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April, April

Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen! Die Richtigkeit dieses Sprichwortes mußte Pucki bei ihrer Rückkehr nach Rotenburg erfahren. Noch klebten zwei große Pflaster in ihrem Gesicht. Die Stirnwunde war noch längst nicht ausgeheilt, und der Rahnsburger Arzt hatte sogar angeordnet, daß Pucki in Rotenburg noch einige Male ärztliche Behandlung nachsuche.

Im Schiller-Gymnasium wurde sie mit lautem Hallo begrüßt. Beim Erzählen ihres Unfalls erntete sie Spott.

»Das ist bei dir kein Wunder«, sagte Fred Aßmann. »Alles hast du mit Löffeln gegessen, alles willst du gleich können, und gar nichts kannst du. Nun hast du einen Denkzettel.«

Pucki glaubte, daß ihr Unfall allgemeines Bedauern auslösen würde, statt dessen lachte man über sie. Besonders die, die dem Skilaufen huldigten, hatten für Pucki nichts als Vorwürfe.

»Wenn du in dieser Weise Sport treibst«, meinte Elfriede, »ist es bester, du unterläßt es. Sport ist keine Spielerei. Sport will mit Ernst angefaßt werden.«

In die Apotheke ging sie zunächst nicht, da sie fürchtete, daß auch Hans Rogaten über sie lachen könnte. Doch eines Tages traf sie den Freund, als sie auf dem Wege zum Arzt war.

Auch er lachte, als er sie sah. »Wo hast du dich gerauft, Kratzbürste?«

»Lachen kannst du darüber?« rief Pucki mit blitzenden Augen. »Kannst du dir nicht denken, daß ich unendlich gelitten habe?«

»Pucki, du siehst gar zu drollig aus.«

»Findest du, daß ich verunstaltet bin?«

»Verunstaltet gerade nicht, doch die beiden Pflaster stehen dir nicht gut zu Gesicht. Komm nur bald wieder Heftpflaster kaufen. Jetzt hast du es nötig.«

Zum ersten Male verabschiedete sich Hedi Sandler sehr schnell von Rogaten, denn sein Spott kränkte sie tief. Auch Claus würde lachen, auch er würde feststellen, daß sie entstellt war.

Sie verriet keinem, wie sehr sie unter diesem Gedanken litt. Auch als die beiden Pflaster endlich verschwunden waren, als nur noch zwei tiefe Narben zurückgeblieben waren, wich die Last nicht von der Seele des jungen Mädchens. Die Narben blieben als ewiges Wahrzeichen ihres Leichtsinns, und leichtsinnige Menschen, das wußte sie, waren Claus verhaßt.

Mit größtem Eifer warf sie sich aufs Lernen. Von allen Vergnügungen schloß sie sich aus. Es bedurfte meist längeren Zuspruchs, um Pucki zu veranlassen, wenigstens hin und wieder fröhlich mit den Fröhlichen zu sein. Besonders Carmen verstand es, Pucki wieder lebensfroher zu machen. So kam allmählich ihr alter Übermut wieder zum Vorschein.

Eines Tages stürmte Vera Klingler in die Klasse mit dem Ruf: »Ikonda ist da! Seine Eltern beziehen in wenigen Tagen ihr neues Haus. Er ist mit ihnen gekommen.«

»Pah, – Ikonda«, sagte Pucki verächtlich. Sie dachte an die abgeschnittene Locke, die er als Polstermaterial für einen Stuhl verwenden wollte.

»Was geht uns Ikonda an«, sagte Fred Aßmann, »er ist ein Versager. Beim letzten Rennen hat er nur den zweiten Platz erkämpft. Für uns kommen nur Könner in Betracht.« Er dachte an die schwere Mathematikarbeit, die der ganzen Obertertia als Strafarbeit zudiktiert worden war. Der Rennfahrer hatte für diese Klasse ausgespielt.

Doch noch ein anderer war von Pucki Sandler entthront worden: Apoll! Seit jenem Tage, an dem er für zehn Pfennige Mostrich in einer Tasse gekauft hatte, war er von seiner stolzen Höhe herabgestiegen. Pucki fand allerhand an ihm auszusetzen. Sie wurde deswegen von der ganzen Klasse angefeindet. Die anderen schwärmten unentwegt für Apoll weiter, sie ließen sich durch Pucki nicht beirren.

