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Des Nachbars Wiese

In den letzten Tagen hatte es mehrfach geregnet. Seit Emilie den Knaben aus Papier Schiffe gefaltet hatte, blickten die Kinder täglich sehnsuchtsvoll hinüber nach der grünen Wiese, durch die der Bach mit den heißgeliebten Fröschen lief. So viel Wasser wie jetzt war noch nie darin gewesen. An einer Stelle nahe dem Klinikzaun hatte der reichliche Regen einen Teil der Wiese überschwemmt, so daß sich langsam ein See bildete. Dieser See wurde freilich, wie Karl feststellte, an manchen Tagen von der Sonne wieder »weggefressen«, nur bei neueinsetzendem Regen war er wieder da.

»Man müßte ihn tiefer machen und ein bißchen von dem Gras wegnehmen«, sagte Karl und stieß seine kleine Schaufel, die er bei sich hatte, ungeduldig gegen den Lattenzaun. Wie schön könnte es sein, wenn in dem See die Papierschiffe schwimmen würden, wenn er einige Frösche aus dem Bach hineinsetzte und mit Steinen und Sand den Abfluß des Sees verrammeln könnte. Das würde einen Spaß geben!

Karlchen kroch oftmals durch den Zaun, begleitet von seinen beiden Brüdern, denen er auseinandersetzte, wie schön ein solcher Teich wäre. Aber es war in der letzten Zeit auch ohne Teich wunderschön auf der Wiese gewesen. Das Gras war geschnitten worden und trocknete nun. Seit wenigen Tagen stand es, in größeren Haufen zusammengeharkt, da. Ein herrlicher Spielplatz war das! Wie schön ließ sich hinter den Haufen Versteck spielen. So forderte Karlchen an einem der letzten Schultage im Monat Juni einige Freunde auf, mit ihm auf der Wiese Versteck zu spielen.

Fünf Knaben waren gern dazu bereit.

»Dürfen wir das?« fragte einer noch.

»O ja«, erwiderte Karl, »mein Vati kauft die Wiese doch mal, damit die Kranken auf der Wiese ruhen können. Und wenn mein Vati auch jetzt noch kein Geld hat, unsere reiche Tante Mary, die borgt es uns. Der Vati will wohl noch nicht; wenn er aber merkt, wie schön es sich auf der Wiese schläft, kauft er sie bestimmt.«

»Erlaubt es denn der Mann, dem jetzt noch die Wiese gehört, daß wir darauf herumrennen?« fragte ein besonders vorsichtiger Knabe.

»Ach der –«, meinte Karl wegwerfend, »der darf nichts sagen!«

»Ich bin dort mal von einem Manne mit dem Stock fortgejagt worden«, äußerte einer der anderen Freunde.

»Wir spielen Schlafen«, entschied Karl. »Jeder Heuhaufen gehört einem, das ist sein Haus, darin wohnt er. Wir buddeln uns tief hinein und müssen furchtbar schnarchen. Dann kommen wir zu Besuch, und dann liegen wir alle in einem Haufen und schnarchen.«

»Au fein!«

Sehnsüchtig wurde ein Sonnentag erwartet, der sich auch schon mit dem ersten Ferientage einstellte. Anfangs wurde die Wiese durch den Zaun beobachtet. Der Besitzer Dreffensteg war nirgends zu sehen, obwohl die Knaben am Zaun ein Indianergeheul anstimmten. Dann kroch einer nach dem anderen durch das Loch im Zaun. Voran Karl, dann folgten die Freunde, und Peter und Rudi bildeten den Schluß. Am Bach hielten die Knaben an. Nochmals erklärte Karl seinen Plan, hier einen Teich anzulegen, in dem er die Frösche aus dem Bache schwimmen und auf dem er Schiffe fahren lassen wollte. Die Freunde fanden den Plan herrlich und gaben gute Ratschläge. Einer meinte, man müsse einen Damm aus Steinen und Sand am Bache erbauen. Steine lägen genügend draußen auf der Straße, die gerade neu gepflastert würde. Sie würden schon genügend Material herantragen und in den Bach werfen.

