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5. Kapitel.
Herzeleid

Goldköpfchen kämpfte einen heroischen Kampf. Es erschien ihm ganz unmöglich, daß Harald einem anderen jungen Mädchen sein Wort gegeben hatte, daß er überhaupt einer schlechten Handlungsweise fähig sei. Der Brief besagte freilich gerade das Gegenteil. War es nicht das beste, den Verlobten selbst zu fragen? Oder jenes junge Mädchen? – Fräulein Pertis wußte sicherlich noch mehr. – Oder sollte sie Harald schweigend den Ring zurückgeben oder sich den Anschein geben, als sei gar nichts geschehen? Oder – oder – – Immer wieder dieselben Fragen, immer wieder neue, quälende Gedanken und keine Lösung. Bärbel lag auf dem Diwan in ihrem Zimmer, wälzte sich unruhig darauf herum und schloß rasch die Augen, wenn sie Schritte hörte. Sie konnte noch keine Fragen ertragen, sie fürchtete aber auch, daß die Großmama alles erraten könnte. Sie wollte sich fürs erste keinem Menschen anvertrauen. Es ging aber auch nicht, daß sie stundenlang die Schlafende spielte. Die Großmama würde sich sorgen, sie mußte also etwas vortäuschen.

Über Nacht kam ihr gewiß ein rettender Gedanke, und dann sollte die gute Großmama alles erfahren. Oder ob sie es ihr sogleich sagte? Die Großmama hatte immer Rat gewußt, sie würde auch in dieser Sache helfen. Aber das war doch ihre eigenste Herzensangelegenheit. Da war es wohl das Richtigste, zu schweigen.

Bärbel erhob sich. Sie stellte sich vor den Spiegel und lächelte sich zu.

»Ich muß ein freundliches Gesicht machen, denn die Großmama oder die Zwillinge ahnen sonst, wie es in meinem Innern aussieht. Dann stellen sie Fragen, und das darf nicht sein. Morgen werde ich klar sehen.«

Es war Bärbel ganz wirr im Kopfe. Die Kehle so trocken, in der Herzgegend stechende Schmerzen. Und dann das Sausen und Brausen in den Ohren, dazu eine Müdigkeit, die ihr alle Lebenslust, alle Freude nahm.

»Großmama, es ist eine elende Schuftigkeit von mir, wenn ich dich, die du immer so gut bist, betrüge. Glaube mir, Großmama, es wird mir verflixt sauer, aber es geht diesmal nicht anders. Später sage ich es dir, dann wirst du mir verzeihen. Großmama, ich kann jetzt nicht anders!«

Halblaut sprach das verhärmte Goldköpfchen diese Worte vor sich hin. Es war wohl doch am richtigsten, wenn sie von Harald, nur von Harald Aufklärung forderte. Vielleicht machte man sich nur einen Scherz mit ihr, vielleicht beneidete man sie um ihr Glück. Alles war Lüge, es gab doch so viele schlechte Menschen auf der Welt, und daß andere zwei Liebende oftmals auseinanderrissen, hatte Bärbel schon mehrfach in Romanen gelesen.

Sie griff nach diesem Rettungsanker.

»Ja, ja, tausendmal ja, – alles ist Lüge, – o, ich bin ein großer Esel, daß ich an diese schlimmen Dinge glaube. Nur weil Harald ein gar so lieber und schöner Mann ist, beneiden mich andere. Schwindel ist alles. Warum habe ich mich nur so furchtbar gegrämt?«

Aber so sehr sich Goldköpfchen auch bemühte, ihren eigenen Worten zu glauben, es gelang nicht. Der anonyme Brief wurde immer wieder hervorgezogen, und dann hatten sich die Worte von Anita, Edith und der Brief von Bruder Joachim tief in ihr Inneres eingehämmert.

Bärbel stand gerade vor dem Spiegel und strich sich die Locken glatt, als Frau Lindberg ins Zimmer trat.

»Gottlob, mein Bärbel, ich war ja so in Angst. – Liebes Kind, du siehst ja jämmerlich aus. – Was ist denn geschehen?«

Bärbel lachte rauh und häßlich auf; sie lachte mit weit aufgerissenem Munde, warf den Kopf in den Nacken, schüttelte den Kopf, daß die Locken wie goldene Schlangen um ihr Gesicht flogen.

