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1. Kapitel.
Eine zweifelnde Mädchenseele

Barbara Wagner hatte alle Verbindungstüren in der Wohnung ihrer Großmutter weit geöffnet und lief wie ein Uhrwerk von einem Raum in den anderen. Dabei sprach sie laut vor sich hin. – Sie lernte. Mitunter hielt sie im Reden inne, kehrte wieder ins Eßzimmer zurück, wo auf dem Tische ein aufgeschlagenes Buch lag, schaute hinein und seufzte dann tief auf.

»Die Praxis ist gar nicht so schwer, das erlerne ich alles noch, aber die Theorie! – Wer hat nur die Theorie erfunden! – Da dachte ich nun, es ist in der Sekunda mit dem Lernen aus, – fort mit den Büchern, und nun muß ich sogar während der Berufsausbildung noch Theorie treiben. – Schrecklich!«

Ein Blick in das Buch, – Bärbel legte die Hände auf den Rücken, schritt durch das Wohnzimmer hinüber ins Schlafzimmer und sprach dabei wieder laut vor sich hin:

»Behandelt man das Papier mit einer Lösung von chromsaurem Kali und Kupfervitriol, so nimmt seine Empfindlichkeit bedeutend zu, so daß man transparente, farbige Bilder mit Leichtigkeit damit kopieren kann!«

»Fräulein Bärbel?« Es war das Hausmädchen, das soeben den Kopf durch die Zimmertür steckte.

Bärbel hielt in der Wanderung inne.

»Ich lerne, Toni, – aber wenn Sie eine Auskunft von mir haben wollen – –«

»Die gnädige Frau ist ausgegangen, ich weiß nicht, was für das Abendbrot vorgesehen ist.«

»Das ist ganz einerlei, Toni, – mengt man mehr oder weniger Chlorsilber bei, was die Entstehung eines angenehmen bräunlichen Farbentones begünstigt – –«

»Was meinten Sie, Fräulein Bärbel? Ich wollte doch nur wissen, ob ich etwas kaufen soll.«

Barbara Wagner drückte beide Hände in die goldige Lockenpracht.

»Eine Lösung von chromsaurem Kali und Kupfervitriol.«

»Was soll ich denn damit?«

»Toni, hören Sie doch 'mal zu, ob es so stimmt: es wird Salzpapier auf Silberlösung sensibiliert – –«

»Aber, Fräulein Bärbel, wir verstehen uns ja gar nicht, ich will doch hören, ob ich noch etwas zum Abendbrot besorgen soll? Heute ist Sonntag, und die Läden werden nachher geschlossen.«

Bärbel ließ die Arme sinken.

»Ach so,« sagte sie gedehnt, »wissen Sie, Toni, meine Gedanken waren bei der Photographie. – Das ist nämlich nicht so einfach, wie Sie es sich vorstellen. Sie denken, man knipst, und das Bild ist fertig. Drei volle Jahre braucht man zum Auslernen, aber zwei Jahre und drei Monate sind nun schon herum. – Bald habe ich ausgelernt, Toni, dann eröffne ich in Dillstadt ein Atelier. Sie müssen auch hinkommen.«

»Vielleicht besorge ich etwas Leberwurst und Käse.«

Bärbel seufzte tief auf. »Wenn Sie sich immer nur mit materiellen Dingen befassen, Toni, aber freilich – essen muß man ja auch, und wenn die Großmama heute abend wieder heimkommt, darf sie nicht verhungern. – Also, Toni, was kaufen wir?«

»Der Kaufmann hat gerade frische Rollmöpse.«

Bärbel lachte übermütig. »Rollmops, Dr. Rollmops! – Ach, Toni, das sind längst verklungene Erinnerungen. – Aber wie wäre es heute mit etwas Hummermayonnaise? – Das sind auch Erinnerungen.«

»Das ist zu teuer, Fräulein Bärbel.«

»Ich esse sie für mein Leben gern, und die Großmama wird sich freuen, wenn wir ihr etwas Besonderes kaufen.«

