubelhimmel lasset schallen –«

Pucki hatte Mühe, ins Haus zu kommen. Die Oberin ermahnte die Kinder vergeblich, doch auch die heimkehrende Großmama zu begrüßen, aber Frau Sandler wehrte lächelnd ab:

»Mich finden sie nachher auch noch. Lassen Sie die Kinder ruhig gewähren, die Wiedersehensfreude will sich austoben.«

»Deinen Nerven mutet man am Anfang gleich ordentlich etwas zu«, lachte Claus, denn das Geschrei der Knaben hörte noch immer nicht auf. Es gab ja so viel zu erzählen.

»Mutti, ich will dir was sagen! – Mutti, setz dich hin, ich weiß ein Gedicht!« schrie Peter.

Karlchen stieß den verdrängenden Peter heftig zur Seite. »Ich sage das Gedicht auf! – Mutti, ich habe ein Gedicht für dich gelernt.«

Aber Peter ließ sich nicht halten:

»Mutti – Jubelhimmel lasset schallen,
zu dem Fang vom Mütterlein,
Dackelzähne laßt mich weinen – –«

»Du gehst fort«, rief Karl. »Das ist ja alles Quatsch, was der Peter sagt, Mutti!«

»Mutti – Zähne laß mich weinen – es quieket, kehrst du heim«, schrie Peter.

»Mutti – ich hab' das Gedicht doch gelernt!« Karl puffte Peter in die Seite.

»Wenn Karl ein Gedicht gelernt hat, sagt er es auch auf«, befahl der Vater und nahm den stürmischen Peter auf den Arm. »So, Karlchen, nun sage der Mutti dein Gedicht auf.«

Karlchen stellte sich in strammer Haltung vor die Mutter, dann begann er ernsthaft:

»Jubelhimmel lasset schallen,
zum Empfang vom Mütterlein,
Dankeszähne laß mich weinen,
neu er – neu er – neu quicket kehrst du heim.
Laß dich frohgemut begrüßen,
Schauder deinen frohe Schar,
die bringt – die dir mit – die dir – die dir – mit – Ente saß Mus
er fürchtig die Grüße dar.«

»Ich danke dir herzlich, mein geliebter Junge«, sagte Pucki, während sie sich das Lachen verbiß.

»Ich hab' es doch auch gelernt«, schluchzte Peter, »nun sag' ich es.«

»Aber Peterli«, tröstete Pucki, »das Gedicht ist so schön, die Mutti freut sich, wenn du es ihr noch einmal sagst.«

»Freut es dich?«

»Freilich, Peterli.«

»Na, dann ist es ja gut, Mutti. – Nu höre zu:

Jubelhimmel lasse schallen,
zu dem Fang vom Mütterlein,
Dackelzähne laß mich weinen,
neu es quietschet, kehre heim!
Laß dich froher Mund begrüßen,
Schauder eine frohescha –
Didi bringt – bringt – Ente – saß auf Mus –

Ja, Mutti, die Ente, das verstehe ich nicht, aber so ist es. – Und nu geht es noch weiter:

er fürcht' sich die Grüße da –«

»Das ist freilich ein schönes Gedicht!« sagte Pucki und blickte auf die Oberin, die mit einem undurchdringlichen Gesicht neben einem Sessel stand. Da ging Pucki zu ihr und sagte ihr viele liebe und herzliche Worte.

»Mutti, ich auch – Jubelhimmel sagen!« bat Rudi.

»Ja, mein kleiner Rudi, ich weiß schon!«

»Mutti, nu gehst du nicht wieder weg, nicht?«

»Nein«, sagte Claus, »jetzt bleibt die Mutti hier, und keiner von euch braucht Dackelzähne zu weinen.«

Da lachte Pucki herzlich auf. Es war das alte, glückliche Lachen, ein Lachen, wie es Claus so gerne hörte. Es kündete ihm, daß seine liebe Frau wirklich ganz gesund wiedergekommen war.

Nur allmählich kam Ruhe in die aufgeregte Knabenschar.

Frau Sandler war fortgelaufen. Sie stand im Nebenzimmer und trocknete sich die Tränen, die das Lachen über das aufgesagte Gedicht hervorgerufen hatte. Doch jedesmal, wenn sie an die Dackelzähne dachte, begann sie erneut aufzulachen.