Für heute war diese Arbeit jedoch nicht vorgesehen. Heute lockten die Heuhaufen, die wahrscheinlich bald verschwinden würden. Das Heu knisterte, wenn man hineinsprang. Zunächst machte es den Knaben Vergnügen, in die Haufen zu springen. Dann schichtete man sie wieder auf, um sich ein Haus daraus zu bauen. Karlchen und sein Freund Erich behaupteten, ihr Haus wäre zu klein, daher schleppten sie von einem anderen Haufen größere Mengen Heu herbei, um sich dann tief hineinzuwühlen.

Das machte viel Spaß! Von Zeit zu Zeit kam einer der Knaben aus seinem Heuhaufen hervorgekrochen, besuchte einen der Spielkameraden, zerrte ihn an den Füßen aus dem Heuhaufen oder setzte sich oben darauf. So wurde das Spiel von lautem Schreien und Lachen begleitet. Sehr bald war von den vielen Haufen nicht mehr viel zu sehen, denn auseinandergerissen lag das Heu auf der Wiese. Immer neue Haufen wurden ausgesucht, um neue Wohnungen zu bauen, und gerade als Karlchen wieder einen Freund in seinem Bau besuchen wollte, hörte er eine laute, scheltende Männerstimme.

»Wartet nur, ihr Bengels!«

Karlchen blickte erschrocken auf. Da kam quer über die Wiese der Nachbar Dreffensteg geschritten. Er schwang einen Knotenstock in der Hand.

»Wen ich jetzt erwische, dem geht es nicht gut!«

»Der Bauer kommt!« schrie einer der Knaben laut.

Aus den Heuhaufen schauten mehrere Kinderköpfe heraus. Sie sahen den schimpfenden Mann, der mit raschen Schritten näher kam.

Über und über mit Heu behangen, rannten die Knaben wie gejagt dem schützenden Lattenzaune zu. Keiner der Fliehenden kümmerte sich um den kleinen Rudi, der nicht so rasch folgen konnte und weit zurückblieb. Wohl rief ihm Peter einige Male zu, er solle sich beeilen, aber Rudi sah den Nachbar näher kommen, stolperte, begann laut zu schreien, erhob sich rasch wieder und eilte weiter. Doch schon fiel er wieder zu Boden und wurde von Dreffensteg erreicht. Alle anderen Knaben waren bereits jenseits des Zaunes und verbargen sich hinter einem dichten Gebüsch. Sie überließen den kleinsten Spielgefährten ruhig seinem Schicksal.

Rudi sah den erhobenen Stock. Mit ängstlichen Augen blickte er den Bauer an, denn er erwartete jeden Augenblick die Schläge.

»Euch werde ich es anstreichen, ihr Bengels! Was habt ihr auf meiner Wiese zu suchen?«

»Vatis Wiese«, weinte Rudi.

»Das ist meine Wiese! – Wie sieht das Heu aus? – Du bist der Kleinste und der Dümmste, dir kann ich keine Prügel geben, aber die anderen bekomme ich schon noch. – So, nun mach, daß du von der Wiese kommst. Wenn du noch einmal das Heu anrührst, gibt es Schläge. Merke dir das!«

»Wir haben doch gespielt – –«

»Spielt in eurem Garten, der ist groß genug. Wenn ihr noch einmal in mein Heu geht, sage ich es eurem Vater, der kann euch dann eine gehörige Tracht Prügel geben.«

Rudi bekam nur einen Klaps und eilte, noch mehrmals vor Aufregung zu Boden stürzend, dem Zaune zu, durch den er rasch verschwand. Die Knaben kamen zögernd hinter dem Gebüsch hervor. Karlchen reichte dem noch immer weinenden Rudi einen Bonbon, den er aus der Hosentasche zog. Dann schalten sie laut auf den bösen Nachbarn, der ihnen jede Freude verdarb.

»Wir werden ihn schon ärgern«, sagte Erich.

»Ins Heu dürfen wir nicht mehr«, meinte ein anderer Junge.

