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Apoll und Poller

Wieder einmal waren die großen Ferien zu Ende gegangen. Hedi Sandler mußte aus dem heimatlichen Forsthaus Birkenhain scheiden. Es geschah stets mit schwerem Herzen, denn Hedi, die noch immer den Beinamen Pucki trug, liebte das kleine Forsthaus und den grünen Wald, der es meilenweit umgab, über alle Maßen. Welch ein Glück, daß Rotenburg nur einige Stunden davon entfernt lag, und daß der gute Oberförster Gregor öfters in seinem Auto die fünfzehnjährige Obertertianerin von Rotenburg heimholte. Mancher Sonntag wurde dadurch im Elternhause verlebt.

Jetzt hieß es wieder fleißig lernen. Das Schiller-Gymnasium in Rotenburg galt als eine vorzügliche Schule, und wenn man nicht sitzenbleiben wollte, mußte man die Ohren steif halten. Hedi Sandler war ein sehr begabtes junges Mädchen, das Freude am Lernen hatte, noch mehr aber freute sie sich, wenn sie gemeinsam mit den Klassenkameradinnen einen Spaß aushecken konnte. Wenn im Schiller-Gymnasium ein übermütiger Streich ausgeführt wurde, wußten alle sogleich, daß Hedi Sandler mit dabei war. Es wunderte daher niemanden, daß sie nach wie vor im ganzen Gymnasium Pucki hieß.

Bei Frau Perler, der verwitweten Schwester des Oberförsters Gregor, war Pucki gut aufgehoben. Sie weilte nun schon fast fünf Jahre dort und besuchte gemeinsam mit ihrer Freundin Carmen Gumpert, der Tochter eines verwitweten Schiffsarztes, die gleiche Klasse. Noch zwei andere junge Mädchen waren bei Frau Perler in Pension. In früheren Zeiten hatte sie oftmals Jungen in ihr Haus genommen, doch hielt sie es für richtiger, die vier Plätze, die sie für Pensionäre frei hatte, mit jungen Mädchen zu belegen. Melitta Diesel war zwar zwei Jahre älter als Pucki Sandler und besuchte bereits die Obersekunda; sie war ein schwärmerisch veranlagtes Mädchen, spielte recht nett Klavier und sang dazu; sie malte auch ein wenig und versuchte sich sogar im Modellieren. Außerdem schrieb sie ganz heimlich kleine Erzählungen und machte Gedichte. –

Ganz anders die vierte Pensionärin, die kleine, rundliche Anna Nickel. Sie war durch nichts aus ihrer Ruhe aufzuschrecken. Sie war auf dem großen Bauerngut der Eltern aufgewachsen und hatte das größte Interesse für gutes Essen und Trinken. In der Schule kam sie nur mit Mühe und Not mit und saß trotz ihrer siebzehn Jahre noch in der Obertertia. Da Anna Nickel aber ein sehr gutmütiges Mädchen war und vor allen Dingen die vielen Eßpakete von daheim bereitwilligst mit den drei Kameradinnen teilte, war sie recht beliebt.

Mit Anna Nickel hatte man schon manchen Spaß angestellt. Eines Morgens, als sie wieder einmal gar nicht aufstehen wollte, war Pucki mit dem Ruf in ihr Schlafzimmer gestürzt:

»Steh auf! – Das Haus brennt!« Der gewünschte Erfolg blieb jedoch aus. Anna sagte in ihrer ruhigen Art:

»Die Feuerwehr wird schon kommen und löschen. Ehe das Feuer zu mir in die Stube kommt, ist die Feuerwehr längst da.«

»Steh wenigstens auf und packe das Nötigste zusammen.«

»Das wird die Feuerwehr besorgen«, klang es gelassen zurück. – – –

Morgen würde nun also die Schule wieder beginnen. Aus allen Gegenden strömten die Schüler des Schiller-Gymnasiums nach Rotenburg zurück. Wie oft dachte Pucki daran, wie sie als zehnjähriges Mädchen hierher auf das Gymnasium gekommen war und mit Widerwillen zum erstenmal das große Schulgebäude betreten hatte. Es dauerte auch lange, bis sie sich entschloß, ihre Trägheit abzulegen. Doch seit einigen Jahren galt sie als gute Schülerin, der man manchen Streich nachsah. Das blondlockige Försterkind war bei allen Lehrern beliebt, obwohl Pucki manchem recht zu schaffen machte.