»Verkatert, Großmama, – auch ist mir ein wenig Säure ins Gesicht gespritzt, oder – ach, was weiß ich! Plötzlich wurde mir so dumm, aber Schlaf macht alles wieder gut. Jetzt bin ich wieder wie ein Fisch im Wasser. Ja ja, Großmutter, ich habe den Nachmittag geschwänzt. – Mögen die anderen doch arbeiten, ich lebe, ich genieße, ich mache am hellen lichten Tage Feierabend. – So ist es. Punktum!«

Mit einem ernsten und traurigen Blick schaute Frau Lindberg ihre Enkelin an. Wie verändert Bärbel heute war! Noch niemals hatte ihr Goldköpfchen so mißfallen wie in diesem Augenblick. Diese häßliche Laune, die laute, schrille Sprechweise, kurzum, das war gar nicht das liebe, wahre Bärbel, das war eine ganz andere, eine Fremde. Was war wohl geschehen, was hatte Goldköpfchen so verändert?

»Ja, da guckst du nun, Großmutter! Sage mal, gibt es bald etwas zu essen?«

Im ersten Augenblick wollte Frau Lindberg die Enkelin zu sich niederziehen und mit sanfter, weicher Stimme fragen, was geschehen sei. Aber Bärbel kämmte immer heftiger das Haar und lachte dabei laut und unschön auf.

Frau Lindberg sagte begütigend:

»Wenn du ruhiger geworden bist, mein liebes Kind, kommst du wohl hinüber in mein Zimmer, – kommst zu deiner Großmama, wie einst.«

»Was soll ich denn da, Großmutter?«

Noch ein trauriger Blick auf die Enkelin, und schweigend ging Frau Lindberg hinaus. Bärbel aber drückte im gleichen Augenblick die Fäuste an den Mund, um die qualvollen Schreie ihres Innern zu ersticken.

»Großmama,« stöhnte sie, »ach, Großmama, du weißt ja nicht, wie furchtbar weh alles tut! – Ach, ich bin so erbärmlich schlecht!«

Trotzdem ging Bärbel nicht hinüber ins Zimmer der Großmama. Sie wartete, bis sie von Toni zum Abendessen gerufen wurde. Aber sie brachte es nicht fertig, so keck und lärmend zu sein wie vor einer Stunde. Sie saß still am Tisch und würgte das Essen herunter. Es war gut, daß Martin und Kuno gerade an diesem Nachmittage allerlei tolle Streiche in den Straßen Dresdens verübt hatten und lachend ihre Heldentaten erzählten. Da konnte Bärbel still bleiben, ohne daß es ihren Brüdern auffiel.

Nach dem Abendessen nahm sie ein Lehrbuch zur Hand.

»Ich möchte noch etwas lernen, ich gehe dann schlafen.«

»Ich wünsche dir gute Ruhe, Bärbel,« sagte die Großmama ernst, »mögest du einen ruhigen Schlummer haben, mein Kind!«

Wieder durchlief ein Zittern Bärbels Gestalt, und wieder war es ihr, als müsse sie die Arme um den Hals dieser guten, alten Frau schlingen; aber sie tat es auch jetzt nicht. Sie ging mit gesenktem Kopfe davon und schloß die Tür hinter sich ab.

Abermals bemächtigten sich des jungen Mädchens die fürchterlichsten Zweifel. Dazu kam noch, daß Bärbel über ihr Verhalten die bitterste Reue empfand. Warum hatte sie sich nicht der Großmama anvertraut? Bei ihr war alles in guten Händen.

»Morgen will ich es tun, morgen ganz gewiß, aber ich glaube, zuerst frage ich Harald.«

Der Morgen kam, Bärbel hatte eine unruhige Nacht hinter sich. Sie hatte bald geweint, bald trotzig die Lippen zusammengepreßt, Harald mit lieben Worten gerufen und doch wieder Zweifel in ihn gesetzt. Sie kam heute absichtlich später als gewöhnlich an den Frühstückstisch, schlang hastig den Morgenkaffee hinunter und verabschiedete sich nur flüchtig von der Großmutter. Sie bemühte sich, im Atelier aufmerksam zu sein, sie nahm sich allerlei Arbeiten vor, damit ihre Gedanken abgelenkt wurden. Es gelang nicht. Und plötzlich läutete das Telephon, man rief sie heran.

»Es ist wohl Ihr Bräutigam,« sagte Willi.

Bärbels Herzschlag setzte für eine Sekunde aus. – Was nun? Sie hatte sich gestern abend mit Harald treffen wollen. Was sollte sie ihm sagen? Sie wollte ihn fragen, aber sie war sich über ihren Plan noch nicht klar. – Wenn er doch schuldig war?

