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Die erste Oper

Noch immer schüttelte sich Pucki vor Lachen, wenn sie an den heutigen Vormittag dachte. So etwas war ihr noch nicht vorgekommen. Herr Prell hatte sie ins Musikzimmer gerufen, in dem Valeria am Flügel saß.

»Da Sie Noten kennen«, begann der Sänger, »müssen Sie uns heute ein wenig aushelfen. Ich studiere eine Partie lieber, wenn mir bei den Duetten der Einsatz von der Partnerin gegeben wird. Va hilft Ihnen, sie gibt Ihnen die Töne an. Sie verstehen doch ein wenig von Musik, Pucki?«

»Ich soll singen?«

»Nur ein wenig! Ich verlange durchaus nichts Schwieriges.«

»Ich soll singen«, wiederholte Pucki und begann zu lachen.

»Was ist denn dabei zu lachen? Sie kennen Noten, die Sache ist also höchst einfach. Ich weiß, was ich von einem Dilettanten verlangen kann. – Va, spielen Sie die Stelle vor. Ich beginne: ›Wie habe ich dich gesucht, in all den Tagen‹, – – und dann setzen Sie ein: ›Ich hab' dich wieder, oh, höchstes Glück!‹ – Va, geben Sie die Melodie an!«

Pucki schaute bald auf den Tenor, bald auf die Stütze. »Ich habe nur wenige Jahre Klavierunterricht gehabt und so gut wie gar nichts gelernt. Singen kann ich gar nicht, ich habe keinen vernünftigen Ton in der Kehle und weiß nicht, ob ein Ton höher oder tiefer ist. Ich bin gänzlich unmusikalisch und wurde in der Schule von den Gesangsstunden befreit.«

»Mund halten«, rief der Tenor, »es geht los!« Dann fing er in süßestem Piano an: »Wie hab' ich dich gesucht, in all den Tagen.«

»Aber ich – –«

Herr Prell machte eine Bewegung mit der Hand, als wolle er Pucki einen Schlag versetzen ... »gesucht in all den Tagen ...«

»Aber – – ich – –«

Va warf Pucki einen warnenden Blick zu und gab ihr den Ton an. Dann sang sie leise: »Ich hab' dich wieder.«

»Zum Kuckuck, so singen Sie doch!«

»Ich kann nicht!«

»Singen Sie! – –« Und wieder begann er: »Wie hab' ich dich gesucht in all den Tagen.«

Va nickte Pucki ermunternd zu. Schließlich begann Pucki mit ihrer Brummstimme, indem sie alles auf einen Ton sang: »Ich hab' dich wieder, oh, höchstes Glück!«

Prell hielt inne und schaute auf das junge Mädchen, das mit unglücklichem Gesicht am Flügel stand und weiterbrummte: »Ich hab' dich wieder, oh, höchstes Glück!«

Lautes Lachen kam aus dem Munde des Künstlers. »Können Sie's nicht anders, Pucki?«

»Nein«, tönte es kläglich zurück.

Prell lachte erneut auf, bis ihm die Tränen aus den Augen kollerten.

»Solch eine Sängerin können wir freilich nicht brauchen! Bleiben Sie lieber bei den Kindern! Kümmern Sie sich um die Bengels.«

»Ich kann's wirklich nicht besser, Herr Prell.«

»Das habe ich gemerkt, Sie niedliches, kleines Brummeisen. Dann muß es eben ohne Sie gehen. Nun mag Tri singen: ›Ich Hab' dich wieder, oh, höchstes Glück.‹ Sie sind entlassen, Pucki!«

Das junge Mädchen verließ recht betreten das Musikzimmer, doch bald kehrte ihre Fröhlichkeit zurück. Als sie Prell weitersingen hörte, lachte sie schließlich so sehr, daß auch ihre Augen feucht wurden.