Da saßen nun die vier jungen Mädchen wieder am Abendbrottisch mit Frau Perler vereint und berichteten von ihren Ferienerlebnissen.

»Ich habe ein Bühnenstück geschrieben«, sagte Melitta Diesel, »ich glaube, es ist fabelhaft gelungen! Ich habe die nötigen Studien über die alten Germanen gemacht. ›Wulfo‹ ist der Held meines Stückes. Ich habe die ganze Ferienzeit dafür geopfert und hoffe, daß es einmal aufgeführt wird.«

Frau Perler, die weißhaarige Pensionsmama, lächelte nachsichtig. Sie kannte längst die Krankheit dieser Sekundanerin, ein Drama zu schreiben, aber Melitta vergaß leider, daß zu solch einem Theaterstück mehr Kenntnisse gehörten, als man auf der Schule erwerben konnte. Um ein derartiges Drama schreiben zu können, fehlte dem jungen Mädchen jede Lebenserfahrung.

»Bei uns waren schon die frühen Birnen reif!« sagte Anna Nickel. »Na, ich habe gefuttert. Manchmal war mir ordentlich schlecht; Mutter hat auch viel öfter als sonst Hühner geschlachtet, weil ich Hühnerbraten gern esse. Auch Johannisbeerwein haben wir gemacht.«

»Aber Anna«, mahnte Frau Perler, »du hast doch nicht zu viel getrunken?«

»Es hat mir eben so gut geschmeckt, und das ist die Hauptsache.«

Pucki berichtete vom Wald, von Hirschen und Rehen, die sie gesehen hatte, und vom guten Harras, dem Jagdhund des Vaters, der gestorben war. Auch den neuen Hund hätte sie lieb, aber er wäre lange nicht so klug wie Harras. Sie erzählte auch von den Schwestern und vom Schmanzbauern, bei dem seit Ostern ihre Freundin Rosa Scheele in Stellung sei. Es gab ja so viel aus dem schönen Forsthaus Birkenhain zu berichten. Die anderen brauchten gar nicht zu reden, Pucki bestritt die Abendunterhaltung allein.

Am stillsten, wie immer, war die schwarzhaarige Carmen Gumpert. Aber heute lag auf ihrem Gesicht ein stilles Glück. Die Mutterlose hatte die Ferien seit langer Zeit einmal gemeinsam mit dem Vater verlebt. Doktor Gumpert war von einer Australienreise zurückgekehrt. Er hatte die Ferien mit seiner einzigen Tochter in einem stillen Gebirgsort verbracht. Es waren Festtage für das junge Mädchen gewesen, das sonst den Vater schmerzlich entbehrte. Von dem Glück des Wiedersehens zehrte Carmen auch jetzt noch.

»Ich habe die Absicht«, sagte Melitta Diesel und schlug die grauen Augen schwärmerisch zur Zimmerdecke empor, »mein Theaterstück ›Wulfo‹ unserem Studienrat Regelius vorzulegen und ihn zu bitten, sein Urteil abzugeben.«

Frau Perler lächelte. Studienrat Regelius war die Schwärmerei der gesamten oberen Klassen. Die Primanerinnen nannten ihn »Apoll«, und diesen Namen führte er nun auch in der Sekunda und Tertia. Er war ohne Zweifel ein schöner Mann. Sein griechisches Profil, vor allem die klassische Nase, entzückte die jungen Mädchen. Sein dunkles reiches Haar lag in losen Wellen nach hinten gekämmt, außerdem verfügte Regelius über eine wohltönende Stimme und – war unverheiratet. Selbstverständlich wurde er von seinen zahlreichen Verehrerinnen genau beobachtet, und manch eine wußte dieses oder jenes von ihm zu berichten. Lautentöne, die aus seiner Wohnung gehört worden waren, stammten ohne Zweifel von ihm. Er mußte wunderbar spielen können.

