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Eine merkwürdige Stellung

Puckis Stellung im Hause Wallner wurde eine ganz andere. Schon am Tage nach der Kündigung räumte man ihr zum Schlafen ein anderes Zimmer ein, einen bescheidenen Raum mit der Aussicht nach den Werkstätten auf dem Hof. Der Großvater meinte, man könnte den kleinen Moritz einer so lieblosen Person keinen Tag länger anvertrauen. Er übernahm auch die Beaufsichtigung der Schularbeiten und das Ausgehen mit den Kindern. Pucki mußte in der Küche helfen und sich in der Waschküche nützlich machen. Sonst saß sie, wie bisher, vor dem Flickkorb. Man sprach wenig mit ihr. Wohl durfte sie beim Mittagsmahl zugegen sein, aber das Abendbrot stellte man ihr in die Küche. Von dort holte sie es in ihr Zimmer.

Pucki schluckte alle Bitterkeiten tapfer hinunter. Sie ersehnte einen Bescheid auf ihre Stellengesuche. Jede Stelle, die sich ihr bot, würde sie annehmen. Nur rasch fort aus diesem Hause, in dem man sie so behandelte. Täglich schickte ihr Hans Rogaten aus Jena Zeitungsausschnitte mit Stellungsangeboten. Jeden Abend schrieb sie neue Bewerbungen, immer in der Hoffnung, daß eine Antwort kommen würde.

Aus Köln kam ein Brief, sie möchte Zeugnisse und Bild einsenden und ferner Referenzen aufgeben. Niedergeschlagen las das junge Mädchen das Schreiben. Man würde sie sicher nicht nehmen, denn sie besaß ja noch keine Zeugnisse. Was nützte hier das gute Schulabgangszeugnis? Trotzdem wollte sie heute abend den Brief beantworten. Am Nachmittag desselben Tages händigte ihr die Köchin einen zweiten Brief aus. Er kam aus Nürnberg.

Sofort öffnete sie den Brief. Dann las sie:

»Mein liebes Fräulein!

Wenn Sie fröhlichen Herzens sind, wenn Sie sich zumuten, mit zwei Knaben von zehn und zwölf Jahren fertig zu werden, wenn Sie den guten Willen haben, sich unserem Haushalt einzufügen, könnten Sie sofort bei uns eine Stellung antreten, als – – Nun, diese Stellung läßt sich nicht mit einem Wort umreißen. Sagen wir: als Freundin der Knaben, als unsere liebe Hausgenossin, als meine Gehilfin. Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie sofort kommen könnten. Falls das möglich ist, telegraphieren Sie Ihre Ankunft. Frau Edda Ravell.«

Dann folgte die Adresse.

»Nürnberg«, sagte Pucki und sah im Geiste die alte Burg vor sich. Doch rasch schlug sie die Augen nieder. Wieder eine historische Stadt, wieder ein Ort, in dem es viel zu sehen gab. Die Meistersingerwiese, das Hans-Sachs-Haus, das Bratwurstglöckl und die alten Häuser an der Pegnitz.

»Das alles werde ich doch nicht sehen«, sagte sie leise vor sich hin. »Zwei Jungen sind da. Die Hausfrau deutet bereits an, daß ich alles sein muß. Ich werde flicken, waschen, stopfen und anderes mehr. Trotzdem gefällt mir der Brief. ›Liebes Fräulein‹, redet sie mich an. Das tut bei Wallners keiner. Sie will mich sofort haben. – Ja, ich komme!«

Edda Ravell! Was war das für ein seltsamer Name? Hatte sie ihn nicht irgendwo schon gelesen oder gehört? Obwohl Pucki lange darüber nachdachte, fand sie die Lösung nicht.

Sie sollte sofort kommen, sollte telegraphieren. Kein Zeugnis wurde von ihr verlangt, sie brauchte nur nach Nürnberg zu drahten: ich komme!

Der Strumpf, den sie gerade stopfte, flog im großen Bogen in den Korb zurück, die blauen Mädchenaugen blitzten seit langer Zeit wieder unternehmungslustig.

