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Gekündigt

Der alte Herr Wallner betrat Puckis Zimmer. Sie saß am Fenster, stopfte Strümpfe und blickte nur flüchtig auf.

»Waren Sie an meinen Zigarren?«

»Ich?« fragte Pucki entrüstet zurück.

»Heute vormittag waren siebzehn Stück in der Kiste, jetzt sind nur noch sechzehn darin. Ich weiß, was ich an Zigarren habe. Ich zähle sie täglich genau durch. Wenn man fremde Leute im Hause hat, muß man vorsichtig sein.«

»Das ist eine Verdächtigung, Herr Wallner.«

»Ich frage Sie nur, ob Sie eine Zigarre genommen haben.«

»Nein.«

»Sie könnten in einem freundlicheren Ton antworten, Fräulein Sandler. Es gehört sich nicht, alten Leuten gegenüber so schnippisch zu sein.«

Pucki zog energisch den schwarzen Faden durch das Loch im Strumpf.

»Sie haben heute früh in meinem Zimmer Staub gewischt. Auf die Köchin kann ich mich verlassen, sie ist ehrlich.«

»Haben Sie Beweise, daß ich unehrlich bin?«

»Aber unzuverlässig.«

Pucki biß die Zähne zusammen und sagte nichts.

»Wo ist die siebzehnte Zigarre hingekommen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Waren Sie heute in meinem Zimmer?«

»Jawohl, Herr Wallner. Sie wissen, daß ich täglich dort Staub wische.«

»Haben Sie auch auf dem Zigarrenschrank Staub gewischt?«

»Ja, ich habe sogar die Zigarrenkiste abgestaubt.«

»Wo ist also die siebzehnte Zigarre?«

Pucki war dem Weinen nahe. Der Großvater mit seinen ständigen Nörgeleien peinigte sie bis aufs Blut. Trotzdem schwieg sie, denn sie wußte, daß ihre Antwort nicht mehr freundlich ausfallen würde.

»Ihr Aussehen bestätigt meinen Verdacht«, klang es wieder an ihr Ohr. »Ich verbiete Ihnen, künftig eine Zigarre aus der Kiste zu nehmen. Sie sparen sie wohl als Geburtstagsgeschenk für den Papa?«

Pucki dachte an Claus, an Oberförster Gregor, an Minna. Sie alle meinten, es sei nicht leicht, fremder Leute Brot zu essen. Auch die scheltenden Worte über ihren Ausflug nach der Wartburg klangen ihr noch immer im Ohr.

Der Großvater verließ murmelnd das Zimmer. Nach dem Nachmittagskaffee, als Pucki Christa und Max bei den Schulaufgaben helfen wollte, bemerkte sie Tabakreste in der Schulmappe des Knaben.

»Was ist denn das, Max?«

Der Angeredete lachte.

»Er hat dem Großvater eine Zigarre genommen«, sagte Christa.

Eine Strafpredigt ergoß sich über Max, die damit schloß: »Jetzt gehst du sofort zum Großpapa und sagst ihm, daß du die Zigarre genommen hast; er sucht sie!«

Max ließ die Brösel durch die Finger gleiten. »Ich gehe nicht, er schlägt mich sonst.«

Pucki überlegte. Wenn sie dem alten Herrn Wallner die Unart des Enkels mitteilte, zog sie sich den Zorn des Knaben zu. Wenn sie schwieg, blieb auf ihr der Verdacht sitzen, die Zigarre genommen zu haben. Sie war pädagogisch noch viel zu unerfahren, um zu wissen, wie sie sich bei derartigen Vorfällen zu verhalten hätte. So schüttete sie schweigend den Tabak aus der Mappe und ging mit dem Papier, auf dem die Brösel lagen, hinaus in die Küche, um alles in die Asche zu werfen.

In der Küche stand der Großpapa am Herd. Er untersuchte den Kaffeetopf und schalt die Köchin, daß sie zu viele Bohnen genommen hätte. Als er Pucki kommen sah, blickte er auf. Angstvoll verbarg das junge Mädchen das zusammengefaltete Papierblatt auf dem Rücken.