»Eigentlich ist das selbstverständlich«, hatte Pucki geäußert, »ein griechischer Gott muß die Laute spielen können.«

Melitta zuckte verächtlich lächelnd die Schultern. »Hast du Apoll jemals mit einer Laute gesehen? Er kommt mit Pfeil und Bogen oder mit der Leier.«

Natürlich schwärmte auch Hedi Sandler für Studienrat Regelius. Sie ruhte nicht, bis sie seinen Vornamen und seinen Geburtstag erfuhr. Siegmar Regelius, so hieß er; sein Vorname klang wie Musik, er paßte zu seinem schönen Äußeren.

Studienrat Regelius ahnte nicht, daß seine Person leidenschaftliche Eifersucht unter den Schülerinnen entfesselte. Die Obertertia beneidete die Sekunda, denn dort gab er die meisten Stunden. Er führte die Schülerinnen in die Schönheiten des Altertums ein, er gab außerdem noch Literaturunterricht. Melitta meinte, Studienrat Regelius habe sich von jeher für ihre dramatische Begabung interessiert und sich lobend über ihre Gedichte ausgesprochen.

So entstand auch jetzt wieder ein kleiner Streit zwischen Melitta und Pucki.

»Ihr geltet bei Apoll noch nicht für voll. Mit der Tertia gibt er sich nicht viel ab. Oh, ich weiß, daß ihm die Stunden in unserer Obersekunda die meiste Freude machen.«

»Weil du ein Drama geschrieben hast«, gab Pucki erregt zurück. »Ich kann auch so ein Drama schreiben, wenn ich will.«

»Hahaha, das würde was Nettes werden«, höhnte Melitta.

»Wir haben morgen einen neuen Mathematiklehrer«, mengte sich Carmen in die Unterhaltung. »Doktor Koch ist abgegangen, nun kommt ein neuer. Vielleicht ist er ebenso schön wie Apoll.«

»Ganz unmöglich«, rief Melitta. »Die Natur hat nur einmal ihre Gaben so verschwenderisch über einen Mann ausgeschüttet. Es gibt nur einen Apoll, und das ist Studienrat Regelius!«

Pucki mußte Melitta heimlich recht geben. In ihren Augen war Studienrat Regelius die Idealgestalt eines Mannes. Er hatte den Gang der alten Hellenen, jede seiner Bewegungen war von klassischer Schönheit. Ja, über Apoll ging nichts! Claus Gregor, der Sohn des Oberförsters, für den Pucki seit ihrer Kinderzeit schwärmte, war gewiß auch schön, aber ihm war weder die klassische Nase noch die reiche Lockenpracht eigen, die Siegmar Regelius aufweisen konnte.

»Was wird das nur für einer sein«, sagte Pucki, »unser neuer Mathematiklehrer? Ich habe zu Mathematiklehrern niemals Vertrauen.«

»Weil du in Mathematik nicht die Beste bist«, sagte Melitta.

»Bist du etwa in Mathematik gut? Eine Vier hast du gehabt.«

»Dafür leiste ich in Literatur um so mehr.«

»Aber Kinder, ihr werdet euch doch nicht am ersten Abend des Wiedersehens streiten. Erzählt mir lieber noch etwas von euren Ferienerlebnissen.«

Die Gemüter der jungen Mädchen waren schon wieder besänftigt. Nach dem Abendessen schickte Tante Grete ihre Zöglinge in ihre Zimmer, damit sie ihre Schulsachen für den morgigen Tag rüsteten. –

In der ersten Pause des ersten Schultages steckte die Obertertia die Köpfe zusammen. Über Doktor Poller, den neuen Mathematiklehrer, wurde gesprochen.