Zögernd nahm sie den Hörer zur Hand. Es war wirklich Harald.

»Wie schade, daß ich dich gestern abend nicht sah, Bärbel, ich habe vergeblich gewartet. Du hattest zu tun?«

»Ich – ich – ja – nein – ich – ich bin eher heimgegangen.«

Harald stutzte. So kannte er sein Bärbel nicht. Fräulein Pertis hatte ihm gestern gesagt, daß Goldköpfchen eine Verabredung habe. Er wurde fast unwillig über sich selbst. Sein Bärbel, seine geliebte Braut, und eine Verabredung mit einem anderen. – Lächerlich! Wenn wirklich etwas Ähnliches vorlag, handelte es sich um einen übermütigen Scherz, den ihm Bärbel bei nächster Gelegenheit erzählen würde.

So scherzte auch er.

»Nanu, Bärbelchen, du bist früher heimgegangen? Schau' doch 'mal an!«

»Ja – mir war nicht gut.«

Sofort wurde er ernst. Er wollte wissen, was ihr fehlte, er forschte immer besorgter, ob sie heute wieder ganz wohl sei und wie sich die gestrige Unpäßlichkeit gezeigt habe.

»Das erzähle ich dir am Sonntag, – ach ja, am Sonntag, dann kommst du doch?«

»Ich komme schon eher, mein Bärbel, ich will doch wissen, wie es dir geht. – Fühlst du dich auch wirklich wieder ganz wohl?«

»Ja ja – aber ich habe viel Arbeit. – Wenn du am Sonntag kommst, – ja – dann können wir alles bereden.«

Der junge Oberingenieur forschte weiter.

»Willst du mich nicht eher sehen, Bärbel? Darf ich nicht schon heute nach dir schauen?«

»Heute?« fragte sie beinahe erschreckt, »heute geht es nicht. Sei mir nicht böse – ich bin etwas erregt – und nun Schluß!«

Sie hatte den Hörer angehängt. Harald hielt ihn gedankenvoll noch ein Weilchen in der Hand. Was war seinem Bärbel zugestoßen? Er nahm sich vor, auf jeden Fall heute abend nach Dresden zu fahren, um Bärbel Auge in Auge zu fragen, was sich ereignet habe. War sie krank? Überarbeitet? Kein schlimmer Gedanke keimte in Haralds Herzen auf, er vertraute seiner geliebten Braut über alle Maßen.

Bärbel aber fühlte sich nur noch unglücklicher. Sie wußte, daß sie sich am Telephon äußerst töricht benommen hatte. Das Herz wurde ihr von Stunde zu Stunde schwerer, auf ihrem ohnehin schon blassen Gesicht vertiefte sich der Ausdruck des Kummers.

Fräulein Pertis streifte die Elevin mehrfach mit forschenden Blicken. Bärbel wich ihr nach Möglichkeit aus, sie fürchtete, sie könnte erneut von jenem Briefe anfangen, und Bärbel wollte davon nichts hören.

Je länger sie sich die Angelegenheit überdachte, um so klarer wurde es ihr, daß es nur einen Weg gab, der zum Ziele führte, das war eine offene Aussprache mit Harald. Er war ihr Verlobter. Sie hatte Harald immer als einen ehrenwerten Mann kennengelernt, ihm konnte sie vertrauen. Wenn er ihr sagte, daß er eine andere liebte, dann hatte das gewiß Gründe, daß er Bärbel trotzdem zum Weibe begehrte. Gute, ehrliche Gründe, denn ihr Harald war keiner Schlechtigkeit fähig.

»Ich bin noch jung, ich kenne die Welt mit ihren Tücken zu wenig. Das wird irgendeine komplizierte Sache sein, denn auch im Leben ereignen sich Romane. Ich will ihn fragen. Ja, ich will ihn fragen.«

Und immer wieder sagte Bärbel vor sich hin: »Ich werde ihn fragen, und zwar noch heute!«

Nachdem sie sich zu diesem Entschluß durchgerungen hatte, wurde sie etwas ruhiger. Trotzdem fiel Brausewetters das veränderte Aussehen ihrer Elevin auf. Freundlich fragten sie Bärbel, ob sie sich noch immer unwohl fühle, aber Bärbel verneinte.