»Vielleicht fehlt ihm das Geld, um zum Friseur zu gehen«, sagte sie. »Er müßte sich endlich die langen Haare schneiden lassen. – Nun, er wird wohl dafür keine genügenden Mittel haben. Er kann ja nur für zehn Pfennige Mostrich in einer Tasse kaufen. Wo hatte ich nur meine Augen? Er hat eigentlich gar keine Ähnlichkeit mit Apoll.«

Studienrat Regelius war recht einverstanden damit, daß die Anhimmelung von seiten seiner Schülerinnen langsam nachließ. Als man gar hörte, daß nicht er, sondern die Tochter seiner Wirtin Laute spiele, daß er aber einige Fertigkeit auf der Ziehharmonika besitze, schwand langsam bei allen Obertertianern der Glorienschein um den Lehrer.

Die Wochen flogen dahin. Der Frühling zog ins Land, Pucki konnte sich wieder auf die Osterferien freuen. Am 8. April begannen die Ferien. Sie wußte, daß sie als stolze Untersekundanerin ins Elternhaus kommen wurde. Besonders freudig stimmte sie der Gedanke, daß sie zu den Osterferien Claus wiedersehen würde. Nur ein bitterer Tropfen fiel in ihren Freudenkelch, das waren die Narben auf Stirn und Wange. War sie dadurch wirklich entstellt? Was sagte Claus dazu?

Der letzte deutsche Aufsatz wurde geschrieben. Den Stoff durften die Schülerinnen selbst wählen. Pucki, erfüllt von der Sehnsucht nach der Heimat, wählte das Thema: »Ein Sonntag im Dorf«.

Sie nahm sich vor, einmal etwas ganz Besonderes zu leisten. Sie schilderte das Leben und Treiben mit überschwenglichen Worten und gab stolz ihr Heft ab.

»Worüber hast du geschrieben, Vera?« fragte sie die Klassenkameradin an einem der nächsten Tage.

»Über die Donau. Du weißt, Pucki, daß ich im vorigen Sommer mit Mutti in Passau war. Ich glaube, ich habe dieses Mal etwas Vorzügliches geleistet.«

Doktor Clewitz, der deutsche Lehrer, erklärte bei Rückgabe der Aufsatzhefte, daß er mancherlei an den Arbeiten zu bemängeln hätte. Man solle die Sätze, ehe man sie niederschreibe, auf ihre Richtigkeit hin prüfen.

»Ich möchte den Beweis erbringen«, fuhr er fort und schlug eines der Hefte auf, »daß eine törichte Schreibweise mitunter gerade das Gegenteil von dem hervorruft, was die Schreiberin beabsichtigt. Lächerlichkeiten entstehen daraus. In einem Aufsatz wird die Schilderung eines Dorfes gegeben.«

Pucki horchte auf.

»Hier lesen wir«, fuhr Doktor Clewitz fort: »In einem Dorfteich erschaute ich ein wunderbares Spiegelbild. Am Ufer saß eine Magd und melkte eine Kuh. Im Wasser sah es umgekehrt aus.«

Die Schüler kicherten, und Pucki bekam einen dunkelroten Kopf. Sie erkannte sich selbst. Freilich, das hatte sie geschrieben.

»Und hier: In der Kirche rauschte die Orgel auf. Sie füllte das kleine Gebäude mit ihrem riesigen Ton. Eine Sängerin sang die erste Strophe eines Kirchenliedes. Bei der zweiten Strophe fiel plötzlich die ganze Kirche ein. Es war ein überwältigender Eindruck.«

Wieder lachten viele der Schülerinnen.

»Hahaha, die Kirche fiel ein«, flüsterte Fred Aßmann. »Das muß natürlich ein überwältigender Anblick gewesen sein.«

»Nicht minder dramatisch schildert eine andere von euch den Flußlauf der Donau. Da ist zu lesen: Die Donau ist ein imposanter Strom. Sie wälzt sich wie eine Königin in ihrem Bett.«

Auch jetzt wieder unterdrücktes Lachen.

»Ihr seht daraus«, sagte Doktor Clewitz, »wie man die Sätze feilen muß, damit nichts Unsinniges entsteht. Diesmal konnte ich manchen Aufsatz nicht gut bewerten.«

Die Hefte wurden darauf zurückgegeben. Pucki wagte nicht hineinzusehen. Erst daheim stellte sie fest, daß sie sich mit ihrer Sucht, alles recht dramatisch zu schildern, nur ein »genügend« erarbeitet hatte.

Dieser betrübende Eindruck wurde bald verwischt, denn im Schiller-Gymnasium schmiedete man die verschiedensten Pläne für den ersten April.