Es war ein froher Nachmittag, der heute im Doktorhause verlebt wurde. Waltraut war aus der Klinik gekommen, um die heimgekehrte Schwester zu begrüßen, und für den Abend hatten sich der Großvater und Agnes angemeldet. Am morgigen Tage erwartete man Oberförster Gregor und seine Frau. Die besorgt Großmutter war öfters nach Rahnsburg gekommen. Sie hatte stets die Kinder und den Haushalt in bester Ordnung gefunden. Die einzige, die heute nicht so froh und glücklich war wie die anderen, war die Frau Oberin. Es hätte so viel zu tadeln gegeben an dem Betragen der Kinder beim Empfang der Mutter, vor allem an dem schlecht aufgesagten Gedicht. Auch das laute Lärmen, das die Eltern ruhig duldeten, sagte ihr nicht zu. Sie wunderte sich darüber, daß kein Verweis von seiten des Vaters kam und daß er die Knaben ruhig auf den Schoß der heimgekehrten Mutter klettern ließ.

Was würde Pucki zu der Verwilderung der Knaben sagen? Vier Wochen lang hatte sich die Oberin die denkbar größte Mühe gegeben, die Kleinen zu erziehen. Nun schien alles vergeblich gewesen zu sein. So bat sie schon zeitig, sich in ihr Zimmer zurückziehen zu dürfen.

»Liebe Frau Oberin, Sie bleiben noch acht Tage bei uns, denn ich habe Ihnen sehr viel zu danken. Heute war eine gemütliche Plauderstunde unmöglich, aber das holen wir in den nächsten Tagen nach«, sagte Pucki herzlich.

An diesem Abend kostete es viel Mühe, die Kinder ins Bett zu bringen. Immer wieder verlangten sie von der Mutti noch einen allerletzten Gutenachtkuß.

»Mutti, habe ich schön gelernt? Jubelhimmel lasset schalle!«

»Ja, Karlchen, dein Gedicht war sehr schön!«

»Ich hab' auch schon mitgelernt zu dem Fang vom Mütterlein. – Dackelzähne laß mich weinen –«

»Schlaft jetzt, Kinder, schlaft ein«, lachte die glückliche Mutter, »ich bleibe nun hier, und morgen erzähle ich euch viel Schönes.«

Erst als Pucki die Kinder verlassen hatte, richtete sich Peter im Bettchen nochmals auf. »Ich hab' sie gar nicht gefragt, was sie mir mitgebracht hat.«

»Das haben wir vergessen«, rief Karl. »Wollen wir sie gleich mal fragen?«

»Daß wir das vergessen haben«, wunderte sich Peter.

»Wir haben heute die Mutti wiederbekommen. Ich freue mich so sehr, daß sie wieder da ist. – Heute haben wir unsere liebe Mutti bekommen, wir werden morgen fragen, was sie uns mitgebracht hat. Heute bin ich ganz voll mit Freude!« sagte Karlchen.

Peter warf sich in die Kissen zurück. »Na, ich auch, Karlchen. Wir wollen sie morgen fragen.«

Im ersten Schlummer noch flüsterten glückliche Kinderlippen immer wieder: »Mutti, liebe Mutti!« –

Mit großer Freude stellte Doktor Gregor fest, daß die vierwöchige Kur den denkbar besten Erfolg bei seiner Frau gehabt hatte. Die besorgniserregenden Erscheinungen am Herzen waren verschwunden. Pucki fühlte sich wieder so frisch wie früher und lehnte es ab, sich in der nächsten Zeit noch schonen zu müssen.

»Ich freue mich unendlich darauf, nun wieder in meinem Hause schalten zu können und meine lieben Kleinen zu versorgen. Wie ist es eigentlich mit der Frau Oberin gegangen?«

»Sie war immer pflichtgetreu und hat ihr möglichstes getan. Ich kann nur nicht recht verstehen, daß die Mutter sie für die Richtige hielt, dich zu vertreten, Pucki. Sie meinte es sehr gut mit unseren Kindern. Es gab eigentlich nichts an ihr zu bemängeln, aber ihre ganze Erziehungsart ist eben total veraltet. Wir wollen heute andere Kinder formen, als das früher der Fall war. Wir wollen eine frische, frohe Jugend, die mit Zuversicht und dem Glauben an sich selbst ins Leben stürmt. Ich habe der Oberin nicht in ihre Erziehung hineingeredet, ich habe aber oftmals den Kopf geschüttelt über ihre Art und Weise. Mutter mag das Beste gewollt haben, aber solch eine Frau Oberin braucht sie uns nicht wieder ins Haus zu schicken.«

»Und doch scheint es mir, Claus, als hätten die Kleinen vieles hinzugelernt, was ihnen fürs Leben nützlich sein kann.«

»Gewiß, Pucki, diese vier Wochen haben den Knaben bestimmt nicht geschadet. Sie sind nur ein wenig stutzig geworden, denn etwas ganz Neues trat plötzlich in ihr Leben.«

»Nun bin ich ja wieder da, nun geht alles wieder im alten Geleise weiter.«

Als am nächsten Tage Oberförster Gregor und seine Frau in Rahnsburg eintrafen, freuten sie sich über Puckis gesundes Aussehen.