»Er ist eben ein Mathematiklehrer«, sagte Pucki, »also eine verkörperte Zahl. Wenn er den Arm ausstreckt, kommt er mir vor wie eine Sieben. Sie ist eine durch und durch hölzerne Zahl. Ich muß sagen, ich bringe unserem neuen Lehrer recht wenig Sympathie entgegen. Er wird sich große Mühe geben müssen, unser Wohlwollen zu erringen.«

»Aber Pucki, du stellst ja alles auf den Kopf«, tadelte Carmen. »Herr Doktor Poller hat doch nicht nötig, unser Wohlwollen zu gewinnen.«

»Poller, was ist das überhaupt für ein Name? – Möchtest du vielleicht Poller heißen?«

»Es klingt ein wenig an Apollo an.«

»Carmen, du bist wahnsinnig! Wie kannst du Doktor Poller mit Apoll in einem Atem nennen.«

»Er müßte eigentlich auch getauft werden«, sagte Fred Aßmann, einer der Obertertianer. »Wir wollen doch unsere Aufgabe nicht vergessen. Die Obertertia hat stets das Ehrenamt, die Neulinge des Schiller-Gymnasiums zu taufen.«

Bedrückendes Schweigen folgte diesen Worten. Endlich sagte Carmen: »Wir können doch nicht unsere Lehrer taufen.«

»Warum nicht?« sagte Pucki. »Der Brauch ist nun einmal im Schiller-Gymnasium eingeführt. Wir alle sind getauft worden. Alle neu hinzukommenden Schüler wurden doch auch getauft.«

»Es ist aber ein Lehrer.«

»Ich würde es nicht tun«, flüsterte Ellen Krieger, die Freundin Carmens.

»Ach was«, meinte Pucki, »der Brauch besteht. Wir alle haben uns Wasser über den Kopf gießen lassen müssen, als wir ins Schiller-Gymnasium kamen. Immer hat das die Obertertia gemacht. Wollen wir diesen alten ehrwürdigen Brauch fallen lassen?«

»Nein«, klang es in vielstimmigem Chor.

»Er ist doch nicht von Zucker«, meinte Fred Aßmann. »Von dem bißchen Wasser geht er bestimmt nicht kaputt.«

»Wer macht es?« fragte Ellen Krieger.

»Kleinigkeit«, sagte Pucki, »in der zweiten Pause muß ihn einer unter den Balkon führen, das übernimmt wieder die Prima, und schwupp gieße ich ihm ein bißchen Wasser auf den Kopf.«

»Willst du das wirklich tun?« fragte Carmen. Auch ihre Augen blitzten voll Übermut.

»Selbstverständlich. An alten Bräuchen darf nicht gerüttelt werden.«

In den beiden folgenden Stunden waren die Tertianer wenig aufmerksam. Jeder wußte, was es mit der Schillertaufe auf sich hatte. Ein Becher, gefüllt mit Wasser, wurde vom Balkon herab auf den ahnungslos darunter Gehenden gegossen. Bei Beginn des neuen Schuljahres wurde diese Taufe regelmäßig vollzogen. Immer wachte ein Lehrer darüber, daß nicht zu viel Unfug dabei getrieben wurde. Man hatte diesen alten Brauch geduldet; doch heute ahnte niemand, daß der neue Mathematiklehrer, Doktor Poller, getauft werden sollte.

Die zweite Pause kam. Pucki füllte den kleinen Becher bis zum Rande mit Wasser. Kein Tropfen durfte verschüttet werden. Und während die Obertertia hinunter in den Schulhof eilte, um das Schauspiel aus der Nähe zu sehen, ging Pucki Sandler auf den Balkon, in der Hand den Becher mit Wasser. Zwei Primaner waren heimlich eingeweiht worden; sie mußten Doktor Poller unauffällig unter den Balkon geleiten, von dem aus die Schillertaufe vollzogen werden sollte.

Über Puckis schlanken Körper lief ein freudiges Zittern der Erregung. Es würde herrlich sein! Verstohlen schauten die Obertertianer zu ihr hinauf. – Und nun sahen sie Doktor Poller in Begleitung der beiden Primaner daherkommen. Pucki hielt den Becher in der Hand. Etwa einen Schritt von dem Balkon entfernt blieb Doktor Poller plötzlich stehen. Er war in lebhaftem Gespräch mit den beiden Primanern, die vergeblich versuchten, ihn zum Weitergehen zu bewegen. Doch Doktor Poller stand wie angewachsen.

