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Übermut tut selten gut

Der Dezember brachte auch in diesem Jahr der Jugend manche Freude. Auf dem Rotenburger Stadtteich tummelten sich die Schlittschuhläufer. Die Schüler und Schülerinnen des Schiller-Gymnasiums trafen sich dort fast an jedem Nachmittag. Pucki gehörte mit zu den besten Läuferinnen. Der Schlittschuhsport machte ihr das größte Vergnügen. Für den zweiten Weihnachtsfeiertag war ein großes Fest geplant. Doch mit lachendem Gesicht lehnte Hedi Sandler die Teilnahme ab. Ihr winkte etwas viel Schöneres. Sie würde zum Weihnachtsfest wieder daheim in dem geliebten Forsthaus, bei den Eltern und bei den Geschwistern sein und würde ihre vielen Freundinnen und Freunde dort wiedersehen und glückliche Tage verleben.

Sie zählte bereits die Tage. Am 21. Dezember schloß die Schule. Wenn sie ihren Koffer schon vorher fertig packte, war es möglich, den Einuhrzug noch zu erreichen, so daß sie schon um vier Uhr den Kaffee im Elternhause trinken konnte.

Wenn Pucki an die Ferien dachte, kam ein Jubelruf über ihre Lippen. Das Schönste war nun einmal der Aufenthalt im Elternhause! Wie oft war sie schon von Rotenburg nach Birkenhain gekommen, doch das Glücksgefühl war immer dasselbe geblieben. Sie zählte auch dieses Mal wieder die Tage. Bald, sehr bald war es so weit!

Nicht einmal mit schwerem Herzen brauchte sie heim zu fahren. Der schlimme Zettel: »Versetzung gefährdet« kam auch in diesem Jahr nicht in ihre Hände. Sie kam in der Schule sehr gut mit und würde Ostern in die Untersekunda versetzt werden. Dann noch ein Jahr, ein ganzes, langes Jahr, und die Schulzeit war vorüber.

Pucki lachte. – Was hatte ihr Claus, ihr treuer Freund geschrieben? Dann erst beginnt für dich der Ernst des Lebens, dann tust du den ersten Schritt ins Leben. Etwas ganz Neues wird an dich herantreten. Gern wirst du dich der schönen Schulzeit erinnern.

»Ich fürchte mich nicht vor dem Schritt ins Leben. Es wird alles gut und glücklich werden.«

Doch wozu schon jetzt daran denken? Noch ein langes Jahr lag vor ihr.

Der 21. Dezember kam schnell heran. Die Schüler und Schülerinnen des Schiller-Gymnasiums waren entlassen, und gar viele rüsteten zur Heimfahrt. Carmen war wieder von ihrer Freundin Ellen Krieger eingeladen worden, und auf Anna und Melitta warteten die Eltern; doch Pucki fand, daß keine Eltern ihre Tochter so liebevoll ersehnten wie Förster Sandler und seine Frau.

Die kurze Bahnfahrt wollte kein Ende nehmen! – Pucki war keine angenehme Reisende. Obwohl sie die Strecke genau kannte, ließ sie bald dieses, bald jenes Fenster herunter, um nachzusehen, ob sie noch immer nicht den Kirchturm des Dorfes Libschütz oder das Gutshaus von Brechterode und den Olwetzer Teich zu sehen bekäme. Eine alte Dame, die mit ihr im Abteil saß und die kalte Dezemberluft nicht vertragen konnte, verlangte schließlich energisch, daß sich das junge Mädchen ruhig niedersetzen möge. Pucki sandte ihr einen ergrimmten Blick zu. Was wußte die alte Dame, wie es in einem Mädchenherzen aussah, das nach dem Elternhaus verlangte!

Noch drei Stationen – – noch zwei – – noch eine! Der Zug hatte kaum Witzliff verlassen, als Pucki ihren Koffer aus dem Netz nahm. Jetzt stand sie neben der Bank, auf der sie gesessen hatte, und wartete auf Rahnsburg.

Es ging nicht, sie mußte das Fenster öffnen. Die ersten Häuser kamen in Sicht – dort drüben der Wald, der liebe, verschneite Wald, in dem das Elternhaus stand.

Der Zug fuhr in den kleinen Bahnhof von Rahnsburg ein. »He, Waltraut! Hallo Agnes!« Puckis scharfe Augen hatten die Schwestern erblickt, die gekommen waren, um sie abzuholen.

Als der Zug kaum anhielt, war Pucki hinausgesprungen und umhalste stürmisch die Geschwister. Sie sprudelte Worte innigster Freude hervor und stellte Dutzende von Fragen, so daß die elfjährige Waltraut schließlich sagte:

»Pucki, du bist noch genau so wild und laut wie im Sommer.«

»Ich bin gar nichts, ich bin nur furchtbar glücklich, weil ich wieder daheim sein darf.«

Die beiden Schwestern hatten ihren Rodelschlitten mitgebracht. Darauf stellten sie Puckis Koffer; dann ging es nach dem etwa zwanzig Minuten vor der Stadt liegenden Forsthaus Birkenhain. Obwohl es Pucki mit heißem Herzen zu den Eltern zog, blieb sie unterwegs oftmals stehen. Sie grüßte mit den Augen die Bäume des Waldes, es schien, als warteten sie auf ihr Kommen. Dort die dicke Buche mit dem bemoosten Stamm, unter der es sich im Sommer so wunderschön träumen ließ, winkte ihr mit den Zweigen grüßend zu. Und dort, auf dem dicken Ast, saß ein Eichhörnchen in seinem braunroten Winterstaat. Es hatte zwischen den kleinen Vorderbeinen eine Eichel und knabberte lustig daran herum. Pucki eilte hinüber, um das Tierchen genauer zu sehen, doch husch, da war es jenseits des dicken Stammes verschwunden, um gar bald ein wenig höher hervorzulugen. Dabei stieß es einen leisen Ruf aus, als wolle es Pucki zum Spielen einladen.