Beim Mittagessen berichtete der Sänger von dem herrlichen Duett, das er mit Fräulein Pucki gesungen hatte. Die beiden Knaben schrien vor Vergnügen. Tristan fiel Pucki um den Hals und sang, allerdings noch reichlich falsch, da der Vater die neue Partie erst studierte: »Ich hab' dich wieder, oh, höchstes Glück!«

Dann lachten alle, und Frau Prell schenkte dem jungen Mädchen ein hübsches Armband. »Zum Andenken an Ihr erstes Auftreten.«

In dieser fröhlichen Stimmung wurde ein Brief an die Eltern, ein zweiter an Hans Rogaten und ein dritter an Claus Gregor geschrieben. Auch Carmen wurde nicht vergessen. Pucki schilderte mit begeisterten Worten ihren neuen Wirkungskreis.

»Hier bleibe ich, hier hoffe ich mancherlei Gutes wirken zu können. Herr und Frau Prell sind komische, aber reizende Menschen. Außerdem freue ich mich, unter Künstlern leben zu können. Ihr wißt ja, wie sehr ich für sie schwärme. Fürchtet nicht, daß ich zur Oper gehe. Mein erstes Auftreten mißglückte.«

Seite auf Seite wurde gefüllt. Die Briefe atmeten Fröhlichkeit und Zufriedenheit.

Was würde ihr der heutige Abend bringen? Herr Prell trat als »Lohengrin« auf, als Gralsritter in silberner Rüstung. Pucki kannte das Textbuch, das ihr Frau Prell gegeben hatte, fast auswendig, und Tri sorgte dafür, daß ihr verschiedene Melodien bekannt wurden.

»›Lohengrin‹ ist ein herrliches Werk! Ich kann den Abend kaum erwarten. Es wird herrlich sein! Ich begreife nicht, daß deine Mutti und Va nicht mitkommen wollen.«

»Weil sie den ›Lohengrin‹ schon zwanzigmal gesehen haben.«

Am Nachmittag mußte Pucki den Kindern, nachdem die Schularbeiten beendet waren, wieder eine Geschichte aus ihrem Leben erzählen. Und da Pucki von Erziehung herzlich wenig Ahnung hatte, berichtete sie den gespannt zuhörenden Knaben von der Lehmgrube und den drei Niepelschen Knaben. Sie schilderte begeistert die dicke Pampe, die sich an Schuhen und Strümpfen festgesetzt hatte und das Gehen erschwerte.

»Das muß fein gewesen sein«, sagte Flo. »Schade! – Wir haben hier in Nürnberg keine Lehmgrube. Das möchte ich auch machen!«

»Es war wirklich lustig! Sogar die Kleider waren voller Lehm.«

»Wir müssen eine Lehmgrube finden«, sagte Tristan. »Wir wollen uns auch mal gründlich beschmieren. Das macht Spaß!«

Nun erst kam der jungen Erzählerin zum Bewußtsein, daß sie einen Fehler begangen hatte. Ein Glück, daß keine Lehmgrube zu finden war, denn es wäre für sie kein Vergnügen gewesen, die Anzüge vom Lehmschmutz zu reinigen.

»Bist du schon mal auf der Burg gewesen?« fragte Tri.

»Nein«, sagte Pucki, »ich habe noch nichts von Nürnberg gesehen. Ich bin doch nicht hergekommen, um meinem Vergnügen zu leben. Ich bin in Stellung gegangen; da darf man eigene Wünsche nicht haben. Ich war, ehe ich hierher kam, in Eisenach. Dort wollte man mir nicht erlauben, daß ich die Wartburg besichtigte. Nur einmal war ich dort, aber da hat man mich sehr ausgescholten, weil ich zu lange fortblieb.«

»Das ist ja verrückt«, sagte Tristan. »Wenn man sich was ansieht, dann soll man es auch gründlich tun.«

»Ganz recht«, pflichtete ihm Pucki bei. »Die Leute, bei denen ich war, waren keine freundlichen Menschen.«

»Erzähle mal!«

»Da war ein scheußlicher Großpapa – –« Pucki freute sich, aus dieser Notzeit ihres jungen Lebens erzählen zu können. Sie ahmte den Tonfall des Großvaters und den der Frau Wallner nach und freute sich, daß die Knaben herzlich lachten. »Ja, einfach scheußliche Menschen waren es. Ich war froh, als ich fortkam.«

Daß Pucki mit diesen Schilderungen vor allem sich selbst keinen Dienst leistete, wußte sie in ihrer Unerfahrenheit zunächst wieder nicht. Erst eine Stunde später, als Tristan und Florestan der Mutter lachend berichteten, wie der Großvater Wallner gemeckert und wie Frau Wallner Pucki behandelt hatte, runzelte Frau Prell leicht die Stirn.

