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Das Autogramm des Rennfahrers

Die Blumenuhr in der Perlerschen Wohnung schlug eben die zehnte Stunde. In allen Räumen herrschte Totenstille. Frau Perler war in einen Vortrag gegangen, und ihre vier Pensionärinnen lagen in den Betten und schliefen. Punkt halb zehn Uhr mußten die jungen Mädchen zur Ruhe gehen. Bei allen stellte sich sonst sofort der feste, gesunde Schlaf ein, nur heute nicht.

Carmen öffnete die Augen und lauschte. Irgendein Geräusch hatte sie geweckt. Da war es schon wieder. Man warf mit Sand gegen die Fensterscheiben. Sie hob den Kopf. Zum dritten Male knackten die Scheiben.

»Pucki! – Pucki!«

»Äh –«

»Pucki, ich fürchte mich. An unser Fenster wirft jemand mit Sand.«

»Laß sie werfen!« sagte Pucki und drehte sich auf die andere Seite.

Da wurden von der Straße her mehrere Töne gepfiffen. Schon saß Pucki kerzengerade im Bett.

»Unser Motiv – Carmen, das bedeutet etwas!« Mit beiden Füßen sprang sie aus dem Bett, eilte ans Fenster und öffnete es behutsam.

»Pucki!«

»Du bist's, Vera? – Jetzt in der Nacht? – Was ist denn los?«

»Etwas ganz Großes hat sich ereignet. Vor einer halben Stunde ist Ingo Ikonda ins ›Deutsche Haus‹ gekommen. Er logiert bei uns. Jetzt ißt er Abendbrot. Ein Schnitzel hat er bestellt und eine Flasche Wein. Wenn du ihn sehen willst, so komm rasch.«

»Ich liege schon im Bett.«

»Ich glaube, morgen früh fährt er wieder fort.«

»Ist er im Rennwagen gekommen?«

»Nein, in einem ganz gewöhnlichen Auto. Ach, Pucki, er ist prächtig anzuschauen! Die Kappe sitzt wundervoll auf seinem Kopf, und Augen hat er – Augen! Kein Edelstein kann so blitzen wie diese Augen.«

»Was mache ich nur?« fragte Pucki kläglich.

»Zieh dich schnell an und komm. Aber es muß sehr fix gehen, sonst hat er sein Schnitzel gegessen und geht schlafen.«

»Du, ich glaube, ich darf nicht.«

Neben Pucki stand Carmen. Auch sie war aus dem Bett gestiegen und wollte etwas über Ingo Ikonda hören. Sie hatte sich längst die Bilder aller Rennfahrer aus Zeitschriften ausgeschnitten, und sie interessierte sich sehr für diesen Sport, zumal ihr der Vater im Sommer gesagt hatte, daß auch er sich später ein Auto kaufen wollte.

»Komm schnell, sonst hat er das Schnitzel aufgegessen.«

»Ich möchte schon. Tante Perler ist fortgegangen! Nur mit einem Blick möchte ich ihn sehen. – Was meinst du, Carmen?«

»Wir dürfen nicht so spät ausgehen.«

»Wenn Ingo Ikonda in Rotenburg weilt, muß eine Ausnahme gemacht werden. – Warte noch einen Augenblick, Vera, ich komme.«

»Mach schnell, mach furchtbar schnell!«

Pucki wollte das Licht andrehen, doch Carmen wehrte ab. »Sie werden nebenan erwachen. Zieh dich im Dunkeln an. Ach, Pucki, ich möchte so gerne mitgehen, ich möchte ihn auch sehen, aber es ist ungehorsam – –«

»Ach, komm doch mit.«

»Nein, nein, du erzählst mir nachher alles, aber recht genau. Ich werde auf dich warten.«

»Wenn inzwischen Tante Perler heimkommt, dann kann ich nicht in die Wohnung, denn sie schließt ab und läßt den Schlüssel stecken.«