»Schinken tut es auch, Fräulein Bärbel.«

»Wie kann man nur so geizig sein, Toni, Sie hören doch, was ich für schwere Sachen lernen muß. – Wollen Sie 'mal das Buch ansehen? Fabelhaft! Da muß ich Öle und Fette zu mir nehmen, um die Gedanken zu schmieren. Hummermayonnaise wäre gerade das Geeignete.«

»Nein, Fräulein Bärbel, das wäre der gnädigen Frau nicht recht.«

»Aber, Toni, passen Sie doch 'mal auf, was ich alles noch wissen muß. – Bei dem Staubverfahren mischt man chromsaures Salz mit Gummilösung und Traubenzucker und läßt diese Lösung auf Glas eintrocknen. Sie haben das viel einfacher. Bei Ihrem Staubverfahren nehmen Sie den Staubsauger, – aber ich, na, Toni, Sie werden staunen!«

»Ich sehe schon, Fräulein Bärbel, daß ich mir selbst helfen muß. Lernen Sie nur ruhig weiter, ich gehe inzwischen einkaufen.«

Wieder wanderte das junge Mädchen durch die Zimmer. Daß Bärbel sogar den Sonntag zum Lernen verwenden mußte, war schrecklich. Aber in der Woche blieb ihr wenig Zeit dazu.

Über zwei Jahre lernte sie nun schon im photographischen Atelier des Herrn Brausewetter in Dresden die Kunst des Photographierens. Im dritten, letzten Jahre, hatte sie noch einige fachmännische Kurse belegen müssen, die Bärbel gewissenhaft besuchte. Doch die Theorie wurde ihr schwer, obwohl sie sich bei Herrn Brausewetter sehr geschickt anstellte.

»Zwei Jahre und drei volle Monate habe ich nun schon hinter mir; ich hätte doch niemals gedacht, daß die Zeit so schnell vergeht!«

Bärbels Gedanken schweiften vom Lehrbuche ab, hinein in die Vergangenheit. In dem kleinen Städtchen Dillstadt hatte sie als Tochter des Apothekenbesitzers Wagner eine glückliche Kindheit verlebt. Joachim, der ältere Bruder, war seit längerer Zeit als Ingenieur angestellt, die jetzt fünfzehnjährigen Zwillingsbrüder Kuno und Martin besuchten das Gymnasium in der Nähe von Dillstadt, Bärbel war zur Großmama gekommen, und wenn sie auch manchmal vom Heimweh gepackt wurde, fühlte sie sich doch bei der gütigen Dame außerordentlich wohl. Es kam hinzu, daß sie in Dresden verschiedene liebe Bekannte hatte, vor allen Dingen Edith Scheffel, mit der sie gemeinsam auf das Gymnasium gegangen war und die zu Ostern ihre Abiturientenprüfung ablegen wollte. Dann war noch Anita Schleifer, eine Schulkameradin aus Dillstadt; einst sehr reich, war Anita heute verarmt und in Stellung gegangen.

Während sich aber Bärbel, die auch heute noch Goldköpfchen hieß, in ihrem Beruf sehr wohlfühlte, war Anita trotz allem freundlichen Zuspruch mißmutig und mit ihrem Lose unzufrieden. So stimmten denn die beiden jungen Mädchen innerlich wenig zusammen, und wenn Frau Lindberg Anita Schleifer einlud, um dem jungen Mädchen eine kleine Abwechslung zu schaffen, hörte man von seiten Anitas nur Klagen und Murren.