»Natürlich, als ob er eine Sieben wäre«, murmelte Pucki ungeduldig. »Warum geht die Sieben nicht vorwärts?«

Endlich schritt er weiter. Die Primaner machten, wie auf Kommando, zwei Schritte nach rechts und links und – – klatsch – das Wasser ergoß sich über den schön gezogenen Scheitel des Mathematiklehrers.

Allgemeines Geschrei entstand: »Die Taufe des Schiller-Gymnasiums ist vollzogen! Herr Doktor Poller, Sie gehören nun zu uns!«

Der überraschte Lehrer stand wie aus Erz gegossen da. Nur seine beiden Arme hoben sich seitwärts, die Unterarme streckte er abwehrend nach oben.

»Eine Vier – eine regelrechte Vier«, rief Pucki von oben herunter. Der regungslos Dastehende sah jetzt wirklich wie eine Vier aus.

»Eine Vier – eine Vier«, klang es über den Schulhof. Da ließ Doktor Poller die Arme sinken, zog das Taschentuch hervor und wischte sich den nassen Kopf ab.

Einer der Kollegen trat auf ihn zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Es war das einzig Richtige, über diesen Scherz zu lachen, um ihm einen harmlosen Anstrich zu geben. So erfuhr Doktor Poller, daß es sich hier um einen alten Brauch und einen harmlosen Scherz des Schiller-Gymnasiums handelte; und da er ein guter Pädagoge war, stimmte er schließlich in das fröhliche Lachen der Jugend mit ein.

»Ich hätte gedacht«, sagte Pucki enttäuscht, »er würde böse werden. Ein Mathematiklehrer hat doch im allgemeinen empfindliche Nerven, weil er gar so viel denken muß. Das scheint bei Doktor Poller nicht der Fall zu sein. Schade – es hätte viel mehr Spaß gemacht, wenn er wütend geworden wäre.«

»Es wird schon noch dahin kommen«, lachte Carmen, »daß du auch für Doktor Poller schwärmst.«

»Was – –?« rief Pucki entrüstet. »Ich schwärme nur für einen Mann, und das ist Apoll! – Ach, morgen haben wir wieder bei ihm Stunde, morgen sehe ich ihn wieder! – Nächstens nehme ich ihm den Federhalter fort. Seine Hand hat ihn berührt.«

»Aber Pucki, du hast ihm doch schon den Bleistift genommen.«

»Macht nichts, ich will eine Sammlung von Erinnerungen an ihn haben.«

»Ellen hat ihm auch schon einen Federhalter gemaust.«

»Viele andere auch noch. – Wir wollen alle ein Andenken von ihm.«

Am anderen Tage zog sich nicht nur Pucki, sondern auch Carmen sehr sorgfältig an. Heute wurde nicht das übliche Schulkleid übergestreift, heute war Literaturstunde, und da wollte man vor Apoll recht schön erscheinen.

Nur Anna Nickel kam in ihrem üblichen graubraunen Schulkleid.

»Du«, sagte Pucki am Frühstückstisch, »heute ist doch Literaturstunde.«

»Heute sind fünf Stunden«, klang es zurück.

»Aber Apollo unterrichtet heute. Er kommt!«

»Natürlich muß er kommen, wenn er unterrichten will.« Anna schnitt in Seelenruhe ein drittes Brötchen durch.

»Du könntest, um unseren Griechen zu ehren, an den Montagen und Donnerstagen auch ein besseres Kleid anziehen, Anna.«

»Ich ziehe immer dasselbe Kleid an.«

»Du bist gräßlich!«

»Das andere hat so viele Knöpfe, das macht zu große Mühe. Dieses brauche ich nur über den Kopf zu ziehen, und schon bin ich fertig.«

»Wie eine Krähe sitzest du in den Literaturstunden zwischen uns.«

»Ich habe mal junge Krähen gegessen. Meine Mutter sagt, man muß sie tüchtig mit Speckscheiben umwickeln, dann werden sie gebraten und – –«

»Laß uns mit deinem ewigen Essen in Ruhe«, rief Pucki, »heute denken wir nur an Apoll!«

Dann eilten die jungen Mädchen zum Gymnasium. Anna Nickel war immer die letzte. Obstkauend machte sie sich auf den Weg und trottete gemächlich hinter den Kameradinnen her. Auch wenn die Turmuhr schon ihre acht Schläge ertönen ließ, war Anna nicht aus ihrer langsamen Gangart zu bringen. Sie käme noch immer zurecht zum Unterricht, meinte sie.