»Zum Singen sind Sie nicht zu gebrauchen, Pucki, aber schauspielerisches Talent scheinen Sie zu haben. – Werden Sie meinen Mann und mich auch vor den Kindern nachmachen? Das wäre mir nicht lieb.«

Jetzt erst kam es Pucki zum Bewußtsein, daß sie wieder etwas falsch gemacht hatte. – –

Abendbrot mochte sie heute nicht essen. Ihr Denken und Sehnen war auf den »Lohengrin« gerichtet. Obwohl sie einen guten Platz hatte, saß sie schon eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung auf dem roten Polstersessel und starrte den geschlossenen Vorhang an. Welche Wunder würden sich ihr am heutigen Abend erschließen?

Die Vorstellung versetzte das junge Mädchen in einen Rausch. Sie vergaß alles um sich her. Auch während der Pause blieb sie auf ihrem Platz sitzen; sie liebte und litt mit Elsa. Und als Lohengrin auf die Frage nach seinem Namen schmerzdurchzittert sang: »Weh, nun ist all unser Glück dahin«, schluchzte Pucki so laut vor sich hin, daß die Umsitzenden aufmerksam auf das junge Mädchen wurden. Lohengrins Leid schnitt ihr tief ins Herz. Und als er zum Schluß in den Kahn stieg und davonfuhr, blieben Puckis Augen nicht mehr trocken. Ergriffen verließ sie das Theater.

Pucki wollte sich leise in die Wohnung schleichen; doch schon von der Straße aus sah sie die hellen Fenster der Wohnung. Es waren also wieder Gäste bei Prells.

»Nur jetzt mit keinem Menschen reden müssen und keinen sehen!« dachte Pucki.

Im Flur traf sie einen älteren Herrn, den sie schon vor Tagen gesehen hatte.

»Nun, wie war's im Theater, kleiner Puck?« fragte er.

»Ganz herrlich!« sagte Pucki. »So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen!«

Dann eilte sie in ihr Zimmer und schloß es ab.

Der Schauspieler ging zu Frau Prell und erzählte von den begeisterten Worten der jungen Hausgenossin.

»Sie kommt aus dem ›Lohengrin‹, sie hat zum erstenmal die Oper gehört und ist achtzehn Jahre alt. Ich glaube, das erklärt alles. Wir wollen sie holen, damit sie mit uns fröhlich ist.«

Va wurde geschickt, um Pucki zu holen.

»Pucki, kommen Sie nach vorn, es ist eine fröhliche Gesellschaft da.«

»Nein, Va, ich möchte nicht kommen. Nach dieser schönen Oper möchte ich lieber für mich allein bleiben.«

Pucki, die sonst einen gesunden Schlaf hatte, fand in dieser Nacht nicht so rasch Ruhe. Immer wieder sah sie die Bilder der Oper, und die schönen Melodien klangen noch in ihrem Ohr.

Schließlich fand sie endlich Schlaf. Am nächsten Morgen, Punkt sieben Uhr, als der Wecker schnurrte, sprang sie aus dem Bett, zog sich rasch an und bereitete den Knaben in der Küche das Frühstück.

Im Kinderzimmer wurde es bald lebhaft. Die Knaben, von jeher sich selbst überlassen, wurden durch ihre eigene Uhr geweckt. Sie wunderten sich, daß Pucki ihnen seit zwei Tagen jeden Morgen das Frühstück bereitstellte und ihnen Butterbrote für die Schule mitgab. Solch liebevolle Fürsorge waren sie nicht gewohnt! Ebenso erstaunt waren sie darüber, daß sie abgerissene Knöpfe nicht mehr anzustecken brauchten und daß zerrissene Strümpfe gestopft waren.

»Ob sie heute wieder da ist«, fragte Tri, während er sich ankleidete.