»Du kleiner, lieber Wicht«, jubelte das junge Mädchen, »warte nur, nicht lange mehr, dann schenke ich dir Nüsse, schöne helle Walnüsse aus des Vaters Garten, denn nun ist ja bald Weihnachten! Dann gibt es Äpfel, Nüsse und Pfefferkuchen, und du brauchst keine Eicheln mehr zu essen, die bitteren Dinger, die lange nicht so süß schmecken wie Nüsse.«

»Aber Pucki, komm doch«, ertönte die Stimme Waltrauts, »die Mutti wartet sonst zu lange.«

Das junge Mädchen sprang leichtfüßig zurück zum Schlitten, und in raschem Lauf ging es dem Forsthause zu. – Da war es, das liebe, liebe Elternhaus! Heute trug es eine weiße, glitzernde Haube, und lange Eiszapfen hingen vom Dach herab.

Die Begrüßung war stürmisch. Wieder eilte Pucki durch alle Räume des Hauses, fiel der treuen Minna in die Arme, klopfte sich auf den Magen und sagte, indem sie die Nase in die Luft steckte: »Auch heute wieder Waffeln zum Empfang! Ach, Minna, du bist ein Prachtkerl!«

Der Hund, die Ziegen, das Schwein, alle bekamen einen Gruß.

»Ich muß nur rasch noch ein wenig hinaus in den Wald, liebe Mutti, nur wenige Minuten, ich muß ihm sagen, daß ich wieder da bin.«

»Wir trinken in einer Viertelstunde Kaffee, mein Kind.«

»Oh, in einer Viertelstunde, das ist ewig, bis dahin habe ich den halben Wald durchlaufen. Ich bin bestimmt zur Zeit wieder hier, da ich weiß, daß es Waffeln gibt.«

Förster Sandler und seine Frau ließen die Tochter gewähren. Sie kannten deren Liebe zum Wald. Pucki war es einerlei, ob er im Frühlings- oder im Sommerschmuck stand, oder ob die weiße Schneedecke über ihn gebreitet war.

So eilte das Försterkind hinaus. Hier, den schmalen Weg geradeaus, dann kam sie zu dem freien Platz, auf dem im Sommer so viele Bäume geschlagen waren. Ob die Holzklaftern noch dort standen? Ob die drei dicken Eichenbäume stehen geblieben waren?

Da sich Pucki allein im Walde glaubte, begann sie mit ihrer schrillen Stimme zu singen. »Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben«, klang es.

»Ja – sehe ich recht, – ist das nicht meine Waldfee von der Waggerburg!«

Pucki stand wie zu Eis erstarrt. Nur wenige Schritte von ihr entfernt sah sie Engelbert, den Forsteleven, dem sie den Hut und die Joppe entwendet hatte.

Der Ausflug mit Onkel Fritz stand plötzlich wie ein drohendes Gespenst vor ihr. Erst mehrere Tage später war ihr klar geworden, daß sie sich mit Vera im Gasthaus zur Waggerburg recht wenig nett betragen hatte. Welch lose Worte waren ihr über die Lippen gekommen! Wie hatte sie den jungen Forstmann geneckt und ihm schließlich Hut und Joppe entführt. Von Vera hatte sie vernommen, daß Onkel Fritz am anderen Morgen Hut und Joppe im Wagen gefunden und an das Gasthaus zur Waggerburg gesandt hätte.

Noch manches andere fiel Pucki schwer aufs Herz. Sie hatte den Forsteleven »Engelchen« genannt und Brüderschaft mit ihm getrunken. Carmen hatte auch gemeint, daß das alles sehr schlimm gewesen sei.

Nun stand sie bestürzt vor Engelbert Steigum und wußte nicht, was sie sagen sollte. Wie kam er in den Birkenhainer Forst?

»Ich freue mich, Sie hier begrüßen zu können, schöne Waldfee.«

Was sollte sie beginnen? Einen kurzen Augenblick dachte Pucki daran, sich abermals als ihre Zwillingsschwester auszugeben, doch hatte sie sich damals gar zu lächerlich gemacht, als daß sie diese Ausrede heute wieder anwenden könnte.

»Ich hätte nicht geglaubt, schöne Waldfee, daß wir uns so schnell wiedersehen würden. Sie erinnern sich doch sicherlich noch an den Ausflug zur Waggerburg?«

»Ja!« – – stieß Pucki gedrückt hervor. »Das alles liegt längst hinter mir, es war ein unglückliches Zusammentreffen.«

»Warum unglücklich?«

»Wie kommen Sie eigentlich in diesen Wald?« fragte Pucki.

»Ich bin als Eleve in einem Forsthaus tätig.«

»Hier in der Nähe?« Puckis Zähne schlugen hörbar zusammen. Im großen Umkreis war kein anderes Forsthaus als das der Eltern. Vielleicht war er in der Oberförsterei? Aber auch das würde peinlich für sie sein. Wenn er dort von dem Ausflug zur Waggerburg erzählt hatte?