Vor Beginn des Unterrichts warf Pucki einen prüfenden Blick auf die Klassenkameradinnen. Ellen Krieger trug heute sogar ihr Sonntagskleid, und die rothaarige Lotte hatte eine neue Schleife angesteckt. Das mußte Apoll auffallen. Das nächste Mal würde sie auch das Sonntagskleid anziehen. Mochte Tante Grete ihr ruhig einen Verweis geben, es war einerlei. Für Apoll konnte sie den Sonntagsstaat wagen.

Dann kam er! – Ohne Zweifel besaß Doktor Regelius ein schönes Gesicht. Er verstand auch, seinen Schülern den Unterricht fesselnd zu gestalten. Er war ein großer Literaturfreund und konnte sich in helle Begeisterung hineinreden. Alle hingen an seinen Lippen; mäuschenstill war es in der Klasse, wenn er vortrug. Es wurde auch »fabelhaft« für ihn gelernt. Alle bemühten sich, gut bei ihm angeschrieben zu sein. Kein Wunder also, daß er zu seinen Schülerinnen immer freundlich war und keinen Grund zu Klagen hatte.

Fragen und Antworten folgten rasch aufeinander. Man sprach wieder einmal von Friedrich von Schiller, und das war Puckis Stärke.

»Welche Dramen kannst du mir noch von Schiller nennen?« fragte Doktor Regelius und wandte sich an Carmen.

»Maria Stuart«, »Die Jungfrau von Orleans«, »Die Verschwörung des Fiesko«, »Die Räuber – –«

Puckis Finger wackelte in der Luft hin und her.

»Nun, weißt du noch andere?«

»Freilich, Apollo!«

Pucki wurde von Carmen angestoßen. Ohne daß Pucki es gewollt hatte, war ihr der Name, den man dem Studienrat gegeben hatte, über die Lippen gekommen. Wie mit Blut übergossen stand sie da.

»Nun, Pucki?« erinnerte Doktor Regelius, »du wolltest mir noch weitere Dramen nennen.«

Es war vielleicht das erstemal, daß Pucki ihm nicht antworten konnte. – »Apollo – Apollo« klang es in ihren Ohren, und ihre Verwirrung wuchs von Sekunde zu Sekunde. Glücklicherweise rief Doktor Regelius einen anderen Schüler auf. Beschämt setzte sich Pucki Sandler nieder.

Daß sie sich vor ihrem griechischen Gott blamiert hatte, drückte sie nieder. Sie war während der folgenden Stunden so geknickt, daß sie von Carmen getröstet werden mußte.

»Was hat sie denn?« fragte Anna. »Soll ich ihr ein paar Birnen geben, ich habe noch welche in der Mappe.«

»Nein«, wehrte Carmen ab, »Pucki ärgert sich darüber, daß sie Doktor Regelius keine Antwort geben konnte.«

»Darüber würde ich mich niemals ärgern.«

Beim Heimgehen hielt Anna Nickel dem Försterkind eine Birne hin. »Nimm sie und iß, dann denke nicht länger an die Literaturstunde.«

»Ich habe mich vor ihm blamiert – vor ihm. Was muß er von mir denken. – Ob er gehört hat, daß ich ihn Apoll nannte?«

»Das geht zu einem Ohr hinein und zum anderen wieder heraus. – Es ist dir ganz recht, warum nennst du ihn so.«

»Weil er eben Apoll ist!«

»Ach nee«, sagte Anna gedehnt, »er heißt doch Regelius. Den Mund hat er quer und die Nase längs, genau so wie die anderen Menschen, und ein Grieche ist er schon gar nicht, denn er kommt aus Hannover. – Weißt du, da her, wo die guten Kirschen herkommen. Mein Vater sagt, seine besten Kirschbäume hat er aus einer Baumschule im Hannoverschen.«

»Und die besten Gänse kommen aus Pommern«, rief Pucki ergrimmt.

