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Die Frau Oberin

Puckis Reisevorbereitungen waren schnell beendet. Beim Packen der Koffer standen die Kinder neben ihr. Sie fragten immer wieder, ob sie gesund heimkommen würde. Wenn Rudi darüber jammerte, daß die Mutti von ihm ginge, zupfte ihn Karl verstohlen an der Hose, um ihm zuzuflüstern:

»Laß sie verreisen, sonst wird sie nicht gesund.«

Als aber der Morgen kam, der letzte Morgen, an dem Pucki im Kreise ihrer Familie weilte, war den Kindern das Herz sehr schwer, zumal sie heute auch die Frau Oberin erwarteten, die in der Abwesenheit der Mutter das Haus betreuen sollte.

Emilie hatte den Fehler begangen, einmal, als Karlchen recht übermütig war, zu sagen: »Laßt erst die Frau Oberin hier sein, die läßt euch nichts durchgehen. Sie ist viel strenger als die Mutti.«

»Warum ist sie streng?«

»Weil sie euch erziehen will.«

Karlchen wußte mit diesen Worten nichts anzufangen, aber die Oberin stand nun wie ein Gespenst vor ihm. Mehrfach fragte er die Mutti, ob die Oberin eine böse Frau sei. Pucki beruhigte ihren Knaben, aber der flüsterte seinen Brüdern zu: »Wartet nur ab, wenn die Frau Oberin kommt, will sie uns erziehen, und das ist schlimm!«

Nun standen die Koffer im Flur. Pucki räumte im Zimmer noch das letzte zusammen und wollte gerade den Morgenrock in den Schrank hängen, als sich Peters Hand bittend auf die ihre legte.

»Mutti, pack ihn nicht fort. Wir hängen ihn an einen Nagel in unser Schlafzimmer. Dann denken wir, du hängst dort. Dann freuen wir uns.«

»Was, ihr freut euch, wenn ich am Nagel hänge?«

»Ja, wir gucken dann immerzu hin und sagen: das ist die Mutti!«

»Mein Morgenrock würde in den vier Wochen meines Fortseins sehr verstauben.«

»Nein, Mutti, wir streicheln allen Staub weg. – Bitte, bitte, gib uns deinen schönen Morgenrock.«

Pucki küßte den Kleinen herzlich. Aus solchen Äußerungen merkte sie, wie schwer den Kindern der Abschied wurde. Aber immer wieder sprachen sie die Worte: »Du mußt verreisen, weil du gesund werden sollst. Wenn wir hier Lärm machen, bleibt dein Herz krank.«

Die Kinder trösteten sich damit, daß sie um so lauter durch Haus und Garten toben könnten, wenn die Mutter nicht da wäre. Die Mutti hörte es dann ja nicht! Der Frau Oberin wollten sie schon aus dem Wege gehen.

Gegen zehn Uhr fuhr ein Auto am Doktorhause vor, das die erwartete Frau Oberin brachte. Pucki hätte es anfangs lieber gesehen, wenn sie bereits einen Tag früher gekommen wäre. Leider aber hatte Fräulein Radill nicht früher kommen können.

Obwohl Pucki die Oberin vor Jahren flüchtig kennengelernt hatte und sich ihrer als einer großen stattlichen Frau erinnerte, wurde ihr heute das Herz ein wenig schwer, als sie die männliche, bebrillte Dame in dem enganschließenden, langen Kleide erblickte. Ihre tiefe Stimme, ihre gemessenen Bewegungen würden den Kindern fremd sein. So würde wahrscheinlich längere Zeit vergehen, bis sie sich an die Oberin gewöhnten.

Alles, was die Oberin sagte, klang sehr beruhigend. Sie versprach, die Kinder auf das gewissenhafteste zu behüten, ihnen alle ihre Zeit zu widmen und es an nichts fehlen zu lassen.

»Meine drei Jungen sind ein wenig wild, Frau Oberin«, begann Pucki, »man muß ihnen mitunter etwas nachsehen. Aber sie sind gutherzig und wahrhaftig. Nun, Sie wissen ja, daß frische, aufgeweckte Knaben gern übermütige Streiche machen.«

»Ich kann das alles beurteilen, Frau Doktor. Soweit es erziehlich verantwortlich ist, werde ich ihren Streichen Rechnung tragen. Ich halte es aber für meine Aufgabe, in den vier Wochen meines Hierseins die drei Kinder auch wirklich zu erziehen.«

Nach halbstündiger Unterredung, die Puckis Herz nicht gerade erleichterte, rief sie die drei Knaben, um sie mit der Oberin bekannt zu machen. Der Anfang war nicht vielversprechend.