»Auf in den Kampf! Jetzt gehe ich zu Frau Wallner, dann zur Post, dann packe ich, erkundige mich am Bahnhof, wann mein Zug geht, und fahre schon morgen nach Nürnberg ab!«

Bei diesem Gedanken wurde Pucki wieder leicht ums Herz.

»Ich werde Frau Edda die Wäsche waschen und die Zimmer aufräumen. Ich werde den beiden Knaben alle Liebe schenken, die ich zu geben vermag. Ich will nie nach der Nürnberger Burg gehen und kein altes, ehrwürdiges Haus besichtigen. Ich werde arbeiten, arbeiten von früh bis spät. Nur von hier rasch fort!«

Frau Wallner nahm die Nachricht Fräulein Sandlers sehr kühl entgegen. »Ich habe nichts dagegen, daß Sie morgen mein Haus verlassen. Selbstverständlich zahle ich Ihnen das Gehalt nur bis zum fünfundzwanzigsten.«

»Ich bitte um die Erlaubnis, zum Bahnhof gehen zu dürfen, um mich nach den Zügen zu erkundigen.«

»Es ist gut.«

Da stand nun Pucki wieder in der Bahnhofshalle mit freudig pochendem Herzen. Morgen früh, gegen zehn Uhr, ging ein Zug nach Nürnberg. Das Fahrgeld war auch zu erschwingen. Freilich, die Italienreise lag nun in ganz weiter Ferne. Jetzt erst fiel ihr ein, daß Frau Ravell gar nichts über das Gehalt geschrieben hatte. Ob sie dort umsonst arbeiten mußte? Ach nein! Eine Dame, die so freundliche Briefe schrieb, zahlte auch gewiß gute Gehälter.

»Vielleicht bekomme ich sogar dreißig Mark. Dreißig mal zwölf sind dreihundertsechzig Mark! – Oh, soviel brauche ich nicht für Italien. – Hurra, die Reise ist wieder gesichert!«

Es tat ihr geradezu wohl, daß ihr der Beamte freundlich Auskunft gab.

»Ich freue mich furchtbar darauf, morgen nach Nürnberg fahren zu können. Doch nun muß ich rasch telegraphieren. Ich nehme dort eine Stellung an.«

Der Beamte lächelte freundlich und wies sie zum Telegraphenamt.

Pucki ergriff einen Vordruck und schrieb darauf:

»Herzlichen Dank für das Angebot. Habe mich soeben nach dem Zuge erkundigt und treffe morgen, mittags drei Uhr, dort ein. Ihren Anforderungen hoffe ich zu genügen.

Hedwig Sandler.«

Sie reichte das Blatt in den Schalter hinein. Als sie den Betrag hörte, den sie dafür bezahlen sollte, nahm sie dem Beamten das Blatt wieder aus den Händen.

»Soviel Geld habe ich gar nicht. Ist ein Telegramm so teuer?«

»Fassen Sie sich doch kürzer. Wenn Sie nur Ihr Kommen zu melden haben, kann es mit wenigen Worten geschehen.«

»Ich möchte aber höflich telegraphieren.«

Schließlich entschloß sich Pucki aber doch, nur kurz zu melden, daß sie morgen, drei Uhr mittags, eintreffen würde.

Mit einem Frohgefühl ohnegleichen packte sie am Abend ihre Sachen zusammen. Ins Tagebuch wurde wieder einmal eine umfangreichere Eintragung gemacht.

»Die Würfel sind gefallen! Ich verlasse die Stätte meines Wirkens. Eine einzige große Enttäuschung war mein erster Schritt ins Leben. Eine innere Stimme sagt mir jedoch, daß es bei Frau Ravell besser sein wird. Außerdem habe ich schon viel gelernt. Ich weiß, wer fremdes Brot essen muß, soll die eigenen Wünsche zurückstecken. In diesem Sinne trete ich die neue Stellung wohlgemut an. Ich habe keine eigenen Wünsche mehr, ich lebe nur noch für andere. Ich werde auch nichts von Nürnberg sehen, gar nichts. Ich werde für zwei Knaben Strümpfe stopfen, aber – ich halte durch, das schwöre ich!«

Es fiel Pucki schwer aufs Herz, daß sie die Eltern und Freunde von dem Wechsel ihrer Stellung unterrichten mußte.