»Ja, hast recht, unsere Gänse wiegen manchmal vierzehn Pfund. Ich esse von der Gans am liebsten das Brustfleisch. Meine Mutter schlachtet im Herbst fünf Gänse für uns ein. – –«

»Laß mich endlich in Ruhe«, rief Pucki verärgert.

»Nimm die Birne, sie schmeckt vorzüglich. Du brauchst dich doch über den Studienrat nicht zu ärgern.«

Puckis Augen blitzten. »Was den Magen, was den Bauch füllt, weißt du, was aber das Herz, was die Seele braucht, dafür hast du kein Verständnis. Mit dir rede ich nicht mehr darüber.«

Als Pucki später die Schulaufgaben beendet hatte, holte sie aus der Kommode ihr Tagebuch und schrieb: »Heute habe ich mich vor Apoll blamiert. Ich habe ihn mit ›Apoll‹ angeredet, weil mir dieser Name ständig auf den Lippen liegt. – Was mag er nur von mir denken? Jetzt ist er vielleicht zu Hause und denkt daran, wie furchtbar ich mich blamiert habe. – Es war schrecklich!«

Eine Weile biß sie noch am Federhalter, dann wurde als Abschluß der Seite geschrieben:

»Ein Schreckliches ist heut passiert,
Ich habe mich vor ihm blamiert.
Das Herz, es ist mit Leid so voll,
Vergib – vergiß, du, mein Apoll!«

Pucki klappte das Tagebuch zu. In dem Augenblick kam Anna Nickel ins Zimmer. Sie sah das Buch und lachte.

»Hast wieder was ins Tagebuch geschrieben? Vielleicht wieder von deinem Apollo geschwärmt?«

»Geh«, sagte Pucki ärgerlich. »Tante Grete wartet mit dem Kaffee, die frischen Brötchen sind bereits gekommen, ich habe es gehört. – Geh essen!«

»Ach, ist es schon soweit? – Fein!« sagte Anna und entfernte sich eiligst.

Pucki beschloß, an ihrer Schulkameradin Rache zu nehmen. Anna hatte von ihrem griechischen Gott gesagt, er habe den Mund quer und die schöne edle Nase längs, die das Entzücken des ganzen Schiller-Gymnasiums war. Anna mußte gestraft werden. So etwas durfte sie nicht noch einmal sagen. Diese frevelhaften Aussprüche schrien nach Rache! Sie setzte sich mit Melitta Diesel in Verbindung.

»Können wir es dulden, daß sie soo von ihm spricht?«

»Nein –«

»Müssen wir Apollo an ihr rächen?«

»Ja!«

Darauf steckten die beiden die Köpfe zusammen und tuschelten längere Zeit, bis Pucki laut ausrief: »So wird es gehen!«

»Vielleicht erschreckt sie sich so sehr, daß ihr was Schlimmes passiert.«

»Sie muß Strafe haben«, erwiderte Pucki bestimmt. »Glaubst du, es hat mir nicht in der Seele weh getan, als sie seine griechische Nase schmähte?«

Der Tag verging. Nach dem Abendbrot saßen die jungen Mädchen noch ein Weilchen beisammen, dann mahnte Frau Perler zum Schlafengehen.

»Was ißt du schon wieder, Anna?«

»Eine Tafel Schokolade.«

»Du wirst dir den Magen verderben.«

»Den verderbe ich mir nie.«

Dann entfernten sich die vier. Pucki teilte ihr Zimmer mit Carmen, während in dem danebenliegenden Raum Melitta und Anna Nickel schliefen.

»Warum stehst du auf«, fragte Carmen nach einer knappen halben Stunde. »Fehlt dir etwas?«

»Ich muß erst meinen Durst stillen.«

»Drüben auf dem Tisch steht die Wasserflasche. Deswegen brauchst du dich doch nicht anzuziehen.«

»Meinen Rachedurst«, klang es zurück.

»Was hast du vor?«

»Nichts!«

Carmen knipste das elektrische Licht an. Sie sah, wie sich Pucki in ihr Bettuch einwickelte und vor das Gesicht eine schwarze Maske band.