Aber da war noch einer, zu dem sich Goldköpfchen über alle Maßen hingezogen fühlte: Harald Wendelin, der als Ingenieur in der Nähe von Dresden in einem großen Elektrizitätswerk in Stellung war. Dieser außerordentlich tüchtige Mann war ein Schulfreund von Bärbels älterem Bruder. Er hatte seine Ferien des öfteren in Dillstadt verbracht. Wenn auch anfangs Bärbel Wagner den fleißigen Studenten nicht recht leiden konnte, hatte doch allmählich ein herzliches Gefühl für ihn Platz gegriffen, und Goldköpfchen sah heute in Harald Wendelin den treuesten und besten Freund. Sie ahnte es nicht, daß sich im Herzen des jungen Ingenieurs längst ganz andere Wünsche regten, sie behielt ihm gegenüber ihre harmlose Offenherzigkeit bei und hatte immer wieder erklärt, daß sie niemals heiraten werde, weil sie ihren Beruf liebe und einstmals in Dillstadt ein photographisches Atelier eröffnen wolle.

Zu Oktober des kommenden Jahres war die Lehrzeit beendet. Wenn Bärbel daran dachte, fühlte sie sich überaus glücklich. Sie hatte die hochfliegendsten Pläne und war während der letzten Ferien alltäglich durch das kleine Dillstadt gewandert, um ein Haus ausfindig zu machen, in dem sie ein künstlerisches Atelier eröffnen könnte. Anfangs hatte Bärbel den Vater bestürmt, er möge die Apotheke aufstocken, aber Herr Wagner hatte sich den Wünschen seiner Tochter energisch widersetzt und gemeint, es würde sich woanders ein passender Platz finden, um das Atelier zu eröffnen.

Kurz vor ihrer Abreise hatte sie alle Familienmitglieder und die Angestellten des Vaters gebeten, Augen und Ohren offenzuhalten, falls sie etwas Geeignetes hörten. Auch bei den ihr bekannten Geschäftsinhabern hatte sie gefragt und war schließlich zu dem Herausgeber der kleinen Dillstädter Zeitung gegangen, um auch ihn zu bitten, ein wenig zu hören, ob nicht irgendjemand seine Dachwohnung zum Atelier ausbauen wolle.

In Dresden kannte sie kein größeres Vergnügen, als mit der Großmama allerlei Möbelgeschäfte zu besichtigen. Bald wählte Bärbel dieses, bald jenes Zimmer aus, bis es schließlich Frau Lindberg peinlich wurde, die Geschäftsleute immer wieder aufzusuchen, denn Bärbel machte jedem Hoffnung auf ein großes Geschäft. Noch schlimmer aber war es, wenn sie von dem photographischen Apparat sprach, den sie sich kaufen würde. Es sollte eine Kamera sein, die den modernsten Anforderungen genügte; dauernd ließ sich Bärbel Prospekte und Kataloge von einschlägigen Firmen kommen, sie korrespondierte sogar, ohne sich natürlich jemals schlüssig zu werden.

Für heute war Bärbel bis zum Abend allein. Frau Lindberg hatte die Enkelin zwar gern mitnehmen wollen, sie war nach Schandau gefahren, um dort ihre verheiratete Tochter Agnes aufzusuchen. Obwohl sich Bärbel mit den Verwandten sehr gut stand, hatte sie abgelehnt, zumal sich Edith und Anita für heute nachmittag angesagt hatten. Der Besuch ließ sich nicht verschieben, denn im allgemeinen ließ Frau Lindberg ihre Enkelin nicht gern mit Anita allein zusammen. Da aber Edith als dritte anwesend war und Weihnachten in bedenkliche Nähe rückte, würde dieses Zusammensein ganz harmonisch verlaufen. Sicherlich machten die drei ihre Weihnachtshandarbeiten, und da war es Bärbel vielleicht ganz lieb, wenn die Großmama fehlte.

Den ganzen Vormittag über lernte Bärbel fleißig, aber Schlag zwölf klappte sie das Buch zu.

»Nun ist es für heute genug, ich bin schon ganz verdreht!«

Nachdem sie das Mittagessen eingenommen hatte, ging Bärbel an die Vorbereitungen, um den Kaffeetisch für die beiden Freundinnen herzurichten. Die gute Großmama hatte für reichlich Kuchen und Schlagsahne gesorgt, von Harald Wendelin befand sich noch ein großer Kasten Konfekt im Vorrat, so war alles vorhanden, was sie brauchte.