»Was verstecken Sie da?« krächzte der Großvater.

Pucki tat das Dümmste, was man in solch einem Falle tun konnte. Sie lief wieder aus der Küche heraus, zurück in ihr Zimmer, zog die Kommodenschublade auf und legte den eingepackten Tabak hinein. Noch war die Schublade nicht zugeschoben, da stand Herr Wallner schon an ihrer Seite.

»Was ist das?«

Pucki gab den Kampf auf. »Ihre Zigarre, Ihre zerbrochene Zigarre!«

»Das ist ja unerhört! Das ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen! – Na, Sie sind eine Nette!«

»Ich habe – –«

»Jetzt rede ich, und Sie schweigen. – Wissen Sie, wie man so etwas nennt – –?«

»Ich habe – –«

»Sie sind still!« Der Großvater stampfte mit dem Fuße auf und schien Pucki mit seinen Blicken durchbohren zu wollen.

»Meinen Sie, ich rauche Ihre Zigarren?«

Obwohl ihr der alte Herr aufs neue das Wort verbot und lauter und immer lauter seine Vorwürfe ertönen ließ, schwieg Pucki nicht. Auch ihre Stimme wurde allmählich zum Geschrei. Die Köchin stand in der Küche und lachte verstohlen. Sie konnte kein Wort verstehen. Zwei erregte Menschen standen sich gegenüber und schrien sich an.

Christa und Max kamen in die Küche gelaufen. Auch sie lauschten dem Wortschwall.

»Fräulein Sandler!« Die beiden Schreienden wurden von Frau Wallners Stimme übertönt.

Da war es plötzlich ganz still geworden.

»Mutter, sie hat den Großvater angebrüllt«, lachte Max.

»Was heißt das, Fräulein Sandler? Kommen Sie sofort in mein Zimmer.«

Vor Frau Wallner konnte Pucki sich endlich rechtfertigen. Trotzdem erhielt sie einen ernsten Verweis.

»Es ist unschicklich und ungebührlich, derart mit einem alten Herrn zu reden. Das müßten Sie eigentlich wissen. Aber leider haben Sie wenig Lebensart. Sie müssen dafür sorgen, daß Sie den Kindern ein besseres Beispiel geben. Ich bin mit Ihnen gar nicht zufrieden.«

Schweigend kehrte Pucki zu ihrem Arbeitskorb zurück. Die Strümpfe, die sie heute stopfte, waren keine Glanzleistung. Häufig klopfte sie mit der Schere auf den gestopften Stellen herum, um ihnen ein wenig Ansehen zu geben. Und jetzt schleuderte sie einen ausgebesserten Strumpf wütend in den Korb zurück.

»Vielleicht kommt der alte Mann wieder herein und kontrolliert die Stopfstellen. – Ach, es ist furchtbar schwer, fremdes Brot zu essen!«

Gegen sechs Uhr sollte Pucki einen kurzen Spaziergang mit den Kindern machen. Beim Verlassen der Wohnung rief der Großvater aus dem Fenster:

»Sie sollen nur eine Stunde fortbleiben! Gehen Sie nicht wieder zur Wartburg. Haben Sie acht auf die Kinder!«

Und dann geschah doch das Entsetzliche. Wie es kam, wußte Pucki selber nicht. Als man die breite Treppe, die vom Schloßplatz hinauf zu den Anlagen führt, wieder herabging, faßte Pucki den kleinen Moritz fest an der Hand und rief dem älteren Knaben zu:

»Gib gut acht, Max, daß du nicht fällst.« Doch da lag er schon und rutschte die letzten drei Steinstufen hinab. Nase und Kinn bluteten. Er weinte laut.

»Wir wollen nach Hause gehen«, weinte nun auch Moritz.

Sekundenlang war Pucki wie versteinert. Was sollte nun werden? Vor zwei Stunden sagte man ihr: »Ich bin mit Ihnen nicht zufrieden. Passen Sie gut auf die Kinder auf.« – Nun kehrte sie mit dem zerschlagenen Max heim. Die Verletzungen waren nicht schlimm, aber Unachtsamkeit warf man ihr doch wohl wieder vor.