»Fein wäre das«, meinte Flo. »Sei mal ganz still, ich glaube, sie klappert schon mit den Tassen.«

Vier blaue Kinderaugen leuchteten auf, als sie Pucki hörten. Sie trug die Tassen ins Eßzimmer, deckte nett den Tisch und legte die gestrichenen Semmeln den Knaben auf die Teller.

Die Knaben kamen ins Zimmer. Stürmisch umhalsten sie Pucki. »Herrlich, wieder Frühstück!«

Den Knaben schmeckte das Frühstück prächtig. Pucki steckte den beiden die Butterbrote in die Mappen, betrachtete sie, ob sie ordentlich und sauber aussähen, und holte schließlich die Mützen.

»Beeilt euch! Sind die Schulsachen auch in Ordnung? Habt ihr an alles gedacht?«

»Ja, Pucki.«

Sie schloß die Korridortür auf, strich den Knaben liebevoll über die Wangen und sagte: »Nun lauft, paßt gut auf und kommt gesund zurück, ihr süßen Bengels.«

Flo, der schon auf der ersten Treppenstufe stand, kam noch einmal zurückgelaufen. »Du bist gut, ich habe dich lieb!« Er drückte einen raschen Kuß auf Puckis Wange und eilte davon.

»Wie schön ist es hier«, sagte Pucki, als sie zurück in ihr Zimmer ging.

Möglichst geräuschlos räumte sie das Kinderzimmer auf. Als sie damit fertig war, kam Va.

»Einfach fabelhaft, Pucki, was Sie leisten. Aber – – wie war's denn nun im Theater, erzählen Sie mal!«

Und nun konnte Pucki gar nicht genug von dem schönen Abend schwärmen.

»Sie müssen öfters ins Theater geschickt werden, damit Sie recht viele schöne Opern kennenlernen.«

Gegen zwölf Uhr sah Pucki den Sänger. Er war im Schlafrock und reichte Pucki die Hand zum Morgengruß.

»Sie herrliche kleine Sängerin, habe ich Ihnen gestern abend gefallen?«

Pucki sagte nichts. Mit schwärmerischen Blicken schaute sie ihren Lohengrin an. Der Schlafrock störte sie an diesem Recken. Wie konnte er heute schon wieder so vergnügt lachen! War er gar nicht von den gestrigen Ereignissen ergriffen?

Er tippte Pucki auf die Nasenspitze. »Geweint?«

»Ach, ich war so ergriffen! Sie sahen wundervoll aus. – Es war schön!«

»Ich habe Ihnen also gefallen?«

»Sie waren herrlich!«

»Schade«, sagte er, »das Theater schließt in wenigen Tagen. Sie haben keine Gelegenheit mehr, mich in einer anderen Rolle zu bewundern. Aber im Herbst werden Sie mich öfters bestaunen können. Da sollen Sie öfters Karten haben.«

Pucki verdrehte wortlos die Augen.

Seit diesem Tage hegte sie eine schwärmerische Verehrung für den Sänger.

Unwillkürlich gingen ihre Gedanken zurück in die Schulzeit. Da war Studienrat Regelius gewesen, ein schöner Mann mit dunklem Lockenhaar, dem das Gymnasium den Beinamen Apoll gegeben hatte. Aber auch Apoll war nach kurzer Zeit der Schwärmerei vergessen worden. Würde ihre Schwärmerei für Lohengrin auch nur von kurzer Dauer sein?

Ob die Eltern überhaupt mit ihrem Aufenthalt in diesem Hause einverstanden waren? Wenn sie einen Einblick in dieses eigenartige Familienleben genommen haben würden, hätten sie sich vielleicht entsetzt. Diese heillose Unordnung überall, diese schlechte Zeiteinteilung und dies Durcheinander! So etwas gab es daheim nicht.

Pucki dachte an die beiden Knaben, die es kaum fassen konnten, daß jemand am frühen Morgen für sie aufstand und ihnen das Frühstück bereitete. Sie hatten solch liebevolle Fürsorge mit einem großen Glücksgefühl entgegengenommen. »Ich habe dich lieb«, hatte Florestan erst heute morgen wieder zu ihr gesagt. Wie wohl das tat! Wenn auch Frau Edda nicht gerade eine schlechte Mutter war, so verstand sie doch nicht, das Herz ihrer Kinder ganz zu gewinnen. Die Knaben hungerten unbewußt nach Liebesbeweisen. Und die wollte ihnen Pucki geben, so gut sie es vermochte.