»Bist du die Neue?« fragte Peter.

Die ohnehin große Frau Oberin richtete sich noch höher auf. Sie musterte die Knaben ein Weilchen und reichte dem schüchtern dastehenden Karl die Hand.

»Du bist also der Älteste, der Karl, nicht wahr? Du gehst bereits zur Schule?«

»Nein, jetzt gehe ich nicht in die Schule.«

»Weil du noch acht Tage Ferien hast. Mit meiner Frage meinte ich, ob du bereits im April in die Schule gekommen bist.«

Karlchen wußte darauf nichts zu antworten. Da wandte sich die Oberin an Peter.

»Du bist der Peter? Es ist mir bekannt, daß schon manche schwere Krankheit hinter dir liegt. Du hast daher die Pflicht, dich recht sehr vorzusehen, zumal du eine schwere Lungenentzündung gerade überwunden hast.«

Die Oberin wandte sich an Frau Doktor Gregor. »Wäre es Ihnen recht, wenn ich die Kinder von vornherein daran gewöhne, mich ›Frau Oberin‹ zu nennen? Es erhöht den Respekt; die Erziehungsarbeit wird dadurch erleichtert.«

»Wenn Sie es wünschen, natürlich. Ich hätte den Kindern sonst gesagt, sie sollten ›Tante‹ zu Ihnen sagen.«

»›Tante‹ ist ein allgemeiner Begriff, den ich nicht schätze. Ich denke, wir wollen es bei der ›Frau Oberin‹ belassen.«

»Tante, wenn du in den Himmel kommst, hast du dann auch die Brille auf der Nase?« fragte Peter. »Gibt es auch Engel, die Brillen haben?«

»Du bist nicht gefragt, lieber Junge. Ein artiges Kind antwortet nur, wenn es gefragt wird. Wenn du mich aber etwas fragen mußt, wirst du in Zukunft sagen: Frau Oberin, bitte, wollen Sie mir eine Frage beantworten.«

Pucki nagte verlegen an der Unterlippe. Sie wußte schon jetzt, daß sie mit dieser Vertretung nicht den rechten Griff getan hatte. Wenn nur Claus endlich käme, damit sie ihm vertrauensvoll noch einmal die Kinder ans Herz legen könnte. Auch mit Waltraut würde sie noch reden.

»Du bist der Jüngste, der Rudolf?« setzte die Oberin die Begrüßung fort. »Nicht wahr, wir werden gute Freunde sein?«

»Und wer bist du?« fragte Rudi zurück.

»Die Frau Oberin, die jetzt für euch sorgen und mit euch spielen will.«

»Mutti – kann sie spielen?«

Pucki nahm rasch ihren Jüngsten auf den Arm, um ihn am Weitersprechen zu hindern. Es war wohl das beste, nachher, wenn die Begrüßung mit den Kindern vorüber war, noch einmal mit Fräulein Radill zu sprechen und um Nachsicht zu bitten.

Die Knaben wurden bald hinausgeschickt, und Pucki wandte sich sogleich an die gestrenge Frau Oberin.

»Sie haben meine Knaben nun gesehen, Frau Oberin –«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen, Frau Doktor. Ich bin eine gute Menschenkennerin, ich habe es in Ihren Zügen gelesen. Es ist mir, die ich jahrelang einem Kinderheim vorstand, nichts Neues, daß Mütter mit meiner Erziehungsarbeit anfangs nicht einverstanden sind. Ich wirke zu streng. Ich fühle es, aber –« die Oberin reichte Pucki beide Hände, »machen Sie sich keine Sorgen während Ihres Fernseins. Ich bin nicht so streng, wie es den Anschein hat. Bei Kindern kommt alles auf den ersten Eindruck an. So bin ich gezwungen, mich anfangs unnahbar zu zeigen, um den Respekt zu erhöhen. Die Knaben werden schnell Vertrauen zu mir fassen, ich werde ihre Liebe erringen und kann dadurch große erzieherische Werte schaffen.«

»Ich weiß, Frau Oberin, daß ich mich in allem auf Sie verlassen kann. Meine Kinder sind nun einmal wild und übermütig.«

»Ich werde das Maß meiner Duldsamkeit auf das äußerste erweitern. Ich werde in meiner Nachsicht bis an den Rand des Möglichen gehen. Und noch einmal, beste Frau Doktor: reisen Sie ohne Sorgen.«

Kurz darauf kam Doktor Gregor ins Zimmer, um die Oberin zu begrüßen. Als Emilie sie dann auf ihr Zimmer führte und Claus mit Pucki kurze Zeit allem war, sah er in ein sorgenvolles Muttergesicht.