Der alte Herr Wallner war der erste, der den weinenden Max sah. Und als er feststellte, daß sich der Knabe einen Zahn beim Stürzen ausgeschlagen hatte, fuhr er auf Pucki los.

»Eine Kinderwärterin wollen Sie sein? Nichts können Sie! Ein gewissenloses Menschenkind sind Sie, zu dem man kein Vertrauen haben kann. Können Sie den Zahn wieder einsetzen?«

Frau Wallner kam aus dem Kontor, denn Christa hatte ihr den Unfall bereits gemeldet.

»Ich glaube, Fräulein Sandler, es geht mit Ihnen nicht. Wenn ich Ihnen die Kinder nicht einmal für eine Stunde überlassen kann, hat es keinen Zweck, solch Kinderfräulein länger im Hause zu behalten. Wo waren Ihre Augen?«

»Max war unfolgsam und wild – –«

»Schieben Sie Ihre Unachtsamkeit nicht auf die Kinder. Ich kann mich unmöglich um die Kleinen kümmern, ich habe meine Arbeit. Sie wurden ins Haus genommen, um die Kinder zu behüten. Ich bin sehr enttäuscht.«

Frau Wallner war längst wieder zurück ins Kontor gegangen, doch der Großvater zeterte weiter. Er tröstete den Knaben und schob alle Schuld auf das Kinderfräulein.

»Ihr seid in recht schlechten Händen.« Ordentlich mitleidig klangen die Worte des Großvaters.

Pucki hörte, was der alte Herr Wallner sagte. Wie sollte sie sich bei den Kindern Achtung verschaffen, wenn man sie den Kindern gegenüber so schlecht machte? Selbst beim Abendessen erntete sie neue Vorwürfe, die ihr jeden Appetit nahmen.

»Noch dreihundertsiebenundzwanzig Tage«, jammerte Pucki abends im Bett. »Morgen schreibe ich an Carmen. Ich muß einem Menschen mein Herz ausschütten, sonst halte ich es nicht mehr aus. – Oder schreibe ich an Rose Scheele? Sie ist auch bei fremden Leuten. Sie hat es nicht so schwer wie ich, denn der Schmanzbauer ist gut. – Nein, ich schreibe an Carmen, sie muß mich trösten.«

Der folgende Tag war aber derart mit Arbeit ausgefüllt, daß Pucki den Brief nicht einmal beginnen konnte. Dann kam der Freitag mit seiner Plätterei. Abends, gegen sechs Uhr, als sie in ihrem Zimmer vor dem Wäschekorb saß, holte sie doch die Schreibmappe hervor, nahm einen Briefbogen heraus und begann, mit Bleistift einen Brief an Carmen zu schreiben. Wenn sich Schritte der Tür näherten, so konnte sie das gesamte Schreibmaterial schnell in den Korb werfen. – Heute ging sie nicht eher zu Bett, als bis der Brief beendet war.

Das Datum war geschrieben:

»Eisenach, den 21. Mai 19..

Meine herzliebe Freundin!

Es geht nicht anders, ich muß dir mein Herz ausschütten. Ich weiß, du wirst zu keinem Menschen darüber reden. Ich habe Euch bisher getäuscht, ich schrieb von einer angenehmen Stellung. Aber hier ist es furchtbar! Laß dir erzählen, was man mir schon alles gesagt, was man mir angetan hat.«

Pucki hörte Schritte auf dem Flur. Draußen ging der Großpapa mit den grünen Morgenschuhen vorüber. Sie schleuderte die Schreibmappe und den Bleistift in den Korb und deckte einige Handtücher darüber.

Christa und Max kamen ins Zimmer. Sie hatten allerlei Anliegen an Pucki. Dann war wieder etwas Ruhe. Abermals nahm sie den Brief hervor. In größter Elle glitt der Bleistift über das Papier. Zwei Seiten waren bereits gefüllt.

