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Entsagen

Am Fenster des Prellschen Wohnzimmers saß Pucki, neben sich Tristan und Florestan. Während Pucki sich bemühte, zerrissene Handtücher auszubessern, quälte sich Tristan übereifrig damit ab, selber einen Knopf anzunähen. Florestan schaute ihm aufmerksam zu.

Von Zeit zu Zeit hielt der Knabe dem jungen Mädchen seine seltsame Handarbeit hin und fragte: »Mache ich es gut?«

Auf Puckis Gesicht lag ein großes, stilles Glück. Sie fühlte sich im Hause des Künstlers von Woche zu Woche mehr am Platz. Anfangs war ihr bange gewesen, als ihr Frau Prell Ende Juni eröffnet hatte, daß sie sich, um ihren Roman zu vollenden, für sechs Wochen nach Oberbayern in einen ruhigen Ort zurückziehen wolle. Es hatte nochmals eine heftige Szene zwischen den Eheleuten gegeben, denn Herr Prell meinte, es habe doch keinen Zweck, an diesem wertlosen Roman weiter zu arbeiten; aber Frau Edda setzte ihren Willen durch. Herr Prell war von einem reichen Verehrer für eine längere Autofahrt eingeladen worden, die ihn nach der Schweiz und Italien führen sollte. Er sagte daher kurzerhand bei seinem Freunde ab, weil ihn diese Autofahrt weit mehr lockte als der stille Landaufenthalt.

Schon zwei Tage nach Schluß des Theaters war er vergnügt abgefahren. Auch Va erklärte, daß sie eine Ausspannung von vierzehn Tagen haben müsse. Man hatte ihr diesen Urlaub sogleich zugesagt, denn Frau Prell war der Ansicht: »Sie, liebste Pucki, sind solch fabelhafter Mensch, daß Sie allein mit den Knaben fertig werden. Sie brauchen nicht zu kochen. Sie gehen mit den Knaben ins Restaurant. Das Abendbrot müssen Sie allerdings zu Hause einnehmen.«

Als man Pucki später das Wirtschaftsgeld aushändigte, erschien es dem jungen Mädchen sofort ganz ausgeschlossen, täglich ins Restaurant gehen zu können. Ob sie versuchte, selber zu kochen? Die Mutter hatte sie immer in den Ferien angehalten, ein wenig die Küche mit zu versorgen. Diese geringen Kenntnisse würden ihr jetzt von großem Nutzen sein.

So wirtschaftete Pucki seit zehn Tagen allein, hatte die Verantwortung übernommen und dabei viel Freude. Die Anhänglichkeit der Knaben wuchs von Tag zu Tag. Sie ließen sich bereitwilligst von ihr anlernen, sie kochten mit ihr, gingen einkaufen und sahen es als eine Ehre an, wenn ihnen Pucki eine Arbeit übertrug, die nicht für Knaben bestimmt war. Sie wechselten mit dem Kartoffelschälen ab, und ein Hauptspaß war es für die Knaben, die süße Speise zu rühren. So erfüllte täglich frohes Lachen die Küche. Daß häufig etwas mißlang, störte keinen. Pucki wollte durchaus mit dem spärlichen Wirtschaftsgeld reichen und teilte es sorgsam ein. Auch nach dieser Richtung hin wirkte sie erzieherisch auf die Knaben, denn die Eltern hatten ihnen bisher vom Wert des Geldes noch nichts beigebracht. Nun geschah es häufig, daß Tri oder Flo von einem Einkauf zurückkamen und freudig berichteten:

»Ich bin von Frau Mutz wieder fortgegangen, denn in der Gemüsehandlung gegenüber habe ich vier Köpfe Salat für zwanzig Pfennig bekommen. Frau Mutz wollte mir nur drei geben.«

Dann lobte Pucki den sparsamen Einkäufer, der das Lob mit strahlendem Lächeln einsteckte.

Gestern hatten die Drei Va zurückerwartet. Dann aber kam eine kurze Karte, in der sie mitteilte, daß sie auf ein Gut eingeladen sei und dort noch vierzehn Tage bliebe.