Und dann dachte Goldköpfchen weiter und weiter. Wenn sie Harald zuerst fragen wollte, durfte die Großmama zunächst nichts von ihrem Plane wissen. Dann mußte sie heute nachmittag um fünf Uhr, wenn Harald sein Büro verließ, draußen in Heidenau sein und ihn erwarten. Ihr Dienst dauerte bis sechs Uhr. Sie würde sich zwei Stunden Urlaub erbitten, das würde man ihr sicherlich geben, zumal Frau Brausewetter gemeint hatte, wenn sich Bärbel heute noch schonen wolle, könne sie heimgehen.

Ja, um fünf Uhr in Heidenau und dann mit Harald sprechen, um sechs war dann alles wieder gut oder alles verloren.

Ob sie ihren Verlobten vorher anrief? Ob sie ihm sagte, daß sie ihn heute abholen komme? Nein, – ganz unvorbereitet sollte er sein. Ob er sich freuen würde, sie zu sehen? Oder ob er erschrak?

»Ich bin ein Affe,« sagte Bärbel, ärgerlich über sich selbst, »er hat doch nichts getan, um zu erschrecken. Harald ist der beste Mensch, den die Erde trägt. Aber ich bin albern und sehr dumm!«

Als sie des Mittags heimkam, verschwieg sie der Großmama ihren Plan. Noch immer bemerkte Frau Lindberg das erregte Wesen ihrer Enkelin, aber noch immer hatte Bärbel das Vertrauen zu ihr nicht zurückgewonnen. So mußte sich Frau Lindberg seufzend damit zufrieden geben, daß schließlich doch einmal die Stunde schlug, in der sie freiwillig von Bärbel aufgesucht wurde.

Am frühen Nachmittag brachte Bärbel bei Herrn Brausewetter ihr Anliegen vor.

»Nanu,« sagte er lächelnd, »Herr Münzinger hat mich soeben auch gebeten, heute um vier Uhr gehen zu dürfen. Da macht man wohl einen gemeinsamen Winterausflug?«

»Nein, o nein,« stammelte Bärbel mit niedergeschlagenen Augen, »ich habe etwas sehr Wichtiges zu erledigen.«

Er legte ihr väterlich die Hand auf die Schulter. »Ich will natürlich nicht forschen, Fräulein Wagner, ich weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann. Sie werden Ihren Eltern keinen Kummer bereiten. Und nun gehen Sie um vier Uhr, – ich wünsche Ihnen, daß diese wichtige Angelegenheit zu Ihrer Zufriedenheit ausgeht.«

»Ach, das wünsche ich mir auch,« sagte Bärbel mit einem Seufzer.

Natürlich erfuhr Fräulein Pertis, daß Herr Münzinger und auch Fräulein Wagner heute zwei Stunden Urlaub erhalten hatten. Sie schoß einen giftigen Blick auf Bärbel.

»Der Verlobte wird sich freuen!«

Bärbel, die nur daran dachte, daß sie Harald abholen wollte, sagte ahnungslos und treuherzig:

»Hoffentlich freut er sich.«

»Es ist ein Skandal,« zischte Fräulein Pertis zwischen den Zähnen hindurch, »mit ihren Goldhaaren verdreht sie den Männern den Kopf, spielt die Unschuldige und hat es dabei faustdick hinter den Ohren sitzen. Aber warte nur, bei der nächsten Gelegenheit erfährt es der Bräutigam. Ihm will ich die Augen öffnen.«

Auch der Kollege Münzinger bekam eine Bemerkung.

»Wohin wollen Sie denn mit dem kleinen Goldkäfer fahren? Sehen Sie nur zu, daß Sie dem Ingenieur Wendelin nicht begegnen, Sie könnten Unannehmlichkeiten haben.«

»Das glaube ich nicht,« erwiderte Herr Münzinger trocken.

»Zwei so ausgekochte Menschen,« murmelte Fräulein Pertis, »nun, mir soll es einerlei sein. Aber es ist fast unerträglich, mit solchen Menschen arbeiten zu müssen.« Herr Münzinger suchte Fräulein Wagner auf.

»Sie gehen auch früher heim?«

»Ja, ich habe etwas Wichtiges vor.«

»Ich auch. Fräulein Pertis platzt vor Neid, daß wir früher frei sind.«

»Wenn sie doch richtig platzen wollte,« erwiderte Bärbel, »sie ist gräßlich!«

Um vier Uhr packten beide ihre Arbeit ein, gemeinsam verließen sie das Atelier, gemeinsam auch das Haus. Die Empfangsdame stand oben am Fenster und ballte hinter beiden die Hände.