»Wenn das Heu aber weg ist, dürfen wir wieder auf die Wiese.«

»Ich sag' es dem Vati, daß er die Wiese kaufen soll. Dann können wir immerfort auf der Wiese spielen.«

Heute wagte Peter nicht, mit dem Vater darüber zu reden, da er fürchtete, der erzürnte Nachbar könne ihm von ihrem Spiel berichtet haben. Der lange Hans, ein Schulgefährte Karls, kam am nächsten Tage auf den Gedanken, Steine über den Zaun zu werfen, um die Heuhaufen zu treffen. Das fand großen Anklang, und gar bald flogen Steine hinüber auf die Wiese. Wenn einer zufällig ins Wasser fiel, brach ein wahres Freudengeheul unter den Kindern aus.

Schwester Lotte hörte den Lärm und hielt Ausschau.

»Was ist denn schon wieder los, Kinder? Ihr sollt keine Steine auf die Wiese werfen.«

»Wenn es ein bißchen dunkel ist, können wir uns wieder hinschleichen, dann sieht uns keiner mehr. Wir kommen morgen wieder.«

»Wenn es dunkel wird, muß ich schlafen gehen.«

»Wir bauen den Teich mit den Steinen. Immer kann der Mann doch nicht aufpassen.«

Schon am nächsten Tage vernahmen die Knaben von der Ostseite des Gartens her laute Hammerschläge. Als sie dem Geräusch nachgingen, sahen sie, wie Herr Dreffensteg jenseits des Zaunes stand und einige Latten gegen die Pfosten des Zaunes nagelte. Auch das von den Kindern entfernte Holz wurde wieder befestigt.

»Das ist 'ne Gemeinheit«, sagte Karl und verfolgte jede Bewegung des Bauern. Herr Dreffensteg schritt am Zaune entlang, prüfte jede Latte und schlug bald hier, bald dort noch einen Nagel ein. Karlchen konnte es nicht unterlassen, dem Nachbar hinter dem schützenden Busch eine lange Nase zu ziehen, während Peter sich veranlaßt fühlte, ihm die Zunge weit herauszustrecken.

»Ich glaube, wir können ganz hinten von dem einen Baum aus über den Zaun kriechen«, sagte Karlchen.

»Dann sind wir ganz nahe am Bach«, erklärte Peter.

Sofort wurde jener Platz in Augenschein genommen und festgestellt, daß es gar nicht schwer sei, von hier aus über den Zaun auf die Wiese zu gelangen.

»Au, fein«, frohlockte Karl, »dort steht gerade ein Busch, da kann er uns nicht sehen. Hinter dem Busch schmeißen wir Steine ins Wasser und machen den See.«

Am Nachmittag versuchte Karl den neu entdeckten Weg. Es glückte ihm, aber Peter konnte nicht ganz so rasch hinüber; Karl mußte ihm dabei helfen. Beim Absprung fiel der jüngere Bruder zwar auf die Nase, aber die Aussicht, ungesehen von hier aus im Bach spielen zu können, war zu verlockend. Jenseits des Zaunes stand Rudi und machte ein furchtbares Geschrei, weil er nicht mit hinüber konnte. Da Karl fürchtete, daß man in der Klinik durch den brüderlichen Lärm aufmerksam werden könnte, wurde überlegt, wie man den kleinen Rudi auch zum Bach bringen könne.

»Ein Brett müßten wir haben. Dann machen wir es wie Seiltänzer und gehen 'rüber.«

»Im Hof liegt ein Brett«, rief Karl.

Rudi bestand darauf, mit hinüberzukommen, um sein Schiff im Bach schwimmen zu lassen. Er wurde sehr zornig, als er allein im Klinikgarten zurückbleiben mußte, während die Brüder schon drüben so schön am Wasser spielten.