Die Knaben jubelten. »Fein, Pucki, dann können wir noch länger mit dir allein bleiben!«

So saßen sie fast täglich bei Pucki, machten sich nach Möglichkeit nützlich und lauschten den Erzählungen des jungen Mädchens. Geschichten erzählen, sich selbst etwas ausdenken, das war von jeher Puckis Stärke gewesen. So erfand sie immer etwas Neues, wußte um jeden abgerissenen Knopf eine Erzählung zu ersinnen und auch sonst unwichtige Ereignisse dramatisch auszugestalten.

»Schade«, sagte Tri eines Tages, als sie wieder beieinandersaßen, »daß ich alles Geld, das mir der Vater hiergelassen hat, mit einem Male ausgegeben habe. Nun sind meine Taschen leer, und ich wollte dir noch was Schönes kaufen.«

»Wenn du lieb bist, Tristan, machst du mir damit das schönste Geschenk. – Was hast du denn gekauft, mein guter Junge? Der Vater hat doch jedem fünfzehn Mark gegeben?«

»Fünfzehn Mark hat es gerade gekostet.«

»Was denn?«

»Ein Lotterielos! Es stand an einem Laden: ›Hier kann man eine Million gewinnen!‹ Es würde nicht mehr lange dauern.«

»Aber Tristan! Wie konntest du all das schöne Geld dafür hingeben!«

»Vielleicht gewinne ich eine Million. – Oh, dann – – dann – – Ach, dann wird es sehr schön!«

»Fünfzehn Mark für ein Lotterielos!« staunte Pucki. »Bringe es doch mal her.«

Tri lief fort und kam mit dem Los zurück. Ein Achtel-Los, für das er alle fünf Ziehungen hatte bezahlen müssen. Die Ziehung war schon in den allernächsten Tagen. Nun hoffte er auf eine Million! Vielleicht kam für ihn eine bittere Enttäuschung, und er gewann nichts.

»Was machst du wohl mit der Million?« fragte Pucki scherzend.

Ein leiser Schatten glitt über das frische Knabengesicht. »Tausend Mark schenke ich der Mutter, dann freut sie sich. Als sie abfuhr, hat sie geweint und gesagt: ›Wenn sie tausend Mark hätte, könnte sie alles bezahlen und wäre sehr glücklich!‹ Nun muß sie beständig in Angst und Sorge leben. Darum muß ich tausend Mark gewinnen und noch viel mehr!«

Pucki erinnerte sich jenes stürmischen Abschieds der Frau Prell. Nun wollte der gutherzige Knabe der Mutter helfen.

»Ich werde die tausend Mark ganz gewiß gewinnen«, sagte Tri zuversichtlich. »Dann lebt die Mutter nicht mehr in Angst und Sorge und wird wieder froh!«

Zärtlich zog Pucki den weichherzigen Knaben an sich. Obwohl sich Frau Prell so wenig mit ihren Kindern beschäftigte, hingen sie doch in Liebe an ihr. Sie würde glücklicher und zufriedener sein, wenn sie sich diesen prächtigen Buben mehr widmen würde, statt falschem Ruhm und falschen Ehren nachzujagen.

Sie dachte an ihre eigene Mutter, die ihr größtes Glück darin sah, die Liebe und das Vertrauen ihrer Kinder zu besitzen, und die freudig alles opferte, wenn es galt, den Töchtern eine Freude zu machen.

»Erzähle uns eine Geschichte«, drängte Flo.

Puckis Gedanken weilten noch immer bei der Mutter, und so erstand gar schnell ein Märchen in ihrem Kopf, in dem die Mutterliebe eine große Rolle spielte.

Aufmerksam lauschten die Knaben. Da war die Zauberin Hakiba, die durchaus das Kind der schönen und reichen Fürstin haben wollte. Aber die Fürstin liebte ihr Kind über alle Maßen; sie bot der Zauberin all ihr Geld und ihr Schloß mit dem schönen Garten. Doch die Zauberin Hakiba war damit nicht zufrieden.

»Ich will allem entsagen, liebe Zauberin, nur laß mir mein Kind. Ich entsage allem – allem – –!«

»Pucki, was ist denn ›entsagen‹?« forschte Flo.