»Ich muß heimgehen; bei uns im Hause herrscht größte Pünktlichkeit. Leben Sie wohl, vielleicht sehen wir uns einmal wieder.«

»Auch ich muß heim, schöne Waldfee. Die Försterin wartet ungern mit dem Kaffee.«

»Sind Sie verheiratet? Hat man ein neues Forsthaus in der Gegend erbaut? – Wo liegt es?«

Der junge Mann wies mit dem Arm geradeaus. »Dort drüben! Vielleicht können wir sogar ein Stück Weges zusammengehen.«

Der Forsteleve Steigum, der seit dem ersten Oktober im Forsthaus Birkenhain lernte und sein Erlebnis auf der Waggerburg dort erzählt hatte, ahnte damals ja nicht, daß die übermütige Pucki die älteste Tochter seines Försters Sandler war. Doch bald sollte er es erfahren, denn Waltraut erzählte so viel von ihrer älteren Schwester Pucki.

Nun stand dieselbe Pucki wieder vor ihm, schämte sich ihres unschönen Verhaltens und ahnte nicht, daß der Eleve im Hause ihrer Eltern weilte.

Pucki, die die Unterhaltung mit dem jungen Forstmanne möglichst rasch beenden wollte, schritt schnell aus. Nur wenn eine Wegkreuzung kam, verlangsamte sie ihre Schritte.

»Müssen Sie noch immer geradeaus gehen, um zu Ihrem Forsthaus zu kommen?«

»Noch immer geradeaus«, klang es zurück.

Die roten Mädchenlippen zuckten. »Wo liegt denn Ihr Forsthaus?«

»Noch ein Stück weiter.«

»Ich muß nun leider nach links abbiegen, der kleine Fußpfad kürzt meinen Weg ab.«

»Ganz recht, das habe ich auch schon herausgefunden.«

Pucki blieb stehen. Sie lehnte sich gegen den Stamm einer hohen Tanne. »Wer sind Sie? – Wo kommen Sie her?«

»Forsteleve Steigum!«

Da eilte Pucki hastig weiter. Der junge Grünrock blieb an ihrer Seite. Nun galt es nur noch die breite Straße zu überqueren. Dort drüben lag das Forsthaus Birkenhain.

Pucki streckte ihrem Begleiter die Hand hin. »Ich danke Ihnen für Ihre Gesellschaft, – leben Sie wohl, vielleicht sehen wir uns einmal im Walde wieder.«

Die Gartenpforte war erreicht, doch Steigum war schneller als Pucki, er öffnete sie.

»Danke, danke«, sagte Pucki, »machen Sie sich nicht so viel Mühe, – Sie werden sicherlich daheim erwartet.«

Als sie die Pforte hinter sich zuschlagen wollte, stand der Eleve bereits mit einem Fuß im Garten.

»Mein Herr –«, rief Pucki entrüstet, »mein Vater ist in der Nähe, verfolgen Sie mich nicht! Meinen Sie, daß mein Betragen auf der Waggerburg Ihnen ein Recht dazu gäbe?«

»Aber liebe Waldfee, ich gehöre doch in dieses Haus.«

»Sie – – gehören – – ins – –?« Pucki tanzte alles vor den Augen. Sie sah das Gasthaus zur Waggerburg, eine Joppe und einen grünen Hut durch die Luft wirbeln. Alles rief ihr zu: Engelchen, Engelchen!

»Es ist aus!« rief Pucki und verschwand im Hause. Wie sie über die Stufen gekommen war, wußte sie später nicht. Sie hatte nur das Empfinden, als sei jemand hinter ihr her.

Da stand sie nun in ihrem Zimmer, auf das sie sich so sehr gefreut hatte, und fürchtete den Augenblick, daß die Mutter zum Kaffeetrinken rufen würde. Von der guten Mutter waren Waffeln zum Empfang gebacken worden. Waffeln, die sie so gern aß! Wenn heute aber der Forsteleve auch am Kaffeetisch saß, würde sie an jedem Bissen ersticken. Nun würde er von der Waggerburg erzählen und alles, was sich dort ereignet hatte, den Eltern berichten. So würde schon der erste Tag des Wiedersehens im Elternhaus verdorben sein. Sie bekam wohl sogar obendrein noch Vorwürfe, weil sie sich so schlecht betragen hatte.

Sollte sie den Kaffee ausfallen lassen? Das war aber doch nur ein Hinausschieben der Qual! Am Abendbrottisch saß wieder der Forsteleve. Heute abend, – morgen mittag, – morgen abend und so fort! Ein Ausweichen war ja unmöglich. Einmal schlug die entsetzliche Stunde, einmal brachte die Sonne alles ans Tageslicht.

Wenn sie heute den Nachmittagskaffee ausfallen ließ, würde Steigum in ihrer Abwesenheit unten alles erzählen. Wenn sie aber neben ihm saß, konnte sie ihn vielleicht durch einen Blick zum Stillschweigen veranlassen.

»Mut, nur Mut –« murmelte Pucki, »ich habe schon oftmals der Gefahr mutig ins Auge gesehen. – Ja, ich will hinunter, vielleicht kann ich ihn vorher noch rasch einen Augenblick sprechen und ihn bitten.– – Ach, warum habe ich auf der Waggerburg so viel dummes Zeug geredet!«

Pucki lief hinunter und sah sich im Hausflur suchend um. Da kam die Mutter mit den frischen Waffeln aus der Küche.