»Du hast dir hoffentlich in deiner Abwesenheit nicht gar zu viele Gedanken über die Kinder gemacht. Sie waren in sehr guten Händen, Pucki.«

»Ja, Mutter, die Oberin hat treu für die Kinder gesorgt.«

»Wir sprachen schon gestern davon«, fiel Claus ein, »daß wir nicht recht begreifen, aus welchem Grunde du uns gerade das Fräulein Radill für die Kinder empfohlen hast. Ich kann jetzt begreifen, warum man sie heutzutage schlecht in Kinderheimen brauchen kann.«

»Ich habe diesen Einwand erwartet, Claus.«

»Du hast Fräulein Radill wahrscheinlich in letzter Zeit aus den Augen verloren, liebe Mutter, oder nur auf Grund ihrer guten Zeugnisse deine Wahl getroffen.«

»Du irrst, Claus! Ich habe sogar lange mit Vater darüber beraten. Ihr wißt, wie lieb wir eure Knaben haben; wir sehen sie aufwachsen, kommen im Laufe des Jahres öfters herüber und beobachten ihre Entwicklung. Wir freuen uns darüber, daß ihr bemüht seid, die Kinder zu wackeren Menschen zu erziehen. Erinnerst du dich noch daran, Claus, daß du dich einmal als Knabe bei deinen Freunden beklagt hast, du würdest von uns zu kurz gehalten, wir wären zu streng?«

»O ja, liebe Mutter, daran erinnere ich mich noch genau.«

»Man soll seinen Kindern Liebe über Liebe schenken. Sie sollen Vertrauen zu den Eltern haben, man soll sie führen und leiten. Aber – das geht nicht immer mit Nachsicht. Und du, liebe, gute Pucki, hast ein sehr weiches Gemüt; es wird dir schwer, deinen Kindern etwas zu verwehren. Sie haben sich daran gewöhnt, von zärtlichen Händen gestreichelt und verwöhnt zu werden. Die Liebe, die ihr ihnen schenkt, ist ihnen etwas Selbstverständliches. Sie nehmen sie hin wie etwas, das eben sein muß. Sie haben darüber noch niemals nachgedacht, was ihr ihnen gebt. – Freilich, sie sind noch klein, aber gerade weil sie ins Leben hineinwachsen sollen, müssen sie einmal erkennen, daß es nicht nur Weichheit in der Welt gibt. Je eher sie das erkennen, um so besser für sie.«

»Und darum kamt ihr auf den Gedanken, die strenge Oberin Radill als meine Stellvertreterin zu senden?«

»Ja, Pucki! – Du wirst später einsehen, daß es gut war. Die Kinder standen in ängstlichem Staunen vor dem Neuen, das sich ihnen bot. Sie fühlten genau, daß ihnen von der Oberin auch Herzlichkeit entgegengebracht wurde, aber es fehlte dabei die Nachsicht. Und ich glaube, sie werden von jetzt an Elternliebe anders einschätzen, als sie das bisher taten. Besonders Karlchen denkt schon darüber nach. Diese vier Wochen waren eine gute Schule.«

»Mutter, ich danke dir dafür. – Du bist in allem so weitsichtig und so klug! Wie hat es eine junge Mutter gut, wenn ihr jemand beratend zur Seite steht. Wie gut habe ich es, wo ich doch keim größere und schönere Aufgabe kenne, als aus meinen Kindern gute und wertvolle Menschen zu machen, die einstmals mutig den Kampf mit dem Leben aufnehmen können.

»Ja, Pucki, aber das erreichst du nicht nur durch Weichheit! Beherzige einen Spruch, nimm ihn mit für das ganze spätere Leben und denke daran, wenn du die Kinder vor dir siehst.«

»Was für einen Spruch, liebe Mutter?« fragte Pucki.