»Entsagen ist ein schönes Wort, mein lieber, kleiner Flo. Man entbehrt, was man sich selber wünscht, will keine Freude für sich, nur alles anderen geben. Und wenn man etwas recht gern möchte, und es kommt ein anderer, den man gern hat und der es ebenso gern haben möchte, so läßt man es ihm und entsagt also. Entsagen muß man aus Liebe für andere Menschen.«

Das war freilich eine recht seltsame Erklärung, die das junge Mädchen gab, doch Flo verstand die Worte recht gut.

»Wenn ich also eine Tafel Schokolade habe und du kommst und siehst darauf, und ich gebe sie dir, dann entsage ich.«

»Ja, Flo, genau so ist es.«

»Nun erzähle weiter«, drängte Tri.

»Die böse Zauberin Hakiba verlangte aber noch mehr von der Fürstin. Sie sollte sogar ihre Schönheit geben, denn nur dann wollte ihr Hakiba das Kind lassen.«

»Ihrer Schönheit entsagen«, murmelte Flo nachdenklich.

»Ja, Flo – und sie tat es. Sie entsagte dem herrlichen Schloß, dem Geld, dem Garten und ihrer Schönheit, gab alles für ihr Kind hin und durfte es nun behalten. Die Zauberin Hakiba ging befriedigt ab, denn nun hatte sie alles, was sie haben wollte.«

Ein Weilchen war es still im Zimmer. Plötzlich sagte Tristan: »Unsere Mutter ist auch schön und hat ein Haus und vielen Schmuck, aber sie würde nicht entsagen. – So lieb hat sie uns nicht.«

»O doch«, rief Pucki hastig, »jede Mutter entsagt, wenn es sich um das Glück ihres Kindes handelt.«

Tristan schüttelte den Kopf. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ach nein, unsere Mutter entsagt nicht; sie will alles für sich. Aber das macht nichts, wir haben ja dich.«

Flo schlang beide Arme um Puckis Hals. »Du bist anders«, klang es an ihr Ohr. »Du wirst entsagen, das weiß ich.«

Pucki hielt es für richtig, dieses Gespräch abzubrechen. Eine innere Stimme sagte ihr, daß die Knaben richtig empfanden. Frau Prell dachte immer erst an sich selbst, dann kamen die Knaben.

Als sie am Abend dieses Tages, wie üblich, zu den Kindern ins Schlafzimmer kam, um ihnen gute Nacht zu sagen, hörte sie gerade noch, wie Tri sagte:

»Unsere Mutter entsagt nicht.«

Die folgenden Tage verliefen höchst harmonisch. Vor allem fühlte sich das junge Mädchen dadurch beglückt, daß die Kinder mit allen Anliegen vertrauensvoll zu ihr kamen und immer wieder versicherten, daß sie, seitdem Pucki im Hause weile, sich treu behütet fühlten.

»Nun kann uns kein Leid geschehen. Du paßt gut auf uns auf.«

An einem Tage, als Pucki wieder einmal Tristan mit Rat und Tat beigestanden hatte, drückte er ihr das Lotterielos in die Hand.

»Ich möchte dir ganz was Schönes schenken, Pucki! Ich wünsche, daß du die Million gewinnst. Dir gebe ich sie gerne.«

»Ich denke, du wolltest den Gewinn für die Mutti haben?«

»Nimm nur, ich freue mich, wenn du dich freust.«

Lächelnd nahm Pucki das Los und bedankte sich dafür. Vielleicht ersparte sie ihm damit die große Enttäuschung, vergeblich auf den Gewinn zu hoffen.

»Wenn ich nun aber wirklich die Million bekomme?« lachte Pucki den Knaben zu.

»Ja – dann – – nu ja – –« Weiter ließ sich der Knabe nicht darüber aus.

Schon zwei Tage später geschah das große Wunder. Pucki las in der Zeitung, daß Nummer 176 333 mit zehntausend Mark gezogen worden sei. Immer wieder schaute sie auf die Zahl. Es stimmte! Auf ihr Achtel kam die große Summe von gut tausend Mark.