»Ich habe es ja gewußt, daß sie zusammen dem Vergnügen nachgehen. Ich begreife nicht, daß Herr Brausewetter so etwas duldet!«

An der nächsten Straßenecke trennte sich Bärbel von ihrem Begleiter.

»Drücken Sie den Daumen, ich gehe jetzt einen schweren Gang.«

Er lachte. »Das klingt ja ordentlich jämmerlich. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

»Nein, ach nein, ich muß mir allein helfen, aber ich denke, es wird alles wieder gut werden.«

Dann fuhr sie hinaus nach Heidenau. Den anonymen Brief hatte sie in der Handtasche und las ihn während der Fahrt mehrfach durch.

»Ich will gar nichts sagen, will ihm den Brief unter die Nase halten, dann mag er reden. Es stimmt schon, wenn die Leute sagen, daß die Brautzeit Leid und Freud bringt.«

Sie fragte sich nach der Fabrik zurecht, sie sah den riesigen Bau, und wieder verließ sie der Mut. In zehn Minuten würde Harald herauskommen; dann würde sich alles erklären. – Und wenn nicht? Bärbel stieß einen schmerzlichen Seufzer aus.

Sie wollte nicht direkt vor dem großen Fabriktor auf und ab gehen. Sie hielt sich ein wenig abseits, konnte aber trotzdem das hohe Tor sehen. Sie würde ihren geliebten Harald unter Hunderten sofort erkennen. Die Fabrik lag abseits von der Stadt, die Straße war heute ziemlich leer. Nur ein einziges junges Mädchen wandelte gleich Bärbel wartend auf und ab.

»Sie wartet auch auf jemand,« stellte Bärbel fest, »aber sie ist gewiß glücklicher als ich.«

Das junge Mädchen kam in Bärbels Nähe. Goldköpfchen schaute ihm ins Gesicht und stellte fest, daß jene andere ein reizendes, feines Gesichtchen hatte, auf dem helle Freude lag.

»Sie ist wohl noch sehr jung, – man sollte sich nicht so jung schon binden.«

Ein langgezogener Pfiff ertönte! – Feierabend!

Bärbel begann heftig zu zittern. Ob Harald böse sein würde, daß sie herausgekommen war?

Die ersten Arbeiter verließen das Fabrikgebäude. Immer mehr Männer und Frauen kamen hervor, langsam ebbte die Menge wieder ab. Das andere junge Mädchen stand dicht an dem großen Tor, während Bärbel sich scheu weiter zurückzog. Sie wollte nicht gleich gesehen werden.

Da kam er! – Er schritt neben einem anderen Herrn her, der angeregt auf ihn einsprach. Jetzt lachten sie. Bärbel stand hinter einem dicken Baum, ihr Herz pochte bis zum Halse hinauf. Und nun – – die beiden Herren verabschiedeten sich, einer ging links, Harald nach rechts. – Aber kaum hatte er wenige Schritte allein getan, als er das fremde junge Mädchen erblickte und freudig grüßend den Hut zog. – Da war die Fremde schon bei ihm und legte ihm beide Hände auf den Arm. Bärbel sah, wie sie ihn anschaute, so verzückt, so strahlend, und er gab diesen leuchtenden Blick zurück, nahm ihre Rechte zwischen seine Hände und schüttelte sie mehrfach, sprach lachend auf das junge Mädchen ein. Dann gingen sie gemeinsam weiter.

Bärbel stand wie gelähmt. Mit der Hand hielt sie sich an dem dicken Stamme des Baumes fest. Eine dunkle Wolke war für Sekunden vor ihren Augen, ein Bohren und Stechen in der Herzgegend. Goldköpfchen schöpfte nach Luft.

»Es ist also wahr!«

Das war alles, was die blassen Mädchenlippen hervorbringen konnten. Heiße, weitgeöffnete Augen starrten den beiden Davongehenden nach. Sie schritten dicht nebeneinander dahin, sie schienen die Blicke nicht voneinander reißen zu können.

Ihr Harald liebte eine andere, aber er gab sie auf, weil Bärbel Wagner ein Goldfisch war.

Noch immer stand sie regungslos an den Baum gelehnt. Langsam wurde das Fabriktor geschlossen, ein Mann in Uniform verriegelte die große Pforte. Totenstill war jetzt die Straße. Aber auch in Bärbels Brust war eine Öde, die ihr unsagbare Pein schuf.