»Ist es wirklich auch die Rechte für unsere Kinder? Werden sie sich nicht unglücklich unter so strenger Zucht fühlen?«

»Laß nur, Pucki, es schadet den dreien nichts, wenn sie für ein Weilchen kurzgenommen werden. Sie kommen mit ihren Sorgen schon zu mir oder zu Waltraut, und ich werde dafür sorgen, daß jeder zu seinem Recht kommt. Die Hauptsache bleibt, daß wir eine gewissenhafte Dame im Hause haben, die über unsere Kinder wacht. Unsere Frau Oberin wird die Kinder nicht aus den Augen lassen, und Unfälle, wie den letzten, haben wir nicht zu befürchten.«

»Ich wünschte, ich wäre wieder daheim, Claus.«

»Frisch und gesund, Pucki, das ist die Hauptsache. Ich erwarte viel von dieser Reise. Mach dir also keine Sorgen; alles wird gut gehen.«

Als die Abschiedsstunde kam, als sich auch Frau Förster Sandler von den Kindern verabschiedete, um mit Pucki zur Bahn zu fahren, da hatten die drei Knaben Mühe, die aufsteigenden Träum zurückzudrängen. Karlchen rief immer wieder mit heiserer Stimme:

»Die Mutti soll gesund werden!«

Claus schenkte jedem der Knaben in der Abschiedsstunde eine kleine Tafel Schokolade. Von der Oberin wurde das mit einem mißbilligenden Kopfschütteln hingenommen.

»Wenn ihr der Mutti eine Freude bereiten wollt«, klang es zum Abschied, »so seid lieb und folgsam zur Frau Oberin.«

Flüsternd standen die drei Knaben beisammen, während die Oberin dem Auto nachwinkte.

»Ob ich ihr mal so schöne Gesichter schneide? Der alte Mann in der Klinik sagt immer, er muß tüchtig darüber lachen. Vielleicht freut sie sich auch.«

»Mach mal ein Gesicht wie der Mond«, rief Rudi, der nichts Schöneres kannte, als wenn Peter sein Gesicht furchtbar verzerrte.

Peter machte den »Mond«, schob den Mund nach links, kniff das eine Auge zu und blies die Backen auf. In diesem Augenblick betrat die Oberin das Zimmer. Peter zeigte ihr das Mondgesicht.

»Was soll das –?«

»Das ist der Mond«, rief Rudi lachend.

»Nein, mein Kind, das ist ein übermütiger Knabe. Kinder sollen keine Gesichter schneiden, Peter. Es geht ein Märchen um, in dem heißt es, ein Kind, das häufig Gesichter schneidet, wird damit bestraft, daß das Gesicht plötzlich so stehenbleibt.«

Peter betrachtete längere Zeit das Gesicht der Frau Oberin. »Du hast wohl auch mal Gesichter geschnitten, Frau Oberin?«

»Erstens, mein lieber Peter, werde ich nicht mit du angeredet, sondern mit dem Worte Sie. Zum zweiten aber hast du solche Fragen nicht zu stellen. – Und nun wollen wir uns zusammensetzen und etwas spielen. – Was könnt ihr spielen?«

»Ich kann auf dem Geländer 'runterrutschen! Das kannst du wohl nicht?«

»Nein, das kann die Frau Oberin nicht«, bestätigte Karl, »dazu ist die Frau Oberin viel zu alt und zu groß.«

»Hast du, wie du klein gewesen bist, auf dem Geländer 'runtergerutscht, Frau Oberin?«

»Nein, Peter, so etwas habe ich niemals getan, das hätten meine Eltern nie geduldet.«

»Meine Eltern haben es aber geduldet«, gab Peter zurück. »Was haben denn Ihre Eltern geduldet, Frau Oberin?«

»Meine Eltern sorgten für gute Erziehung, und ich war folgsam. Ein Verbot von ihnen genügte.«

»Bei uns muß die Mutti oft schelten.«

»Ich hoffe, meine lieben Kinder, daß mein einmaliges Verbot genügt. Sonst bin ich tief betrübt.«

»Was willst du nun mit uns spielen?« fragte Rudi.

»Du mußt fragen: Bitte, was wollen Sie mit uns spielen, Frau Oberin? – Wiederhole den Satz noch einmal, Rudolf.«

Rudi wiederholte die vorgesagten Worte ängstlich.