Bärbel schlug sich mit der Hand vor die Stirn.

»Bin ich ein Affe! – Der Harald hätte doch dabei sein können! Schade, daß ich daran gar nicht gedacht habe. Ich hätte ihn gestern telephonisch anrufen können. Heute erreiche ich ihn nicht. – Schade – schade – schade!«

Prüfend betrachtete Bärbel den gedeckten Kaffeetisch. Sie war mit ihrer Arbeit zufrieden. Nun konnten die beiden jungen Mädchen kommen. Auf Edith freute sich Bärbel herzlich, Anita würde gewiß wieder klagen und jammern, denn sie war stets voller Unzufriedenheit.

Kaum eine halbe Stunde später saßen die drei jungen Mädchen am Kaffeetisch. Edith und Bärbel hatten beständig etwas zu lachen, Anita Schleifer saß mit finsterem Gesicht dabei.

»Ich will euch das Neueste erzählen,« begann Edith, »ihr dürft es aber keinem Menschen weitersagen. Ihr müßt es mir schwören!«

»Ich schwöre,« sagte Bärbel dumpf und hob die Hand, in der sich gerade ein großes Kuchenstück befand, in die Höhe.

»Ich verlobe mich zu Weihnachten.«

»Dunnerkiel!« rief Bärbel, »dann bist du die erste von uns allen! Menschenkind, hast du ein Glück! Schluß mit der Schule, keine Angst vor dem Examen, denn du gehst doch am letzten Dezember 'raus aus der Schule?«

»Das Abiturium soll ich doch machen, meint der Vater.«

»Will er dich nur mit Abiturium?«

»Nein, aber die Eltern meinen, wenn ich schon so weit gelernt habe, soll ein richtiger Abschluß vorhanden sein.«

»Das ist eigentlich richtig,« meinte Bärbel, »es könnte immer sein, daß ihr euch zu Ostern wieder entlobt und – –«

»Aber, Bärbel, wo denkst du hin – wir lieben uns rasend, wir können gar nicht mehr voneinander lassen. Noch niemals haben sich zwei Menschen so geliebt wie wir. Ach, wenn du wüßtest, was er mir für süße Namen gibt! – Es ist wundervoll, ich kann gar nicht genug hören. – Ich wünschte dir auch, daß du solch ein Glück fändest.«

»Hat er schon vor dir gekniet?«

»Nein, aber er hat gesagt, daß er mich am liebsten anbeten würde. Anbeten – auffressen – ewig küssen – auf Händen tragen – na, ich kann es euch gar nicht sagen. Er ist einfach reizend, und ich bin wahnsinnig in ihn verliebt.«

»Wie heißt er denn?«

»Ich nenne ihn Just.«

»Und sein Familienname?«

»Er ist Prokurist in dem großen Geschäft von Damm & Co. Ein bildschöner Mann. – Ach, Bärbel, er liebt mich – er liebt mich – ich bin grenzenlos glücklich!«

»Nun, wie heißt er denn?« drängte Bärbel.

»Seht 'mal, der Name ist freilich nicht hübsch, aber mein Name ist auch nicht hübsch und ein Name übrigens nur Schall und Rauch. – Der Name tut hier wirklich nichts zur Sache.«

Bärbel lachte übermütig auf. »Ich kann mir schon denken, was er für einen scheußlichen Namen hat. Vielleicht heißt er Rutschbauch oder Himmelhund oder, wie der Krämer an der Ecke: Zwiebelfisch. – Nun sag' schnell, wie er heißt.«

»Rindermark,« sagte Edith leise.

