Johannes Trojan
Das Wustrower Königsschiessen und andere Humoresken
Johannes Trojan

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Kritik des Noahskastens.

Wie irrationell und zweckwidrig die Erziehung unserer Kinder geleitet wird, dafür liefert den schlagendsten Beweis das Spielzeug, das wir immer noch sorglos und ohne Nachdenken unseren Kleinen unter dem Weihnachtsbaum aufbauen und in die Hände geben. Unter all diesem Spielzeug aber, welches den Kindern falsche Vorstellungen von der Erscheinungswelt beizubringen geeignet ist, muss als das thörichteste und verfehlteste der sogenannte Noahskasten betrachtet werden. Geht man von der richtigen Ansicht aus, dass das Kind sich spielend belehren soll, 196 so muss man geradezu ausser sich vor Schreck gerathen, wenn man darauf hin den Noahskasten ansieht und wahrnimmt, wie derselbe im Einzelnen sowohl wie im Ganzen diesem Zweck entgegenwirkt. Wer einigermassen mit der Zeit fortgeschritten ist und ein Herz für die Aufklärung der Jugend hat, wird sich nicht verhehlen können, dass wir es hier mit einem der verderblichsten und verwerflichsten Spielzeuge zu thun haben.

Schon das Aeussere des Noahskastens macht nicht den Eindruck eines Fahrzeuges, welches bestimmt ist, auf dem Wasser zu schwimmen. Wie war dieses Fahrzeug fähig, sich auf dem Wasser zu bewegen, wenn es weder ein Steuerruder noch eine Spur von Takelage besass? Als blosser Kasten war die Arche gleich einem Schiff, das die Masten gekappt und das Ruder verloren hat, hilflos den Elementen preisgegeben und im höchsten 197 Grade der Gefahr des Scheiterns ausgesetzt. Einfaches Nachdenken aber führt, da der Gebrauch der Rad- und Schraubendampfer in so alte Zeit nicht zurückreicht, unvermeidlich zu der Annahme, dass die Arche entweder als Bark oder als Schooner getakelt gewesen ist, und ein Steuerruder besessen hat, welches wahrscheinlich von Japhet bedient wurde.

Werfen wir einen Blick in das Innere der Arche, so fällt uns zunächst die gänzlich verfehlte Auffassung der bekanntlich aus acht Personen bestehenden Familie Noah auf. Von Vater Noah und seiner Frau wollen wir nichts sagen, obwohl wir sie uns durchaus anders vorstellen, als sie im Noahskasten zu finden sind; die drei verheiratheten Söhne aber, Sem, Ham und Japhet sind die Stammväter dreier sich wesentlich von einander unterscheidender Völkerrassen, der Semiten, der Japhetiten oder Indogermanen und der 198 Hamiten oder Negervölker, und man erwartet mit Recht, dass sie in ihrer Körperbildung bereits etwas wenigstens von den Eigenthümlichkeiten aufweisen, welche als Merkmale der Hauptmenschenrassen angesehen werden. Aber nichts von dem findet sich bei den Figuren des gemeinen Noahskastens. Das Kind, wenn es zu Schädelmessungen schreitet, muss zu dem Resultat kommen, dass Ham, Sem und Japhet durchaus gleichartige, und zwar vollkommen kugelrunde Köpfe besassen, ebenso wie ihr Vater Noah und die vier Frauen, welche mit in der Arche waren. Ueberhaupt ist die Auffassung der menschlichen Figuren im Noahskasten eine in so hohem Grade stilisirte, dass dem Kinde durch das Anschauen dieser Figuren vollständig falsche Begriffe vom Bau des menschlichen Körpers beigebracht werden müssen. Nothgedrungen z. B. muss es zu der Meinung kommen, dass diejenigen 199 Menschen wenigstens, die zur Zeit der Sündfluth lebten, weder Nasen noch Füsse besassen, was denn doch, wie die Untersuchungen neuerer Forscher beweisen, der Wahrheit nicht entspricht.

Nun aber zur Hauptsache! Wie verhält es sich mit der im Noahskasten sich vorfindenden Thierwelt? Ueberaus kläglich! lautet die Antwort. Sogar in den Noahskästen der grössten und theuersten Art finden wir nicht im entferntesten eine Sammlung von Thieren beisammen, welche im Stande wäre, dem Kinde ein einigermassen richtiges Bild vom Ganzen des Thierreiches, mit Berücksichtigung der systematischen Eintheilung desselben, zu entrollen. Schon die so höchst wichtige Ordnung der Vierhänder fehlt vollständig; weder Affen noch Halbaffen hat der käufliche Noahskasten aufzuweisen. Ebenso glänzt die Ordnung der Flügelhänder oder Fledermäuse mit allen ihren 200 drei Familien, der Pelzflatterer, der Fruchtfresser und der Insektenfresser durch vollständige Abwesenheit. Sowohl der Flatter-Maki als der fliegende Hund und der gemeine Vampyr wird dem armen Kinde, dem der vielleicht selbst in der Naturgeschichte des Thierreichs völlig unwissende Vater einen Noahskasten beschert, ohne Weiteres unterschlagen.