»Ich lasse dir den Schlüssel am Bindfaden herunter. Aber vielleicht bist du vor ihr daheim. Du brauchst ihn doch nur rasch anzusehen.«

»Mach schnell«, tönte es von unten herauf, »sonst ist er in seinem Zimmer.«

Pucki war schnell fertig. Sie hatte das Kleid übergestreift, stülpte die Mütze auf das Blondhaar und zog draußen im Flur noch rasch den Mantel an. Leise schlichen die Mädchen hinaus in den Flur. Die Tür wurde geöffnet und von Carmen ebenso leise wieder zugeschlossen. Dann eilte Pucki die Treppe hinab.

»Jetzt werde ich ihn sehen«, sagte Pucki zu Vera. »Ich werde ihn um sein Autogramm bitten. Welch herrlichen Abschluß hat der heutige Tag gefunden.«

»Er ist entzückend!«

Im Laufschritt eilten die beiden jungen Mädchen nebeneinander dahin.

Zwei Wilden gleich stürzten die beiden ins »Deutsche Haus«.

»Komm schnell«, sagte Vera und zog Pucki ins Gastzimmer. »Gleich wirst du ihn sehen. Dort, hinter der Säule – – oh – er ist schon weg.«

Auf dem Tisch stand noch ein Teller, eine Flasche und ein Glas.

»Hier hat er gesessen«, sagte Vera betrübt. »Das kommt davon, wenn man sich so lange anprummelt. Nun ist er weg.«

Pucki setzte sich auf den Stuhl, auf dem Ikonda gesessen hatte. Sie nahm das leere Weinglas in die Hand, hob es hoch und sagte:

»Dein Wohl, Ingo Ikonda!«

In diesem Augenblick trat der Kellner heran, um das Geschirr abzuräumen. Pucki schämte sich, das Glas in der Hand zu halten und sah dem Geschirr mit wehmütigem Blick nach.

»Vielleicht ist er noch nicht in seinem Zimmer«, flüsterte Vera, »vielleicht erwischen wir ihn irgendwo. Er hat die beiden besten Zimmer, Nummer fünf und sechs. Nummer fünf geht hinaus auf die Straße, Nummer sechs auf den Hof. Da schläft er.«

»Wir müssen ihn heute noch erblicken, koste es, was es wolle. Auch sein Auto muß ich sehen.«

»Das wird nicht gehen, Pucki. Es steht in der Garage, und die ist zugeschlossen.«

Die beiden Mädchen gingen hinauf nach dem ersten Stock. Auf Zehenspitzen schlichen sie nach Nummer fünf. Es war das letzte Zimmer im Flur, daneben lag Nummer sechs.

»Hörst du seine großartigen Schritte?« sagte Vera. »So tritt nur der Beherrscher der Automobile auf.«

»Ja, einer, der durch die Welt rast, bei dem sich Stunden in Sekunden wandeln, der jede Entfernung zunichte macht. – Hörst du ihn?«

»Er hat geniest«, sagte Vera schwärmerisch.

»Herrlich war das.« Pucki trat dicht an die Tür.

»Hörst du was? – Laß mich auch mal horchen.«

»Gar nichts höre ich«, klagte Pucki.

»Was macht er jetzt?«

»Ich weiß es doch nicht!«

»Du – Pucki, ich glaube, jetzt geht er nach Nummer sechs, ich höre Schritte. – Oh, wir laufen durch den Hof und schleichen uns hinauf ins Hinterhaus auf den Wintertrockenboden. Von dort aus können wir vielleicht einen Blick in sein Schlafzimmer tun. – Komm!«

Man verließ das Vorderhaus. Vera nahm eine Taschenlampe, dann schlichen zwei Mädchen über den Hof, hinein ins Quergebände. Die beiden stiegen die schmale Treppe empor, die zum Wäscheboden führte.

»Es ist Licht in seinem Zimmer. – Oh, er hat den Vorhang nicht vorgezogen. – Pucki, ich sehe ihn!«

Beide drückten die Gesichter an die Scheiben. Im Zimmer sechs stand der preisgekrönte Rennfahrer Ikonda und band eben Schlips und Kragen ab.