»Mit Murmeln schmeißen?« wagte Peter einzuwenden.

»Mit Murmeln werfen, Peter. Schmeißen ist kein schönes Wort.«

»Ich weiß viel schönere Worte«, kicherte Peter, »aber die darf ich nicht sagen, sagt die Mutti. – Soll ich sie dir mal sagen?«

Karl räkelte sich auf seinem Stuhl. »Wie sitzt du denn da, Karl?« klang es tadelnd.

»Danke – Frau Oberin – ich sitze sehr gut.«

»Ich bin tief betrübt, daß du meine Mahnung nicht verstehst, Karl. Ich hoffe jedoch, es wird langsam werden.«

»Was wollen wir nu spielen?« drängte Rudi.

»Kommt, wir machen einen Kreis.« Der Kreis wurde geschlossen. »Und nun paßt gut auf, wie ich es mache.« Mit tiefer Stimme begann die Oberin zu singen, wobei sie den linken Fuß nach links setzte und wieder zurücknahm:

»Füßchen links, Füßchen links,
ei, wie ist das schön!
Füßchen links, Füßchen links,
nun woll'n wir uns drehn!«

Sie ließ die Hände der Kinder los und drehte sich einmal herum, dann wurde der Kreis wieder geschlossen. Von neuem begann sie zu singen:

»Füßchen links, Füßchen links,
ei, wie ist das schön!
Füßchen links, Füßchen links,
nun woll'n wir uns drehn!«

Die Knaben machten die Bewegungen mit und versuchten auch den Text zu singen. Als man aber zum fünftenmal mit dem Vers begann, riß sich Peter los:

»Ach, das ist Quatsch! Spiele lieber was anderes mit uns! Frau Oberin, das ist nicht hübsch! Wir wollen in den Garten gehen und rennen. – Kannst du rennen?«

»Wie sollst du zu mir sagen, Peter? – Bitte, können Sie auch rennen, Frau Oberin?«

»Können Sie rennen, Frau Oberin?« rief da Peter.

»Ich bin sehr betrübt, Peter, daß du noch immer nicht die richtige Anrede gebrauchst. – Wie sollt ihr zu mir sagen?«

»Frau Oberin«, sagte Karlchen.

»Warum sagt ihr es nicht auch, Peter und Rudolf? – Also noch einmal: Wie sollt ihr zu mir sagen?«

»Frau Oberin.«

Peter war weinerlich zumute. Schon wurden ihm die Augen feucht. Kräftig zog er mit der Nase.

»Hast du kein Taschentuch, Peter?«

Er riß es aus der Hosentasche und verbarg es auf dem Rücken. »Das gebe ich nicht! – Der Georg hat es auch mal haben wollen. Da hat die Mutti gescholten, weil ich es nicht wiederbrachte. – Nein, das gebe ich Ihnen nicht!«

»Du sollst es selbst benutzen, Peter. Ich bin tief betrübt, daß ich dir so etwas erst sagen muß. – Aber nun kommt, ihr sollt mir jetzt den Garten zeigen.«

Die Knaben wollten voranlaufen, doch die Oberin nahm Rudolf an die eine und Peter an die andere Hand. »Karl, du schreitest neben deinem Bruder einher.«

Mit langsamen Schritten ging man hinaus in den Garten. Als Karl draußen losrennen wollte, rief ihn die Oberin zurück.

»Karl, du bleibst bei mir. Ich bin sehr betrübt, daß ich dir das zweimal sagen muß.«

»Warum sagst du immerzu, daß du betrübt bist, Frau Oberin. – Warum sind Sie denn betrübt, Frau Oberin?«

»Weil ihr euch so wenig Mühe gebt, brave Kinder zu sein. – Und nun wollen wir uns die Blümchen ansehen.«

»Ach nee, wir wollen Haschen spielen«, rief Peter wieder. »Können Sie mit uns Haschen spielen, Frau Oberin?«

»Nein, das ist nur ein Spiel für Kinder.«

»Ach nein, Vati, Mutti und Tante Waltraut spielen es auch mit uns. – Guck, da kommt die kranke Frau mit dem komischen Namen!« Schon riß sich Peter von der Hand der Oberin los und eilte gemeinsam mit seinem Bruder Karl auf die Patientin zu. Die junge Frau empfing die beiden Knaben mit einem freundlichen Lächeln.

»Tante«, flüsterte Peter, »guck mal dort!« Er wies mit dem Finger auf die Oberin. »Das ist die Neue, zu der müssen wir Frau Oberin sagen.«

»Karl – Peter!« ertönte die tiefe Stimme Fräulein Radills.