»Der Gräßlichste von der ganzen Gesellschaft ist der Großpapa, der Vater des Herrn Wallner. Wie ein böses Gespenst schleicht er durch alle Räume und steckt seine Nase in Dinge, die ihn gar nichts angehen. Ich hasse ihn! Ich hätte ihn neulich erwürgen können, als er behauptete, ich bestehle seine Zigarrenkiste. Damit hat er mich tatsächlich verdächtigt. Und die drei Kinder! Wie können Eltern nur so dumm sein und ihre Kinder Max und Moritz nennen! Max und Moritz bei Wilhelm Busch sind Engel gegen diese Bengels. Wenn sie mich ärgern, könnte ich sie richtig durchprügeln. Doch der gräßliche Großpapa paßt auf, daß nichts geschieht. – Ach, Carmen, meine Wut läßt sich kaum unterdrücken. Aber habe keine Angst, ich denke an meinen lieben Freund Claus und – –«

Die Tür des Zimmers wurde aufgerissen. Der kleine Moritz kam ins Zimmer gelaufen. »Zieh mir mal den Schuh aus! Da drin drückt was!«

Während Pucki damit beschäftigt war, läutete im Wohnzimmer das Telephon. Sie war beauftragt worden, den Apparat zu bedienen, wenn Wallners nicht anwesend waren. Sie zerrte wieder einige Handtücher über die Schreibmappe, die im Wäschekorb lag, und eilte hinüber ins Wohnzimmer an den Apparat.

Währenddessen waren Max und Christa ins Nebenzimmer gekommen. Max griff nach einem zusammengerollten Paar Strümpfe und warf es Christa an den Kopf. Lachend griff das Mädchen nach einem Handtuch und ballte es zusammen, um Max damit zu werfen. Nun fielen alle drei über den Wäschekorb her und fanden Puckis Schreibmappe. Sofort wurde sie geöffnet und untersucht.

»Die verstecken wir«, rief Christa, »sie kann danach suchen!« Die Schreibmappe wurde fortgetragen und ein Versteck gesucht. Da liefen die Kinder dem Großpapa in den Weg.

»Guck mal, Großvater! Hier hat sie ein Bild in der Mappe.«

Interessiert nahm der alte Herr die Schreibmappe. Er sah den begonnenen Brief. Die Brille wurde auf der Nase zurechtgerückt, dann glitten die Augen über die Zeilen. Sie wurden immer stechender. Schließlich nahm er schweigend die beschriebenen Blätter an sich und machte sich auf den Weg zum Kontor, in dem seine Schwiegertochter arbeitete.

»Hier hast du den Beweis, welche Gefahr uns droht, wenn diese Person länger im Hause bleibt. – Hier, Berta, willst du einmal diese Zeile lesen? ›Wenn sie mich ärgern, könnte ich sie richtig durchprügeln.‹ Nun, was sagst du dazu?«

»Meine Wut läßt sich kaum unterdrücken«, las Frau Wallner mit Schrecken. »Das ist entsetzlich, das ist ja eine gefährliche Person! Ich werde ihr noch heute kündigen.«

»Ich werde schon recht behalten, wenn ich sagte, daß sie Max mit Absicht die Treppe hinabstieß, denn sie haßt deine Kinder. – Berta, Berta, es ist die höchste Zeit, daß dieses Mädchen unser Haus verläßt!«

»Diesen Brief hat sie im Zorn geschrieben. Etwas Schlechtes traue ich ihr nicht zu. Da sie jedoch keine Liebe für meine Kinder empfindet, geht es nicht an, daß sie länger bei uns bleibt. Ich hätte ihr schon am Fünfzehnten kündigen sollen. Nun mag sie sich sofort nach einer neuen Stelle umsehen. Ich werde selbst Schritte tun, um eine andere Kraft zu bekommen. Ich werde ein älteres Kinderfräulein engagieren.«

»Soll ich sie dir herschicken«, fragte der alte Herr spitz.