Das herrliche Italien, das Land ihrer Sehnsucht stieg plötzlich wieder vor ihren Augen auf. Sie hörte das Lied des Gondoliere von Venedig, sah den feuerspeienden Vesuv. Tausend Mark! – Vier Wochen, nein, noch länger, konnte sie im Lande ihrer Sehnsucht weilen. Das mußte sie sofort an die Eltern schreiben, an Claus und an Hans Rogaten. Auch Carmen sollte es erfahren.

Pucki stürmte davon, hin zu einem Zeitungskiosk, und kaufte eine andere Zeitung. Wieder las sie die Nummer 176 333, die mit zehntausend Mark Gewinn gezogen war.

»Tausend Mark! – Ich habe tausend Mark gewonnen!« Mit diesem Ruf betrat sie die Wohnung und umarmte Tristan und Florestan. »Kinder, Kinder, das Los hat mir tausend Mark eingebracht!«

»Mein Los?« fragte Tristan.

»Ja, Tristan, dein Los! Ich habe gewonnen, ich bekomme tausend Mark.«

»Du bekommst tausend Mark? – – Ich habe das Los für fünfzehn Mark gekauft, und jetzt bekommst du die tausend Mark!«

Puckis jubelnde Freude kam plötzlich zum Schweigen. Zwei Kinderaugen schauten zu ihr auf, in denen Schmerz und bittere Enttäuschung zu lesen waren. – Tristans Los, das er von seinem Gelde gekauft hatte, um der Mutter tausend Mark zu verschaffen, weil ihm der Streit im Elternhaus das Herz schwer gemacht hatte.

»Wenn ich dir das Los nicht geschenkt hätte«, begann er nachdenklich, »brauchte sich die Mutter nicht zu sorgen.« Dann ging er hinaus. Florestan folgte ihm. Pucki blieb allein im Wohnzimmer. Das Herz war ihr plötzlich schwer. Endlich ging sie den Knaben nach. Sie fand nur Tristan. Er saß vor seinem Bett und weinte.

»Ich habe dir das Los gegeben, mein Los – –«

Pucki konnte ihm nicht zürnen. Das war Kinderart. Vom Entsagen wußte ein Knabe von zwölf Jahren noch recht wenig; aber für sie war »Entsagen« ein Wort, das sie verpflichtete. Die Italienreise schwebte ihr vor. Freude und Vergnügen für sie, nur für sie! Und hier saß ein Knabe, der vor Enttäuschung bitterlich weinte.

»Lieber kleiner Tri, wenn du auch tausend Mark gewonnen hättest, was wolltest du damit beginnen?«

»Du hast sie ja gewonnen«, sagte er, sich mühsam beherrschend.

»Wenn es aber doch dein Los wäre? Wenn ich dir das Los zurückschenken würde.«

»Mein Los?«

»Ja, weil es doch dein Los ist.«

»Oh – Pucki – –«

»Was wolltest du eigentlich mit den tausend Mark machen?«

Gespannt blickte Tristan das junge Mädchen an, dann sagte er leise: »Der Mutter schicken.«

Pucki fühlte sich plötzlich wieder leicht und frei, denn nun wußte sie, was sie zu tun hatte. Italien lief nicht fort. Vielleicht konnte sie dieses herrliche Land in zehn Jahren sehen, wenn sie sich Geld genug gespart hatte. Von selbstverdientem Gelde würde diese Reise noch viel herrlicher sein.

»Also abgemacht, mein lieber Junge, wir geben das Geld deiner Mutti. Du schenkst es ihr, denn du hast gewonnen. Es ist doch dein Los!«

»Mein Los?«

»Ja, dein Los, es sind deine tausend Mark!«

Tristan machte sich nicht lange Gewissensbisse darüber, daß er eigentlich nicht mehr der rechtmäßige Inhaber des Gewinnloses sei. Er war ganz von dem Glück erfüllt, daß er tausend Mark gewonnen hatte, die er nun der Mutter schenken konnte. Gleich jetzt wollte er das Geld abholen, und er war recht enttäuscht, als Pucki ihm sagte, daß solche Gewinne erst in einigen Wochen zur Auszahlung kämen.