»Weichheit ist gut – an ihrem Ort;
aber sie ist kein Losungswort,
kein Schild, keine Klinge und kein Griff,
kein Panzer, kein Steuer für dein Schiff.
Du ruderst mit ihr vergebens.
Kraft ist die Parole des Lebens!
Kraft im Zuge des Strebens,
Kraft im Wagen, Kraft im Schlagen,
Kraft im Behagen, Kraft im Entsagen,
Kraft bei des Bruders Not und Leid,
im stillen Werke der Menschlichkeit.«

Pucki ließ die Augen zu dem Gatten hinüberschweifen. »Ja, Mutter, du hast recht«, sagte Claus, »Kraft heißt die Parole des Lebens, und so wollen wir es halten. In diesem Sinne sollen auch unsere Kinder erzogen werden.«

»Versteht ihr nun, warum ich euch die Oberin Radill ins Haus schickte?«

»Habe vielen Dank dafür, du gute, liebe Mutter. Und ich will auch ihr danken, die sich nach besten Kräften mühte, ihre übernommenen Pflichten treu zu erfüllen.«

An vielen Kleinigkeiten stellte Pucki in den nächsten Tagen fest, daß die Knaben während ihrer Abwesenheit mancherlei zugelernt hatten. Sie freute sich darüber. Karl verlangte nicht mehr dieses oder jenes in herrischem Ton. Er ließ auch niemals sein gebieterisches »Gib her!« hören. Immer hieß es höflich: »Bitte, gib es mir!«

Auch das Verantwortungsgefühl war in ihm geweckt worden. Die Worte der Oberin, daß er der Älteste sei und daher auf die jüngeren Geschwister aufpassen müsse, waren nicht ungehört verhallt.

»Mutti, mache ruhig deine Arbeiten, ich bin ja der Älteste, ich passe auf die kleinen Brüder auf. Es wird ihnen nichts geschehen.« Dann stolzierte er um die Brüder herum und gab gewissenhaft acht, daß nicht zuviel Dummheiten getrieben wurden. Wie oft drang ein Ruf bis zu Pucki in die Küche: »Ich muß aufpassen und ihr müßt folgen – sonst bin ich tief betrübt.«

Pucki hatte schon zweimal versucht, mit der Oberin eine längere Aussprache herbeizuführen, doch wurde sie von Tag zu Tag stiller und gedrückter. Sie zog sich mehr und mehr zurück und wich Frau Doktor Gregor aus. Erst eines Nachmittags, als die Oberin nähend in der Laube saß, setzte sich Pucki zu ihr.

»Fünf Tage bin ich nun schon daheim und habe Ihnen erst flüchtig danken können für alle Liebe und Umsicht. Ich weiß, es ist eine schwere Aufgabe gewesen, aber Sie haben sie voll und ganz erfüllt. Ich habe viel von Ihnen gelernt, liebe Frau Oberin, und bin Ihnen von ganzem Herzen dankbar.«

»Sprechen Sie nicht solche Worte, Frau Gregor. Ich bin tief betrübt, daß es mir nicht gelang, in den vier Wochen Ihrer Abwesenheit den Knaben mehr Manieren beizubringen.«

»Und ich kann Ihnen nur immer wieder danken, beste Frau Oberin.«

»Ich weiß«, gab sie mit gesenktem Kopf zurück, »daß meine Erziehung heute veraltet ist. Leider kann ich nicht anders. – Vielleicht lachen Sie über mich, Frau Gregor. Das macht mich unglücklich und unsicher.«

»Ich sollte über Sie lachen, Frau Oberin? Ach nein! Gerade durch Sie habe ich erkennen gelernt, daß meine Erziehung auch nicht immer die rechte war. Wenn Sie Ihre Art veraltet nennen, dürfte ich die meine vielleicht mit dem Worte ›unfertig‹ bezeichnen. Nun haben die Kinder beides kennengelernt, und ich habe darüber nachgedacht. Es kommt mir aus dem Herzen, wenn ich Ihnen immer wieder sage: Ich danke Ihnen für das, was Sie mich und meine Kinder lehrten.«

Pucki sah, wie sich die Augen der Oberin mit Tränen füllten. Da rückte sie noch ein wenig näher an das alte Fräulein heran. Dann wurde in der Laube noch sehr lange und herzlich gesprochen. – Nach einer guten Stunde kehrten beide ins Haus zurück.

Auf dem Antlitz der Oberin lag ein frohes Leuchten.


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