Wieder lachte Goldköpfchen lustig auf. »Also Just Rindermark und Edith Scheffel Verlobte. – Du, ich lach' mich tot, wenn ich eure Verlobungsanzeige lese!«

Edith war ein wenig ärgerlich und sagte:

»Aber er ist ein sehr netter Herr. – Meinst du vielleicht, daß Harald Wendelin hübscher ist?«

»O doch,« rief Bärbel voller Überzeugung, »Harald Wendelin klingt wundervoll!«

»Aber Barbara Wendelin geborene Wagner klingt gar nicht.«

Bärbel schaute Edith verdutzt an. »Ich verlobe mich ja auch nicht mit ihm, ich verlobe mich doch überhaupt nicht. Ich bekomme mein Atelier.«

»Na,« meinte Edith, indem sie den Kopf auf die Seite legte, »ich glaube doch, daß du auch bald Braut bist. Er liebt dich doch sehr, ich habe schon lange beobachtet, wie er dich ansieht.«

Ein feines Rot stieg Bärbel ins Gesicht.

»Da hast du dich aber gründlich versehen, Edith, Harald ist mein Freund, weiter nichts!«

Anita Schleifer, die sich bisher schweigend verhalten hatte, ließ ein kurzes, spöttisches Lachen hören.

Hastig wandte sich Bärbel ihr zu.

»Was willst du denn?«

»Natürlich verlobt er sich mit dir – ich weiß es schon lange.«

»Wenn ich selbst nichts weiß, könnt ihr gar nichts wissen,« brauste Bärbel auf, »der Harald denkt nicht daran.«

»Mir kannst du nichts vorreden,« erwiderte Anita, »Edith ist wenigstens ehrlich und sagt, was sie auf dem Herzen hat, du aber bist solch eine Heimliche.«

»Ich bin gar keine Heimliche, Anita, ich erkläre euch, daß Harald Wendelin gar nicht daran denkt, sich mit mir zu verloben.«

Anita zuckte die Achseln. »Es wird ihm nichts anderes übrigbleiben. Ich weiß doch, daß er schon ganz früher immer zu euch ins Haus kam. Ihr habt ihn doch nur aus Barmherzigkeit während der Ferien bei euch aufgenommen.«

»Weil er keine Eltern hatte, und weil er Joachims Freund war, aber nicht aus Barmherzigkeit!«

»Das ist einerlei, ein Mann, der so viel von einer fremden Familie annimmt, hat die Verpflichtung, sich zu revanchieren. Daß er dich einmal heiraten würde, ist längst zwischen ihm und deinen Eltern ausgemacht worden.«

Bärbel sprang so heftig auf, daß der Kaffeetisch in Gefahr kam, umzustürzen.

»Gar nichts ist ausgemacht,« rief sie mit flammenden Augen, »ich heirate überhaupt nicht. Wenn er zu uns kam, hatten wir ihn eingeladen.«

»Mir kannst du nichts vorreden, Bärbel,« erwiderte Anita altklug, »ich war auch schon verlobt, meine Eltern hatten den Bräutigam auch für mich bestimmt. Auch mein Verlobter hatte zahlreiche Wohltaten von meinem Vater empfangen. Da mußte er sich doch schließlich mit mir verloben. – Natürlich hat er mich sitzen lassen, als wir unseren Reichtum verloren. Das ist ja bei dir nicht zu befürchten, dein Vater hat eine gutgehende Apotheke, Herr Wendelin wäre ja dumm, wenn er sich diesen Goldfisch nicht angelte.«

Goldköpfchen fuhr erregt auf.

»Ich bin kein Goldfisch, und der Harald angelt nicht nach mir. – Nun höre endlich auf mit deinen dummen Reden!«

»Aber, Bärbel,« beschwichtigte Edith, »du hast mir doch selbst gesagt, daß du Harald Wendelin sehr gern hast. Dann hast du dich doch im Atelier von Brausewetter selbst 'mal seine Braut genannt. Ich fände es reizend, wenn wir uns beide zu Weihnachten verlobten.«

»Ich will aber nicht!«

Bärbel stampfte heftig mit dem Fuße auf. »Daß meine Eltern nichts mit ihm abgemacht haben, kann ich dir schriftlich geben. Ich werde sie fragen. Du willst mich nur kränken!«