»Herrlich macht er das!«

»Wie glücklich sind wir!«

Ikonda zog das Jackett aus, dann trat er ans Fenster.

»Welch edel geschnittenes Gesicht!«

»Sieh nur seine Augen – –«

Rietsch – wurde der Vorhang zugezogen.

»Schade«, stöhnte Pucki.

»Wir werden seinen Schatten sehen«, flüsterte Vera. »Warte noch.«

Tatsächlich sahen die beiden hin und wieder den Schatten eines Mannes, dann wurde es finster im Zimmer. Da schlichen auch die beiden Mädchen vom Trockenboden wieder hinunter.

»Wann fährt er morgen ab? Ich komme vor der Schule rasch mal her; ich muß ein Autogramm von ihm haben.«

»Ich erkundige mich gleich, Vater ist noch da.«

Pucki wartete im Hausflur. Erregt kehrte Vera zu ihr zurück. »Er bleibt noch hier! Seine Eltern haben die Villa Kopp gekauft. Jetzt will er dort eine Garage nach eigenen Angaben bauen lassen. Er wird morgen mit dem Bauunternehmer sprechen. Er bleibt noch morgen nacht hier.«

»So bin ich morgen nachmittag bei ihm, denn ich muß sein Autogramm haben.«

»Bütä«, lachte Vera.

Pucki machte eine ärgerliche Kopfbewegung. »Du bist schuld daran, vergiß das nicht! Doch dieses Mal bekomme ich sein Autogramm. Wollen wir wetten? Ich werde ihn um einige Worte bitten. Ich weiß heute schon, er wird mir etwas Schönes aufschreiben.«

Dann verabschiedete sich Pucki von der Freundin. Im Laufschritt ging es heimwärts. Vielleicht war Tante Grete aus dem Vortrag noch nicht zurückgekommen. Doch als sie um die Straßenecke bog, sah sie im Halbdunkel eine Dame vor dem Hause stehen.

»Das ist Tante Grete!« klang es unterdrückt. Wenige Sekunden früher wäre der Zusammenstoß unvermeidlich gewesen. – Nun hieß es warten.

Pucki pfiff das bekannte Motiv. Oben klirrte ein Fenster. Carmen steckte den Kopf heraus. »Leise, Pucki, sehr leise, Tante Grete ist im Flur. – Ach, wärst du doch ein paar Minuten früher gekommen. Jetzt mußt du noch warten.«

Die Herzen zweier junger Mädchen klopften stürmisch. Noch war es Carmen unmöglich, den Flurschlüssel hinunterzulassen, denn Tante Grete war noch nicht in ihrem Zimmer. Endlich war es so weit. An einem Bindfaden kam der Korridorschlüssel herabgeschwebt. Carmen bebte am ganzen Körper. Ob es Pucki gelingen würde, ungehört ins Bett zu gelangen? Carmen hatte die Zimmertür bereits leise geöffnet. Sie vernahm, wie ein Schlüssel ins Schloß gesteckt wurde. Wenn nur Tante Grete jetzt nicht käme!

Es gelang Pucki, unbemerkt ihr Zimmer zu erreichen. Carmen huschte ins Bett der Freundin. »Nun erzähle, wie es war.«

Der Bericht enttäuschte sie stark. Sie tröstete sich nur damit, daß sie morgen nachmittag den berühmten Rennfahrer sehen würden.

Pucki hatte geglaubt, sie würde am nächsten Tage der Klasse eine große Neuigkeit mitteilen können, doch schon auf dem Flur des Schulgebäudes hörte sie von zwei Sekundanern die Worte:

»Er ist im ›Deutschen Haus‹ abgestiegen. Er will auf seinem Grundstück nach eigenen Angaben eine Garage errichten lassen. Er verhandelt mit Mummring. Ich muß ihn sehen.«

Wie ein Lauffeuer ging es durch die höheren Klassen, daß der bekannte Rennfahrer Ingo Ikonda im »Deutschen Haus« wohne. Vera Klingler konnte sich in der Pause vor Fragen kaum retten. Jeder wollte über den Rennfahrer etwas wissen. Daß er ein Schnitzel gegessen hatte, mußte sie etwa dreißigmal erzählen.

