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Ich bin tief betrübt

»Jetzt sollst du mir zuhören, Tante Waltraut! – Aus einem dicken Eisenring hat er zwei gemacht.«

»Und aus einem Hut, in dem nichts war, hat er immerfort Blumen geholt.«

»Und aus einem Taschentuch, so ein richtiges Taschentuch, mit dem man sich die Nase schnaubt, hat er 'ne Taube 'rausgeholt – und – Tante Waltraut ...«

Peter zerrte die Tante zu sich herüber. »Ich will dir erzählen! Dann hat er einen Zauberstab gehabt, und unter dem Hut stand dann ein Glas mit Wasser. Dann hat er geklopft und – hubs, da war es weg!«

»Dann hat er wieder geklopft, und da war es wieder da!«

Tante Waltraut hielt sich die Ohren zu. Wenn die drei Knaben gleichzeitig auf sie einredeten, war das ein wenig viel. Die Oberin rang die Hände. Warum verbot Schwester Waltraut dieses Schreien und Lärmen nicht? Mehrfach waren von ihr Zwischenrufe gemacht worden, doch keines der Kinder achtete darauf. Das kam davon, wenn man Kinder in eine Zaubervorstellung führte. Das erweckte Illusionen und gab Anlaß zu törichten Streichen.

Sogleich auf dem Heimwege war das von ihr festgestellt worden. Karlchen hatte die Mütze vom Kopf gerissen, daraufgeklopft und dabei laut »Hokus – pokus!« gerufen. Aus der Mütze hatte er ein Taschentuch und den Inhalt seiner Hosentasche genommen. Mitten auf der Straße war er stehengeblieben, um zu zaubern.

Die Oberin hatte Herrn Doktor Gregor gewarnt, doch der meinte, sie solle ruhig mit den Kindern zu der Zaubervorstellung gehen. Er wollte den Knaben damit eine Freude bereiten. – Nun erzählten sie erregt, was sie gesehen und gehört hatten. Sie ließen Schwester Waltraut gar nicht los.

»Soll ich jetzt mal was aus deiner Haube zaubern?«

»Nein, Karlchen, ich muß wieder hinüber in die Klinik. Seid recht brav.« Damit verließ Tante Waltraut das Kinderzimmer.

»Frau Oberin, bitte, zaubern Sie doch auch mal ein bißchen! Aus dem Bauch meines Schaukelpferdes zaubern Sie mal einen kleinen Kanarienvogel.«

»Ich bin tief betrübt, daß ihr Schwester Waltraut so belästigt habt. Wie oft habe ich euch gebeten, nicht so laut zu sein.«

»Wir wollten ihr doch nur erzählen!«

»Aber nicht so laut schreien. Und jetzt hängt eure Sachen, die ihr so liederlich umhergeworfen habt, recht hübsch auf. Du, Karl, kannst allein an den Haken heranreichen. Ihr anderen reicht mir fein säuberlich eure Mützen, damit ich sie aufhänge. – Wie ich sehe, Karl, hast du schon wieder ein Loch im Strumpf.«

»Bitte, zaubern Sie das zu!«

»Mit Tinte, Frau Oberin«, piepste Peter, »das macht Spaß!«

»Ich bin tief betrübt, daß du wieder an die Tinte herangehen willst, Peter. Ein Kind, das noch nicht zur Schule geht, hat mit Tinte nichts zu schaffen.«

»Bitte, Frau Oberin, zaubern Sie doch was!«

»Ich bin kein Zauberkünstler, Karl. – Wir können jedoch in Ruhe noch einmal von der Vorstellung sprechen.«

Als die Knaben immer lebhafter wurden, wehrte sie entsetzt ab. »Ich wünsche, daß ihr mit gedämpften Stimmen sprecht.«

»Was ist denn das für eine Stimme, Frau Oberin?«

Peter grunzte ganz tief und versuchte den Tonfall der Oberin nachzumachen. Es war kein Spott, er wollte tatsächlich der würdigen Frau gefallen.

»Ihr sollt leise sprechen.«

»Ist leise gedämpft?«

»Ja!«

Peter und Rudi blickten die Oberin verständnislos an. Sie waren es längst gewohnt, ihre Redewendungen nicht alle zu begreifen.

»Darf ich mal zaubern, Frau Oberin?« sagte Karl.