Sie fand überall allerlei Arbeit. Man mußte sich nur umsehen. Hier war niemand, der ihr irgendeine Anleitung erteilte, niemand, der sie dauernd zu einer Tätigkeit anhielt. Sie hätte ihr Tagewerk recht bequem erledigen können, denn niemand verlangte Rechenschaft über ihr Tun und Lassen. Doch nein! Sie war nicht auf der Welt, um den Tag zu vertrödeln. Sie wollte ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft werden. Alle, die ihrem Herzen nahe standen, werkten von früh bis zum Abend: Der Vater, die Mutter, die getreue Minna, alle auf der Schmanz, auch Rose Scheele, und in der Oberförsterei oder auf dem Niepelschen Gut war es nicht anders. Und auch Claus Gregor, der junge Arzt, der fern in einem anderen Erdteil weilte, und Hans Rogaten, der einmal eine eigene Apotheke haben wollte: alle arbeiteten sie und waren fleißig und strebsam.

O ja, es gab auch hier Arbeit! Ob man es ihr wohl gestattete, daß sie in dem Bücherschrank Ordnung machte? Alles lag bunt durcheinander. Oder auf dem Notenständer? Die Schränke und Kommoden der Knaben hatte sie schon vor Tagen in einen vernünftigen Zustand gebracht. Dabei dachte sie lächelnd an ihre eigene Kinderzeit zurück. Damals setzte es manchen Vorwurf von Tante Grete, wenn die Schubladen liederlich aussahen.

Auch an die Klagen der Hausfrau dachte Pucki, die immer darin gipfelten, daß man zu wenig Geld hätte. Dabei wurde das Geld an manchen Tagen mit vollen Händen ausgegeben. War es nötig, daß die Gäste, die sich so oft einfanden, mit Wein und allerlei Delikatessen bewirtet wurden? Mußte jede kleinste Näherei und Flickerei zur Ausbesserin gebracht werden?

Wie oft hatte ihr die Mutter gesagt, daß man eine wertvolle Hilfe sein könnte, wenn man nur die Augen offen hielte und von selber immer dort eingriffe, wo es nötig sei. Alles das bedachte Pucki in dieser Stunde. Wenn die Eltern ihr antworten sollten, daß sie sie ungern in solcher Stelle sähen, so würde sie ihnen mitteilen, daß sie sich gerade hier sehr nützlich machen könnte.

Wie es freilich im Sommer werden sollte, wußte sie nicht. Frau Edda sprach öfters davon, daß sie ihren großen Roman, das »Mutterherz«, in einem stillen Gebirgswinkel vollenden wollte. Sie würde im Hochsommer reisen. Herr Prell dachte natürlich auch an eine Erholungsreise. Er wollte seine Ferien auf dem Landgute eines Freundes in den bayerischen Bergen verleben. Wohin aber mit den beiden Knaben? Pucki wußte es nicht. Ob sie mit dem Vater reisten? Vielleicht blieben sie auch bei ihr und Va in Nürnberg. Da das Geld knapp war, konnte sie diese Möglichkeit nicht von der Hand weisen.

Während des Mittagessens faßte Pucki wohl zum fünfzigsten Male den Entschluß, in diesem Hause von nun an nur zu arbeiten und niemals an sich zu denken, sondern stets nur für die Familie Prell zu wirken. In diese Gedanken hinein klang die helle Stimme Flos:

»Heute nachmittag gehen wir zur Burg und dann jeden Tag woanders hin, weil du Nürnberg noch nicht kennst. Oh, bei uns gibt es so viele Wege und so viel Schönes zu sehen! Wir zeigen dir alles. Wenn wir jeden Tag an eine andere Stelle gehen, brauchen wir drei Jahre, bis wir überall gewesen sind.«

»Haben Sie sich Nürnberg noch nicht angesehen?« fragte Frau Edda.