»Es ist wahr!« Langsam streifte Bärbel den Handschuh von der linken Hand, ihre starren Augen richteten sich auf den goldenen Ring. »Warum hast du mir gesagt, daß du mich lieb hast? – Warum?«

Sie konnte nicht weinen. Es war alles tot und still in ihr, sie kam sich vor, als wäre sie in dieser Stunde gestorben.

»Warum hast du mir nicht gesagt, daß du eine andere noch lieber hast als mich?«

Wie lange Bärbel an dem Baume gestanden hatte, wußte sie nicht. Sie merkte nur, daß ihr die Füße wie Eis waren, der schneidende Wind tat ihr weh.

»Ich muß ja heim, muß zur Großmama gehen.«

Sie hätte am liebsten laut schreien mögen, aber sie bezwang sich.

»Ich habe doch meinen Beruf; man sagt, Arbeit tröstet. – Ich will nicht verzagen. – Aber warum hat er mir gesagt, daß er mich lieb hat?«

Bärbels Augen irrten über die leere Straße dahin.

»So still, so tot! – Warum hast du mir das angetan, Harald, – warum hast du mir nicht die Wahrheit gesagt?«

Bärbel riß sich gewaltsam zusammen.

»Ich bin ihm gewiß viel zu dumm, andere sind klüger und besser als ich. – Er tut ja recht, wenn er sich die Frau aussucht, die in allem zu ihm paßt. – Ach, warum warst du nicht ehrlich, Harald?«

Mit langsamen, schleppenden Schritten ging Bärbel davon. Sie ging denselben Weg, den Harald gegangen war – mit jener anderen. Und plötzlich strömte es heiß aus Bärbels Augen, und in jämmerlichem Schluchzen kam es über ihre Lippen.

»Nun ist alles aus!«

Sie mußte heim. Die Großmama würde sich ängstigen. Die Uhr zeigte bereits die achte Stunde an. Wie lange hatte sie denn vor der Fabrik gestanden? Was würde die gute Großmama von ihr denken?

»Großmama,« sagte sie leise und innig, »siehst du, jetzt komme ich zu dir, denn so allein kann ich das nicht aushalten. – Du hast weiche Hände, die allen Schmerz und alles Leid wegstreicheln können. – Hätte ich dir doch schon gestern alles erzählt. Ach, warum bin ich denn nach Heidenau hinausgefahren?«

So sprach das bekümmerte Goldköpfchen zu sich selbst.

Dann saß Bärbel in der Bahn, die müden Augen zu Boden geschlagen, immer nur das Bedürfnis in sich, den Kopf in den Schoß der Großmama zu legen, um sich dort dieses brennende Weh von der Seele zu weinen. – –

Als Harald Wendelin die Fabrik verließ und sich von seinem Kollegen verabschiedet hatte, erblickte er an der Eingangspforte Inge Dauter, die Tochter seiner Wirtin. Da lachte er übermütig auf, denn er wußte genau, aus welchem Grunde die Fünfzehnjährige heute hier erschienen war. Und richtig! Inge Dauter legte stürmisch beide Hände auf seinen Arm:

»Herr Wendelin – die Maschine ist gekommen, ich danke Ihnen, ach, Sie sind so gut zu uns! Die Mama freut sich furchtbar – Sie sind so gut, ach, so furchtbar gut!«

»Nicht so stürmisch, Inge, es freut mich, daß sich nun Ihrer Frau Mutter eine Gelegenheit bietet, einem Nebenverdienst nachzugehen.«

»Kommen Sie jetzt heim? Wollen Sie die Maschine sehen? – Ich mußte Sie abholen, denn ich hielt es vor Freude daheim nicht länger aus!«

»Ich kenne die Maschine, Inge, sie stammt ja aus meinem Büro. Heute habe ich leider keine Zeit, ich will nach Dresden hinein, zu meiner kleinen Braut.« »Aber morgen sehen Sie sich die Maschine an?«

»Natürlich mache ich das, und für die nötige Schreibmaschinenarbeit sorge ich auch. Ich habe bereits mit meinem Direktor gesprochen. Es gibt allerlei zu tun.«