»So, Pucki, nun bringe die Waffeln ins Eßzimmer.«

Sie tat es. Dort stand der Vater mit Waltraut und Agnes und neben ihm der Forsteleve. Es war also keine Möglichkeit, ihren Plan auszuführen. Noch einmal war es Pucki, als setze ihr Herzschlag aus, dann riß sie sich zusammen.

»Nun lernen Sie auch meine Älteste kennen, Herr Steigum.«

Pucki drückte die Fingernägel tief in die Handflächen. Jetzt also ging der Kampf los! Jetzt sagte er, daß sie die Waldfee wäre, daß er von ihr »Engelchen« getauft worden sei. Aber – sonderbar, der Forsteleve verbeugte sich nur stumm. Da trat die Mutter ins Zimmer, man setzte sich zu Tisch. Pucki atmete etwas auf.

Man überschüttete Pucki von allen Seiten mit Fragen. Die Waggerburg wurde nicht erwähnt. Wie gern stand sie sonst den Eltern Rede und Antwort! Heute lastete quälende Angst auf ihr. Merkwürdig war es im Leben eingerichtet, daß jedesmal, wenn man ein wenig über die Stränge schlug, sofort etwas Unangenehmes folgte. Das hatte schon vor Jahren Fräulein Caspari gesagt. So war es ihr in der Rahnsburger Schulzeit ergangen, und so war es geblieben bis auf den heutigen Tag.

Ganz allmählich beruhigte sich Pucki wieder. Der Forsteleve schien ein anständiger junger Mann zu sein, der sie vor den Eltern nicht blamierte. Als Pucki hörte, daß er in Kürze das Forsthaus verließe, um die Weihnachtstage bei seinen Eltern zu verleben, und daß er erst nach Neujahr zurückkehre, beruhigte sich ihr erregtes Gemüt.

Ganz plötzlich begann Pucki wieder, in ihrer alten Art und Weise zu schwatzen. Es gab hundert Dinge zu berichten, und oftmals lächelten die Eltern nachsichtig über ihre temperamentvolle Tochter. Oftmals schüttelten sie wohl auch den Kopf.

»Pucki, Pucki«, mahnte der Vater, »es scheint mir, als wärest du nicht mehr unsere Pucki, sondern ein richtiger Puck.«

Dann war das Fragen an ihr. Sie wollte wissen, ob die drei Söhne des Gutsbesitzers Niepel auch zum Weihnachtsfest zu Hause wären.

»Der faule Schlingel, der Paul, kommt mit seinem Bruder Fritz heim. Walter, der, wie du weißt, bereits seit dreiviertel Jahren als Eleve auf einem Gute weilt, hat keine Ferien bekommen.«

»Ist Paul noch immer so faul?«

»Mit seinen siebzehn Jahren steckt er noch in der Untersekunda. Aber Ostern wird er versetzt und verläßt endlich die Schule. Auch er wird Landwirt. Hoffentlich leistet er dann später mehr als auf der Schulbank. Er sollte sich vor Fritz schämen, der Ostern nach Unterprima versetzt wird.«

Pucki atmete auf, als man sich endlich vom Kaffeetisch erhob. Ob es richtig war, Herrn Steigum aufzulauern und um Stillschweigen zu bitten? Sie verwarf diesen Plan sogleich wieder. Morgen fuhr er ab, bis dahin ging sie ihm aus dem Wege.

Am anderen Morgen reiste der Forsteleve Steigum ab. Er drückte Pucki mit einem vielsagenden Blick zum Abschied die Hand.

»Genießen Sie Ihre Ferien, es eilt mit dem Wiederkommen wirklich nicht«, sagte Pucki lachend.

Auch der Eleve lachte. »Schade, daß Sie für die Verteilung des Urlaubs nicht maßgebend sind, schöne Waldfee«, fügte er leise hinzu.

Pucki entzog ihm hastig die Hand, eilte zur Tür, wandte sich jedoch nochmals um und sagte: »Ein Kavalier schweigt!«

Gott sei Dank, nun war er fort, nun konnte sie das Elternhaus aus vollem Herzen genießen! Pucki bedauerte, daß sie während der Ferien von der Familie des Oberförsters Gregor niemanden sehen würde. Claus blieb in Hamburg, und der Oberförster war mit seiner Frau und Eberhard ins Gebirge gefahren. Aber es blieben noch genug Bekannte, die aufgesucht werden mußten. Da war vor allem Rose Scheele, die draußen beim Schmanzbauern weilte, da waren Niepels, ihre Schulfreundin Tusnelda und viele andere Bekannte aus Rahnsburg. Vor allem aber wollte sie zu Meta Zirl gehen, die in Hamburg eine Schule besuchte und auch auf Ferienurlaub da war. Claus hatte oft von ihr erzählt. – Ob Meta sehr oft mit ihm zusammenkam?

»Sie ist immer aufdringlich gewesen«, stellte Pucki fest. »Ich muß sie doch einmal ausfragen, ich will sie bald besuchen.«

Dazu kam es aber nicht, denn am 23. Dezember stellte sich Meta im Forsthause ein.