»Im April schickt man den Esel, wohin man will«, zitierte Pucki. »Wir werden alle anführen. Niemand soll leer ausgehen.« Sie hatte ganz besonders ihren einstigen Apoll aufs Korn genommen und überlegte, wie sie den Literaturlehrer necken könne, ohne daß es eine Strafarbeit in Mathematik gäbe. Der Plan wurde eifrig in der ganzen Klasse durchgesprochen und fand Anklang.

»Wir müßten auch Tante Grete anführen«, sagte Pucki. Carmen wollte nicht mitmachen, aber Melitta und Anna begeisterten sich für diesen Plan.

»Und Hans Rogaten«, murmelte Pucki, »er hat Strafe verdient.«

Nicht allein, daß er über ihre Verletzungen gelacht hatte, nein, Hans Rogaten sandte ihr eines Tages ein Bild, das er mit der Feder gezeichnet hatte: Pucki mit ihren Pflastern. Es war eine vortrefflich gelungene Arbeit; trotzdem fand Hedi Sandler kein Gefallen daran.

Der erste April wurde überall eifrig besprochen. Die verwegensten Pläne wurden geschmiedet. Man saß tuschelnd beisammen; man beriet und verwarf die Pläne, weil sie gar zu kühn waren.

»Das wird fein«, frohlockte Pucki, »Tante Grete fällt bestimmt darauf rein.« Ellen Krieger mußte helfen. Sie hatte in Potsdam Verwandte, die alles Notwendige besorgen mußten.

»Es klappt«, sagte Ellen wenige Tage später, »alles wird zur Zufriedenheit erledigt.«

Der erste April, ein Sonnabend, brach an. Am Frühstückstisch sah Frau Perler nur pfiffige Gesichter.

Auch in der Schule wollte das unterdrückte Lachen kein Ende nehmen. Besonders während der Literaturstunde stieß man sich heimlich in die Seite. Halb elf war es geworden, da läutete eine Glocke.

Studienrat Regelius schaute nach der Uhr. Warum ertönte das Klingelzeichen heute so früh? – In der nächsten Minute abermals ein schrilles Schnurren, und wieder betrachtete der Studienrat seine Uhr. Was war das heute für ein eigenartiges Klingeln? So läutete die Glocke des Pedells doch nicht. – Und jetzt zum drittenmal dieses eigenartige Geräusch.

Die Schüler und Schülerinnen hatten Mühe, ihr Lachen zu unterdrücken. Eingewickelt in Mäntel standen zwei Weckeruhren im Klassenschrank, die eine auf halb elf Uhr, die andere etwas später eingestellt. Eine dritte hatte Aßmann in seiner Mappe, eine vierte brachte Pucki mit, die unter ihrem Pult verborgen war. Noch vier andere Weckeruhren waren im Schulzimmer versteckt.

Mit wenigen Minuten Abstand ertönte das Schnurren. Regelius, der bald den Scherz erkannte, sagte nichts. Er behielt auch heute seine erprobte Methode bei, den Streichen seiner Schüler gegenüber gleichgültig zu scheinen. So wurde die Unterrichtsstunde nicht abgekürzt, im Gegenteil, Doktor Regelius nützte sie bis auf die letzte Sekunde aus.

»Vergeßt nicht«, sagte er, als er bereits in der Tür stand, »die Uhren wieder mit heimzunehmen, damit ihr von den Eltern keine Vorwürfe bekommt.«

Dieser Scherz war somit mißlungen.

»Laß nur«, tröstete Vera leise, »wir haben heute noch viel vor. Wann kommst du zu mir, Pucki?«

»Gleich um zwei Uhr.«

»Gut!«

Am heutigen Tage gingen Pucki und Anna rasch heim, auch Melitta beschleunigte ihre Schritte. Sie wollten wissen, ob Tante Grete auf ihren Aprilscherz hereingefallen war.

Schon im Flur unterdrückten die drei das Lachen. Die Tür des Fremdenzimmers stand weit geöffnet, das Mädchen brachte eben ein Bett vom Boden. Tante Grete wühlte in der großen Bettkiste.