Das sollte erst geschehen, wenn sie einige Tage in Nürnberg weilte und von dort aus über die neue Stelle berichten konnte. Wie sich ihr Leben auch gestalten mochte, sie würde einen zufriedenen Brief ins Elternhaus senden.

Um Vater und Mutter nicht in Unruhe zu versetzen, schrieb sie noch an diesem Abend eine nichtssagende Karte. Sie verschwieg, daß sie morgen Eisenach verlassen würde.

Am anderen Morgen wurde sie zu Frau Wallner gerufen, die ihr das genau ausgerechnete Gehalt übergab. Der Großvater, der daneben stand, sagte verbissen:

»Verdient haben Sie das viele Geld nicht. Wären Sie bei mir in Diensten, hätte ich berechtigte Abzüge gemacht. Aber meine Schwiegertochter ist viel zu gutmütig, sie weiß den Wert des Geldes leider nicht genügend zu schätzen. Bessern Sie sich in Ihrer neuen Stelle. Ich weiß heute schon, daß Sie dort auch nicht lange bleiben werden. Für Kinder sind Sie nicht zu gebrauchen.«

Als Zeugnis bekam Pucki nur eine kurze Bescheinigung, die sie schweigend einsteckte. So war der Abschied vom Wallnerschen Hause kühl. Sie schied mit dem glücklichen Gefühl, daß dieser Abschnitt ihres Lebens ein Ende gefunden hatte.

*

Nürnberg! – Wieder der Bahnhofstrubel, nur viel, viel größer als in Eisenach! Diesmal sah sich Pucki nicht suchend nach rechts und links um.

»Eine Angestellte holt man nicht ab«, dachte Pucki nach ihren Erfahrungen in Eisenach. Sie nahm den Koffer in die Hand und wanderte los. »Frau Edda denkt nicht daran, ihr Kinderfräulein abholen zu lassen. – Ach, wenn ich es dort nur besser habe! Aber ich will alles ertragen.«

Sie mußte dieses Mal mit der elektrischen Straßenbahn fahren. Ein Schutzmann wies sie zurecht. Vor einem großen Mietshause blieb sie endlich stehen. Hier also wohnte Frau Edda Ravell.

Herzklopfend stieg Pucki zum ersten Stockwerk hinauf. Sie las die Schilder an der Tür: »Prell« auf der einen Seite, »Lorenz« auf der anderen. Also hinauf ins zweite Stockwerk: »Grünberg«, auf der anderen Seite »Hummel«. Auch im dritten Stockwerk war keine Frau Edda Ravell zu finden. Pucki nahm den Brief aus der Handtasche und verglich die Hausnummer. – Im Hinterhaus konnte diese Frau doch unmöglich wohnen. Trotzdem stieg sie im Hinterhaus bis ins dritte Stockwerk hinauf, fand aber auch hier den gesuchten Namen nicht.

»Ein schöner Anfang«, klang es gedrückt, und wieder war ihr das Weinen nahe. Im Flur traf sie eine Frau.

»Bitte, können Sie mir sagen, ob in diesem Haus eine Frau Edda Ravell wohnt? Sie hat zwei Knaben.«

»Im ersten Stock links«, gab die Frau zur Auskunft.

Wieder stieg Pucki die Treppen hinauf. Links war ein großes Schild angebracht, mit dem Namen »Kurt Prell«.

»Himmel«, seufzte Pucki, »sie wird mit den beiden Kindern doch nicht in einem möblierten Zimmer wohnen. Wo bin ich hingeraten!«

Zögernd zog sie die Klingel. Jemand rannte drinnen den Korridor entlang, dann wurde die Tür geöffnet. Pucki sah einen größeren Knaben vor sich stehen, der sie neugierig betrachtete.

»Ich heiße Sandler. – Ich komme aus Eisenach. Ich bin das neue – – Fräulein.«

»Herzlich willkommen!« rief ihr der Knabe entgegen. Dann wies er auf eine der Türen. »Gehen Sie dort mal 'rein, dort ist Mutter.«

Sekundenlang wagte Pucki keinen Schritt zu machen. Der Knabe war schon wieder verschwunden. Sie stand allein in dem langen Korridor. Endlich pochte sie zögernd an die bezeichnete Tür. Eine Männerstimme forderte sie zum Eintreten auf.