»Das kannst du nicht, mein Kind. Das sind Handfertigkeiten, die sich manche Leute in jahrelanger Übung aneignen.«

»Dann übe ich jetzt auch! – Das macht Spaß.«

Seit dieser Stunde wurde im Kinderzimmer öfters einmal zu zaubern versucht. Dabei wurde freilich manches Spielzeug zerbrochen, was den Kindern jedesmal eine strenge Rüge der Oberin eintrug.

»Wenn das Zaubern nicht aufhört, Kinder, werde ich es eurem Vater melden. Ich bin tief betrübt, daß mein Verbot nicht genügt.«

Aber das Zaubern übte doch eine gar zu große Anziehungskraft auf die Knaben aus. Karlchen hatte es schon so weit gebracht, Spielmarken, die er in der Hand hielt, in den Blusenärmel rutschen zu lassen. Oft rief er seinen Geschwistern oder Freunden zu:

»Paßt mal auf! – Hier habe ich Geld. – Hokus – pokus! – Jetzt mache ich die Hand wieder auf – weg ist das Geld!«

Obwohl das Kunststück mehrfach mißlang, wurde es doch wiederholt.

Eines Nachmittags wurde Karl von Emilie zum Kaufmann geschickt, der gegenüber wohnte, um etwas zu holen. Unterwegs traf er ein kleines Mädchen, das er kannte.

»Ich kann zaubern!« sagte er und zeigte ihm das Fünfzigpfennigstück. Dann schwang er den Arm mehrmals durch die Luft. »Hokus – pokus, gleich wird es weg sein!«

Und wirklich – das Geldstück war weg.

»Au, deine Mutter wird aber schimpfen«, meinte die Kleine.

»Hokus – pokus, gleich ist es wieder da!«

Karlchen suchte in seinem Blusenärmel, aber das Geldstück war nirgends zu finden. Er rüttelte und schüttelte an der Bluse, knöpfte seine Hosenträger ab, suchte im Höschen – aber das Geldstück war nicht zu finden.

»Es ist dir aus der Hand gerutscht.«

Karlchen sah ein, daß das möglich sein konnte. Und nun begann auf der schmutzigen Straße ein emsiges Suchen. Es fanden sich bald noch zwei Freunde ein, die ihnen suchen halfen. Leider fand keiner das Fünfzigpfennigstück.

»Ich geh' jetzt nach Hause und ziehe mich ganz aus, dann wird es schon hervorkommen!«

»Wenn du zaubern kannst, Karl, so zaubere es doch wieder her!«

»Ach, ich kann doch nicht ordentlich zaubern«, erwiderte Karl kläglich. Dann eilte er heim, um in der Küche Bluse und Höschen auszuziehen und Emilie von seinem Mißgeschick zu berichten.

»Mit Geld zaubert man nicht«, tadelte Emilie.

»Aber der Mann hat viel Geld aus der Luft geholt, bei mir geht es noch nicht. Ich muß erst tüchtig üben.«

»Jetzt sieh zu, daß du das Geld wiederfindest.«

Das war nun sehr schlimm! Zur Frau Oberin wagte sich Karl nicht, auch der Vater und Tante Waltraut würden ihm das Geld nicht geben. Schon früher hatte er einmal vergeblich diesen Versuch gemacht.

»So nimm es aus deiner Sparbüchse. Beim nächsten Mal wirst du dann vorsichtiger sein«, riet Emilie.

»Ach, Emilie, an meine Sparbüchse kann ich nicht, die Frau Oberin hat sie fortgenommen und gesagt, aus den Sparbüchsen darf man nichts herausnehmen, sonst wird es nicht mehr.«

Schließlich mußte sich Emilie bereitfinden, neues Geld zu geben, aber fürs nächste vermied Karlchen jede Zauberei.

An einem der nächsten Abende, als Doktor Gregor nach dem Zubettgehen der Kinder mit der Oberin im Wohnzimmer saß, begann jene zögernd:

»Herr Doktor, ich beklage mich ungern, aber heute muß ich es tun. Sie hören, wie die Kinder nebenan im Schlafzimmer noch plaudern.«

»Es wird sehr bald Ruhe sein, beste Frau Oberin.«

»Ich habe die Knaben ermahnt, ruhig zu sein, sobald sie im Bett liegen.«

»Ist es denn so schlimm, Frau Oberin, wenn sie noch ein wenig plaudern?«

»Ganz gewiß nicht, Herr Doktor! Viel schlimmer ist, was ich am heutigen Nachmittag feststellen mußte.«