»Wir hören es nicht«, flüsterte Peter der Patientin zu, »komm rasch, wir gehen fort!«

»Wenn die Frau Oberin euch ruft, müßt ihr folgen, Kinder.«

»Nein, nein, Tante, jetzt bleiben wir bei dir. – Komm schnell!« Schon zogen die beiden Knaben die junge Frau fort, um außer Hörweite zu gelangen.

»Karl Gregor – Peter Gregor!«

»Laß sie nur rufen«, sagte Peter.

Die Patientin mußte lachen und ließ die beiden Knaben von der neuen Hausgenossin erzählen.

»Immerfort sagt sie, sie ist betrübt.«

»Ich werde ihr mal ein Gesicht schneiden, damit sie lacht«, meinte Peter gutmütig, »ich mach' den Mond. – Tante, soll ich dir mal den Mond oder die Teufelsfratze machen?«

»Ich rufe zum dritten und letzten Male: Karl Gregor – Peter Gregor!«

»Nu ruft sie nicht mehr, nu hat sie zum letzten Male gerufen. Nu ist es gut.«

Obwohl die Patientin die Knaben ermahnte, dem Rufe zu folgen, folgten sie nicht. Sie liefen noch weiter davon. Bald standen sie am Lattenzaun und schauten hinüber auf die verbotene Wiese.

»Wir klettern nicht 'rüber«, sagte Karl.

»Nein, das dürfen wir nicht, sonst kommt er wieder mit dem Stock, oder der Rudi fällt in den Bach, und ich werde krank.«

»Wollen wir zu Tante Waltraut gehen?«

Das fand Anklang. Sie mußten doch der guten Tante von der Frau Oberin erzählen.

Waltraut ermahnte die Kinder liebevoll, recht artig zu sein und zur Frau Oberin zurückzugehen, weil sonst die Mutti keine Ruhe hätte, denn die Frau Oberin würde es der Mutti berichten.

»Dann schreibt sie«, sagte Karlchen nachdenklich, »ich bin tief betrübt, und dann ist die Mutti auch tief betrübt. – Aber Tante, sie spielt so was Dummes mit uns.«

»Geht jetzt zurück und zeigt ihr den Garten. Und wenn sie mit euch spielen will, so macht ihr Vorschläge.«

»Auf dem Geländer will sie nicht rutschen, und Purzelbaum will sie auch nicht mit uns spielen. Haschen spielt sie auch nicht – –«

»Es gibt noch viele andere Spiele. Doch nun lauft zurück, Tante Waltraut hat viel zu tun. Heute nachmittag komme ich zu euch, dann werde ich die Frau Oberin begrüßen.«

»Ach – komm doch gleich!«

»Nein, ich habe keine Zeit. – So, und nun geht.« – –

Rudi hatte vergebliche Versuche gemacht, sich von der Hand der Oberin zu lösen, um den Brüdern zu folgen. Als es ihm nicht gelang, warf er sich auf die Erde.

»Stehe auf, mein Kind.«

Rudi blieb aber liegen. – Zwei-, dreimal erfolgte die Mahnung, aufzustehen, dann zog ihn die Oberin energisch empor und stellte ihn auf die Füße. Aber sogleich saß Rudi wieder auf der Erde. Dieses Spiel wiederholte sich dreimal.

»Ich bin tief betrübt, Rudolf.«

Auch diese Worte machten auf den Kleinen keinen Eindruck. Erst als die Brüder zurückkehrten, erhob er sich. Die Oberin rückte an der Brille und schob mehrmals die Oberlippe hin und her. Da begann Peter treuherzig:

»Bitte, Frau Oberin, wir werden jetzt artig sein, wir sind sehr betrübt, daß wir fortgelaufen sind. Nun wollen wir wieder spielen. – Was spielst du denn mit uns?«

»Ihr zeigt mir jetzt den Garten, und dann gehen wir zurück ins Haus. Dort spielen wir mit dem Pferdestall.«

»Kannst du das, Frau Oberin?«

»Doch, doch«, sagte Karlchen rasch, »das können Sie sehr gut, Frau Oberin. Dummer Peter, du mußt doch nicht immer du sagen, sonst ist die Frau Oberin sehr betrübt.«

Die Oberin strich Karl über den Blondkopf. »Brav, mein Kind, du gibst dir Mühe. Das hat mich sehr gefreut. Nicht wahr, wir werden bald gute Freunde sein. Ich habe euch lieb, und ihr sollt mich auch liebhaben.«

»Bitte, Frau Oberin!«


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