Im Zimmer auf dem Diwan lag ein weißgekleideter Herr, der den Rauch einer Zigarette vor sich hinblies. Er hob den Kopf nur ein wenig, als er das eintretende junge Mädchen erblickte.

»Ich bin Hedi Sandler aus Eisenach. Ich hatte telegraphiert – –«

»Nett von Ihnen«, sagte der weißgekleidete Herr, »setzen Sie sich bitte. Wollen Sie eine Zigarette rauchen?«

Pucki überlief es eiskalt. Wo war sie hingeraten? Dieser Hausherr erhob sich nicht einmal bei ihrem Eintreten? Scheu betrachtete sie ihn näher. Er konnte kaum älter sein als Claus.

»Also aus Eisenach kommen Sie?« fuhr der Mann fort, »und hier wollen Sie den Jungens die Eselsohren langziehen? Viel Vergnügen, mein Fräulein. – Warum setzen Sie sich nicht?«

»Ich suche – – suche – Frau Ravell.«

»Wird gleich hier sein. Legen Sie inzwischen Hut und Mantel ab.«

Pucki stand noch immer unbeweglich da. Am liebsten wäre sie umgekehrt und nach Eisenach zurückgefahren. Ach nein, nicht nach Eisenach, nach Birkenhain, zu den Eltern! Mochten sie sie auslachen, mochten sie schelten.

Da öffnete sich eine Tür. Eine elegante Dame trat ins Zimmer, die mit ausgestreckten Händen auf Pucki zuging.

»Da sind Sie! – Haben Sie sich wirklich hierher gewagt? Es war nett von Ihnen, daß Sie so rasch kamen. – Sie gefallen mir, und ich hoffe, Sie werden sich hier gut einleben. Es geht freilich mitunter ein wenig bunt in unserem Hause zu, aber mit meinen beiden Jungen werden Sie gewiß fertig werden. Sie sind zwar alle beide ein wenig verrückt, aber herzensgut.«

Wieder überlief es Hedi Sandler eiskalt. Zu zwei unerzogenen Kindern hatte man sie gerufen? Das konnte ja gut werden!

»Rico, du hättest unsere neue Hausgenossin auch ein wenig höflicher empfangen können. Bitte, stehe endlich auf.«

Der Angeredete erhob sich nachlässig und reichte Pucki die Hand.

»Ich – – ich werde mich bemühen, Herr Ravell, Ihre Zufriedenheit zu erlangen«, stotterte Pucki, »ich will – –«

Die beiden Anwesenden brachen in herzliches Lachen aus, und Pucki verstummte erschreckt.

»Das ist ja zu drollig! Dieser Herr hier, den sie vor sich sehen, ist ein Kollege meines Mannes, Herr Rico Wengen. – Mach bitte eine anständige Verbeugung, Rico.«

Pucki wagte kaum zu atmen. Der Ton, der in diesem Hause herrschte, bestürzte sie. Doch Frau Ravell fuhr unbekümmert fort: »Ich heiße auch nicht Ravell, das ist nur mein Künstlername. Ich bin seit dreizehn Jahren mit meinem Kurt verheiratet, mit Kurt Prell, dem Tenor der hiesigen Oper.«

Wie ein Schlag durchfuhr es Pucki. Sie sollte im Hause eines Tenors leben?

»Meinen Namen haben Sie gewiß gehört, kleines Fräulein; ich bin Schriftstellerin und arbeite augenblicklich an einem großen Roman. Da habe ich wenig Zeit für die Kinder. Doch nun will ich mich einmal erkundigen, ob unsere gute Va das Futter fertig hat. Sie werden Hunger haben. Auch die Jungen hole ich sofort herbei.«

Frau Edda öffnete eine Tür und rief mit lauter, wohlklingender Stimme:

»Tri – Tri – – Flo, Flo! Kommt schnell her!«

Wieder kam ein angstvoller Blick in Puckis Augen. Ihr erschien alles sonderbar und fremd in diesem Hause.