»Gelungen«, flüsterte Pucki unhörbar Melitta zu. »Sie glaubt es und räumt um.«

»Wollen wir ihr nicht gleich sagen, daß alles nur ein Aprilscherz ist?«

»Wehe dir, Carmen, wenn du uns verrätst. Sie wird es schon erfahren.«

Tante Grete empfing die vier jungen Mädchen ziemlich erregt. »Wir essen heute mit einer kleinen Verspätung. Ich habe vor einer Stunde ein Telegramm aus Potsdam von meiner Tochter erhalten. Ich weiß nicht, aus welchem Grunde sie mit meinem Schwiegersohn und ihren drei Kindern heute nach Rotenburg kommt. Sie bittet mich, sie und ihre Familie für zwei Tage aufzunehmen. Es werden somit einige Umräumungen notwendig. – Wenn ich nur wüßte, warum die ganze Familie herkommt?«

Carmen sandte einen bittenden Blick zu Pucki, die aber mit den Augen abwinkte.

»Ach, Tante Grete, das ist gar nicht schlimm«, sagte Melitta, »du kannst unser Zimmer haben. Wir schlafen alle vier bei Pucki und Carmen. Dort steht ein Diwan. Für zwei Nächte geht es schon.«

»Ich weiß mir wirklich keinen anderen Rat. Im Fremdenzimmer kann meine Tochter mit ihrem Mann schlafen – –«

»Und die drei Kinder kommen in unser Zimmer«, vollendete Melitta. »Das ist ganz einfach. – Tante Grete, wann kommt der Besuch?«

»Mit dem Fünf-Uhr-Zug.«

»Gehst du zur Bahn?« fragte Pucki mit lachenden Augen.

»Natürlich.«

»Fünf Uhr zwanzig Minuten«, sagte Pucki und zwinkerte Melitta zu. »Ich möchte nur wissen, was die vielen Leute hier wollen. – Tante Grete, warum kommen sie gerade heute? Das muß doch einen Grund haben!«

»Ich weiß es nicht.«

In ihrem Zimmer bat Carmen erneut, man möge diesen Scherz beenden. »Ihr habt Tante Grete ohnehin durch das Telegramm, das Ellen in Potsdam von ihren Verwandten aufgeben ließ, schon kräftig angeführt. Nun ist es genug. Tante Grete wird später sehr böse auf uns sein.«

»Nein«, entgegnete Anna, die gerade eine Banane aß, »ein Aprilscherz muß voll und ganz ausgeführt werden.«

»Sie ist bestimmt nicht böse«, entschied Melitta. »Ihr erinnert euch doch noch, wie sie uns vor wenigen Wochen erzählte, daß sie so manchen Aprilscherz mit ihren Brüdern ausgedacht hat und sogar die eigenen Eltern kräftig anführte. Dafür hat Tante Grete Verständnis.«

»Wir machen ihr doch so viel unnötige Arbeit«, warf Carmen sorgenvoll ein.

»Dafür ist es eben ein richtiger Aprilscherz. Carmen, sie nimmt es uns bestimmt nicht krumm.«

Dann wurde das Mittagbrot eingenommen. Carmen erbot sich mit schwerem Herzen, Tante Grete nachher zu helfen. Melitta aber eilte davon; sie hatte sich noch manchen Scherz ausgedacht. Als Pucki sich gleichfalls entfernen wollte, hielt sie Frau Perler zurück.

»Du mußt mir für heute meinen Neffen Claus abnehmen, Pucki. Er kommt mit dem Drei-Uhr-Zuge und will um fünf Uhr weiterfahren. Er trinkt Kaffee mit uns. Es wird dir gewiß eine große Freude sein, ihn ein wenig für dich zu haben.«

Pucki machte einen schnippischen Knicks. »Danke, Tante Grete, aber von Claus werde ich heute, am ersten April, keine Notiz nehmen.«

»Warum nicht?«

»Im April schickt man den Esel, wohin man will, aber eine Hedi Sandler läßt sich nicht anführen.«

»Ach, an den ersten April habe ich nicht gedacht, Pucki. Du irrst, Claus kommt heute durch Rotenburg. Es ist dir ja bekannt, daß er seine Stelle in Hamburg aufgegeben hat.«

»Mir ist auch bekannt, Tante Grete, daß am ersten April alle Leute angeführt werden. So dumm bin ich nicht, Tante Grete.«

Frau Perler trat an den Schreibtisch und überreichte Pucki ein Telegramm. »Nun wirst du es glauben.«

Pucki sprang übermütig im Zimmer umher. »Ein Telegramm, – den Schwindel kennen wir! Das Telegramm ist gefälscht, Tante Grete. Ich werde Claus nicht erwarten.«

»Aber Kind, ich gebe dir die Versicherung, daß er kommt. Das beste wird sein, du gehst um drei Uhr zur Bahn und –«

»Ich bin viel zu gewitzt, um mich anführen zu lassen, Tante Grete.«

»Ich denke, mein Kind, daß du deinen großen Freund abholen wirst. Vergiß also nicht: um drei Uhr und zwei Minuten kommt er an.«

»Im April schickt man den Esel, wohin man will«, krähte Pucki nochmals im Hinausgehen.