»Erzählen Sie, Frau Oberin. Ich werde Ihnen gern beistehen.«

»Ich bitte darum, Herr Doktor. Ich bin tief betrübt darüber, daß Karl mit seinen sechsundeinhalb Jahren bereits unanständige Lieder singt.«

»Wer weiß, wo er sie aufgeschnappt hat. Verbieten Sie ihm das, und er wird es nicht wiedertun. – Was hat er denn gesungen?«

»Die Kinder spielten unter meiner Aufsicht Haschen. Der Abzählreim, den ich ihnen vorsagte, gefiel ihnen nicht. Karlchen sagte einen anderen. – Oh, es war empörend!«

Doktor Gregor schmunzelte. »Was hat er denn gesagt?«

»Sie können nicht verlangen, Herr Doktor, daß ich solche unanständigen Worte wiederhole.«

In diesem Augenblick ertönte nebenan im Schlafzimmer lautes Gekicher.

Der Vater erhob sich. »Da die Krabben noch nicht schlafen, will ich den Missetäter sogleich verhören und zurechtweisen.«

»Herr Doktor – darf ich mir erlauben, darauf aufmerksam zu machen, daß es nicht richtig ist, wenn Karl vor seinen jüngeren Brüdern die Worte wiederholt?«

»Nun, so rufe ich ihn herein.«

»Im Nachthemd?«

»Gewiß, Frau Oberin! Warum denn nicht?«

Karl wurde gerufen. Doktor Gregor setzte ihn auf seine Knie. »Frau Oberin beklagt sich über dich, mein Junge. – Was hast du heute, als ihr Haschen spieltet, für einen Abzählvers gesagt?«

Der Knabe überlegte ein Weilchen. Mit ihrer tiefen Stimme rief die Oberin dazwischen: »Ich meine jenen abscheulichen Vers, den ich verboten habe.«

»Nun, Karlchen, sage ihn mir einmal.«

»Bitte, Vati, die Frau Oberin hat ihn verboten. Ich darf ihn nicht noch mal sagen, aber –« Karlchen nahm des Vaters Ohr und brachte es an seine Lippen, »er ist so ulkig!«

»Die Frau Oberin erlaubt es, daß du mir den Vers sagst, weil ich ihn hören will.«

»Vati, ich sage ihn dir ganz leise, dann braucht die Frau Oberin den schrecklichen Vers nicht noch einmal zu hören.«

»Das ist brav von dir, mein Junge, denn die Frau Oberin meint es gut mit euch. – Nun also los!«

Karlchen begann im Flüsterton:

»Auf dem Berge Sinai
saß der Schneider Kikeriki!
Seine Frau, die dumme Grete,
saß auf dem Balkon und nähte,
fiel herab, fiel herab
und – –«

»– das linke Bein war ab!« ergänzte Doktor Gregor. »Kam der Doktor Pudelmann – –«

»Klebt' das Bein mit Spucke an!« jauchzte Karlchen.

»Oh –« sagte die Oberin.

»Und weiter, Karlchen? Ich weiß nicht weiter.«

»Weiter geht es nicht, Vati, dann fängt es wieder von vorne an.«

»So, mein Junge, nun geh und lege dich wieder schlafen. Mache der guten Frau Oberin eine Verbeugung und sorge dafür, daß es im Schlafzimmer ruhig wird. Du bist der Älteste, du mußt für Ruhe sorgen.«

Karlchen machte der Oberin eine tiefe Verbeugung, lief ins Schlafzimmer, und Doktor Gregor hörte seine laute Stimme: »Ich bin der Älteste, bitte, jetzt seid ihr still!«

Ein Weilchen schwieg Doktor Gregor. Er konnte nicht begreifen, daß die Oberin wegen dieses altbekannten Abzählverses so viel Aufhebens machte. Als sie ihn fragend ansah, sagte er lachend:

»Mit dem Vers haben wir auch schon abgezählt, Frau Oberin. Ich finde ihn nicht schlimm.«

»Er ist nicht gerade schön!«

»Aber durchaus harmlos! Ich sagte Ihnen schon, Frau Oberin, die Kinder spielen gern übermütig. Ich würde bestimmt von Ihnen auch einen Verweis erhalten, beste Frau Oberin, wenn ich Ihnen den Abzählreim sagen würde, den ich beim Spielen mit meinen Kindern benutze und den mir ein echtes Berliner Ferienkind mitteilte. Er gefällt mir heute noch gut.«