»Regt euch doch nicht so auf«, sagte Anna Nickel, »mein Vater hat drei Wagen und auch ein Automobil. Ihr könnt doch jeden Tag einen Mann mit 'nem Auto sehen. – Ihr seid alle verrückt geworden.« Dabei aß sie eine Birne mit bestem Appetit.

Während der Unterrichtsstunden herrschte heute weder in der Sekunda noch in der Obertertia Aufmerksamkeit. Auch die Primaner dachten mehr an Ingo Ikonda als an ihre Aufgaben.

Während der Pause standen die Schüler in Gruppen beisammen. Pucki führte das große Wort.

»Ich besuche ihn heute nachmittag, denn ich will ein Autogramm von ihm haben.«

»Na, der wird dich schön auslachen! Wenn er jeden Backfisch empfangen wollte, reichte sein Leben nicht aus.«

»Wir bringen ihm eine Ovation«, schlug Vera vor.

»Ach Quatsch«, sagte Pucki, »ich fasse ihn ab! Wenn er im Hotel ist, gehe ich nach Zimmer fünf und bitte ihn um ein Autogramm.«

»Machst du das wirklich?« fragte Fred Aßmann.

»Ganz bestimmt!«

»Willst du ihm auf die Bude rücken?« forschte ein Untersekundaner.

»Ja, heute nachmittag.«

»Ich komme mit«, rief Aßmann, »ich möchte ihn auch sehen.«

»Wir wollen ihn auch sehen!«

»Wir auch – –«

»Wir auch – –«

Es wurde hin und her beraten. Die Obersekundaner blieben dabei, daß es eine Dreistigkeit sei, den berühmten Rennfahrer derart zu belästigen. Sie wollten sich damit begnügen, ihn zu sehen.

»Der macht es wie der berühmte Tenor Wenglin, das hat mir meine Mutter erzählt. Er läßt seine Verehrer und Verehrerinnen warten und verschwindet durch die Hintertür.«

»Hahaha, dann besetzen wir die Ausgänge«, rief Fritz Ramm.

»Er kann auch durch die große Wageneinfahrt herauskommen«, meinte Vera.

»Wir werden schon gut aufpassen«, klang es vielstimmig. »Wir stellen Posten auf, verabreden ein Zeichen, und wenn er kommt, umringen wir ihn.«

»Ja, so wird es gemacht!«

»Und ich gehe direkt zu ihm nach Zimmer fünf«, entschied Pucki. »Wenn er sich sprechen läßt, so stellt ihr euch auf die Straße. Ich werde den Rennfahrer bitten, ans Fenster zu treten. Wenn er dann kommt, schreit ihr unten Hurra! Das wird ihn stolz machen.«

»Er wird dich gar nicht einlassen.«

»Na, das will ich mal sehen! Wenn nicht anders, setze ich mich in sein Zimmer und erwarte ihn. Ein so berühmter Mann hat doch Manieren, er wird eine junge Dame nicht hinausweisen.«

»Wie erfahren wir, wann er da ist?«

Ein richtiger Spionagedienst wurde von der Obertertia eingerichtet. Einige sollten sogleich nach dem Mittagessen im Baugeschäft Nachfrage halten. Andere mußten hinaus zur Villa Kopp gehen, um zu erkunden, ob Ikonda dort sei. Aus einiger Entfernung sollte er beobachtet werden, und wenn er ins Hotel kam, würden die Beobachter die einzelnen Gruppen sofort benachrichtigen. Diese einzelnen Gruppen befanden sich in der Bahnhofskonditorei, im »Maiglöckchen«, im Wartesaal des Bahnhofs und im Schuppen des Kohlenhändlers Peters. Man brauchte also nur vier Boten, und alles mußte klappen.