»Ich habe zwar wenig Zeit, Pucki. Trotzdem wollte ich dich begrüßen, denn ich habe dir herzliche Grüße von Herrn Doktor Gregor zu überbringen.«

Pucki reckte sich hoch auf. »Claus hat mir oft geschrieben. Ich weiß, daß du ihn einige Male getroffen hast. Er schreibt mir alles. Er hat kein Geheimnis vor mir, ich bin also über euch genau unterrichtet.«

»Er ist furchtbar nett! Durch ihn bin ich auf den Gedanken gekommen, Krankenschwester zu werden.«

»So – – du gehst wohl oft zu ihm ins Krankenhaus?«

»Nein, gar nicht, Pucki.«

»Du willst doch nur seinetwegen Krankenschwester werden? Aber ich weiß, Claus macht einmal eine großartige Partie. Du brauchst dir also nichts einzubilden.«

»Aber Pucki«, lachte Meta, »bist du vielleicht eifersüchtig? Das ist ja ein prächtiger Spaß!«

»Ich bin gar nicht eifersüchtig, Meta, denn ich habe es nicht nötig. Mit Claus habe ich Freundschaft fürs Leben geschlossen, und diese Freundschaft übertrage ich später auch auf seine Frau. Für mich kommt Claus nicht mehr in Betracht, denn – ich fühle mich bereits gebunden.«

»Ach, Pucki, erzähle rasch! Bist du heimlich verlobt?«

»Darüber spreche ich noch nicht. Aber du hast schon recht geraten.«

»Das finde ich herrlich. Du bist also die erste aus unserer Klasse, die verlobt ist.«

»Erzähle mir mehr von Claus«, lenkte Pucki ab. »Wie oft warst du mit ihm zusammen?«

»Das weiß ich nicht. Ich treffe ihn öfters, wenn ich aus der Schule komme.«

»Warum gehst du nicht einen anderen Weg«, rief Pucki ärgerlich.

»Ich sehe, du bist doch eifersüchtig. Das will ich Herrn Doktor Gregor erzählen, dann lacht er dich aus.«

»Das wirst du ihm nicht erzählen!«

Der heftige Ton, in dem Pucki diese Worte hervorstieß, rief Frau Sandler ins Zimmer. Sie stellte den Frieden sehr bald wieder her; trotzdem nahm sich Pucki vor, das Freundschaftsverhältnis mit Meta Zirl zu kündigen. Zu schlimm, daß gerade sie in Hamburg war, ihren Claus oft traf und den Beruf einer Krankenschwester erwählen wollte, nur um mit Claus recht oft zusammenzukommen.

Eigentlich war es lächerlich, daran zu glauben, daß der stattliche Claus Meta Zirl heiraten werde. Er würde niemals daran denken, weder eine Meta Zirl noch eine Hedi Sandler zur Frau zu nehmen. Da war Hans Rogaten anders.

Pucki seufzte schwer auf. Der arme Hans Rogaten fuhr zum Weihnachtsfest nicht zu den Eltern. Er blieb in Rotenburg in der Apotheke. Einen Weihnachtsgruß sollte er von ihr bekommen. Pucki wühlte in der Schreibmappe nach einer schönen Karte. Sie fand auch bald eine: In einem Rosenkranz zwei verschlungene Hände. Das war das richtige! Ihrem Hans wollte sie dazu noch einen kleinen Vers dichten, damit auch er eine Weihnachtsfreude hätte.

Es dauerte nicht lange, da stand der Vierzeiler auf der Karte unter dem Rosenkranz:

»Tannen im Wald,
Rosen im Garten,
Schreibe bald,
Laß mich nicht warten!«

Das war ein schöner Vers, der ihn erfreuen würde.

»Selbstgedichtet, am Tage vor Weihnachten, von Deiner immer an Dich denkenden getreuen Freundin Hedi Sandler«, schrieb sie darunter.

Obwohl sich Pucki den beiden jüngeren Schwestern gegenüber gern als eine wohlerzogene junge Dame aufspielte, gelang es ihr nicht, die Freude auf die Weihnachtsbescherung einzudämmen. Sie war sogar viel lauter und ungeduldiger als Waltraut und Agnes, sie lief durch das ganze Haus und fragte ständig, ob es denn nicht endlich so weit wäre. Das Weihnachtsfest sollte ihr einen lange gehegten Wunsch erfüllen. Verschiedene Rotenburger Mitschüler besaßen längst Schneeschuhe. Auch die Niepelschen Freunde schrieben ihr, daß das Schneeschuh laufen, das sie mit Leidenschaft betrieben, ein herrlicher Sport sei. So hatte Pucki sich natürlich Schneeschuhe gewünscht.

»Ich werde sehr bald etwas Gutes darin leisten«, sagte sie zu Rogaten, ehe sie zu den Ferien heimfuhr. »Ich laufe gut Schlittschuh und werde es im Schneeschuhlaufen und Springen gewiß bald weit bringen. Vielleicht bilde ich mich später als Sportlehrerin aus, weil ich dafür große Begabung habe.«

Am Weihnachtsabend lagen wirklich unter dem Tannenbaum die langen, schwarzen Bretter. Am liebsten hätte sie Hedi sofort angeschnallt und wäre damit hinaus in die Winternacht gegangen.