»Laß nur, Vater, ich gehe gleich hinüber, ich will selbst mit ihr reden. Den Brief behalte ich hier.«

Händereibend entfernte sich der Großvater. Er sah es als ein Glück an, daß dieses unzuverlässige junge Mädchen recht bald das Haus wieder verließ. –

Pucki war an ihre Arbeit zurückgekehrt. Da sie die Kinder nicht mehr hörte, wollte sie weiter an dem Brief schreiben. Im Zimmer herrschte eine heillose Unordnung. Die Wäsche aus dem Korb lag überall umher. Pucki sammelte die Stücke wieder ein und legte sie in den Korb zurück. – Doch plötzlich setzte ihr Herzschlag aus. Wo war die Schreibmappe hingekommen?

In größter Erregung warf sie die Wäschestücke durcheinander, doch von der Schreibmappe war nichts zu sehen. Die drei Kinder hatten im Korbe gewühlt, sie mußten den Brief gefunden haben, den Brief an Carmen mit den erregten Äußerungen.

Pucki sprang auf. Im Nebenzimmer war niemand. Jetzt hörte sie die Kinder in der Küche lärmen.

»Christa! – Ihr wart doch in meinem Zimmer. Habt ihr meine Schreibmappe gehabt?«

»Ja«, lachte das kleine Mädchen keck.

»Wo habt ihr sie hingetragen?«

»Wir haben sie versteckt, du sollst sie suchen«, klang es lachend.

»Liebe, gute Christa, bitte gib mir die Mappe zurück. Ich habe noch einige Bonbons, die du bekommen sollst, wenn du mir die Mappe gibst.«

»Ich will auch Bonbons haben«, rief Moritz.

»Und ich auch«, rief Max.

Die drei Kinder folgten Pucki. Sie händigte ihnen eine kleine Tüte mit Bonbons aus.

»Und nun noch Schokolade!«

Es blieb Pucki nichts übrig, sie mußte den Kindern dreißig Pfennige schenken, damit sie sich Schokolade kaufen konnten. – Als es geschehen war, bat sie erneut: »Wo ist meine Schreibmappe?«

»Die hat der Großvater.«

Pucki sank auf dem Stuhl zusammen. Der neugierige alte Herr würde natürlich Stück für Stück durchsehen. Er würde auch den Brief finden, jenen Brief, in dem der alte Herr als böses Gespenst bezeichnet war, in dem sie geschrieben hatte, daß sie ihn hasse.

Puckis Gedanken wirbelten noch wild durcheinander, als sich die Zimmertür öffnete. Frau Wallner stand vor ihr, einen Brief und die Schreibmappe in den Händen.

»Nun ist alles aus!« dachte Pucki. Dunkel erinnerte sie sich daran, daß sie ihren Groll in gar zu kräftigen Worten ausgedrückt hatte. – Was sollte nur werden?

»Man brachte mir dieses Schreiben«, begann Frau Wallner. »Ich habe bisher nicht gewußt, daß Sie solch tiefen Haß auf meine Kinder und auf meinen Schwiegervater haben. – Warum sagten sie das nicht längst? Warum haben Sie nicht um Ihre Entlassung gebeten? Sie schreiben hier, Sie möchten die Kinder am liebsten durchprügeln. Eine nette Erziehung, Fräulein Sandler. Unter diesen Umständen kann ich Sie natürlich in meinem Hause nicht behalten. Ich kündige Ihnen hiermit Ihre Stelle und bitte Sie, Ihren Posten möglichst bald aufzugeben. Vertragsmäßig müßte ich Ihnen das Gehalt bis zum ersten Juli zahlen, denn die Kündigungsfrist ist bereits verstrichen. Ich hoffe aber, daß Sie meine Gutmütigkeit nicht ausnützen und unverdientes Geld nicht annehmen werden. Bemühen Sie sich, schon zum ersten Juni eine neue Stelle zu finden. Ich lege Ihnen keine Hindernisse in den Weg. Wenn Sie wollen, können Sie schon morgen mein Haus verlassen.«

Pucki sagte kein Wort. Sie hörte aus dem Wortschwall nur das eine: Ich bin gekündigt worden. Und sie wollte doch ein ganzes Jahr aushalten. – Wie würde man sie zu Hause empfangen? Was würden alle sagen? Der Oberförster, der Schmanzbauer, Minna, Rose Scheele. Und die Schwestern! Wie siegessicher war sie gewesen! Wiederholt hatte sie beteuert: Ich halte aus. Nun war sie kaum sechs Wochen von Hause fort, da kündigte man ihr schon, weil sie unzuverlässig und untüchtig war.