Am Abend, als er wieder ruhiger geworden war, faßte Tristan nach Puckis Hand, sah ihr lange forschend in die Augen und fragte dann zögernd: »Möchtest du das viele Geld nicht auch haben, oder – hast du entsagt, weil – du mich lieb hast?«

»Das Geld gehört dir, mein lieber Tri. Ja, ich habe es dir gern wiedergegeben. Ich hätte es gar nicht behalten mögen.«

»Du hast entsagt«, wiederholte Tristan gedehnt. »Nun weiß ich ganz genau, was das für ein wunderschönes Wort ist – –«

Von den tausend Mark sprachen die beiden Knaben sehr oft. Immer wieder erkannte Pucki, wie sehr die Kinder unter den häuslichen Sorgen der Eltern litten, wie sie sich darauf freuten, durch das gewonnene Geld den Streit aus dem Elternhause zu verdrängen. –

An einem sonnigen Nachmittag klagte Florestan über große Müdigkeit. Am Abend hatte er heftige Halsschmerzen. Pucki band ihm ein dickes Wolltuch um den Hals und gab ihm heißes Zitronenwasser zu trinken. So hatte es die Mutti mit Waltraut auch immer gemacht. In der Nacht stand sie zweimal auf, um nach dem Knaben zu sehen. Er lag mit heißem Kopf im Bett und weinte leise vor sich hin.

»Morgen bist du wieder gesund, Flo, dann setze ich dich in die Sonne, und alles ist wieder gut.«

Als der Morgen kam, glühte das Gesicht des Kindes. Es klagte über furchtbare Halsschmerzen und verschmähte die Milch, die Pucki brachte. Bange Sorge bemächtigte sich des jungen Mädchens. Vater und Mutter waren nicht zu erreichen. Sie wußte nicht, wo sie sich zur Zeit aufhielten. Ebenso hatte Va keine genaue Adresse angegeben. Da Pucki in der Krankenpflege wenig Erfahrung besaß, beschloß sie, einen Arzt zu rufen. Ihr war Doktor Deimler als Hausarzt Prells bekannt.

Der Arzt kam und stellte eine schlimme Halsentzündung mit Fieber fest. Er verordnete Medikamente und fragte, ob der Knabe die nötige Pflege und Aufsicht hätte. Das bestätigte Pucki.

Unsicher wurde sie erst, als Flo immer wieder verlangte, sie solle bei ihm bleiben. Es gab im Haushalt viel zu tun, denn auch Tri mußte versorgt werden. Ausgänge waren zu machen, Flo aber weinte, wenn Pucki fortging. Was sollte werden, wenn sich die Krankheit verschlimmerte? Wer half, wer riet ihr? Genau erfüllte sie die Vorschriften des Arztes und hoffte von Stunde zu Stunde, daß sich der Zustand des kleinen Patienten bessern möchte.

Es gab alle Hände voll zu tun für Pucki. Sie mußte allein die große Wohnung instandhalten, dazu kochen und für die Kinder sorgen. Sie stahl sich minutenweise vom Lager des Kranken fort. Als sie wieder in ihr Zimmer kam, um fertig auszukehren, sah sie Tri, der mit dem Besen hantierte.

»Bleib ruhig bei Flo«, sagte der Knabe, »ich habe Va oft zugesehen, wie sie es macht. Ich kann das. Ich werde heute auch kochen. Wir machen eine dicke Suppe, das genügt.«

Pucki traten die Tränen in die Augen. Stürmisch zog sie Tristan an sich. »Du guter, lieber Junge, du bist mein Freund!«

»Ja, ich bin dein Freund. Nun geh rasch wieder zu Flo, ich mache alles fertig.«

Er wirbelte zwar mit dem Besen wild im Zimmer umher, so daß der Staub hoch aufflog, und kehrte den Rest, der nicht auf die Schaufel wollte, sorgsam in eine Zimmerecke, aber Pucki sah in allem nur die große Zuneigung des Knaben, der die Arbeit freudig auf sich nahm, damit sie sich dem Bruder widmen konnte.

Auf ein Klingeln an der Korridortür öffnete Tri. Es war der Briefträger.

»Vielleicht von der Mutter? Endlich schreibt sie!«

Aber es war nicht von der Mutter. Es war ein Brief an Hedi Sandler.