Schnell lief sie ins »Deutsche Haus« zu Vera. Jetzt kam Rogaten an die Reihe. Er sollte laufen! Nicht sie, Pucki, würde zur Bahn gehen, sondern er sollte ins »Deutsche Haus« kommen.

Vera erwartete die Freundin bereits. »Der Johann ist schon unterrichtet. Ich habe ihm zehn Zigaretten dafür geschenkt. Er macht es.«

Die beiden jungen Mädchen holten den Hausdiener; dann zwängten sich die drei in die kleine Telephonzelle. Die Apotheke, in der Rogaten tätig war, wurde angerufen. Rogaten war selbst am Apparat.

»Hier ist das ›Deutsche Haus‹. Im Auftrage Ihres Herrn Vaters soll ich bestellen, daß Herr Rogaten seinen Sohn möglichst bald hier im ›Deutschen Haus‹ erwartet. Er ist unerwartet in Rotenburg angekommen und reist abends weiter. Herr Rogaten bewohnt Zimmer Nummer fünf.«

»Was, mein Vater ist angekommen?«

»Ich soll einen herzlichen Gruß bestellen. Es wäre Herrn Rogaten sehr lieb, wenn er seinen Sohn möglichst bald sprechen könnte, da es sich um eine wichtige Sache handelt.«

»Wenn Ihr Vater angekommen ist«, sagte der Apotheker, »lasten Sie alles stehen, Rogaten, und gehen Sie nach dem ›Deutschen Haus‹. Seinen Vater darf man nicht warten lassen.«

»Ich möchte nur wissen, was mein Vater hier will?«

»Laufen Sie hin! Lassen Sie ihn nicht warten!«

In Zimmer fünf standen Vera und Pucki am Fenster.

»Weißt du, hier standest du schon einmal am Fenster«, sagte Vera.

»Schweig, Elende!«

»In diesem Zimmer wohnte unser Ikonda.«

»Wenn du nicht schweigst, schlage ich dich tot! Es ist erbärmlich, mich immer wieder an meinen Reinfall zu erinnern.«

»Du – da kommt Hans Rogaten schon über den Marktplatz gelaufen.«

Pucki floh hinter den Schrank, Vera versteckte sich hinter dem Fenstervorhang. Der Hausdiener wußte Bescheid; er würde Rogaten hinauf ins erste Stockwerk nach Zimmer Nummer fünf geleiten.

Rogaten kam und fragte nach seinem Vater.

»Nummer fünf, eine Treppe hoch«, sagte der Hausdiener freundlich.

Rogaten stieg die Treppe hinauf und öffnete, ohne anzuklopfen, die Tür.

»Vater, ist das eine Überraschung!« Er sah sich um – das Zimmer war leer.

Ein Vorhang raschelte – hinter dem Schrank kam etwas hervorgestürzt – dann schallte es zweistimmig: »April, April! Im April schickt man den Esel, wohin man will!«

»Ihr dummen Mädchen«, klang es zurück, »was fällt euch ein!«

»'reingefallen, 'reingefallen«, jubelte Pucki. »Wie kann man so dumm sein. – Der Herr Papa läßt grüßen. – So, und nun kannst du wieder gehen.«

»Das vergesse ich euch nicht. Heute wird es mir nicht mehr gelingen, euch in den April zu schicken, aber ich finde schon eine Gelegenheit, um euch diesen Spaß heimzuzahlen.« Dann verließ Rogaten das Zimmer.

Die beiden Mädchen lachten schallend hinter ihm her. Dieser Aprilscherz war gelungen und der mit Tante Grete ebenfalls.

Auch noch einen anderen Scherz verübten die beiden Obertertianerinnen. Sie läuteten verschiedene Blumengeschäfte an, fragten ob Maiglöckchen und Tulpen zu haben wären, erkundigten sich nach den Preisen, und wenn die Geschäftsinhaber glaubten, ein Geschäft zu machen, klang es lachend durch den Apparat: »Vergessen Sie nicht, die Blumen heute, am ersten April, zu begießen.«

Schließlich wurde es fünf Uhr.