Es klappte wirklich! Gegen fünf Uhr kam ein Untersekundaner mit der ersehnten Botschaft nach der Bahnhofskonditorei, in der Pucki, Vera, Aßmann und noch sechs andere Schüler der Obertertia saßen. Die Gruppe machte sich sofort auf den Weg nach dem »Deutschen Haus«. Das war bereits belagert. Vor dem Hauptausgang standen vier Schüler, am Seiteneingang drei und im Torweg acht Schüler des Schiller-Gymnasiums. Erwartungsvoll sah man Hedi Sandler kommen. Hatte sie immer noch Mut, den Rennfahrer aufzusuchen?

Pucki strahlte über das ganze Gesicht. Einer Königin gleich, sah sie sich im Kreise um. »Wer begleitet mich?«

»Er wird sie nicht empfangen«, murmelten einige Sekundaner. »Wozu sollen wir uns blamieren.«

Als sich niemand meldete, winkte Pucki gnädig mit der Hand und sagte: »Vergeßt die Huldigung nicht, sobald er sich am Fenster zeigt.«

Dann stieg sie die Treppe empor. Als sie vor Zimmer fünf stand, klopfte ihr Herz stürmisch. Sie legte die Hand darauf.

Auch jetzt bemühte sie sich wieder, an der Tür zu horchen. Kein Laut kam aus dem Zimmer. Vielleicht war der preisgekrönte Held nicht daheim. – Eigentlich hätte sie ihm Blumen mitbringen müssen. Doch sie mußte mit dem Taschengeld sparen, denn 2,80 Mark waren ja zwecklos für das Haarfärbemittel ausgegeben worden.

Pucki wollte leise anklopfen, doch in der Erregung klopfte sie ziemlich derb.

»Herein!« klang es.

Pucki merkte, wie ihr alles Blut zum Kopfe strömte. Ihr Plan erschien ihr in diesem Augenblick verwegen, denn sie hatte sich noch keine Begrüßungsworte zurechtgelegt.

»Herein«, ertönte seine Stimme zum zweitenmal.

Jetzt mußte sie eintreten, die Würfel waren gefallen. Zaghaft drückte sie die Klinke nieder, stand im Zimmer und sah Ikonda am Schreibtisch sitzen. Doch er sah sie nicht. Er wandte ihr den Rücken zu und schrieb.

Pucki suchte nach Worten. Da drehte er sich jäh um. Anscheinend hatte er eine Hotelbedienung erwartet und war sichtlich erstaunt, ein hübsches junges Mädchen zu sehen. Über sein wettergebräuntes Gesicht flog ein Lachen. Das machte Pucki Mut. Da erhob sich Ikonda.

»Unserem Ort ist eine große Freude widerfahren«, begann Pucki stockend, »einer der größten Rennfahrer, der allergrößte – hat uns diese große – diese sehr große – dieses große Glück bereitet und unsere kleine Stadt besucht. – Ich erlaube mir, den großen Rennfahrer herzlich zu begrüßen. Ich komme als Abgesandte des Schiller-Gymnasiums, das von jeher für den Sport begeistert war. Ein Sportsmann wie Sie, Ingo Ikonda, mußte natürlich würdig begrüßt werden. Ich –«, Pucki wurde immer verlegener. Die dunklen Augen des Mannes blitzten ihr übermütig entgegen.

»Wenn ich recht verstehe, wollen Sie mich begrüßen.«

»Ich spreche für das Schiller-Gymnasium und bin glücklich, als Abgesandte Ihnen gegenüberzustehen.«

»So bringen Sie Ihren Schulfreundinnen meinen herzlichsten Dank.«

»Danke, danke – – aber – – ich habe noch ein großes Anliegen, ich wage kaum, es auszusprechen.«

»Sie machen gar nicht den Eindruck, als ob Sie schüchtern wären, kleines Fräulein. Also, was wünschen Sie noch von mir?«

»Bitte – ein Autogramm.«

Ikonda ging zum Schreibtisch, schrieb auf ein Blatt Papier seinen Namen und reichte Pucki den Zettel.