»Nein.«

»Aber Pucki – so etwas ist mir noch nicht vorgekommen! Haben Sie gar kein Interesse für alte, historische Städte und Bauten?«

»O doch!«

»Warum sind Sie nicht längst einmal zur Burg hinaufgestiegen oder hinüber nach Fürth gefahren?«

Darauf wußte Pucki nun freilich keine Antwort. Nach den Erfahrungen in Eisenach hatte sie es nicht gewagt, auf eigene Faust und ohne ausdrückliche Erlaubnis einen ganzen Nachmittag fortzulaufen, um sich etwas anzusehen. Wie oft schaute sie sehnsuchtsvoll zur alten Barbarossaburg hinauf! Wie gern wäre sie hinaufgestiegen!

»Heute gehen wir hin«, sagte Tri.

»Selbstverständlich müssen Sie die Burg sehen, Pucki.«

»Darf ich das?«

»Aber Pucki, was ist das für eine Frage«, lachte die Hausfrau. »Sie können tun und lassen, was Sie wollen, nur um die beiden Buben müssen Sie sich kümmern. Sie haben die beiden Rangen schon so klein bekommen, daß ich mich nur selten noch über sie zu ärgern brauche. – Findest du nicht auch, Kurt, daß wir in den letzten Wochen recht artige Kinder haben?«

Tristan und Florestan stießen ein lautes Geheul aus. »Artig sind wir! – Da können wir uns ja mal wieder einen Streich leisten!«

»Wäre das Auto in Betrieb, dann könnten wir einmal in die schöne Umgegend Nürnbergs fahren. Leider ist es noch in der Reparatur, und wir müssen sie erst bezahlen.«

»Pucki, kannst du uns nicht das Auto bezahlen?« fragte Tri.

»Ich?« klang es entsetzt, »ich habe doch selber nichts!« Sie verstummte jäh. Der erste Juni war längst vorbei, doch niemand im Prellschen Hause hatte ein Wort von Gehalt gesprochen. Bis heute wußte Pucki noch nicht, was sie bekommen würde. Zeitweilig hatte sie sogar Angst, daß man ihr überhaupt nichts zahlen würde, weil man gar so geringe Ansprüche an sie stellte.

»Du hast kein Geld?« fragte Tristan. »Wir haben auch keins. Wenn du was brauchst, mußt du es Va sagen.«

»Ach – das habe ich ja ganz vergessen«, sagte Frau Prell, »ich mußte Ihnen doch am Ersten des Monats das Gehalt zahlen. – Ach, Pucki, in diesem Hause müssen Sie sich Ihr Geld fordern, daran denken wir nicht. Oder wollen Sie es anstehen lassen bis zum nächsten Ersten? Das wäre mir lieb. Im Augenblick sind wir recht knapp. Am ersten Juli bekommen Sie Ihr Geld ganz gewiß.«

Pucki wagte nicht zu widersprechen. Sie überrechnete im Geist ihre Barschaft, die keine zehn Mark mehr betrug. Frau Prell nahm ihr Schweigen als Zustimmung. So wurde vom Gehalt nicht mehr gesprochen.

Auch heute erhoben sich die Knaben vom Tisch, nachdem sie den letzten Bissen in den Mund gesteckt hatten. Pucki nahm sich vor, ihnen zu erklären, daß sie warten müßten, bis alle fertig wären.

»Mach schnell, daß du fertig wirst. Wir wollen zur Burg gehen! Hast du schon den Gänsemännchenbrunnen gesehen, Pucki?«

»Und den Tugendbrunnen?«

»Wir gehen heute überall mit dir hin, den ganzen Nachmittag.«

»Und die Schularbeiten?«

»Die machen wir heute abend bei dir. Erst mußt du die Burg sehen.« –

Wie ganz anders war diese Besichtigung der Burg als die in Eisenach. Zwar war die Nürnberger Burg mit der Wartburg nicht zu vergleichen, doch erregte sie Puckis größtes Interesse. Beide Knaben zerrten sie zum Burghof, in dem ein großer Lindenbaum stand. Pucki staunte über den mächtigen Stamm.