Da kamen die beiden Knaben angelaufen. Sie blieben vor Pucki stehen und betrachteten sie forschend.

»So, mein liebes Fräulein Sandler. – Ach nein, wie heißen Sie eigentlich?«

»Sandler, Hedwig Sandler.«

»Also unser liebes Fräulein He. Wir sind für Abkürzungen. Es ist scheußlich langweilig, den ganzen Namen auszusprechen. Oder haben Sie vielleicht einen anderen Namen?«

Da konnte Pucki nicht anders. Mit vor Erregung zitternder Stimme stieß sie hervor: »Ich wurde daheim Pucki genannt.«

»Wie reizend! Also unsere Pucki! Das klingt entzückend. Hier haben Sie unseren Tristan, kurz Tri genannt. Der Bengel ist zwölf Jahre alt und total blödsinnig. Nicht wahr, Tri?«

Der Knabe lachte herzlich. Es war ein wohlklingendes Lachen. Pucki staunte, wie fröhlich der Junge lachen konnte.

»Und hier ist Florestan, kurz Flo genannt. Mein Mann hatte die irrsinnige Idee, seine beiden Knaben nach den Opernrollen zu taufen, die er an den Tagen sang, da die beiden Kinder geboren wurden. Beinahe hätten wir den Zweiten Herodes nennen müssen. Glücklicherweise wurde ›Salome‹ an jenem Tage abgesagt und ›Fidelio‹ gegeben.«

Pucki wußte noch immer nicht, was sie sagen sollte. Alles, was sie hier hörte, war ihr fremd und sonderbar.

»Ihr Gören, nun zeigt Fräulein Pucki, wo sie wohnen wird«, sagte Frau Prell. »Dann kommt ihr zurück und laßt Pucki hübsch in Ruhe. Sie muß ihre Koffer auspacken.«

Florestan nahm Pucki an die Hand. »Ich kann doch du zu dir sagen? Wir duzen uns alle.«

Tristan eilte voran, riß eine Tür weit auf, und dann sang er los: »Oh, diese Sonne, ha, dieser Tag, ha, dieser Wonne sonnigster Tag!«

Pucki warf einen ängstlichen Blick auf den jugendlichen Sänger.

»Fein, daß du da bist«, sagte Flo. »Nicht wahr, wir werden uns gut vertragen? Du darfst aber nicht so strenge sein. Du gefällst mir gut, denn du bist hübsch.«

»Ja, du bist hübsch«, bestätigte auch Tristan. Dabei stemmte er beide Hände in die Hüften.

»Ja ja, schon gut«, erwiderte Pucki und machte einige Schritte zur Tür.

Da klang es erneut: »Entwischen willst du, feiger Hund? Hier steht mein Weib, ich hab' ein Recht auf sie!«

»Sei nicht so verrückt«, schalt der Jüngere. »Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben«, sagte er treuherzig zu Pucki. »Wenn der Vater eine Rolle lernt, singt er mit. – Kennst du ›Tiefland‹? Das ist aus ›Tiefland‹. Doch nun pack rasch deinen Kram aus. Oder – dürfen wir zusehen?«

Pucki kam zögernd wieder zurück ins Zimmer. Es war ein einfenstriger Raum, den man ihr zugewiesen hatte, aber er war behaglich ausgestattet. Daß sie ein Zimmerchen für sich allein bekam, war schon eine große Freude für sie. Wenn nur die Leute nicht gar so merkwürdig wären! Ob sie sich hier einleben würde?

Die Knaben liefen davon. Im Flur hörte Pucki abermals den Älteren singen: »Nur deinetwegen wollt' ich noch nicht sterben. Um deine Liebe möcht' ich ewig werben.«

Pucki packte den Koffer aus. Die Frachtsachen würden erst in einigen Tagen ankommen. Fürs erste reichte das aus, was sie mitgebracht hatte, vor allem ihren Arbeitskittel, denn sie war doch hier nur zur Arbeit da.

Sie war mit dem Auspacken noch beschäftigt, als jemand an die Tür pochte. Es war Frau Prell.