»So – –?«

»Hören Sie zu:

Icke, dette, kieke mal,
Oogen, Fleesch und Beene,
wenn du döst, valierst de se,
wieder kriegst de keene!«

Die Oberin wischte mit dem Taschentuch flüchtig über das Gesicht, dann lächelte sie gezwungen. »Ja, ja, die Berliner haben ihre Sprache für sich.«

»Und die Kinder auch, Frau Oberin. Jedenfalls bin ich Ihnen außerordentlich dankbar für Ihre treue Fürsorge. Ich kann die Knaben beruhigt Ihnen überlassen, und meine Frau fühlt sich in dem Gedanken sehr glücklich, ohne Sorgen ihre Kur beenden zu können. Ich weiß, es ist nicht leicht, die drei Rangen zu behüten, doch Sie haben es bisher trefflich fertiggebracht, und es wird auch weiter so gehen. Außerdem haben Sie meinen beiden Ältesten das Bitte- und Dankesagen überraschend schnell beigebracht. Meine Frau wird sich sehr darüber freuen.«

»Ich fürchte mitunter, daß ich ein wenig zu nachsichtig bin, Herr Doktor. Aber es war Ihr Wunsch, die Zügel hier etwas lockerer zu lassen, als ich das bisher aus den Anstalten gewöhnt bin.«

»Wenn ich Sie um etwas bitten darf, beste Frau Oberin, so ist es das, den Kindern ihre unschuldigen Freuden nicht zu nehmen. Meine Eltern richteten sich stets nach dem Wort eines alten Pädagogen. Meine Mutter sagte mir oftmals, ich solle es ebenso halten.«

»Was sagte jener Pädagoge? Ich bin sehr dankbar und sehr empfänglich für derartige Anregungen.«

»Er sagte: ›Stört die Freude des Kindes nicht, es ist nichts leichter, als einem Kinde Freude zu machen, aber auch nichts leichter, als dieselbe zu unterbrechen und zu zerstören. Das Kind hat nichts als sein kleines, ungeschütztes Herz, das wir so leicht erheben, aber auch leicht zu Boden schlagen können. Man lege sich stets die Frage vor: was hat man einem Kinde als Ersatz zu bieten für eine verdorbene Freude, oder gar für eine durch Irrtum und Eigensinn entblätterte, verdunkelte und vertrauerte Jugend‹.«

»Wollen Sie damit sagen, Herr Doktor, daß ich den Kindern zu viel Freuden nehme?«

Doktor Gregor ergriff ihre Hand. »Nein, Frau Oberin, Ihre Erziehungsmaßnahmen sind andere als die meinen und die meiner lieben Frau. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Sie wollen bestimmt das Beste, und die Zeit, die Sie in meinem Hause weilen, wird sicher nicht nutzlos sein. Ich wollte nur noch einmal daran erinnern, daß meine Jungen eben keine Anstaltszöglinge sind, sondern gut veranlagte, aber wilde Kinder, die man aufschießen lassen kann, nur muß man auch gut darauf achten, daß die Bäumchen gerade wachsen.«

Als die Oberin eine halbe Stunde später ihr Zimmer betrat, dachte sie noch lange über die Unterhaltung mit Herrn Doktor Gregor nach. Gewiß, man hatte ihr in der letzten Stellung bereits zu verstehen gegeben, daß ihre Erziehungsmethode nicht mehr zeitgemäß sei, doch war es ihr leider unmöglich, sich umzustellen. Jedenfalls würde sie auch in diesem Hause treu und gewissenhaft die übernommenen Pflichten erfüllen, die drei Kinder behüten und guten Samen in ihre Herzen legen.

Bereits am nächsten Tage wurde eine erzieherische Maßnahme der Oberin von den drei Knaben mißverstanden.

»Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen!« So hatte sie gesprochen, als Karlchen eine Schulaufgabe, die erst für einige Tage später aufgegeben war, nicht gleich machen wollte. Da ihm dieser Vers gut gefiel, wurde er sogleich an die Brüder weitergegeben. Am späten Nachmittag bemerkte die Oberin, daß die drei Knaben einen kläglichen Eindruck machten.

»Fehlt euch etwas?«

»Mir tut der Bauch weh«, sagte Karl.

»Der Leib, Karl!«

»Nein, Frau Oberin, es ist der Bauch.«

»Mir tut der Bauch auch weh!« sagte Peter.