»Dann hat es eben dein Bruder Joachim mit ihm abgemacht. Oft genug werden die beiden ja von dir gesprochen haben.«

»Joachim hat auch nichts abgemacht, und außerdem lasse ich mich nicht verheiraten.«

»Ich begreife dich nicht – Herr Wendelin ist doch eine gute Partie, ein angenehmer und ansehnlicher Herr, der auch sein gutes Auskommen hat. Viele junge Mädchen wären glücklich, ihn zum Lebensgefährten zu bekommen, und du stellst dich an, als ob ich dir eine Beleidigung zugefügt hätte. – Aber wir brauchen ja nicht weiter von dieser Sache zu reden, wenn es dich kränkt.«

Bärbel blitzte Anita mit ihren großen Augen an.

»Es ist auch das beste, wir schweigen davon, ich fühle mich in meinem Beruf sehr glücklich, damit basta!«

Durch die gereizte Unterhaltung wollte heute eine rechte, frohe Stimmung nicht mehr aufkommen. So verabschiedeten sich die beiden jungen Mädchen früher als sonst. Als Edith Bärbel die Hand reichte, sagte Goldköpfchen leise:

»Du konntest noch einen Augenblick bleiben, aber die Anita soll gehen.«

»Ich komme ein anderes Mal zu dir,« sagte Edith, »heute abend ist Just bei uns. Aber ich wünsche dir, daß du einmal genau so glücklich wirst wie ich.«

Sie drückte Bärbel zum Abschied die Hand.

»Ich weiß schon, wie ich glücklich werden soll,« erwiderte Goldköpfchen. Dann geleitete sie die beiden Freundinnen hinaus und schlug ziemlich heftig die Tür hinter ihnen zu.

Eine finstere Falte stand auf Goldköpfchens Stirn, als es ins Wohnzimmer zurückkehrte und sich anschickte, alles wieder fortzuräumen.

Das junge Mädchen sprach dabei vor sich hin:

»Wenn sie wüßten, daß das Konfekt, das sie gegessen haben, vom Harald kommt, hätten sie mich sicher mit ihm verlobt. Sie sind ja alle beide verrückt! Der Harald und ich – Verlobte! Nee, so ein Quatsch!«

Nachdenklich ließ sich Goldköpfchen auf einem Stuhl nieder. Was hatte er ihr einstmals gesagt? Ich habe Sie sehr lieb, Bärbel, und sie hatte ihm später gesagt: Wir beide gehören zusammen. Das Wort hatte in beiden noch lange nachgeklungen. Wie würde es sein, wenn sie in Dillstadt ihr eigenes Atelier hatte? Dann konnte Harald nicht mehr so oft zu ihr kommen. Man würde sich nur in seinen Ferien sehen. Er würde ihr dann sehr fehlen. Sie hatte dann keinen, dem sie sich rückhaltlos anvertrauen konnte. – Gewiß, die Eltern waren dann wieder da, aber mit Harald war es doch ganz anders.

»Er ist eben mein Freund, nur mein Freund!« Bärbel sagte es laut vor sich hin. Dann ging sie hinüber in ihr kleines Zimmerchen, stellte sich vor ihr Bett und betrachtete das Bild des jungen Ingenieurs lange. »Ob der Just Rindermark genau so hübsch ist wie du? Ach nein – aber er kann sehr schön reden. Es muß doch sehr glücklich machen, wenn man von Männerlippen hört, daß man angebetet und vor Liebe aufgefressen wird. – Ob der Harald auch solch schöne Worte sagen kann?«

Sie nahm das Bild von der Wand.