»Nun 'ran an die Krippe, das Essen ist fertig. Kommen Sie, Sie sollen meinen Mann kennenlernen. Leider ist er heute schlechter Laune, doch das gibt sich bald wieder.«

Frau Edda schob ihren Arm in den Puckis und betrat mit ihr ein sehr schön eingerichtetes Eßzimmer. Es störte Pucki allerdings, daß auf dem Büfett Stöße von Noten lagen. Sie gehörten doch nicht an diesen Platz.

Aus dem Nebenzimmer kam ein großer, etwas dicklicher Herr.

»Das ist mein Mann, unser Tenor! Hier ist Fräulein Pucki, die sich unserer Kinder annehmen will. Mache deinen Knicks, Kurt.«

»Freue mich, freue mich«, sagte der Sänger und strich mit der ringgeschmückten Hand durch das reiche dunkle Haar. »Viel Freude werden Sie an diesen Bengels nicht erleben. – Was gibt's heute zu essen? Draußen roch es nach Kohl. Du weißt doch, daß ich Kohl nicht gerne esse.«

»Schatz, deine Nase ist falsch, es gibt keinen Kohl. Kohl redest du!«

Der Tenor setzte sich am Tisch nieder, ehe die Hausfrau ihren Platz eingenommen hatte, zog eine Zeitung aus der Brusttasche und begann darin zu lesen. Er ließ sich das Essen auf den Teller legen, stocherte ein wenig darin herum und erklärte dann, jetzt habe er keinen Appetit. Dann stand er auf und sagte im Fortgehen:

»Va soll mir das Essen um sechs Uhr zurechtmachen. Ich habe jetzt keinen Appetit.«

»Es ist gut, Kurt.«

»Mutter, ich esse mit dem Vater um sechs Uhr«, rief Florestan. Damit stand der Knabe vom Tisch auf und verließ ebenfalls das Zimmer, ohne daß ihn die Mutter zurückrief.

Pucki staunte. Sie staunte noch mehr über die Stütze Valeria, die man kurz Va nannte. Mit dem gleichgültigsten Gesicht erklärte sie, daß sie das Essen warmstellen würde.

»Ich denke«, sagte Frau Prell, »liebste Va, daß Sie sich mit unserer Pucki gut verstehen werden. Sie können tun und lassen, was Sie wollen, Pucki. Nur keinen Krakeel! Wenn Tri oder Flo frech sind, strafen Sie sie nach Belieben. Damit ist die Sache erledigt. Nur kommen Sie nicht noch zu mir mit Klagen. Das kann ich nicht ausstehen. Ich bin durch meinen Beruf sehr nervös und habe viel zu arbeiten. Um die Kinder kann ich mich da nicht kümmern. Nicht wahr, das wissen Sie, liebe Va?«

»O ja, das stimmt, Frau Edda.«

»Da hören Sie's«, lachte Frau Prell, »unsere Va kennt mich genau. So, nun langen Sie kräftig zu! Die Soße ist zwar ein wenig angebrannt, doch dafür kann unsere gute Va nicht. Sie hat heute früh meinen Mann beim Singen begleiten müssen. Unsere gute Va spielt fabelhaft Klavier.«

Alle diese Äußerungen wirbelten in Puckis Kopf wild durcheinander, als sie nach eingenommenem Mittagessen wieder in ihrem Zimmer stand.

»Jetzt legen Sie sich eine Stunde aufs Ohr«, so hatte Frau Prell geraten, »denn bei uns sind die Abende lang und die Nächte kurz. Wenn die Jungen Lärm machen, schnauzen Sie sie an.«

Was war das eigentlich für eine Stelle? Über ihre Tätigkeit hatte sie noch nichts erfahren. Frau Edda gefiel ihr eigentlich sehr gut – oder nein, sie gefiel ihr gar nicht. Und ihr Mann, der am Tisch die Zeitung las, plötzlich aufstand und fortging – – fand schon gar nicht ihren Beifall. Aber sie war ja in einer Künstlerfamilie, da ging es ganz anders zu als bei einem Kunsttischler oder im Forsthause.