»Herr Ikonda, verzeihen Sie meine Kühnheit, aber schreiben Sie noch einige Zeilen hinzu. Irgend etwas, was mich beglücken würde.«

»Bekomme ich dann einen Kuß von Ihnen?«

Puckis Augen blitzten zornig auf. Sie wich einige Schritte zurück. Schon lagen ihr abweisende Worte auf den Lippen, da dachte sie noch im letzten Augenblick daran, daß sie ja die Abgesandte des Gymnasiums war und den Schulkameraden versprochen hatte, sie würde mit dem berühmten Rennfahrer eine längere Unterredung haben.

Während sie von Ikonda mit lustigem Augenzwinkern gemustert wurde, überlegte Pucki, was sie dem übermütigen Manne wohl geben könnte, um das Autogramm zu bekommen. Und als er die Hand ausstreckte und sie an den blonden Löckchen zog, die unter der Mütze hervorquollen, glaubte sie, den rechten Ausweg gefunden zu haben.

»Wenn Sie eine Locke von mir wollen, – die könnte ich Ihnen schon geben.«

»Sie haben prächtiges Haar, kleines Fräulein.«

»Gut, so gebe ich Ihnen eine Locke, aber bitte, schreiben Sie mir ein paar Worte zu dem Autogramm, schreiben Sie recht viel, und ich werde Ihnen sehr dankbar sein.«

Während sich Ikonda wieder am Schreibtisch niederließ, holte Pucki aus ihrer Handtasche eine kleine Schere. Sie fand auch ein Stückchen rosa Band, denn sie trug in ihrer Handtasche allerlei Kram mit herum, schnitt ein Büschel Haare ab, umwickelte es mit dem rosa Band und wartete, bis Ikonda fertig war. Er schien tatsächlich mehrere Zeilen niederzuschreiben. Oh, wie glücklich würde sie sein, solch langes Autogramm zu bekommen.

Da erhob sich Ikonda. Er steckte das Blatt in einen Umschlag, den er sorgsam verschloß. »Hier haben Sie das erbetene Autogramm«, sagte er.

Während des Schreibens hatte Pucki ihn aufmerksam beobachtet, aber das junge Mädchen sah nicht das übermütige Lächeln in seinem Gesicht, denn sonst hätte es geahnt, daß das Autogramm nicht zur Zufriedenheit ausfallen würde.

»Ich habe mich über Ihren Besuch sehr gefreut«, sagte er. »Nun leben Sie wohl.«

»Herr Ikonda – ich habe noch eine andere Bitte. Dort unten sehen Sie unsere Klasse stehen.«

»Um des Himmels Willen, wollen die alle auch Autogramme haben? Da rücke ich schleunigst aus!«

»Der Weg ist abgeschnitten«, rief Pucki triumphierend, »man steht vor der Tür.«

»So werde ich den Hinterausgang wählen.«

»Es nützt nichts, auch dort stehen welche! Und wenn Sie meinen, Sie könnten durch den großen Torweg entweichen, so gelingt Ihnen auch das nicht. Wir haben sorgsam alle Ausgänge besetzt.«

»Ich habe wenig Zeit, kleines Fräulein, Sie müssen mich nun verlassen.«

Pucki griff in ihrer Erregung nach dem Arm des Rennfahrers. »Bitte, erfüllen Sie mir nur noch eine kleine Bitte, – treten Sie einmal ans Fenster, denn unten wartet man auf Sie. Schon den ganzen Nachmittag über haben wir uns bemüht, Sie zu sehen. Bitte, treten Sie nur für einen Augenblick ans Fenster.«

Wieder lachte Ikonda auf. Er hatte zwar wenig Zeit, weil er morgen weiterfahren wollte, doch dieser Wunsch des hübschen jungen Mädchens sollte nicht unerfüllt bleiben. So trat er ans Fenster und öffnete es.