»Das hier ist ein uralter Baum«, sagte Tri, »er steht bald neunhundert Jahre. Dabei wächst er immer noch weiter.«

Obwohl die beiden Knaben jeden Raum in dem alten Kaiserschloß kannten, gingen sie artig neben Pucki her und gaben ihr manche Erklärung. Wenn das junge Mädchen bewundernd stehen blieb und die berühmten Gemälde und Holzschnitzereien betrachtete, so lachte Tri übermütig auf.

»So 'ne komische Frau wie du, ist uns noch nicht vorgekommen. Aber du gefällst mir. Sieh mal, nähst du mir auch den Knopf wieder an, den ich eben abgerissen habe?«

»Aber Tri, du hast ja sogar ein Stück Jacke mit herausgerissen!«

»Flickst du das auch?«

»Natürlich!«

»Das ist aber schön«, rief der Knabe und umarmte seine Begleiterin stürmisch. »Weißt du, ich freue mich schrecklich, wenn du für mich nähst!«

Da vermochte Pucki über den Knaben nicht zu schelten. Im Gegenteil, sie legte zärtlich die Arme um Tri und Flo und sagte gerührt: »Wenn ihr mal eure Jacken zerrissen habt, ich flicke sie gern; aber besser ist natürlich, ihr zerreißt nichts!«

Nachdem die drei die alte Burg besichtigt hatten, drängten die Knaben zum Weitergehen. »Wir haben dir noch so viel zu zeigen: Das alte Rathaus, das Haus mit dem goldenen Bullen und das Pilatushaus. Das wissen wir alles.«

»Wir haben auch eine Wiese, auf der früher die Meistersinger gestanden haben«, erklärte Tri weiter. »Dort stand ein Singestuhl, dort haben alle die Uhrmacher, Schneider, Goldschmiedeleute und andere gesungen.«

»Ich weiß«, sagte Pucki, »es waren die Meistersinger von Nürnberg. Gibt es hier nicht auch ein Hans-Sachs-Haus?«

»Freilich, das zeigen wir dir auch noch!«

Tri eilte voran und begann laut zu singen: »Am stillen Herd, zur Winterszeit, wenn Wald und Fluren eingeschneit.« Dann drehte er sich zu Pucki um. »Das singt der Vater in den ›Meistersingern‹. Die mußt du dir auch mal ansehen. Oh, die sind fein! Da prügeln sich die Schusterjungen.«

Vergeblich waren Puckis Ermahnungen, nun endlich den Heimweg anzutreten, denn die Schularbeiten müßten doch gemacht werden.

»Erst zeigen wir dir die Stadt, da ist noch viel zu sehen!«

Nun wurde Pucki bald in diese, bald in jene Straße gezogen. Hier war ein schönes Denkmal, dort ein altes Bauwerk zu bewundern.

»Kinder, jetzt müssen wir heimgehen. Es ist Abendbrotzeit«, sagte Pucki endlich.

Tri hing sich in Puckis Arm. »Der Vater sagt, man darf nicht immer ans Futtern denken, wenn es was Schönes zu sehen gibt. Komm, wir gehen noch weiter.«

Pucki fand so viel Freude an der Besichtigung der alten Stadt, daß sie viel zu gerne nachgab. Erst als die Sebalduskirche acht Schläge ertönen ließ, sagte sie erschrocken: »Wir müssen nun heim. Was werden die Eltern zu unserem langen Ausbleiben sagen?«

Nun ging es zurück nach der Wohnung. Prells waren nicht zu Hause. Va saß im Wohnzimmer und unterhielt sich mit zwei Schauspielern. Pucki hatte große Mühe, die Kinder in der Abendstunde noch zum Erledigen der Schulaufgaben zu bewegen. Mit den belegten Schnitten in den Händen liefen sie zunächst zum Wohnzimmer hinüber.

»Drüben ist Onkel Lewald, der Komiker vom Theater. Wenn der da ist, lacht man sich kaputt!«

»Ihr müßt aber eure Schulaufgaben noch machen.«

»Ja, wir kommen gleich«, klang es zweistimmig zurück.

Pucki mußte natürlich nach geraumer Zeit die beiden Kinder erst zu sich ins Zimmer holen, um endlich zu erreichen, daß die Schularbeiten noch gemacht wurden. So wurde der gute erziehliche Einfluß immer größer, den Pucki auf die Kinder ausübte.


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