Pucki schlief nicht, sie räumte ihre Sachen ein. Dann, als sie in der Küche mit Geschirr klappern hörte, schlich sie in den hinteren Flur, um jene Va näher kennenzulernen. Was spielte Va in diesem Hause für eine Rolle? Wenn sie Köchin war, konnte sie unmöglich den Sänger am Flügel begleiten und mit ihm üben.

Zögernd betrat Pucki die Küche. Valeria stand vor dem Aufwaschtisch. In dieser Küche war alles auf das modernste eingerichtet: Ein elektrischer Kochherd, kaltes und warmes Wasser, Fußboden und Wände gekachelt. Es sah blitzsauber aus. Valeria ließ das heiße Wasser über die Teller laufen. Neben ihr stand Tristan und trocknete Gläser ab.

»Wollen Sie auch helfen?« rief ihr Valeria zu. »Heute brauchen wir keine Hilfe. Nachher kommt die Aufwartung zum Aufwischen der Küche. Wir haben wieder Geld. Alles ist bezahlt! Die Leute stellen sich wieder ein.«

»Ja, das Geld regiert die Welt«, sang Tristan.

»Halte die große Flappe, Bengel!« schalt Va.

»Wenn Sie etwas zu helfen haben«, begann Pucki zögernd, »will ich es gern tun.« Erst jetzt hatte sie Gelegenheit, die klavierspielende Köchin genauer zu betrachten. Valeria Kommak fing den forschenden Blick auf.

»Ihnen steht die Neugier auf der Nasenspitze«, lachte sie. »Sie sind noch ein ganz junges Ding und wundern sich über alles, was sie hier sehen. Sie werden sich noch über vieles wundern. In diesem Hause gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man macht mit und fühlt sich zufrieden, oder man läuft schon am dritten Tage wieder fort. Es wird auf Sie ankommen.«

»Ja, alles ist hier recht komisch.«

»Komisch – freilich, aber interessant! An Ihnen wird es liegen, ob Sie sich einleben oder nicht. Wenn Sie Gnade vor den Augen des Hausherrn finden, wenn Sie die Launen Frau Eddas lachend ertragen, ist alles gut.«

»Wie soll ich Gnade finden, wie büßen meine Schuld?« sang Tristan, und Valeria versetzte dem singenden Knaben mit dem Kochlöffel einen leichten Schlag. »Das ist ein Schreihals. Alle Partien kann er singen. Jetzt gröhlt er wieder aus ›Tannhäuser‹. An etwas Vernünftiges denkt der Junge nicht. Für nichts anderes hat er Interesse, als nur für die Opern-Partien, die sein Vater studiert. Die Schulweisheiten vergißt er von heute auf morgen.«

Tristan stellte sich lachend an die Küchentür, um aus dem Bereich des Kochlöffels zu kommen. Dann sang er wieder: »All mein Erinnern ist mir schnell geschwunden, und nur des Einen muß ich mich entsinnen – –«

»Daß nie mehr ich gehofft, euch zu begrüßen«, fiel Florestan ein, der soeben die Küche betrat.

»Schert euch beide 'raus!« rief Fräulein Va, nahm einen Topf und warf ihn nach den Knaben. Sie flohen lachend, doch draußen im Flur klang es nochmals:

»Wo's die Ehre gilt, wo ein holdes Frauenbild, sind wir alle da, wir von Alkala!«

»Nun singt er schon wieder aus ›Carmen‹. Ach, ist das ein Lümmel. Na, Pucki, Sie werden hier noch Ihr blaues Wunder erleben. Wenn Sie die beiden Bengels zur Vernunft bringen, bekommen Sie im Himmel einen blau gepolsterten Stuhl mit Sternen.«

»Ist er hier oben wohl etwas übergedreht?« Pucki tippte sich bei diesen Worten mit dem Finger an die Stirn.