»Sie hat wieder nicht geschrieben«, meinte Tri traurig, indem er Pucki das Schreiben reichte. »Nur du hast heute eine Brieffreude.«

»Von Carmen!« sagte Pucki.

»Von deiner Carmen, die mit dir in die Schule ging, die mit auf der Waggerburg war und mit im Walde, wo du den Tiger machtest?«

»Ja, Tri, von derselben Carmen.«

»Dann lies uns den Brief mal vor«, sagte Flo matt, »vielleicht steht Ulk darin.«

Pucki, die am Bett des Kranken saß, erbrach erfreut das Schreiben. Ein Brief beglückte sie immer sehr. Jeder Gruß von daheim oder von Freundinnen und Freunden war für sie eine große Freude.

Mit geschlossenen Augen lag Flo im Bett; sein Köpfchen glühte. Er sah sehr elend aus, da er so gut wie gar nichts essen wollte.

Puckis anfangs strahlendes Gesicht verdunkelte sich.

»Lies doch«, drängte Tri.

»Carmen kommt morgen mittag um zwei Uhr nach Nürnberg. Mit ihrem Vater. Um vier Uhr reisen sie weiter. Sie haben zwei Stunden Aufenthalt und – und – –«

»Kommen sie zu uns?«

»Nein, Tri, sie bleiben auf dem Bahnhof. Sie möchten gern, daß ich hinkomme. Carmen will mich gern wiedersehen.«

»Da mußt du hingehen!«

Flo öffnete ängstlich die Augen. »Willst du weg?«

»Sie geht nur auf den Bahnhof«, tröstete Tri den Bruder. »Sie kommt bald wieder zurück zu dir.«

»Geh nicht fort«, flüsterte Flo ängstlich.

»Ich bleibe bei dir«, sagte Tri, »ich sitze an deinem Bett. Laß Pucki nur gehen, sie will doch auch mal die Carmen wiedersehen. Bis morgen bist du auch wieder gesund.«

Pucki schwieg zu dieser brüderlichen Auseinandersetzung. Sie las nochmals die Zeilen der Freundin, die von einem Wiedersehen redeten. Carmen kam nach Nürnberg! Zwei Stunden könnte man sich sehen, könnte sich das Herz ausschütten. Riesengroß wurde in Pucki die Sehnsucht nach der Schulfreundin.

»Bleibst du bei mir?« Eine Kinderhand tastete sich zu Puckis Rechten. »Der Hals tut mir so weh, mir ist überhaupt so schlecht.«

»Sei still«, rief Tri, »morgen ist dir wieder ganz gut. – Nicht wahr, Pucki, du möchtest morgen gern zu Carmen gehen?«

»Ich möchte schon – aber – –«

»Du gehst eben! Ich bleibe dann bei Flo.«

Während Pucki draußen in der Küche das Mittagessen richtete, hockte Tri auf dem Bettrande des Bruders und sagte mahnend: »Du kannst dir doch denken, Flo, daß sie die Freundin gern wiedersehen möchte. Wenn die Mutter eine Freundin sehen will, geht sie auch hin. Du mußt unserer Pucki morgen sagen, daß du gesund bist und daß sie gehen darf, auch wenn du noch nicht gesund bist.«

»Ich will aber nicht allein sein.«

»Höre mal, Flo, du mußt ja nicht allein bleiben, ich bin doch bei dir.«

Flo bohrte die Finger in die Augen. »Sie soll nicht fortgehen.« Er schloß die Augen, wandte sich auf die andere Seite und stöhnte leise. Er fühlte sich gar so elend. Er hatte Angst vor dem Alleinsein; es könnte mit seinem Hals noch viel schlimmer werden, dann war Pucki nicht da.

Inzwischen stand Pucki traurig in der Küche. Was sollte sie beginnen? Carmen kam nach Nürnberg, und sie würde sie nicht sehen können. Eine Nachricht erreichte die Freundin auch nicht mehr. Carmen würde mit dem Vater auf dem Bahnhof sitzen und vergeblich warten.