»Weil es nicht möglich ist, Pucki«, sagte die Mutter, »hier den geeigneten Unterricht zu nehmen, haben wir gleich ein Büchlein beigefügt, aus dem du einige Anleitung für diesen schönen Sport und die richtige Ausübung entnehmen kannst.«

»Mutti, das brauche ich nicht! Ich habe schon viel zu oft in Rotenburg gesehen, wie man es anstellen muß. Nur Mut und die nötige Ruhe gehören dazu, dann geht es von selbst.«

Nun konnte Pucki kaum erwarten, bis sie auf den Brettern stand. Ganz in der Nähe des Forsthauses war kein geeignetes Gelände, doch bei Niepels bot sich eher Gelegenheit dazu. Pucki war daher über die Einladung, die vom Gutshause erfolgte, sehr erfreut. Man bat die drei Försterkinder zum zweiten Feiertag ins Gutshaus.

Das Wiedersehen mit Paul und Fritz gestaltete sich recht stürmisch. Die elfjährige Dora wurde von Pucki wenig beachtet. Sie paßte bester zu Waltraut und Agnes. Hingegen ließ sich mit dem langaufgeschossenen Paul und dem schlanken Fritz viel anfangen.

»Fein, daß du die Schneeschuhe mitgebracht hast«, sagte Paul, »ich laufe seit vorigem Jahre. Trotzdem geht es noch nicht so recht. Ich finde, es ist verdammt schwer.«

»Schwer?« lachte Pucki. »In Rotenburg können es die Dümmsten. Du sollst mal sehen, wie die den Schloßberg hinuntersausen.«

»Wenn du erst besser laufen kannst«, sagte Fritz, »können wir zur Alberthöhe gehen. Dort geht es steil hinab! Doch dort dürfen wir jetzt noch nicht fahren, denn der Weg ist schmal und hat eine scharfe Kurve.«

»Pah«, erwiderte Pucki, »man macht eben einen Stemmbogen, und schon ist man um die Kurve herum.«

»Mach du mal einen Stemmbogen«, lachte Paul, »ich quäle mich damit schon lange.«

»Ich habe es mir genau angesehen. Unsere Elfriede aus der Klasse kann ihn fabelhaft.«

Pucki ließ nicht nach, bis die drei die Schneeschuhe nahmen und hinausgingen. Der Gutsbesitzer führte sie zu einem mäßig steilen Hang, auf dem weit und breit kein Baum zu sehen war.

»Hier habt ihr einen herrlichen Übungsplatz.«

Pucki war überglücklich auf den langen Brettern. Sie zeigte großes Geschick und Mut. Es dauerte gar nicht lange, da fuhr sie leidlich sicher den Hang hinab. Paul sprach ihr unverhohlen seine Bewunderung aus.

»Ich bin eben das rechte Sportmädel«, sagte Pucki stolz. »Es ist herrlich, daß heutzutage auch wir jungen Mädchen nach Herzenslust Sport treiben dürfen. Wahrscheinlich werde ich mich nach dieser Richtung hin ausbilden lassen.«

Doch bald genügte ihr der sanfte Hang nicht mehr. »Gibt es hier nicht eine längere und steilere Abfahrt?« fragte sie.

»Ja, die Alberthöhe, doch da ist es gefährlich, dort dürfen wir noch nicht hin.«

»Ansehen können wir uns die Sache doch einmal.«

»Aber abfahren dürfen wir nicht.«

»Na, Paul, seit wann bist du so ein Hasenfuß? Ich kenne dich doch von einer anderen Seite. Ich habe keine Angst. Wer Sport treiben will, muß Mut in der Brust haben. Wir können höchstens in den Schnee fallen oder uns eine Beule stoßen.«

»Oder den Schädel einrennen«, meinte Fritz.

»Redet nicht so lange darüber, wir wollen uns die Sache lieber mal ansehen.«

Auf den Schneeschuhen liefen die drei über die weiße Ebene. Paul führte an. Sehr bald war die Alberthöhe erreicht.

»Siehst du nun ein, daß wir hier noch nicht abfahren können, Pucki?«

Der schmale Weg führte ziemlich steil zwischen hohen Baumen hinan und machte in halber Höhe eine scharfe Biegung.

»Wenigstens bis zur Biegung wollen wir gehen. Wenn es auch steil ist, so beherrschen wir doch die Bretter bereits derart, daß uns nichts passieren kann. Und wenn es gar zu rasch abwärts geht, werfen wir uns in den Schnee.«

»Erinnerst du dich daran, Pucki, daß im Wald der Puck, der Sohn der Waldfrau, auf den Bäumen sitzt und dort sein Unwesen treibt? Das war ein hübsches Märchen. Du hast es mir früher oft erzählt. Ich habe es nicht vergessen.«

»Ach, Fritz, meinst du vielleicht, der Waldpuck sitzt heute wieder in den Zweigen? Er soll nur kommen! – Hallo, du freches Ungeheuer, du holst mich nicht ein! Jetzt habe ich Schneeschuhe an den Füßen!«

Die drei stiegen den Berg hinan. Als sie an der scharfen Kurve standen und hinabsahen, sagte Fritz warnend: »Nein, Pucki, du darfst die Abfahrt hier noch nicht wagen. Du stehst heute zum erstenmal auf den Brettern.«

»Feigling«, lachte sie und sauste im nächsten Augenblick los. Einige Male schwankte sie bedenklich hin und her, fiel auch, unten angekommen, tief in den Schnee, doch war die Abfahrt geglückt. Und nun folgten Paul und Fritz, die ebenfalls glücklich unten landeten.

»Schämt euch«, rief Pucki strahlend, »ein Mädel muß euch erst Mut machen. Was seid ihr doch für jämmerliche Kerle! Jetzt noch einmal.«

Der zweite und der dritte Ablauf gingen schon glatter. Pucki äugte sehnsuchtsvoll zur Höhe hinauf.