»Ach, Sie sind immer so gut, so sehr gut!«

In der Nähe des kleinen Bahnhofes verabschiedete sich Harald Wendelin von Inge Dauter. Noch einmal mußte er den stürmischen Dank des jungen Mädchens über sich ergehen lassen. Aber er war selbst innerlich froh, daß ihm Gelegenheit gegeben war, ein wenig zu helfen. Er hatte bei Frau Dauter zwei Zimmer abgemietet und allmählich Näheres über das traurige Schicksal der Witwe erfahren. Frau Dauter hatte einstmals gute Tage gesehen, aber ihr Reichtum war durch die Inflation verlorengegangen, der Gatte hatte sich aus Verzweiflung darüber das Leben genommen. Nun schlug sich die Witwe kümmerlich durchs Leben, und Harald Wendelin hatte schon lange darüber nachgedacht, wie er ein wenig helfen könnte. Nun war es soweit. Er hatte in der Fabrik leihweise eine Schreibmaschine erbeten, und da Frau Dauter früher einmal Maschine geschrieben hatte, sollte sie jetzt durch häusliche Schreibarbeiten, die ihr die Fabrik geben wollte, einen Nebenverdienst bekommen. Am heutigen Tage war nun die Schreibmaschine nach der Wohnung gebracht worden, und Inge hatte dem Oberingenieur die frohe Kunde übermittelt.

Harald Wendelin hatte sich vorgenommen, am heutigen Tage seine Braut aus dem Atelier abzuholen. Er ahnte, daß irgendein Schatten zwischen ihnen stand, denn aus Bärbels zerstreuten und verlegenen Antworten glaubte er entnehmen zu müssen, daß sie sich ihm gegenüber nicht ganz frei fühlte. Da würde eine Aussprache rasch Klarheit bringen.

Es war sieben Uhr, wartend stand er unten am Ausgang des Hauses. Sein Bärbel mußte jeden Augenblick kommen. Aber statt ihrer erblickte er Fräulein Pertis, deren Vogelaugen sofort den wartenden Oberingenieur bemerkten.

Da bot sich ja eine prachtvolle Gelegenheit, ihm sogleich zu sagen, an was für ein unwürdiges junges Mädchen er sein Herz gehängt hatte.

»Ah, Herr Wendelin! Sie warten wohl auf Ihr Fräulein Braut?«

Harald zog die Stirn in Falten. Ihm war die Empfangsdame höchst unsympathisch. Er hatte längst bemerkt, daß Fräulein Pertis jede Gelegenheit suchte, um sich ihm zu nähern oder sogar mit ihm herzlichere Beziehungen anzuknüpfen. Er war ihr daher von vornherein höflich, aber äußerst kühl entgegengetreten. Am liebsten hätte er ihr gar nicht Rede und Antwort gestanden, doch aus Rücksicht für seine Braut blieb er auch heute stehen und begrüßte Fräulein Pertis.

»Jawohl, ich warte auf meine Braut.«

»Da können Sie lange warten, Herr Wendelin. Ihr Bärbel ist mit Herrn Münzinger schon seit drei Stunden fort.«

Eine leise Enttäuschung bemächtigte sich seiner, doch ließ er sich nichts anmerken.

»Ich danke Ihnen für Ihre Auskunft.«

Wieder zog er höflich den Hut und wollte sich entfernen. Aber Fräulein Pertis hielt ihn zurück.

»Ja, ja, die Kleine wird vergnügungssüchtig! Ich kann es ja verstehen – Herr Münzinger ist ein netter Herr, und Fräulein Bärbel auch recht lebenslustig. Wenn man den ganzen Tag zusammen arbeitet, spinnen sich schnell herzliche Fäden herüber und hinüber.«

»Es ist wohl nicht ganz korrekt, Ihre Vermutungen als Tatsache weiterzugeben.«

»Sind Sie noch immer so vertrauensselig, Herr Wendelin? Ich will natürlich nicht aus der Schule schwatzen – was geht es mich auch an! Vielleicht tun Sie gut daran, Fräulein Wagner einmal ein wenig auf den Zahn zu fühlen.«

»Das erübrigt sich durchaus, Fräulein Pertis, ich kenne meine Braut und würde es niemals dulden, daß man ihren Ruf antastet.«

Fräulein Pertis lachte spöttisch auf.

»Ich schätze es an Ihnen, Herr Wendelin, daß Sie Ihr Fräulein Braut auch gegen Ihre Überzeugung in Schutz nehmen.«

»Ich muß Sie dringend bitten,« sagte er und seine Stimme grollte, »meine Braut – –«

Die Empfangsdame ließ ihn nicht aussprechen. »Es dürfte Ihnen genügen, zu wissen, daß Ihr Fräulein Braut Verabredungen mit anderen Herren hat. Doch wer nicht hören will, muß fühlen. – Guten Abend.«

Dann tänzelte sie davon.

Das war ziemlich deutlich!