Unten standen etwa vierzig bis fünfzig junge Mädchen und Jünglinge, die in lautes Rufen ausbrachen, als sie Ikonda erblickten.

Er winkte mit der Hand hinab. Der Gruppe junger Mädchen, die links stand, warf er lachend einige Kußhände zu. Da wurde der Jubel noch größer. Die Jugend vergaß, daß sie sich auf der Straße befand. Man schrie und lärmte, einige warfen sogar Kußhände hinauf. Die Straße war längst versperrt, ein Wagen mußte anhalten, man ließ ihn einfach nicht durch. Niemand der Lärmenden sah, daß im Hause gegenüber ein Fenster geöffnet wurde und das strenge Gesicht des Studienrates Michaelis aus der Untertertia sichtbar wurde, der kopfschüttelnd die Schüler des Schiller-Gymnasiums betrachtete. Als der Lärm noch lauter wurde, rief er etwas hinunter, doch hörte man es nicht.

»Ingo Ikonda, der größte aller Rennfahrer! Wir wünschen Ihnen neue Erfolge! – Hoch – hoch – hoch!«

So schrie es durcheinander.

Hinter Ingo Ikonda stand Hedi Sandler. Jetzt trat sie etwas weiter vor, damit sie neben dem Rennfahrer am Fenster sichtbar wurde. Strahlender Stolz lag auf ihrem Gesicht. Sie zeigte den Briefumschlag, der das Autogramm enthielt. Der Jubel nahm auch kein Ende, als der Sportsmann das Fenster längst geschlossen hatte. Er wandte sich an Pucki.

»Nun habe ich Ihren Wunsch erfüllt, jetzt erfüllen Sie auch den meinen, und verlassen Sie mich möglichst bald.«

»Ich bin sehr glücklich – –«

»Auf Wiedersehen, kleines Fräulein.« Schon saß er wieder am Schreibtisch.

»Eigentlich wollte ich noch – –«

»Ich habe keine Zeit mehr.«

»Leben Sie wohl, Ingo Ikonda! Ich wünsche Ihnen große Erfolge. Bei jeder Fahrt sollen Sie den ersten Preis erringen. Wann reisen Sie ab? Darf ich Ihnen zum Abschied ein paar Blumen bringen?«

»Ich reise am Sonntag vormittag«, klang es zurück. »Wenn Sie um zehn Uhr herkommen, können Sie mich noch sehen.«

»Werden Sie mich empfangen?«

»Kommen Sie am Sonntag um zehn Uhr wieder.«

»Sonntag, Punkt zehn Uhr bin ich wieder hier. – Haben Sie Dank für diese Stunde, die mir unvergeßlich bleiben wird.« –

Als Pucki hinunter kam, sah sie im Hausflur einige der Klassenkameradinnen stehen. Die Straße war leer. Man hatte Studienrat Michaelis gesehen. Da war die begeisterte Menge auseinandergestoben. Niemand hatte daran gedacht, daß seine Wohnung dem »Deutschen Hause« gerade gegenüber lag. Er mußte alles gehört und gesehen haben. Das war recht peinlich! Morgen in der Klasse kam sicherlich ein Nachspiel.

»Hast du ein Autogramm erhalten?« wurde Pucki umringt.

»Ja!«

»Zeig her!«

Pucki schwang den Briefumschlag, der das kostbare Dokument enthielt.

»Mach rasch auf, wir wollen es lesen.«

Hedi Sandler stellte sich auf eine der Treppenstufen und öffnete den Umschlag. »Hört nun, was er mir geschrieben hat.«

Alle Anwesenden drängten noch dichter heran. Fred Aßmann stellte sich sogar neben Pucki auf die Treppenstufe und blickte in das Papier. Laut und dramatisch begann Pucki zu lesen:

»Sie gaben mir am heutigen Tag
Ihr Haar zum Angedenken.
Sie wollten Ihrem neuen Freund
Ganz was Besonderes schenken.
Ich hab' der Locken schon so viel,
Und zwar in solchen Massen,
Daß ich – –«

Jäh verstummte Pucki. Ihre eben noch strahlenden Augen verschleierten sich.