»Ich versuche es doch mal von oben.«

»Pucki, du kannst die Kurve noch nicht nehmen! Laß es bleiben.«

»Sport erfordert Mut«, rief sie und stieg empor. Vergeblich warnte Fritz. Vorsichtshalber blieb er an der scharfen Kurve stehen. Paul dagegen meinte verwegen:

»Ich mache mit!«

Als erste sauste Pucki abwärts. Sehr schnell war die Fahrt, und die gefährliche Kurve kam immer näher. Schon jetzt merkte sie, daß die Schneeschuhe ihr nicht mehr gehorchten. Und ehe sie selber wußte, wie es geschah, war die Kurve erreicht. In toller Fahrt ging es in den Wald hinein. Pucki hatte den Boden unter den Füßen verloren, überschlug sich mehrfach und fühlte heftige Stöße am Kopf, an Armen und Beinen. Dann schwanden ihr die Sinne.

Wie lange sie im Schnee gelegen hatte, wußte sie nicht. Als sie endlich wieder zu sich kam, kniete Fritz an ihrer Seite und tupfte mit dem Taschentuch, das schon dunkelrot gefärbt war, das noch immer rinnende Blut von einer Stirnwunde ab.

»Pucki«, klang seine Stimme verängstigt, »hast du große Schmerzen?«

Das junge Mädchen wußte noch immer nicht recht, was eigentlich vorgefallen war. Ihre Blicke fielen auf zwei zerbrochene Skier, die ein wenig abseits im Schnee lagen. »Was ist mit mir geschehen?« klang es leise.

»Du bist gestürzt, den Berg hinuntergefallen. Kannst du die Arme und Beine bewegen? – Pucki, es sah furchtbar aus!«

Wie alles schmerzte! Sie konnte nichts sehen, denn das Blut lief noch immer über Augen und Wangen. Im Schnee waren zahlreiche Blutstropfen sichtbar.

»Kannst du aufstehen? Kannst du mit mir gehen? Paul ist schon davongelaufen, er holt einen Schlitten. – Ach, Pucki, wie du blutest.«

Hedi Sandler empfand einen qualvollen Druck im Kopf. Sie war so matt, daß sie sich schwer an Fritz lehnte, als er sie beim Aufstehen stützte.

»Ich kann nicht«, sagte sie matt und sank zurück in den Schnee. – –

Schon aus großer Entfernung rief Paul, der heimgeeilt war, nach einem Schlitten. Frau Niepel hörte das erregte Rufen. Wenn nur den Kindern nichts zugestoßen war! Ein Knecht hatte bereits Pauls Wünsche vernommen. Er spannte ein Pferd vor den kleinen Schlitten. Herr Niepel kam herbei, und in größter Eile gab Paul Bericht. In der nächsten Minute jagte der Schlitten der Alberthöhe zu. Frau Niepel gab den Verbandskasten mit. Herr Niepel lenkte selbst den Schlitten.

Es war nicht möglich, mit dem Schlitten bis zur Unglücksstelle zu gelangen. So stieg Niepel den Berg hinan und hob das besinnungslose Mädchen vom Boden auf. Zunächst galt es, einen Notverband anzulegen. Pucki mußte sich eine tiefe Kopfwunde zugezogen haben, auch auf der linken Wange war ein Riß sichtbar. Wenn nur dem Auge nichts geschehen war!

Vorsichtig trug der Gutsbesitzer das bewußtlose junge Mädchen in den Schlitten. Während der Fahrt kam Pucki zu sich und stöhnte jämmerlich. Fritz, der betrübt hinter dem Schlitten herging, machte sich die bittersten Vorwürfe. Er hätte es nicht zulassen dürfen, daß Pucki von der Alberthöhe abfuhr. Er kannte den Leichtsinn seiner Freundin und wußte, mit welcher Unvernunft Pucki jeder Gefahr begegnete.

Es dauerte geraume Zeit, bis der Arzt aus Rahnsburg eintraf. Sorgenvoll erwarteten alle seinen Ausspruch. Erleichtert atmeten sie auf, als er erklärte, daß das Auge unverletzt, die Kopfwunde jedoch recht bedenklich sei. Einen Transport nach dem Forsthaus untersagte er auf das strengste.

So wurde Pucki am zweiten Weihnachtsfeiertag als Kranke ins Fremdenzimmer des Niepelschen Gutshauses gebettet. Waltraut und Agnes weinten bitterlich, denn Pucki hatte ihnen durch ihr leichtsinniges Verhalten jede Freude am heutigen Tage verdorben. Niepel brachte die beiden Mädchen nach dem Forsthaus, um Puckis Eltern von dem traurigen Vorfall Bericht zu geben. Er brachte die bestürzten Förstersleute ins Gutshaus zurück.

Frau Sandler unterdrückte einen Aufschrei, als sie ihre Tochter mit verbundenem Kopf, bleich und still in den weißen Kissen liegen sah. Noch weilte der Arzt am Krankenlager, noch konnte er nicht sagen, ob es sich um eine Gehirnerschütterung handle und was weiter zu befürchten sei.

Förster Sandler fragte Fritz über die näheren Umstände des Unfalles aus. Als er hörte, daß Pucki jede Warnung in den Wind geschlagen habe, trat ein sorgenvoller Ausdruck in sein Gesicht. Wann würde sich seine Älteste endlich ändern?

Im Kinderzimmer hockten Agnes und Waltraut angstvoll bei Dora.