»Sie haben mich verstanden, Fräulein Sandler?«

»Ja«, klang es tonlos zurück.

»Dann ist es gut. Sehen Sie sich nach einer anderen Stelle um. Sollten Sie heimfahren wollen, dann kann das natürlich geschehen. In diesem Falle zahle ich Ihnen das Gehalt nur bis zum heutigen Tage aus. – Hier haben Sie ihren Brief und die Mappe zurück.«

Frau Wallner war gegangen. – Pucki hielt das Schreiben in eiskalten Händen. Was sollte nun werden? Nach Hause fahren? – Nein, tausendmal nein! Eine andere Stelle suchen? – Aber fand sie bis zum ersten Juni etwas? Es waren nur acht Tage bis dahin. – Wer half ihr in ihrer großen Not?

»Mutti, ach, liebe Mutti!« begann Pucki bitterlich zu weinen. Der Brief, der die entsetzlichen Anklagen enthielt, wurde zerrissen. Es hatte keinen Zweck mehr, Carmen ihren Jammer zu schildern.

»Gekündigt!« Dieses Wort sagte Pucki ungezählte Male leise vor sich hin. Es war ihr, als sei jede Freude aus ihrem Leben geschwunden.

An diesem Abend rief man sie nicht einmal zum Abendessen. Man schickte ihr das Essen aufs Zimmer. Pucki aß ihr Brot mit Tränen.

»Gekündigt, – gekündigt! – Welche Schande!«

War das das Leben? – Endete so der erste Schritt, den sie ins Leben unternommen hatte? Und was stand ihr noch bevor? Das Elternhaus tauchte vor ihrer Seele auf, das stille, friedliche Forsthaus mit seiner Ruhe, seiner Ordnung. Wie anders war es dort als hier! Und immer wieder klang von ihren Lippen: »Vati, – Mutti, – –«

Auch am Sonnabend vormittag kümmerte sich niemand um sie. Der Großpapa steckte nur einmal den Kopf durch den Türspalt.

»Sie werden von einem Herrn aus Jena am Telephon verlangt«, sagte er. »Wahrscheinlich ein flottes Studentlein. Wohl der junge Mann, dessen Bild Sie in der Schreibmappe aufheben.«

Hans Rogaten war am Telephon. Der treue Hans, der wahrscheinlich morgen mit ihr einen Ausflug machen wollte. Wie hatte sie den guten Hans angeschwindelt. Nun rief er gerade heute an, da sie in so entsetzlicher Erregung war. Ob sie sich ihm restlos anvertraute? Hans war ihr Jugendfreund, er war klug und besonnen. – Ob ihr der Himmel diesen Trost sandte?

Zögernd ging sie an den Apparat. Sie hörte seine gute Stimme.

»Pucki, soll ich morgen nach Eisenach kommen? Wollen wir uns einen vergnügten Sonntag machen?«

Schon wollte sie eine zustimmende Antwort geben, da fiel ihr Blick auf das Gesicht des Großvaters, der dicht neben ihr stand.

»Ein Schulfreund fragt an«, sagte sie leise und jämmerlich, »ob er morgen mit mir für – ganz kurze Zeit ausgehen darf. Nur für eine Stunde. Bitte, erlauben Sie es mir, ich gehe ja doch von hier fort. Nur morgen, – bitte, bitte.«

»Pucki, was ist denn los!« klang es durch den Fernsprecher.