»Was habt ihr gegessen? Ihr seid heute nachmittag allein im Garten gewesen.«

»Ja, wir waren im Garten. – Dort hat der Wilhelm die Pflaumen abgepflückt. Tante Waltraut sagte, wir dürfen jeden Tag das kleine Körbchen voll ausessen. Da haben wir auch die für morgen noch aufgegessen, um es nicht zu verschieben.«

»Wieviel Pflaumen habt ihr gegessen?«

»Siebenmal den kleinen Korb leer, Frau Oberin. Sie haben gesagt: Was man heute kann besorgen, soll man nicht verschieben auf morgen. Da haben wir noch mehr gegessen.«

Rudi weinte und klagte besonders über den Bauch.

»Armes Kind, du hast Leibschmerzen.«

»Nein, Bauchschmerzen«, beharrte der Kleine.

»Das hier ist der Leib – –«

»Wo ist denn dann der Bauch?«

Die Oberin zog es vor, hinaus in die Küche zu gehen und für Rudi einen Tee zu bereiten. Glücklicherweise dauerte die Unpäßlichkeit nicht lange. Schon am nächsten Tage war alles wieder in Ordnung.

»Trotzdem bleibst du bei mir im Zimmer, Rudolf, damit ich dich unter Aufsicht habe. Du wirst mich auch begleiten, wenn ich hinauf auf den Hausboden gehe, um den Schrank mit euren Wintersachen nachzusehen.«

Die Oberin hatte sich vorgenommen, während ihrer Anwesenheit im Doktorhause auch dafür zu sorgen, daß in der heißen Sommerszeit keine Mottenschäden eintraten. So hatte sie Emilie beauftragt, Mottenkugeln aus der Apotheke zu besorgen, um sie in die Schränke mit den Wintersachen zu legen. Als Peter hörte, daß es hinauf auf den Hausboden ginge, lief er sogleich mit. Auf dem Boden standen so schöne Körbe, die herrlich knisterten, wenn man sich daraufsetzte.

Nun schauten die beiden Knaben aufmerksam dem Tun der Frau Oberin zu, die aus einer Tüte weiße Kugeln nahm, um sie in den Schrank zu legen und einige davon in die Taschen der Mäntel und Winteranzüge zu stecken.

»Murmeln mit Gestank«, flüsterte Peter. »Wenn sie Murmeln hat, warum spielt sie nicht Murmeln mit uns?«

Rudi war an den Schrank getreten; er wollte durchaus eine Murmel mit Gestank haben.

»Spielen Sie heute mit uns, Frau Oberin?«

»Gewiß, Peter.«

»Ich weiß was Feines, Frau Oberin – wir spielen Murmeln.«

»Murmeln, mein liebes Kind?«

»Spielen Sie nicht mit Murmeln? Es macht viel mehr Spaß, wenn viele dabei sind.«

Die Oberin ließ sich in ihrer Arbeit nicht stören. Als Emilie schließlich nach ihr rief und sie für kurze Zeit vom Boden holte, gingen die Kinder an die Anzüge und sammelten sorgfältig die Mottenkugeln wieder aus den Taschen ein. Dann stürmten sie zu Karl, der gewissenhaft seine Schularbeiten machte.

»Sie hat viele Murmeln mit Gestank! Heute spielt sie mit uns! – Guck mal!«

Karl war gleichfalls begeistert. Die anderen Murmeln wurden geholt und alle redlich geteilt. Peter beroch seine Hände. »Hu, wie schön das stinkt! Es kitzelt in der Nase!«

»Darf man daran lecken?« fragte Rudi.

»Nein, Vati hat gesagt, wir sollen nicht an Sachen lecken, die wir nicht kennen.«

»Ich bin krank geworden«, stimmte Peter dem älteren Bruder zu, »weil ich das Eis von der Drecktonne abgeleckt habe. – Nein, du darfst nicht an den Kugeln lecken.«

Am Nachmittag wurde die Oberin von den Kindern bestürmt, unten im Garten Löcher zu machen und mit den Murmeln zu spielen.

»Bitte, bringen Sie Ihre Murmeln auch mit«, sagte Peter.

»Ich habe keine, liebe Kinder, ihr müßt mir einige leihen.«

»Sie ist geizig«, flüsterte Peter dem Bruder zu, »sie will ihre Murmeln mit Gestank behalten.«

Die Oberin bekam richtige Murmeln, die Mottenkugeln aber behielten die Kinder für sich. Als zum ersten Male die Mottenkugeln über den Kies rollten, rief die Oberin: »Was ist das?«

»Murmeln mit Gestank!« schrien alle drei Knaben gleichzeitig.