»Hu – gräßlich stehst du aus. – Was machst du denn?«

»Sei still! Stör' mich nicht. Es ist beschlossen!«

»Willst du Anna erschrecken?«

»Drehe dich im Bett um, schlafe und laß mich«, antwortete Pucki düster.

»Ach, Pucki, es kann schlimm ausgehen. Laß den Unsinn, man kann sich mitunter so erschrecken, daß man krank davon wird.«

»Anna bestimmt nicht«, sagte Pucki, »bei ihr müssen wir es arg treiben.«

Pucki verließ leise das Zimmer. Doch Carmen hielt es für angebracht, gleichfalls aufzustehen. Sie war sehr unruhig.

Pucki betrat das Nebenzimmer. Lautlos drückte sie die Klinke nieder und schlich an Melittas Bett. Die wartete auf das Kommen der Kameradin.

»Sie schläft, hörst du, wie sie schnarcht?«

Anna lag in tiefem Schlummer. Sie ließ leise grunzende Töne hören, denn sie lag auf dem Rücken und atmete mit geöffnetem Mund. Pucki kauerte sich hinter die Bettwand, Melitta band Annas Decke an einen Strick und legte sich wieder nieder.

»Hu–u–u–« klang es schaurig durch die Stille der Nacht. Pucki stieß diese Töne aus, während Melitta von ihrem Bett aus an dem Strick zog und dadurch die Decke langsam von Annas Lager zerrte. »Hu–u–u–« klang es wieder.

Anna begann sich zu wälzen. »Nero, laß das«, klang es verschlafen.

Jetzt wieder ein Ruck – die Decke lag am Boden!

»Nero«, klang es von Annas Lippen, »zieh nur doch nicht die Decke weg – sei artig, mein guter Hund.«

»Hu–u–u–u!«

Anna richtete sich endlich auf, nahm die beiden Kopfkissen und deckte sich damit zu.

»Hu–u–u–u–, hier ist der Olymp!«

»Ruhe«, klang es von Anna herüber. Dann warf sie sich auf die andere Seite.

»Hier ist der Olymp«, klang es durch die Dunkelheit. »Hier ist Zeus, der Allmächtige!«

Anna griff unter das Bett, nahm einen Morgenschuh und schleuderte ihn auf das gegenüberstehende Bett zu Melitta hin.

»Jetzt redest du schon im Traum solchen Quatsch.«

Dann steckte sie zwei Finger in die Ohren.

Pucki beugte sich über das Bett, ergriff eines der Kopfkisten, warf es auf die Erde und packte Anna am Bein.

»Hier ist Apoll!«

Endlich machte Anna die Augen auf. Einige Sekunden lang betrachtete sie im fahlen Mondlicht das Gespenst.

»Gib mir mein Kopfkisten wieder und dann geh schlafen.«

»Hier ist Apoll!«

»Wenn du mich jetzt nicht in Ruhe läßt, Melitta, schmeiße ich dir den Schuh an den Kopf.« Dann ergriff Anna die Decke, die sie am Boden liegen sah, und deckte sich damit zu. Doch schon wieder wurde sie ihr fortgerissen. »Na, dann ist es gut«, sagte Anna langsam, »dann schlafe ich eben unter den Kopfkissen. – Ihr Dösköppe – gute Nacht.«

»Hier ist Apoll.«

Bums! – Anna hatte einen Halbschuh erfaßt und warf ihn nach Pucki. Es war ein Glück, daß sie die Maske vor dem Gesicht hatte. Trotzdem hatte Pucki einen heftigen Schlag verspürt.

»Mit dir ist nichts anzufangen«, klang es erbost. »Solch langweiliges Geschöpf, wie du bist, ist mir in meinem Leben noch nicht vorgekommen.«

Anna zog gelassen die Schublade ihres Nachttisches auf, entnahm ihr ein paar Schokoladenstückchen, steckte sie in den Mund, legte sich auf den Bauch und rief: »Nun aber gute Nacht!«

Da sahen Pucki und Melitta ein, daß mit diesem urgesunden Landkinde nach dieser Richtung hin gar nichts anzufangen war.

»Schade um den Schlaf, den ich mir Annas wegen rauben mußte«, grollte Pucki, als sie in ihr Bett zurückging.


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