»Was ist das für ein Freund?«

»Bitte, Herr Wallner, Sie sollen sich nicht mehr über mich zu beklagen haben. Bitte, erlauben Sie es.«

»Pucki, ich muß dich unbedingt sprechen. Da scheint manches nicht in Ordnung zu sein. Ich komme morgen auf jeden Fall nach Eisenach.«

»Ach, Hans – – ja, komm her, ich – – weiß mir keinen Rat mehr. Hans, lieber Hans, hilf mir!«

Schon seine liebevolle Anrede genügte, in Pucki alles aufzuwühlen. Hans Rogaten würde herkommen, ihm wollte sie alles sagen. Sie war ja gekündigt. Man wünschte, daß sie das Haus möglichst rasch verlassen sollte. Nun war alles einerlei! Wenn man ihr morgen nicht erlaubte, mit Hans Rogaten zu sprechen, lief sie einfach fort, zum Freunde. Er würde ihr gewiß raten.

»Du kommst, Hans?«

»Auf jeden Fall, Pucki. Ich bin gegen elf Uhr in Eisenach. Kannst du am Bahnhof sein?«

»Ich hoffe«, sagte Pucki mit leiser Stimme.

»Ich komme auf jeden Fall zu dir«, klang es zurück. »Habe Mut und Vertrauen, Pucki! Ich werde dir beistehen.«

Dann schwieg das Telephon. Mit gesenktem Kopf wollte das junge Mädchen aus dem Zimmer gehen, aber der Großvater rief sie an.

»Ohne Erlaubnis wird nichts unternommen. Das merken Sie sich!«

Der Mut der Verzweiflung überkam Pucki. Sie ging zu Frau Wallner und sagte mit vor Aufregung bebender Stimme: »Eben hat ein Schulfreund von mir angerufen. Er studiert in Jena. Er fragte, ob er morgen mit mir zusammen sein darf. Er kann mir beim Suchen einer neuen Stellung helfen. – Wenn Sie mir erlauben wollten, daß ich morgen nachmittag mit ihm zusammentreffe, werde ich Ihr Haus bald verlassen können, denn – Herr Rogaten verschafft mir sicherlich eine andere Stelle.«

»Da ich keinen Wert mehr darauf lege, meine Kinder unter Ihrer Aufsicht zu wissen, beurlaube ich Sie für morgen nachmittag. Sie können nach dem Mittagessen gehen. Um sechs Uhr sind Sie wieder daheim.«

»Ach, ich danke Ihnen tausendmal!«

Sie würde Hans Rogaten sehen, sie hatte vier Stunden Zeit, um alles mit ihm zu besprechen. – Er war ihr Retter in der Not.

Am Sonntag, gegen elf Uhr, stellte sich Hans Rogaten im Wallnerschen Hause ein. Pucki sah er nicht. Nur Frau Wallner sprach mit ihm.

»Fräulein Sandler ist um zwei Uhr frei. Sie können das junge Mädchen um diese Zeit abholen, aber nicht eher, und Punkt sechs Uhr verlange ich, daß Fräulein Sandler wieder zurückkehrt.«

Rogaten unterdrückte jede Äußerung. Schon aus dieser kurzen Unterredung war ihm klar geworden, daß es hier nicht stimmte. Nun, von Pucki würde er die nötige Aufklärung bekommen. – So durchstreifte er allein die Stadt, um pünktlich zur festgesetzten Zeit wieder bei Wallners zu sein.

Er war bestürzt, als er Pucki sah. Das lebensfrische, fröhliche junge Mädchen sah bleich und vergrämt aus. Um die Lippen lag das Weinen.

»Hans, lieber Hans, sei mir nicht böse, ich bin deiner Freundschaft nicht wert, denn ich habe dich beschwindelt. Ach, Hans, ich bin ja so unglücklich!«

»Komm, Pucki! – Wollen wir hinauf zur Wartburg gehen?«

»Nein, Hans, nicht zur Wartburg. Lieber ein wenig in den Wald. Ich kann keine Menschen sehen! Ich will dir alles sagen. Ich werde dich nicht wieder beschwindeln!«

»Arme, liebe Pucki, hast du es so schwer getroffen?«

»Es ist ja zum Teil meine Schuld. Ich hatte mir alles viel leichter vorgestellt. Ich bin wahrscheinlich noch viel zu dumm, um immer das Rechte zu treffen. Ich weiß nur das eine: daß ich schon beim ersten Schritt ins Leben gestolpert bin.«

»Du darfst nicht gar so mutlos sein, Pucki! Ein junges Mädel wie du beißt sich durch. Das wäre ja noch schöner, wenn du verzagen wolltest.«

Sie schritten hinein ins herrliche Annatal. Dort suchten sie eine versteckte Bank auf, und dann schüttete Pucki dem Freunde ihr übervolles Herz aus. Hans Rogaten unterbrach die Erzählerin nicht. Er hörte ihren Jammer, ihre Selbstanklagen, ihre Hoffnungslosigkeit.