»So lies doch weiter«, drängte Carmen.

Puckis Lippen zitterten. Sie ließ die Hand, die das Blatt hielt, sinken.

»Du sollst weiterlesen«, drängten die anderen.

Fred Aßmann entriß Pucki das Blatt. Sie stand noch immer wie versteinert da.

»Ich hab' der Locken schon so viel,
Und zwar in solchen Massen,
Daß ich mit ihnen ganz bequem,
Kann Stühle polstern lassen.«

Einige Augenblicke herrschte Totenstille, dann rief einer der Obertertianer: »Das ist eine Gemeinheit!«

»Hast du ihm eine Locke geschenkt?« fragte Carmen leise.

Pucki nickte nur.

»Er hat dich wohl ausgelacht?«

»Komm, ich muß heimgehen«, sagte Pucki.

»Hier, nimm das Autogramm mit«, rief Fred Aßmann.

Pucki nahm es nicht, aber Carmen steckte es ein. Es war wenigstens seine Handschrift. Immerhin ein wertvolles Andenken, auch wenn der Inhalt frech erschien.

Geknickt kamen die Freundinnen daheim an. Carmen drang in die Freundin, sie solle genau erzählen, was Ikonda gesagt hätte, doch Pucki lehnte ab.

»Später, wenn ich ruhiger geworden bin.«

Diese Enttäuschung war nicht alles, was auf dieses Ereignis folgte. Am nächsten Morgen stellte sich der Direktor in der Sekunda und in der Obertertia ein. Es hatte sich in ganz Rotenburg herumgesprochen, welcher Lärm durch die beiden Klassen in der Marktstraße verursacht worden war. Studienrat Michaelis erstattete genauen Bericht. Der Direktor tadelte auf das strengste das Verhalten seiner Schüler.

»In eurem Alter«, schloß er seine Strafrede, »müßtet ihr wissen, wie weit ihr zu gehen habt. Ich bedaure sehr, daß das Schiller-Gymnasium mit der Obertertia so wenig Ehre einlegen kann. – Ganz besonders erstaunt bin ich über dich, Hedwig Sandler. – Ich glaube, du hast inzwischen eingesehen, daß du dich vor dir selbst schämen mußt.«

Pucki sagte kein Wort. Sie sagte auch nichts, als der ganzen Klasse vom Ordinarius eine Strafarbeit diktiert wurde, eine schwere Mathematikaufgabe, die am Nachmittag im Gymnasium gelöst werden sollte.

»Ich glaube, ich sage ihm doch noch meine Meinung«, brummte Pucki, als die Arbeit am Nachmittag niedergeschrieben war. »Ich fasse ihn am Sonntag vormittag ab.«

Am Freitag brachte Vera die Nachricht in die Klasse mit, daß der Rennfahrer Rotenburg bereits verlassen hätte. Diese Mitteilung wurde stumm entgegengenommen.

»Ich habe dir noch was Schreckliches zu sagen«, flüsterte Vera Pucki ins Ohr, »etwas Fürchterliches.«

»Ich bin auf alles gefaßt.«

»Im Müll liegt eine Locke, mit einem rosa Bändchen zusammengebunden. Das Stubenmädchen hat sie aus Nummer fünf ausgekehrt. – Ist es deine Locke –?«

»Vera – schweige!«

»Ich finde, es geht uns in letzter Zeit alles quer, Pucki!«

»Was wir auch anfangen, wir bekommen immer eins auf den Deckel. Du weißt noch nicht einmal alles, Carmen. Es ist so vieles geschehen. Ja ja – ich bin völlig geknickt.«


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