»Mutti holen«, rief er mehrmals, »Mutti soll Rudi 'rüberheben.«

Es blieb kein anderer Ausweg, man mußte das Brett herbeibringen, um auch Rudi einen Weg zum Bache zu ermöglichen. Glücklicherweise war niemand im Garten. So schleppten die beiden älteren Knaben aus dem Hof das lange Brett herbei, um es unter Mühsalen an den Zaun zu legen. Leider erwies sich der Anstieg aber als viel zu steil, da das Brett zu kurz war. Rudi wurde daher vertröstet, aber er war unzufrieden mit seinen Brüdern und brüllte wieder los. So mußten neue Pläne geschmiedet werden.

Erst als sich noch zwei Freunde einstellten, kam einer auf einen rettenden Ausweg. »Wenn wir nicht über den Zaun können, müssen wir unten durch«, sagte er. Das hatte er schon einmal zu Hause versucht. Auf diese Weise war er in den Obstgarten des Nachbarn gekommen.

»Ist doch nur weiche Erde. Unter dem untersten Holz machen wir uns einen Weg wie ein Maulwurf. Paßt mal auf!«

Mit Schippen und Händen wurde nun an der lockeren Stelle im Erdboden ein Durchgang ausgewühlt. Während einer der Knaben über den Baum auf des Nachbarn Wiese kletterte, wurde Karl auf die Erde gelegt. Er mußte die Arme über den Kopf heben und durch den Zaun stecken. So wurde er an den Händen unter dem Zaun durchgezogen. So kam auch schließlich der kleine Rudi, wenn auch recht verschmutzt, auf die Wiese hinüber.

»Wir werden diesen Weg noch weiter ausbauen«, meinte Erich, »es muß ein unterirdischer Gang werden.«

»Wollen wir das jetzt machen?«

»Nein, lieber am Bach spielen.«

Das Spiel am Bach war wundervoll. Die Knaben zogen Schuhe und Strümpfe aus und gingen den Bach entlang. Wenn sie die Beine herauszogen, von denen der Schlamm tropfte, war das ein besonderes Vergnügen. Es entstand schließlich ein Wettstreit, wer die schmutzigsten Füße bekam.

Das Abstauen des Baches ging nicht so rasch vonstatten, wie die Kinder gedacht hatten. Der Weg zu den Straßensteinen war weit und unbequem. Auch das Heu erfüllte seinen Zweck nicht, obwohl man mehr und mehr davon in den Bach stopfte. So gingen die Kinder auf Steinsuche aus. Eine Brücke über den Bach aus Heu war bald geschlagen; es machte riesigen Spaß, darauf herumzuturnen. Immer kühner wurden die Knaben, immer weiter wagten sie sich jenseits des Baches vor, doch behielten sie argwöhnisch das Haus im Auge, in dem der Bauer Dreffensteg wohnte.

»Mir ist ein bißchen kalt«, sagte Peter. »Meine Hosen sind ganz naß.«

»Das macht nichts«, rief Karlchen, »plansche nur kräftig im Wasser, dann wirst du wieder warm.«

Plötzlich ein Aufschrei: »Er kommt, er kommt!«

»Er kommt, er kommt«, wiederholten mehrere Stimmen. Die Knaben rüsteten zur eiligen Flucht. Am Bachrand lagen vergessen ein Paar Schuhe und Strümpfe, die Peter gehörten, aber er konnte sie unmöglich an seine schmutzigen Füße ziehen.

»Er kommt – er kommt!« klang es wieder.

Wieder kam ein Mann mit raschen Schritten über die Wiese. In wilder Jagd stürmten die Knaben dem Zaune zu. Dort entstand ein Gedränge, denn jeder wollte der erste sein, der sich in Sicherheit brachte. Der kleine Rudi war auch diesmal zurückgeblieben. Er konnte nicht über den Bach springen und versuchte, ihn zu durchwaten. Er wußte aber nicht, daß durch das Heu eine leichte Stauung des Wassers eingetreten war. Das kleine Gewässer war dadurch gerade an der Stelle, an der er durch den Bach wollte, erheblich tiefer geworden. Außerdem rutschte er in seiner Angst am Ufer ab und stürzte kopfüber in den Bach. Die Knaben hörten wohl seinen Schrei, aber keiner von ihnen blickte sich um. Sie hatten genug mit sich zu tun, um sich alle in Sicherheit zu bringen.