Harald Wendelin überlegte einige Augenblicke, ob er sie nochmals zur Rede stellen sollte. Aber es lohnte nicht. Ihm tat nur sein armes Bärbel leid, das solch eine verleumderische Kollegin hatte.

Er schritt weiter. Bärbel hatte sich heute Urlaub genommen? – Warum? Daß sie mit Herrn Münzinger einen Ausflug gemacht hatte, war Unsinn. Das hatte die giftige Zunge der Pertis ausgesprochen. Aber Frau Lindberg würde gewiß alles Nähere wissen.

Unverzüglich machte er sich auf den Weg, um die von ihm hochverehrte Frau aufzusuchen. Frau Lindberg öffnete ihm selbst und war sehr erstaunt, Bärbel nicht an seiner Seite zu sehen.

»Bringen Sie mir mein Bärbel denn nicht mit heim?«

»Ich habe vor dem Atelier gewartet, dort hörte ich, daß mein Goldköpfchen heute früher gegangen sei.«

»Bärbel ist noch nicht hier.«

Keiner von beiden wollte zuerst beginnen, daß Bärbel seit gestern so verändert war. Als aber eine volle Stunde verstrich, ohne daß Goldköpfchen erschien, fragte Frau Lindberg bange:

»Sagen Sie mir offen und ehrlich, Herr Wendelin, haben Sie etwas mit Bärbel gehabt? Vielleicht ein kleiner Streit oder eine Differenz?«

»Nein, gnädige Frau, nicht das geringste.«

»Bärbel ist seit gestern so sehr verändert, kaum zum Wiedererkennen.«

»Sie sagte mir heute früh am Telephon, sie sei gestern nicht ganz wohl gewesen.«

»Sie kam mittags niedergeschlagen heim, legte sich nieder, ich habe keine Erklärung für ihr eigentümliches Betragen finden können.«

Voller Sorgen schaute Harald die alte Dame an.

»Bitte, erzählen Sie mir alles, gnädige Frau. Auch mir erschien Bärbel heute am Telephon etwas verändert. – Und wo ist sie jetzt?«

»Ich habe vor Ihnen keine Geheimnisse, Herr Wendelin.«

Bis ins kleinste berichtete Frau Lindberg über Bärbel. Sie wiederholte sogar die zerfahrenen Äußerungen ihrer Enkelin und setzte bekümmert hinzu:

»Mir war es, als rede eine ganz andere als unser Goldköpfchen. Es erschien mir fast, als sei irgendein Reif auf die Seele meiner Enkelin gefallen.«

»Ich setzte natürlich keinen Zweifel in meine Braut. Trotzdem möchte ich Ihnen berichten, daß jenes Fräulein Pertis aus dem Atelier Brausewetter vorhin versuchte, Bärbel in häßlicher Weise zu verleumden.«

Und Wendelin erzählte nun, was er gehört hatte. Sorgenvoll saßen die beiden sich gegenüber, und keiner vermochte das Rätsel zu lösen.

»Wenn sie doch erst heimkäme,« sagte Wendelin, »Bärbel hat Vertrauen zu mir, sie wird mir alles sagen.«

»Bis gestern habe auch ich geglaubt, daß mein Goldköpfchen kein Geheimnis vor mir hätte. Ich habe mich getäuscht, Herr Wendelin.«

»Mir wird sie sagen, was in ihrem Innern vorgeht. Bärbel liebt mich, ich besitze diese reine, unberührte Mädchenseele. An Bärbel ist kein Falsch, ihre Augen sind wie der Spiegel eines Bergsees. Haben Sie keine Sorge, gnädige Frau, mir wird sie alles sagen. Und es wird nichts Schlimmes sein. Vielleicht ein kleiner Sturm, der durch ihr Inneres ging. Aber kein giftiger Wind. – O nein, dazu kenne ich mein Bärbel viel zu genau!«

Als Bärbel auch nach Verlauf der nächsten halben Stunde nicht heimkam, wurde Wendelin unruhig.

»So will ich nochmals nach dem Atelier gehen, will nachforschen, wo Herr Münzinger wohnt. Vielleicht weiß er, wohin Bärbel gegangen ist. Darf ich heute noch einmal wiederkommen, gnädige Frau?«

»Selbstverständlich, Herr Wendelin.«

Er griff nach Hut und Mantel und eilte davon. Wenn er auch Frau Lindberg gegenüber seine große Unruhe nicht gezeigt hatte, war doch namenlose Angst in ihm, daß seinem Bärbel etwas zugestoßen sein konnte.


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