»Wir wollen einmal annehmen, er machte mir einen Heiratsantrag. Na, Junge – – was würdest du dann sagen? – – Wenn mir einer 'mal einen Heiratsantrag machte, müßte es in einem Zimmer sein, und niemand dürfte zugegen sein. Dann müßte er – – ja, er müßte – – er müßte eigentlich wie Don Carlos vor der Königin niedersinken: – Ein Augenblick gelebt im Paradiese, wird nicht zu teuer mit dem Tod gebüßt. – Dann würde ich ihm sagen: So steh' doch auf, du kniest dir ja die Hosen durch, und er müßte antworten: Genau wie Carlos: Hier will ich knien, an diesem Platz will ich verzaubert liegen – – ach, es müßte sehr schön sein.«

Dann ging Bärbel hinüber ins Wohnzimmer, öffnete den Bücherschrank, entnahm ihm den Schiller-Band mit »Don Carlos«, griff dann zu Shakespeares »Romeo und Julia« und las beide Liebesszenen laut. Mit einem tiefen Seufzer klappte sie endlich die Bücher wieder zu. Das war das klassische Altertum, die Zeit, in der die Romantik blühte.

»Wenn jetzt ein Mann um mich werben würde, er würde sagen: Wieviel verdienen Sie als Photographin? – Gut, das langt, dann können wir uns heiraten!«

Schrecklich! – Ach nein, sie heiratete lieber nie!

Warum bildeten sich nur Edith und Anita ein, daß Harald ihr einen Antrag machen werde? Weil er die Ferien daheim verlebt hatte? Oder fühlte er sich doch durch ihre Äußerung im Atelier Brausewetter veranlaßt, sie zu rehabilitieren? Sie hatte in einer unvorsichtigen Stunde zu den Angestellten im Atelier gesagt, daß sie Harald Wendelins Braut sei. Sie hatte diese Äußerung schon mehrfach bereut.

Seufzend hing Bärbel das Bild des Freundes wieder an die Wand.

»Wir beide denken nicht daran – meinst du das nicht auch, Harald? Du bist mir viel zu lieb, als daß ich dich heiraten würde. Wir beide haben uns auch zum Fressen gern, aber – – ich habe doch meinen Beruf. Anita meint, es würden viele froh sein, wenn sie dich bekämen. – Du wirst doch keine andere nehmen? – Wir beide bleiben ledig, wir gehören doch zusammen. – Ach, das ist ja alles Unsinn, ich will überhaupt nicht mehr an den Harald denken. – Ach, wenn doch endlich die Großmama wieder heimkäme!«

Gegen sieben Uhr kehrte Frau Lindberg aus Schandau zurück. Sie sah sogleich die Wolke auf Bärbels Stirn und fragte, ob der heutige Nachmittag schön verlaufen sei.

»Es ist nichts, wenn du fort bist, liebe Großmama.«

»War es denn nicht nett mit deinen einstigen Schulgefährtinnen?«

»Großmama – willst du mir 'mal erzählen, wie das mit deiner Verlobung war? Aber, bitte, ganz ehrlich. – Wo hast du denn den Herrn Lindberg kennengelernt, und was hat er dir gesagt, als er um dich warb?«

Frau Lindberg stutzte. Dann fragte sie:

»War Herr Wendelin heute bei dir?«

Bärbel riß die Augen weit auf. »Großmama – warum denkst du an Herrn Wendelin, wenn ich von deiner einstigen Verlobung spreche?«

»Es war nur eine Frage, mein Kind.«

Und ganz plötzlich fing Bärbel an zu weinen.

Erschreckt legte Frau Lindberg ihre Arme um die Enkelin.

»Goldköpfchen, mein geliebtes Goldköpfchen, ja, was ist denn los?«

»Ist es vielleicht doch ein Komplott, Großmama?«

»Ich verstehe dich heute nicht, Bärbel. So sage mir doch, was dir fehlt?«

Bärbel trocknete hastig die Tränen.