Dann wurde es still. Im Garten der Klinik sammelten sich die Knaben. Nur Rudi fehlte. Sie schauten zurück zur Wiese und sahen den Nachbarn. Er stand jetzt in der Nähe des Busches und kauerte sich dort gerade nieder.

»Der will uns überlisten«, meinte Karl. »Er denkt, wir kommen wieder.«

»Jungens – Jungens«, hörten sie nach kurzer Zeit das laute Rufen Dreffenstegs, »kommt rasch her. Oder geht und ruft den Vater!«

»Na, schön dumm«, flüsterte Karl und schlich mit den anderen Knaben noch tiefer in das Innere des Gartens zurück. Mehr und mehr entfernten sie sich von dem Zaun und saßen schließlich spielend in der Efeulaube am anderen Ende des Grundstückes.

Noch einmal ließ Dreffensteg sein lautes Rufen hören, doch kam von nirgendwo eine Antwort.

»Rudi! Rudi!«

Aus dem gestauten Bach hatte der Bauer den Knaben herausgezogen. Der Schlamm tropfte dem Kinde vom Gesicht und aus dem geöffneten Munde. Bewegungslos lag der Kleine da. Dreffensteg glaubte nicht anders, als daß Rudi im Schlamme des Baches bereits erstickt sei.

»Herr Doktor – Herr Doktor! Schwester Waltraut!« so rief er. Dann nahm er das leblose Kind auf den Arm und trug es an den Zaun. Immer lauter tönte seine Stimme. Wenn er auf dem Umweg über die Straße den Knaben in die Klinik trug, ging viel kostbare Zeit verloren, wo doch kein Atemzug mehr aus der Brust Rudis kam.

»Herr Doktor! – Zu Hilfe!«

In diesem Augenblick verließ Pucki gerade die Klinik. Was war das für ein Rufen?

»Zu Hilfe – zu Hilfe!«

»Die Knaben?« dachte sie. – »Sie spielten im Garten. – Was ist geschehen?«

»Herr Doktor – schnell – schnell!«

Das Rufen kam aus dem Garten, es war die Stimme Dreffenstegs. Im Laufschritt stürmte Pucki den Weg entlang, hin zum trennenden Zaun.

»Ihr Junge ist in den Bach gefallen«, rief ihr der Bauer entgegen.

»Rudi!«

Die starken Arme Dreffenstegs reichten der geängstigten Mutter den leblosen Knaben über den Zaun.

»Rudi!«

Pucki sah nur das totenblasse Gesicht ihres Jüngsten mit den geschlossenen Augen. Wie aus weiter Ferne hörte sie die Worte: »Er ist kopfüber in den Graben gestürzt, der Schreck hat ihn ohnmächtig gemacht. Gott sei Dank, daß ich gerade hinzukam, sonst wäre es vielleicht zu spät gewesen.«

Kein Atemzug, kein wimmernder Laut, nichts war zu hören. Pucki dachte nicht an ihr helles Kleid, das bereits über und über befleckt war. Sie hielt ihren Knaben im Arm, ihren Rudi, und eilte der Klinik zu.

»Waltraut – Claus – –!«

Die Füße trugen sie kaum noch. Ihr war, als setze der Schlag ihres Herzens aus, als taumele sie. Sie wußte nur das eine: Rudi atmete nicht mehr, er war vielleicht schon tot!