»Ich gehe nun nach Hause, Tante Grete wird sich bald zum Weg nach dem Bahnhof rüsten. Dann wollen wir ihr sagen, daß die Verwandten nicht kommen. Oh, sie wird lachen!«

»Oder schelten«, erwiderte Vera trocken. »Aber lauf, jetzt will ich meine Eltern und die Kellner noch tüchtig anführen.«

Mit raschen Schritten lief Pucki heim. Unterwegs rieb sie sich vergnügt die Hände. Wie freute sie sich auf das enttäuschte Gesicht von Frau Perler. Auf ihr Läuten öffnete ihr das Hausmädchen. Unfreundlich wurde Pucki empfangen.

»Wo ist Tante Grete?«

»Zum Bahnhof gegangen.«

»Oh – sie ist schon fort – da muß ich sogleich nachlaufen.«

Eine Tür öffnete sich. »Bleibe nur hier«, klang die klägliche Stimme Carmens. »Wir haben ihr alles gesagt. Es tat uns doch gar zu leid, als sie noch allerhand Einkäufe machen wollte.«

»Ihr habt alles gesagt?« zürnte Pucki. »Ihr seid elende Spielverderber. – Was will sie denn auf dem Bahnhof?«

»Dein Claus war hier. Er hat mit uns Kaffee getrunken. Nun bringt ihn Tante Grete wieder fort. Ach, Pucki, er hat so viel Interessantes erzählt.«

»April, April!« rief Pucki.

»Nein, Pucki, du kannst es glauben. Tante Grete ist sehr böse auf uns. Wir bekommen noch unser Fett.«

Pucki ging ins Wohnzimmer. Dort standen auf dem Eßtisch noch die Kaffeetassen. Sie überzählte sie und stellte fest, daß tatsächlich neben einer ein benutzter Aschenbecher stand.

»Carmen, schwöre mir, war Claus wirklich und wahrhaftig hier?«

»Mein heiligstes Ehrenwort.«

Es gab Pucki einen schmerzhaften Stich ins Herz. Sie hatte Claus vom Bahnhof abholen sollen und durfte sich ihm widmen, da Tante Grete anderweitig beschäftigt war. Zwei volle Stunden hätte sie mit ihm plaudern können. Nun fuhr er wieder ab, ohne sie gesehen zu Haben.

Pucki stülpte den Hut auf den Kopf und riß den Mantel vom Ständer. Wenn sie sich sehr beeilte, würde sie Claus auf dem Bahnhof noch begrüßen können.

»Um's Himmels willen, bleibe hier, Pucki! Tante Grete ist furchtbar böse. Wir haben Stubenarrest, und morgen, Sonntag, müssen wir ohne Emmas Hilfe die Betten auf den Boden tragen und alles wieder richtig einräumen.«

Pucki hörte kaum, was ihr die Freundin sagte. Nur rasch fort, um Claus noch zu sehen!

Keuchend erreichte sie den Bahnhof. Als sie an die Sperre kam, fuhr gerade der Zug aus der Halle. Sie sah Tante Grete auf dem Bahnsteig, abschiednehmend winkte sie mit dem Taschentuch. Claus lehnte aus dem Fenster des Abteils und grüßte zurück. Aus Puckis Augen tropften ein paar Tränen.

»Dummer erster April!« sagte sie und stampfte mit dem Fuße auf. Dann zog sie es vor, möglichst rasch wieder heimwärts zu eilen, um nicht mit Tante Grete zusammenzutreffen.

Das Strafgericht ereilte sie aber doch. Frau Perler war über den Spaß, den sich ihre Pensionärinnen gemacht hatten, sehr erzürnt. Sie meinte, das Telegramm hätte als Aprilscherz genügt. Bei den ersten Vorbereitungen, die sie traf, hätte der Spaß beendet werden müssen. Schuldbewußt nahmen die vier die ihnen zudiktierte Strafe entgegen. Der Sonntag war verdorben. – –

Osterferien! – Wieder zerstreuten sich die Schüler und Schülerinnen des Schiller-Gymnasiums in alle Himmelsrichtungen. Pucki kam sehr stolz ins Elternhaus, denn sie war nach Untersekunda versetzt. Den Schwestern gegenüber dünkte sie sich sehr erhaben, so daß die Mutter oftmals vorwurfsvolle Worte an ihre Älteste richten mußte.