»Der Waldpuck ist gekommen und hat sich auf ihre Schneeschuhe gesetzt, denn sie hat Schlimmes vom Waldpuck gesagt. Da wurde er böse und hat sie in die Bäume gestoßen. – Ach, nun ist Pucki sehr krank und wird vielleicht nie mehr gesund.«

Agnes weinte bitterlich; Frau Sandler hatte Mühe, ihre kummervolle Tochter zu trösten.

Es war ein trauriger Abschluß des zweiten Weihnachtstages. Frau Sandler blieb im Gutshause zurück, der Förster fuhr mit seinen beiden Jüngsten heim.

Nachts stellte sich bei der Kranken heftiges Fieber ein. Wohl wußte sie, daß sie von der Mutter gepflegt wurde, daß sie im Niepelschen Gutshause war, doch die qualvollen Kopfschmerzen beeinträchtigten ihr Denken sehr.

Sorgenvolle Tage vergingen. Endlich war Pucki außer Gefahr. Ihre gesunde Natur siegte. Aber wie sah sie aus?

»Die Schramme auf der Stirn werden Sie Ihr Leben lang behalten«, sagte der Arzt, »desgleichen einen Denkzettel auf der Wange. Danken Sie Gott, daß es noch so abgelaufen ist.«

»Kann der gräßliche Verband nicht bald abkommen?«

»O nein, mein Kind, das Loch im Kopf ist viel zu tief. Der Denkzettel schadet Ihnen nichts, denn Sie haben sich Ihre Ferien selber verdorben.«

Mit verbundenem Kopf konnte Pucki schließlich ins Forsthaus zurückkehren. Jede körperliche Anstrengung aber war ihr streng verboten worden. Sie hätte auch Ausflüge oder tolle Streiche nicht mitgemacht, denn sie fühlte sich recht matt und oft müde. – Wie ganz anders hatte sie sich die Ferien gedacht! Durch eigene Schuld brachte sie sich um alle Winterfreuden. Schlittenfahrten waren von Niepels geplant worden, eine Schneeballschlacht sollte geliefert werden. Der Schmanzbauer hatte ebenfalls zur Schlittenfahrt eingeladen, doch alles unterblieb. Pucki lag im warmen Zimmer, den verbundenen Kopf in die Kissen gedrückt, und konnte über ihre Unfolgsamkeit und ihren Leichtsinn nachdenken.

Am Silvester waren die beiden Schwestern abermals mit ihren Freundinnen in fröhlichem Kreis versammelt. Pucki saß daheim. Rose Scheele war von der Schmanz gekommen und brachte ihr kleine Leckereien. Über Puckis Wangen liefen die Tränen.

»Weine nicht, Pucki, es wird alles wieder gut werden.«

»Jeder, der mich ansehen wird, sieht die Schrammen in meinem Gesicht. Nun bin ich fürs Leben gezeichnet.«

»Ach, Pucki, die Schrammen gehen auch wieder fort.«

»Nein, Rose, ich habe den Arzt gefragt. Er hat mir versichert, daß ich sie fürs Leben behalten muß.«

Dieser Gedanke quälte Pucki am allermeisten. Niepels hatten einen Knecht, durch dessen Gesicht auch eine tiefe Narbe lief. Er sah schlimm aus. Wahrscheinlich würden die beiden Narben, die zurückblieben, auch ihr Gesicht so entstellen. Wenn sie so vor Hans Rogaten oder gar vor Claus erschien, würden beide nichts mehr von ihr wissen wollen. Und das war es, was Pucki solche Schmerzen schuf. Es tat schon weh, daß sie sich die Ferien vollkommen verdorben hatte, aber noch viel schlimmer war die Erkenntnis, durch eigene Schuld die Zuneigung der Freunde verscherzt zu haben.

»Nun ist es wirklich genug«, klagte sie. »Pucki ist ein Puck geworden; Pucki schafft sich selber so viel Leid. Ich glaube, ich muß mich ändern. Immer wieder nehme ich es mir fest vor, und immer wieder kommt die Verführung. – Wenn Claus mich noch weiterhin ansieht, wenn er mich weiterhin liebhat, will ich folgsamer werden. Es soll die Probe sein. Zu Ostern werde ich ihn wiedersehen!«

Neujahr ging vorüber, auch die erste Woche des neuen Jahres schwand rasch dahin. Auf Puckis Stirn lag noch immer ein großes Pflaster, ebenso auf der Wange. Ihr Auge war von einem blaugrünen Kranz umgeben. Dabei galt es nun, sich für die Abreise zu rüsten.

»Ich lasse dich mit schwerem Herzen ziehen, mein Kind«, sagte die Mutter sorgenvoll. »Wenn du auch keine Schneeschuhe mehr hast und keine wieder bekommst, muß ich mir doch sagen, daß unser Puck trotz seiner fünfzehn Jahre noch immer keine Vernunft angenommen hat. – Wie lange willst du uns noch Sorgen bereiten?«

Pucki drückte das Gesicht an die Schulter der Mutter. »Ich habe Zeit gehabt, über vieles nachzudenken, Mutti. Ich weiß, wie sehr du um mich gelitten hast. Hab keine Sorgen um mich, Mutti. Ich bemühe mich, das verspreche ich dir. In diesem Winter steige ich auf keine Bretter mehr.«

Zwei Tage später reiste Pucki mit den beiden Pflastern nach Rotenburg ab.


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