»Gott bewahre! Er ist ganz normal.«

»Frau Prell sagte mir doch – –«

»Daß er verrückt ist. – Nun ja, verrückt ist er schon. Alles singt er nach, was sein Vater studiert. Hier können Sie mancherlei erleben! Mir ist er sogar schon mal an die Kehle gesprungen, als Herr Prell den Pedro im ›Tiefland‹ studierte. Das kommt nämlich in der Rolle vor. Ich hatte Mühe, den Jungen abzuwehren.«

»Sie begleiten Herrn Prell beim Gesang?«

Va lachte. »Sie möchten gern wissen, wer ich bin und welche Stellung ich bekleide? Ich bin alles, und Sie werden auch alles sein. Ich vereinige fünf bis sechs Berufe in mir. Mit zwanzig Jahren besuchte ich das Konservatorium und wollte Pianistin werden. Ich war mit meinem Studium noch nicht fertig, da ging den Eltern das Geld aus. Dann brach ich mir den kleinen Finger. Er ist bis auf den heutigen Tag schwach geblieben. Also war es aus mit der Pianistenlaufbahn. Ich habe dann allerlei versucht. Fürs Kochen hatte ich immer Talent und Lust; auch für gutes Essen. Auf allerlei Umwegen bin ich schließlich in dieses Haus gekommen. Heute bin ich fünfunddreißig Jahre alt und fühle mich hier sehr wohl. Manchmal ist das Geld bei uns knapp, dann wieder ist Geld in Mengen vorhanden, und ich bezahle die gemachten Schulden, denn weder Herr Prell noch seine Frau wollen von der Wirtschaft etwas wissen. Das überlassen sie mir. So bin ich Kassiererin, musikalische Begleiterin, Gesellschafterin, Köchin und zeitweilig auch Kindermädchen.«

»Und was will man von mir?«

»Sie sollen dafür sorgen, daß die beiden Knaben ein wenig Anstand und Ordnung lernen. Dafür sind Sie allerdings noch reichlich jung. Es wird Ihnen kaum gelingen, denn die Eltern sind merkwürdige Leute und arbeiten einem entgegen. Na, Sie werden ja sehen, ob Sie es hier aushalten können oder nicht.«

»Was kann ich tun, um Gnade vor den Augen des Ehepaares zu finden?«

»Machen Sie immer ein fröhliches Gesicht. Mag in diesem Haus der Blitz einschlagen, mag unser Tenor noch so sehr toben und fluchen, Sie müssen immer ein fröhliches Gesicht zeigen, dann haben Sie gewonnen. Wenn Sie aber weinen oder gar maulen – – du lieber Gott, dann wird es schlimm. Dann können Sie was zu hören bekommen.«

Pucki senkte die Blicke. Sie konnte unmöglich immer ein frohes Gesicht zeigen! Wenn es jedoch gewünscht wurde, mußte sie es tun. In diesem Hause war eben alles anders. Sie hätte gern noch mancherlei gefragt, vor allem, wie es mit ihrem Gehalt stände. Sie wagte es aber nicht. Dazu war ja auch später noch Zeit.

»Haben Sie für Ihre Auskünfte Dank, Fräulein Kommak.«

»Um des Himmels willen, nennen Sie mich nicht mit meinem Familiennamen; Herr Prell kann es auf den Tod nicht leiden. Hier hat jeder nur einen Vornamen. Ich bin die Va, unsere Hausfrau ist Frau Edda.«

»Und ich bin Pucki.« Eine leise Glückseligkeit klang durch die Worte.

»Ich möchte wünschen«, sagte Va herzlich, »daß Sie aushalten. Ich glaube, wir werden uns gut vertragen.«

»Ich möchte es auch.«

»Und immer vergnügt und fröhlich sein! Sie sind nun einmal hier ein Mädchen für alles, wie ich es auch bin. Jeder macht jede Arbeit.«

»Ja, stopfen, waschen, flicken –«

»Das nicht! Zerrissene Wäsche wird fortgegeben oder fortgeworfen. Die Wäsche geht aus dem Haus, und für grobe Arbeiten ist eine Hilfe da. Das könnten wir nicht schaffen. Sie werden bald erleben, daß an manchen Abenden oder in den Nachtstunden fünfzehn bis zwanzig Personen hier herumwimmeln. Bis in die Küche kommen sie und fangen an, elektrisch zu kochen. Wie könnten wir uns da mit Waschen oder Flicken aufhalten?«

»Das ist alles recht komisch.«

»Ja, Pucki, komisch ist es hier. Aber man hat viel Abwechslung und Freude.«


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