»Ich bin dumm, Großmama, aber weißt du, wenn sie alle auf mich einstürmen, wenn sie mir alle etwas einreden wollen – – es ist schon wieder gut, Großmama, und jetzt wollen wir von alledem nicht mehr reden. Heute nicht, ich erzähle dir das ein andermal. Und du brauchst mir auch nicht zu sagen, wie es mit deiner Verlobung war. Ich habe doch meinen Beruf, Großmama, jawohl, ich habe meinen Beruf. – Der Harald Wendelin war nicht hier, nur Edith und die scheußliche Anita. – – Aber nun erzähle mir von Schandau, und, bitte, bitte, frage mich nicht weiter!«

Während Frau Lindberg von den Verwandten berichtete, schaute sie immer wieder forschend auf ihre Enkelin. Wohl war Bärbel immer ein lebhaftes junges Mädchen gewesen, aber so unruhig und erregt hatte Frau Lindberg ihre Enkelin selten gesehen. Sie überlegte lange, was sich während ihrer Abwesenheit ereignet haben könnte, vermochte aber das Rätsel nicht zu lösen. Es würde aber bald der Tag kommen, an dem ihr Goldköpfchen sein Herz öffnete. So beschloß sie, nicht weiter zu fragen, auch nicht zu forschen, was Bärbel heute so sehr verstört hatte.

Der Abend kam, Bärbel nahm nochmals das Lehrbuch zur Hand.

»Ich will noch den Absatz über die Farbenphotographie lesen, Großmama, es ist das Beste, man lernt bis an sein Lebensende und kümmert sich um nichts anderes. Hast du in Schandau denn Möbelgeschäfte ausfindig gemacht?«

»Die Läden sind am Sonntag geschlossen, mein Kind. Mit deiner Ateliereinrichtung hat es ja noch viel Zeit.«

»Hast recht, Großmama – ach, das Leben birgt doch allerlei Tücken.«

Dann versenkte sich Bärbel wieder in das photographische Lehrbuch, bis Frau Lindberg daran mahnte, schlafen zu gehen.

»Es ist gut, Großmama, daß mir der Kopf im Augenblick von Pigment-, Druckverfahren, Dreifarbendruck, Blauprozessen und Diapositiven brummt, dann haben keine anderen Gedanken mehr Platz.«

»Sind denn diese anderen Gedanken so drückend?«

»Ich muß das alles erst in mir verarbeiten, Großmama.«

»Und dann hoffe ich, daß du zu mir kommst und mir dein Herz ausschüttest, mein Kind. – Vielleicht kann die Großmama doch ein wenig helfen.«

»Ach, ich glaube, mir kann niemand helfen, ich muß nur recht bald mein Atelier haben, damit ich der Anita Schleifer etwas beweisen kann –.«

»Was willst du ihr denn beweisen?«

»Daß der Beruf das einzig Richtige im Leben ist.«

Dann drückte Goldköpfchen der Großmutter einen herzlichen Kuß auf die Lippen und verschwand in seinem Stübchen.

Aber im Bett fand es heute nicht die übliche Ruhe. Ediths und Anitas Worte hatten vieles aufgewühlt, und immer wieder trat das Bild des Freundes vor Goldköpfchens Seele. Wenn sich Edith schon zu Weihnachten verlobte, würde das vielleicht auch eines Tages mit Harald Wendelin geschehen. Er würde sich ein Mädchen erwählen, das ihm besonders gut gefiel – würde es heiraten, eine eigene Wohnung haben, und dann wäre Goldköpfchen vergessen. Harald würde gewiß sehr glücklich mit seiner Frau leben. Und je länger Bärbel diesen Gedankengang verfolgte, um so deutlicher sah sie das Familienleben Wendelins vor Augen. Da knüllte Bärbel das Kopfkissen zusammen.

»Du hast doch auch einen Beruf, Harald – warum willst du denn heiraten?«

Sie merkte, daß ihr die Augen plötzlich feucht wurden, und wischte die Tropfen hastig fort. Aber immer wieder sah sie Harald Wendelin, der an der Hand ein junges Mädchen führte.

»Wenn er mich vergißt, es wäre schrecklich!« Nochmals schluchzte Bärbel auf; dann kam der Schlaf sehr bald zu seinem Recht.


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