Die Ordnung der Raubthiere ist wenigstens durch einige Arten vertreten. Gewöhnlich findet sich der Bär, die Katze, der Löwe, der Tiger, der Fuchs, der Wolf und die Hyäne vor. Dass es daneben noch einen Ozelot, einen Irbis, einen Sundapanther, eine Mbaracaya, einen Caracal, einen Schakal, einen Maikong und einen Aguarachay giebt, erfährt das bedauernswerthe Kind nicht aus seinem Noahskasten. Was derselbe an Nagethieren enthält, kann gleichfalls ein nur sehr dürftiges Bild von dem 201 Artenreichthum dieser Ordnung geben. Gänzlich wiederum fehlen die Edentaten. Sowohl nach dem Faulthier, wie nach dem Schnabelthier und dem so höchst interessanten und wichtigen eierlegenden Ameisenigel sehen wir uns umsonst um. Die Hufsäugethiere sind verhältnissmässig etwas besser vertreten als die andern Ordnungen, übrigens auch nur in völlig unzureichender Weise.

Von Vögeln, deren sämmtliche Arten bekanntlich die Arche Noahs enthielt, wird im gebräuchlichen Noahskasten eine wahrhaft lächerlich kleine Auswahl geboten. Das Kind muss auf den Gedanken kommen, die ganze Vogelwelt bestände aus Raben, Tauben, Hühnern, Kanarien-Vögeln und einigen bunten Vogelarten unbestimmter Art. Weder die Bekassine noch der Lämmergeier, weder der Steissfuss noch der majestätische Condor begegnet ihm im Noahskasten.

202 Auf dem Gebiet der Reptilien herrscht fast vollständige Oede. Hunderte von Noahskästen haben wir durchsucht, ohne auch nur – es klingt unglaublich – eine einzige Schlange zu finden. Dass vom Chamäleon und vom Basilisken erst recht keine Rede ist, erscheint danach nicht mehr wunderbar. Auf einen Wasserfrosch und eine Feuerkröte sind wir einmal gestossen – das war aber auch alles.

Auf Fische darf selbstverständlich im Noahskasten nicht gerechnet werden, weil diese sich durch die Sündfluth schlugen, ohne dass für sie besonders zu sorgen nöthig war. Was aber die Insecten, die Spinnen, die Krustenthiere und die Würmer betrifft, so sollte man erwarten, doch wenigstens einige Hauptrepräsentanten dieser wichtigen Klassen im Noahskasten vorzufinden. Und was findet man? Einen einzigen Käfer, anscheinend zu der Gattung Coccinella gehörend. Gut, dass das 203 Kind wenigstens den Floh, die Wanze und die Schwabe in den meisten Häusern an lebenden Exemplaren kennen lernen und studiren kann.

Aber nicht allein die Mangelhaftigkeit und Dürftigkeit der in ihm befindlichen Thierwelt ist es, was den Noahskasten ungeeignet als Lehrmittel für die Jugend macht, sondern als weiterer erschwerender Umstand kommen noch hinzu die falschen Grössenverhältnisse der einzelnen Thiere zu einander und zur Familie Noah. Man stelle nur einmal Vater Noah oder auch Sem oder Frau Ham, dazu den Elephanten, die Giraffe, das Meerschweinchen, das Lamm, den Löwen, die Taube, die Kuh, den Fuchs und den Käfer neben einander auf, und es wird sofort in die Augen springen, dass die Grössenverhältnisse vollkommen falsch gegriffen sind. Das Kind aber nimmt, wie es in seiner vertrauensvollen Unschuld nicht anders 204 kann, diese Verhältnisse als die richtigen, prägt sie sich tief ein und wird sie für sein ganzes Leben nicht wieder los. Wird nun aus einem solchen Kinde später ein Maler oder Bildhauer und malt oder haut dieser einen Daniel in der Löwengrube, eine Venus, von Tauben umflattert, eine Hirtin mit Lämmchen, eine Kuh mit Taube oder einen Elephanten mit Käfer, so ist es natürlich, dass er in Bezug auf Grössenverhältnisse sich nach dem richtet, was der Noahskasten ihn gelehrt hat, und in Folge dessen Bilder liefert, welche von der Kritik mit Recht als lächerlich bezeichnet werden. Dass auch in Folge der durch den Noahskasten gewonnenen Anschauung bei Malern sehr leicht ein Vergreifen in der Farbe stattfinden kann, wollen wir nur beiläufig erwähnen.

Also fort mit dem Noahskasten! Ueberhaupt, wenn man das Kind mit dem Thierreich bekannt machen will, so liegt 205 es doch nahe, dass man ihm die vorsündfluthlichen Thiere vorführt, ehe es die nachsündfluthlichen kennen lernt. Man gebe ihm also zunächst gute plastische Nachbildungen des Mammuths, des Mastodons, des Plesiosaurus, des Ichthyosaurus, des Pterodaktylus und des Iguanodons in die Hände, um es dann allmählich mit dem Torfschwein, der Torfkuh und dem Höhlenbären in die jüngste Schöpfungsperiode hinüberzuleiten.

Oder – was vielleicht noch besser ist – man beginne, indem man das Kind in die Naturgeschichte des Thierreichs einführt, mit den niedrigsten Organismen und lasse auf den Urschleim oder das Protoplasma zunächst die Infusorien folgen. Hiermit wird der grosse Nutzen verbunden sein, dass sich das Kind bereits in seinem ersten, spätestens zweiten Jahre mit der Handhabung des Mikroskops bekannt macht und in nicht langer Zeit dahin 206 gelangt, die für es bestimmten Nahrungsmittel selbständig einer wissenschaftlichen Prüfung zu unterwerfen. Nur auf diesem Wege werden gediegene Forscher herangebildet werden. Ein Kind, das selbst die Milch seiner Amme in Bezug darauf, ob sie ihm auch dienlich ist, chemisch und spectralanalytisch untersucht, ist für uns das unerreichte Ideal der Zukunft. Hoffentlich kommen wir noch einmal so weit.

 


 


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