Claus, der gerade einen Krankenbesuch machte, hörte die Stimme seiner Frau, er hörte aus dem kurzen Ruf die Angst einer Mutter. Sofort eilte er hinaus in den Flur und sah Pucki, die ihm das Kind entgegenstreckte. Als er es genommen hatte, mußte Pucki sich gegen die Wand lehnen. Kraftlos flüsterte sie:

»Er fiel in den Bach.«

»Hallo, Schwester Waltraut!« Der Arzt wußte, hier war rasche Hilfe nötig. Er konnte sich Puckis jetzt nicht annehmen, die einer Ohnmacht nahe war. Als Waltraut gelaufen kam, durch den angstvollen Ruf des Arztes erschreckt, fing sie die ohnmächtige Schwester gerade noch in ihren Armen auf. Nur ein einziges Wort kam über die erblaßten Lippen Puckis: »Rudi –!«

Aber auch Doktor Gregor empfand einen furchtbaren Schreck. Sein Junge gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Das war keine Ohnmacht, die den Knaben befallen hatte, hier schien Schlimmeres vorzuliegen. Schwester Lotte wurde gerufen, denn zunächst mußte der Knabe gereinigt, der Schlamm aus Nase, Mund und Ohren entfernt werden. Dann begannen die Wiederbelebungsversuche.

»Rudi, mein Junge«, sagte Claus erschüttert, »darfst doch deine Eltern nicht verlassen.«

Die Wiederbelebungsversuche wurden ununterbrochen fortgesetzt. Doktor Gregor hob die kleinen Ärmchen über den Kopf des Kindes, ließ sie langsam wieder sinken, drückte sie an das Körperchen und hob sie wieder empor. Unentwegt ruhten dabei seine Augen auf dem blassen Kindergesicht.

Noch immer rührte sich der Knabe nicht, noch kam kein Hauch aus seinem Munde. Da wurde die Tür aufgerissen, Pucki trat ein, hinter ihr Waltraut.

»Claus – lebt er?«

»Ruhig bleiben, Pucki, ruhig bleiben!«

Sie wußte nur zu gut, daß hier Wiederbelebungsversuche gemacht wurden, die hoffentlich Erfolg haben würden.

»Rudi, mein Rudi!«

»Pucki, ich bitte dich, gehe hinaus«, sagte Claus zärtlich.

»Du darfst mich nicht fort schicken! – Rudi, mein lieber Junge.« Sie wollte sich über das Kind beugen, aber in diesem Augenblick versagten ihre Kräfte. Pucki rang verzweifelt nach Atem, vor ihren Augen erschienen rote Kreise; sie sank erschöpft auf dem Diwan zusammen, umsorgt von Waltraut.

Endlich war es Doktor Gregor gelungen, Rudi ins Leben zurückzurufen. Die ersten schwachen Atemzüge kamen aus seinem Munde. Da wischte sich der Arzt die Schweißtropfen von der Stirn. Er hätte aufjauchzen mögen, doch dort drüben lag seine Frau totenblaß auf dem Diwan, totenblaß und mit verkrampften Händen.

»Pucki – unser Rudi lebt!«

Ein kurzer Schrei kam aus ihrem Munde, dann schüttelte ein Weinkrampf die zierliche Frauengestalt. Waltraut eilte davon, um der erregten Schwester ein Beruhigungsmittel zu holen. Rudi aber öffnete die Augen und brach bald in lautes Geschrei aus. Dieses Geschrei beglückte den Vater über alle Maßen. Er hatte seinen Jüngsten wieder, der von ihm fast schon aufgegeben war.

»Schwester Lotte, der Junge bleibt vorläufig hier, ich bringe meine Frau hinüber und komme sofort zurück.«

Aber Pucki wollte nicht sogleich fort, erst mußte sie Rudis Hände fassen und ihm einen Kuß auf die Stirn drücken. Dann fühlte sie erneut die große Schwäche, die ihr fast die Kraft zum Gehen nahm. Gestützt von Claus und Waltraut brachte man sie hinüber in die Wohnung. Emilie war aufs höchste erschrocken, als sie ihre liebe Doktorsfrau so kommen sah. Rasch richtete sie alles her, und Pucki wurde ins Bett gebracht.

»Komm bald zurück, Claus, und erzähle mir von Rudi.«

»Du brauchst dich nicht mehr aufzuregen, Pucki. Wie hätte ich ihn verlassen, wenn noch Gefahr bestünde?«

»Wo sind die anderen Kinder?«

»Ich will sie holen«, sagte Emilie. »Ich habe sie vorhin in der Laube sprechen hören.«

»Vielleicht liegen sie auch im Bach«, hauchte Pucki mit starren Augen.