»Zwei Stunden sind keine lange Zeit. Wenn ich die Nachbarin bitte, herüberzukommen? Frau Lorenz ist eine gute Frau. Vielleicht tut sie es. Ach ja, sie tut es bestimmt! Ich brauche auch nicht zwei Stunden auf dem Bahnhof zu bleiben, nur eine. In dieser Zeit wird dem kleinen Flo nichts Schlimmes geschehen. Ich fahre mit der Elektrischen, werde mich sehr beeilen – aber ich muß Carmen sehen.«

Als beim Mittagessen auch Tristan weiter zuredete, sie solle morgen ruhig zum Bahnhof gehen, stand es für Pucki ziemlich fest, wenigstens für eine Stunde aus dem Hause zu eilen. Am Nachmittag läutete sie an der Nachbarwohnung und erstattete Frau Lorenz Bericht.

»Morgen nachmittag paßt es nicht, Fräulein Sandler, wir haben große Wäsche. Ich will natürlich gern mal nach dem Knaben sehen, aber Florestan wird nicht besonders erfreut sein, denn er kann mich nicht recht leiden.«

»Doch, er mag sie gern. – – Bitte, passen Sie ein wenig auf die Knaben auf, liebe Frau Lorenz.«

»Ich werde nach den Kindern schauen. Aber lange kann ich nicht bei ihnen bleiben.«

Mit schwerem Herzen verabschiedete sich Pucki von der Frau. Wenn es Flo nur morgen besser ginge! Sie beobachtete den Kleinen angstvoll, und als sie abends das Fieber maß, erschrak sie. Es war beträchtlich gestiegen. Sollte sie den Arzt rufen? Er hatte ihr gesagt, sie solle ihn antelephonieren, wenn sich der Zustand verschlimmere. Zur eigenen Beruhigung tat sie es. Doktor Deimler kam gegen zehn Uhr und verschrieb eine neue Medizin, die Pucki noch in der späten Stunde holte. Es sollten nachts Eisumschläge öfters erneuert werden. Tristan war längst ausquartiert. Er schlief im Herrenzimmer auf dem Diwan.

»Sei ohne Sorge, mein Junge«, sagte Pucki zärtlich zu dem Kranken, »ich bleibe nachts bei dir.«

Der Arzt ging, er wollte morgen gegen Mittag wiederkommen.

»Morgen bin ich gesund«, flüsterte Flo, »morgen kannst du zu Carmen gehen.« Seine fieberheißen Augen suchten bei diesen Worten verängstigt Puckis Gesicht.

Es folgte eine unruhige Nacht. Pucki kam nicht zum Schlafen. Der Knabe schreckte oftmals auf, schrie laut und begann zu weinen und über heftige Schmerzen zu klagen. Die Angst des jungen Mädchens vergrößerte sich von Stunde zu Stunde. Noch immer hatte sie keine Kenntnis vom Aufenthaltsort der Eltern. Sollte sie eine sachverständige Pflegerin besorgen? Vielleicht versäumte sie doch etwas! Aber eine erfahrene Pflegerin verlangte eine ansehnliche Summe, und Geld war nur wenig vorhanden.

Am Morgen ging es dem kleinen Flo sehr schlecht. Sogar Tristan machte ein kummervolles Gesicht.

»Pucki, er sieht so heiß aus. Wird er wieder gesund oder muß er sterben?«

»Aber Tri, solche Worte darfst du nicht sagen! Flo wird wieder gesund.«

»Bei uns in der Klasse war auch einer, der hatte erst nur Halsschmerzen, und dann war er plötzlich tot. Ich habe heute auch ein bißchen Halsschmerzen, aber das schadet nichts.«

»Du auch!« rief Pucki entsetzt, »was mache ich nun?«

Wieder läutete sie Doktor Deimler an, denn sie wußte keinen Ausweg mehr. Der alte Herr war bereit zu helfen und versprach, noch heute eine Pflegeschwester zu schicken.

»Ich habe aber kein Geld«, klagte Pucki.

»Das wird erledigt werden, wenn Herr Prell heimkommt. Wissen Sie noch immer seine Adresse nicht?«

»Nein, Herr Doktor.«

»Die Krankenschwester wird schon in der nächsten Stunde kommen, und ich stelle mich gegen Mittag erneut ein!« tröstete der Arzt.