»Es gefällt mir nicht an dir, Pucki, daß du dich über deine Schwestern erhebst. Du bist immer ein natürliches und frisches Mädchen gewesen, doch im letzten Halbjahr hast du dir derart überspannte Ausdrücke angewöhnt, daß ich dich kaum wiedererkenne. Lege diese Ziererei lieber wieder ab. Wir wollen eine frisch-fröhliche Pucki haben, aber keinen überspannten Puck.«

Dem Wiedersehen mit Claus Gregor sah Pucki mit Bangen entgegen. Die beiden Narben im Gesicht waren geblieben. Wenn sie auch Pucki nicht entstellten, sahen sie doch nicht gerade gut aus. Am zweiten Osterfeiertag war sie auch diesmal wieder nach der Oberförsterei eingeladen. Nur Eberhard fehlte, aber Claus war ja da, er würde sich mit der Untersekundanerin gewiß gern unterhalten.

Nun war es soweit. Der Oberförster und seine Frau betrachteten Pucki kopfschüttelnd.

»Du rennst dir noch mal den Schädel kaputt, kleiner Übermut! Noch einige Wochen und du bist sechzehn Jahre. Es ist lange an der Zeit, daß du dich als vernünftiges junges Mädel zeigst.«

»Onkel Oberförster, ich bin ohne Schwierigkeiten nach Untersekunda gekommen. Heute sind wir nicht mehr dumme Mädel, nun werden wir mit Sie angeredet.«

Unbemerkt war Doktor Claus Gregor eingetreten. Er hatte die letzten Worte Puckis vernommen. Nun stand er vor ihr. Da schlug Pucki die Augen nieder. – Was würde er zu ihren Narben sagen?

Aber Claus sagte dazu kein Wort. Er drückte dem jungen Mädchen nur herzlich die Hand. Das erleichterte Puckis Herz.

»Ich bin nun eine Sekundanerin, Claus.«

Sein Gesicht blieb ernst. Er lachte nicht wie sonst. Störten ihn vielleicht doch die Narben? Pucki wurde unsicher.

»Es hat mir leid getan«, stotterte sie, »daß ich dich am ersten April verfehlte.«

»Tante Grete hat mir alles erzählt«, sagte er.

Die wenigen Worte klangen wieder so ernst, daß Pucki unwillkürlich an den unartigen Aprilscherz zurückdenken mußte, den sie sich mit Tante Grete erlaubt hatte. Sie fand überhaupt Claus recht verändert. Sie wagte nicht, ihn weiter anzureden, weil sie seinen forschenden Blick auf ihrem Gesicht fühlte.

Nach dem Kaffeetrinken fragte er sie, ob sie mit ihm ein wenig durch den Frühlingswald gehen wollte. Pucki wurde das Herz schwer. Sie ahnte, daß er ihr etwas sagen wollte.

Nun schritten sie durch den Garten.

»Ist es nicht ein entzückender Anblick«, begann Pucki, »daß Frau Flora wieder ihre Frühlingsgaben ausstreut? Die Göttin Osteria ist gekommen, die Menschen zu beglücken, der Lenz lacht uns an. Fühlst du nicht auch diesen Zauber?«

Der junge Arzt blieb stehen und sah seine Begleiterin an. »Ich glaubte, meine liebe, kleine Pucki neben mir zu haben. Der Puck, der heute neben mir schreitet, ist mir fremd geworden, und das ist schade.«

»Wie meinst du das, Claus?«

»Pucki, du gefällst mir nicht.«

»Ich weiß schon – – die Schrammen –«

»Ja, Pucki, die Schrammen. Doch nicht die, die ich auf Stirn und Wangen sehe. Nein, Pucki, die Schramme, die ich meine, ist in deinem Wesen, in deinem Charakter. Und damit du meine Worte verstehst, wollen wir uns das Vergangene ins Gedächtnis zurückrufen. Da war zuerst das kleine, glückliche Mädchen, das mich zum Spielen einlud, das mir die vielen Kinder zeigte, die zum Waffelessen in die Försterei geladen waren. Dann sah ich das weichherzige Mädchen, das allen Armen Holz verschaffen wollte. Ein kleines Elflein ging durch den Wald, liebte Menschen und Tiere und suchte jeden zu beglücken. – Erinnerst du dich noch daran?«

»Ja.«

»Du wurdest älter, das Lernen machte dir keine Freude. Du warst oft störrisch; trotzdem bedurfte es nur einiger liebevoller Ermahnungen, und du bereutest deine Fehler. Schon damals war mir ein wenig bange um dich. Ich schenkte dir das Himmelskästchen. – Weißt du auch das noch?«