Ein Verhör begann, und dann gab es wieder einen Verweis, der mit den Worten schloß: »Ich bin tief betrübt.«

»Ja«, sagte Rudi treuherzig, »das wissen wir schon. Der Rudi ist auch betrübt.«

Frau Oberin wandte sich an Karl. »Was hast du für deine Unart verdient, Karl?«

»Bitte«, sagte er ernsthaft, »ich verlange nichts dafür, Frau Oberin.«

»Ich sollte dich bestrafen, Karl.«

»Bitte«, klang es kläglich. Dann hielt Karl es aber für ratsam, davonzulaufen. Auf der Hausschwelle hielt er an. Dort lag etwas Schwarzes, das er noch nie gesehen hatte. Es war ein schwarzer Behälter, der sich öffnen ließ. Lange betrachtete Karlchen das seltsame Stück. Das war was Feines, das konnte er brauchen! Was konnte er da nicht alles hineinstecken. Daß es das Futteral der Brille der Frau Oberin war, ahnte er freilich nicht. Er hatte es bisher noch nie bei ihr gesehen. Am Abend wurde der kostbare Fund dem Bruder Peter gezeigt. Er wollte durchaus die eine Hälfte haben.

»Nun brauchen wir nicht aus den Händen zu trinken, wenn wir Durst haben. Das ist ein feiner Becher!«

Am anderen Morgen wurde versucht, daraus zu trinken. In der Küche stand ein Eimer mit Wasser, und da Emilie gerade nicht zugegen war, schöpften die beiden Knaben Wasser in die Futteralhälften und tranken daraus. Dann rief sie die Oberin an den Kaffeetisch. Gar zu gern hätten sie die Milch auch daraus getrunken, aber die Kinder wußten schon im voraus, daß man ihnen so etwas nicht erlauben würde. Sie ließen aber beide einen kleinen Rest in ihren Tassen, und als man vom Tisch aufstand, goß jeder ihn ganz heimlich in den schönen, schwarzen flachen Becher.

»Ob man sie wieder zusammenmachen kann?« fragte Peter.

Auch das wurde versucht. Die Milch tropfte zwar heraus, doch wenn sie den Behälter geradehielten, blieb eine ziemliche Menge darin. Dann trug Karlchen das Brillenfutteral vorsichtig durch den Korridor, um Tante Waltraut zu suchen und ihr das neue Trinkgefäß zu zeigen. Gerade wollte er in den großen Flur der Klinik gehen, als die Oberin vor ihm stand.

»Endlich! – Wie habe ich es gesucht. Ich danke dir, Karl.« Schon hatte sie dem verdutzt dreinschauenden Knaben das Futteral aus der Hand genommen. Sie öffnete es hastig und goß sich dabei den Inhalt über das schwarze Kleid.

»Was ist das?« klang es ärgerlich.

»Milch, Frau Oberin.«

»Welch eine Unart! Ich bin tief betrübt! Ich habe lange mit dir Nachsicht gehabt, Karl, doch das geht zu weit. Das ist kein Scherz mehr, das, ist bösartig! – Ich bin tief betrübt. Ich melde es deinem Vater. – Die Strafe soll nicht ausbleiben.«

»Ich habe das Ding doch auf der Treppe – –«

»Du schweigst, Karl Gregor! Wie oft soll ich dir sagen, daß Kinder nicht widersprechen dürfen. Ich melde es deinem Vater. – Das geht zu weit!«

Sie berichtete es Herrn Doktor Gregor, denn die Oberin war auf das höchste darüber entrüstet, daß die Knaben absichtlich ihr Brillenfutteral verdarben. – Karl wurde gerufen. Treuherzig erzählte er den Vorgang und wartete ergeben auf die Strafe, aber der Vater sagte ihm nur, daß er gefundene Gegenstände erst jemandem zeigen müsse, ehe er sie sich aneignete. Aus dem Worten seines Knaben hatte er entnommen, daß keine böse Absicht vorlag und daß Karl der Frau Oberin keinen Schabernack spielen wollte. So wurde keine Strafe erteilt. Freilich mußte er sich entschuldigen. Doktor Gregor besorgte auch ein neues Futteral, da das alte unbrauchbar geworden war.


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