Eine Krankenschwester mußte versorgt werden, für sie mußte man gut kochen. Sie würde nicht mit dem Essen zufrieden sein, das Pucki bisher für sich und die Kinder bereitet hatte. Pucki hatte aber kein Geld, und der Fleischer würde nichts borgen. Das alles überlegte das junge Mädchen. Ob sie nicht einen Wertgegenstand ins Leihhaus bringen könnte?

»Meine goldene Armbanduhr«, sagte sie traurig, »sie ist das einzige, was ich habe. Aber Flo ist so krank, er muß gesund werden. Wenn Prells heimkommen, werden sie mir die Uhr wieder auslösen.«

So beschloß Pucki, ihr einziges Wertstück hinzugeben, um für die Pflegerin gut und nahrhaft kochen zu können. Wenn die Pflegerin noch heute kam, konnte sie vielleicht doch noch für eine Viertelstunde zu Carmen eilen.

Schwester Helene stellte sich bald ein; aber Flo rief beständig angstvoll nach Pucki.

»Lassen Sie ihn ruhig gewähren, Fräulein Sandler«, sagte die Schwester. »In zwei Tagen ist es anders, dann hat er sich an mich gewöhnt.«

In zwei Tagen! – Dann war Carmen längst fort.

Es wurde Mittag. Es wurde zwei Uhr. Pucki war recht still. Sie saß am Bett des fieberheißen Knaben.

Auf Zehenspitzen kam Tristan ins Zimmer und brachte ihren Hut.

»Carmen wartet auf dich, geh schnell.«

Obwohl die Worte nur geflüstert waren, schien Flo sie doch gehört zu haben. Er warf sich angstvoll herum, faßte mit beiden Händen Puckis Arm und rief matt:

»Nicht fortgehen – hierbleiben!«

Carmens Bild tauchte blitzartig vor Puckis Seele auf. Sie sah sich neben der Freundin. Aber war sie selbst noch jene Pucki von einst, die sich ihre kleinen Wünsche erfüllen konnte, wie sie wollte, die lachend alle Widerstände beiseite schob? Nein, sie war eine andere geworden. Sie hatte Pflichten. Ihre eigenen Wünsche mußten auch jetzt zurückgestellt werden. An sich durfte sie in dieser Stunde nicht denken.

»Schleich dich ganz leise fort«, flüsterte Tri an ihrem Ohr.

Pucki schüttelte den Kopf. »Nein, mein lieber Junge, Flo braucht mich, ich habe Pflichten übernommen, die ich erfüllen muß und will. Ich bleibe hier.«

Schweigend schaute Tristan auf Pucki, und ebenso schweigend trug er den Hut wieder hinaus. Als dann Flo in leichten Schlaf gesunken war, als Pucki sich geräuschlos erhob, um draußen nach dem Rechten zu sehen, stand Tri plötzlich an ihrer Seite und drückte seinen Kopf an ihre Brust.

»Nun wird die Carmen bald weiterfahren. Du bist hiergeblieben. – Pucki, du bist ein guter Mensch.«

»Mein lieber Junge – –«

»Ich meine, der liebe Gott hat nun gesehen, daß du für uns eine große Freude geopfert hast. Der liebe Gott vergilt alles Gute. Paß auf, er schickt dir bald eine noch viel größere Freude, weil du entsagt hast.«

»Für mich wäre es die größte Freude, Tri, wenn Flo recht bald wieder gesund wäre und wenn deine Halsschmerzen nicht schlimmer würden.«

»Ach, sie sind nicht schlimm. Aber der Flo hat es gut, der wird immerfort von dir behütet. – Ich möchte auch im Bett liegen und krank sein, Pucki. Es ist schön, von dir gepflegt zu werden.« – –

Von Carmen kam am anderen Tage eine erstaunte Karte, in der sie fragte: »Warum bist du nicht gekommen? Ist das deine Freundschaft? Oder durftest du nicht weggehen?«

Und wieder am nächsten Tage teilte der Arzt Pucki mit, daß sich Flo auf dem Wege der Besserung befände. In dieser Nacht schlief Pucki zum ersten Male wieder gut und fest. Flo war damit einverstanden, daß Schwester Helene neben seinem Bett im Sessel saß. Er schlief der Genesung entgegen.


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