»Ich habe das Himmelskästchen noch immer gut verwahrt.«

»Dann kamst du nach Rotenburg. Deine Eltern brachten das große Opfer. Es dauerte mehrere Jahre, bis dir die Erkenntnis kam, daß du nicht für die Lehrer, sondern für dich selbst lernst. Damals hast du deinen Eltern großen Kummer bereitet.«

»Ich bin nicht mehr faul, Claus.«

»Faul nicht. – Du bist eine der ersten in der Klasse, doch auch die erste, wenn es gilt, einen dummen Streich auszuführen. Fröhliche und harmlose Späße haben alle Menschen gern. Je froher man in der Jugend ist, je glücklicher wir unsere Kindheit verbringen, desto fester stehen wir später im Leben. Wenn du aber auf deine Streiche zurücksiehst, Pucki, so war es nicht immer nur jugendlicher Übermut, der dich dazu veranlaßte. Pucki, liebe, kleine Pucki, in dir sitzt ein schlimmer Puck! Laß ihn nicht Gewalt über dich gewinnen! Sonst steigst du voller Übermut den Berg hinan und zerschlägst dir den Kopf.«

Das junge Mädchen wandte sich ein wenig ab. Die ruhigen Worte des Freundes taten ihr weh.

»Für zwei Jahre gehe ich von euch allen fort. Ich habe eine Stelle am deutschen Krankenhaus in Santa Catharina angenommen. Bis nach Brasilien führt mich mein Weg. Wenn ich zurückkehre, bist du fast achtzehn Jahre alt geworden. Dann ist das Leben für dich nicht mehr Scherz und Freude, dann stellt es seine Anforderungen an dich. – Wirst du ihnen gerecht werden? – Wie werde ich dich wiederfinden, wenn ich heimkomme?«

»Du willst fortgehen?«

»Hinaus ins Leben, Pucki, um weiterzustreben, weiterzulernen, um mein Wissen zu vertiefen. Auch du wirst inzwischen den ersten Schritt ins Leben tun. Deine Schulzeit liegt bald hinter dir. Etwas Neues beginnt. Du mußt dir dein Leben aufbauen aus eigener Kraft. In deinen Händen liegt dein Geschick! Leben ist Kampf, man soll dafür sorgen, daß man in diesem Kampf Sieger bleibt. Einst schenkte ich dir ein kleines Herz: ich schenkte es meiner guten Pucki mit dem goldenen Herzen. – Wo hast du dein goldenes Herz gelassen, Pucki?«

»Claus – Claus – –«

»Ich habe Sorgen um dich, Pucki. Was soll aus dir werden, wenn der Puck weiter in dir wächst?«

Pucki schluckte an den aufsteigenden Tränen. Plötzlich hob sie den Kopf und sah den Freund mit offenem Blick an.

»Ja, Claus, ich werde mich bemühen, den Puck in mir zu bekämpfen. Ich glaube, ich kann es, wenn ich es ernsthaft versuche. Schon einmal habe ich's mir vorgenommen. Damals stand eine Leierkastenfrau auf dem Eis. Ihre Worte habe ich nie vergessen. Nun sprichst auch du warnend zu mir. Für zwei Jahre gehst du fort und fragst, wie du mich finden wirst, wenn du zurückkommst.«

»Pucki, ich scheide mit schwerem Herzen von dir – deinetwegen.«

Ihr Gesicht wurde ernst und nachdenklich. »Es sind Jahre her, da besuchte mich dein Vater und sprach davon, daß die Mutter meinetwegen Tränen vergossen hätte. Heute ist dir beim Abschied schwer, heute hast du Sorgen um mich. Ich bin wohl sehr schlecht, Claus? Aber es soll anders werden. Ich verspreche dir, daß aus dem schlimmen Puck wieder eine Pucki werden soll. An deine heutigen Worte will ich ebensooft denken wie an jene, die einst die Leierkastenfrau zu mir sprach. Wirst du mich weiterhin liebhaben, wenn der Puck wieder aus mir heraus ist und nur noch eine Pucki zurückblieb?«

»Ja, dann werde ich dich sehr liebhaben.«

»Hab Dank, Claus. Ich weiß, daß dich heute meine Schramme stört, nicht die im Gesicht, nein, die andere, von der du vorhin sprachst. Sie soll verschwinden!«

»Das ist ein gutes Wort, Pucki. Ich nehme es als Abschiedsgruß mit hinaus in die Fremde.«


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