»Du willst also unter keinen Umständen nach Hause?«

»Nein, Hans, das könnte ich nicht. Ich will allen beweisen, daß ich durchhalte. In einer anderen Stellung werde ich von vornherein weniger Ansprüche stellen. Ich werde still und bescheiden sein, werde schweigend alles ertragen. Aber ich will den Eltern beweisen, daß ich durchhalte.«

»Das kann ich verstehen, Pucki. Doch wo nehmen wir gleich eine andere Stellung her? Ich glaube, in der Wallnerschen Familie ist man froh, dich los zu werden.«

»Ich sagte ihnen, daß ich am ersten Juni gehen will. – Ach, lieber Hans, wo bekomme ich eine andere Stellung?«

»Durch Inserate, durch die Zeitungen, durch Vermittlungsstellen. Ich würde an deiner Stelle nicht in Eisenach bleiben, Pucki.«

»Hans, hilf mir, ich weiß keinen Weg.«

»Es gibt eine Menge Zeitungen und Zeitschriften, in denen Stellungen ausgeschrieben sind. Wir gehen nachher zum Bahnhof, kaufen mehrere Zeitungen und Zeitschriften und sehen sie gemeinsam durch. Es wird sich etwas finden.«

»Glaubst du das wirklich?«

»Natürlich! – Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Ich könnte auch mal an meinen alten Herrn schreiben. Vielleicht weiß er Rat, er hat allerlei Beziehungen.«

Sehr bald drängte Pucki zum Aufbruch, denn sie wollte am Bahnhof die Zeitungen durchsehen.

»Wenn wir heute nichts finden, Pucki, mußt du täglich einige Zeitungen kaufen und nachsehen.«

Das Försterkind dachte traurig an die Italienreise, die nun in weite Ferne gerückt war. Doch jetzt galt es erst einmal, aus dieser Lage einen Ausweg zu finden.«

Schon eine halbe Stunde später saßen zwei junge Menschen im Wartesaal des Bahnhofs und blätterten Zeitungen und Zeitschriften durch, die Hans Rogaten gekauft hatte.

»Auf diese Anzeige könntest du mal schreiben«, sagte nach längerem Suchen der Student, »und auch an diese hier. – Hier ist die Leipziger Zeitung. Wollen mal nachsehen, was da drin steht. – Hier ist die Kölner Zeitung. – Ja, sieh mal, hier ist auch eine Stellung ausgeschrieben.«

»Dahin schreibe ich natürlich auch.«

Noch einmal ging Hans Rogaten fort und kam mit neuen Zeitungen zurück. »Hier, Pucki, nach Breslau! Dahin schreibst du auch – – Und hier, – in Nürnberg wird ein junges Mädchen gesucht. – Wirst du so viel Zeit haben, um auf alle diese Anzeigen zu schreiben?«

»Ich nehme sie mir. Man will ohnehin nichts mehr von mir wissen.«

Bis dreiviertel sechs Uhr blieben die beiden im Wartesaal des Bahnhofs. Dann begleitete Rogaten seine Freundin zu Wallners Haus. Abschiednehmend reichte er ihr die Hand und drückte sie herzlich. »Kopf hoch, kleine, liebe Freundin! Wenn du auf alle Anzeigen keinen Bescheid bekommst, muß mein Vater helfen. Er tut es gern. Er steckt augenblicklich in München. Ich schreibe noch heute an ihn.«

An diesem Abend schrieb Hedi Sandler bis in die späte Nacht hinein bei abgeblendeter Lampe sieben Stellungsgesuche.


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