»Pucki beruhige dich.«

»Ich hole sie her«, sagte Emilie und eilte hinaus auf den Flur. Sie rief in den Garten die Namen der beiden Knaben. »Schnell, Karlchen, schnell Peter, die Mutti will euch sehen!«

Die Gerufenen kamen sehr langsam näher. Die Stimme Emiliens verhieß nichts Gutes.

»Ich friere doch so sehr!« rief Peter.

Erst gingen die Kinder in die Küche zu Emilie, um ihre unsauberen Füße zu reinigen. Emilie mußte auch die Schuhe und Strümpfe vom Bach holen, ehe man die Mutti besuchte.

»Peterli, wie siehst du denn aus? Was habt ihr wieder gemacht? – Die Mutti ist krank geworden vor Angst.«

»Die Mutti ist krank?«

»Und der Rudi ist beinahe ertrunken! Die Mutti ist so furchtbar erschrocken, daß sie im Bett liegen muß.«

»Ich will zur Mutti«, sagte Peter weinerlich. »Ich friere doch so!«

»Erst ziehe ich dir die nassen Hosen aus und bade die Füße.«

»Ich gehe zur Mutti«, sagte Karl und lief davon.

Währenddessen rieb Emilie den fröstelnden Peter sauber ab, dann gab sie ihm einen leichten Klaps und sagte ärgerlich: »Immer nur dummes Zeug machen! Der Vater sollte euch einmal kräftig durchprügeln.«

Sehr leise schlich Peter ins Schlafzimmer. Als er die Mutter so verändert sah, als er nach ihrer heißen, zitternden Hand griff, wurde ihm angst.

»Mutti, ich möchte zu dir ins Bett, mir ist so kalt!«

»Hast du auch im Bach gelegen?« fragte sie matt.

»Mutti, ich möchte zu dir ins Bett.«

»Ihr macht, daß ihr wieder hinauskommt«, sagte Claus, »ihr wartet im Kinderzimmer auf mich. Keiner rührt sich aus dem Hause. Eure Mutti ist sehr krank, das seht ihr doch.«

Claus blieb noch längere Zeit bei seiner Frau. Es war nötig, ihr sofort eine Medizin zu verschreiben. Der Vorfall hatte die Ärmste derart erregt, daß das Herz noch immer in wilden Schlägen gegen ihre Brust pochte.

»Geh zu Rudi, Claus, er ist vielleicht krank.«

Flüsternd sprach Claus mit Waltraut, dann verabschiedete er sich von seiner Frau und ließ Waltraut bei ihr zurück. Er ging jedoch nicht gleich hinüber zur Klinik, sondern betrat erst das Kinderzimmer. Von den Knaben wollte er sich berichten lassen, wie sich der traurige Vorfall mit Rudi ereignet hatte. Wenn sie die Schuld daran trugen, sollte ein ordentliches Strafgericht einsetzen.

Die ersten Worte waren noch nicht gesprochen, da erkannte der Vater, daß Peter, der ohnehin schwächlich war, vor Frost bebte. Claus schaute in seine matten Augen und steckte ihn sofort ins Bett.

Von Karl erfuhr er dann alles Nähere. Über Rudi konnte er freilich keine Auskunft geben. Davon berichtete ihm erst später der Bauer Dreffensteg.

»Schäme dich, Karl«, sagte Doktor Gregor sehr ernst. »Wenn du deine Brüder zu dummen Streichen veranlaßt, hast du dich auch um sie zu kümmern. Nun ist die Mutti krank, beide Brüder sind krank, und du trägst die Schuld daran.«

»Vati – –«

»Nein, Karl, ich will deine Hand jetzt nicht haben! Du bist ein unzuverlässiger und eigennütziger Junge. Wenn die gute Mutti nun tagelang leiden muß, so ist das deine Schuld. – Schäme dich!«

Zusammengekauert hockte der Knabe allein in der Spielecke, und langsam rannen ihm dicke Tränen über die Wangen.


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