Johannes Trojan
Das Wustrower Königsschiessen und andere Humoresken
Johannes Trojan

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Der Silvesterabend.

Die Jugend hatte Blei gegossen, Wallnussschalen mit kleinen Wachslichten darin auf Waschschüsseln schwimmen lassen und sonst noch allerhand Versuche angestellt, durch die man die Zukunft am Silvesterabend, und nur an diesem, bis auf einige unbedeutende Kleinigkeiten ziemlich sicher erforschen kann. Dann hatte man gegessen und dann sass man im Kreise vertrauter Seelen gemüthlich beisammen bei der üblichen Bowle. Verschiedene Geschichten waren erzählt worden, vornehmlich unheimliche, wie sie für diesen Abend, an dem bis Mitternacht 92 alle bösen Mächte los sind, sich besonders eignen. Als aber eine Pause entstand, weil im Augenblick niemand mehr etwas Grauliches einfiel, nahm der Doctor, welcher der Hausherr und Gastgeber war, das Wort und sagte: »Jetzt möchte ich auch etwas erzählen. Es ist eine sehr einfache Geschichte, obgleich auch in sie, wie ich wenigstens glaube, etwas Unheimliches hineinspielt. Und sie passt hierher, weil sie an einem Silvestertage ihren vorläufigen Abschluss gefunden hat. Sind alle damit einverstanden, so beginne ich.«

Da niemand etwas einzuwenden hatte, hob er sogleich an:

»Es ist wohl anderen auch schon so ergangen, dass sie eine Zeit lang überall mit einem Menschen zusammentrafen, den sie nicht leiden konnten. Es braucht nicht ein Mensch zu sein, mit dem man in Feindschaft lebt oder von dem man etwas Schlimmes weiss, nein, gewöhnlich ist es 93 einer, den man weiter gar nicht kennt, von dem man nicht weiss, wie er heisst, noch was er ist, noch welches Leumundes er geniesst; aber seine äussere Erscheinung und sein ganzes Auftreten und Behaben ist einem unsympathisch. Durch einen solchen Patron habe ich vor Jahren einmal sehr gelitten und kann ein Lied davon singen.

Es ist lange Zeit her, ich war damals noch Junggesell. Als solcher pflegte ich meine Abende in Bierlokalen zuzubringen, an denen unsere Residenz schon zu jener Zeit nicht arm war, wenn auch das ›Echte‹ erst selten verzapft wurde und stilvolle Kneipen noch nicht bekannt waren. Ich ging also Abends zu Biere, und ich bitte, dass mir niemand nachträglich daraus einen Vorwurf mache. Was soll so ein Einzelwesen, so ein armes Wurm, das nicht Kind nicht Kegel, nicht Hund nicht Vogel, nicht einmal einen Gummibaum 94 hat, wohl anfangen am Abend, wenn das Tagewerk vollbracht ist? Zu Hause bleiben und studiren? Das ist leicht gesagt, aber so leicht nicht gethan. Kaum sitzt man eine Stunde bei der Arbeit, so kommt – ich weiss nicht, ob hinter dem Ofen hervor oder durch das Schlüsselloch der Thür herein oder aus dem Schrank heraus ein Etwas, das die Flamme der Lampe niedriger schraubt und sich bemüht, einem das Buch vor der Nase zuzuschlagen. Eine Zeit lang sieht man das mit an, endlich aber verliert man die Geduld, greift zu Hut und Stock und eilt hinaus, zunächst mit der Absicht, glaube ich, unter Menschen zu kommen. Ich hatte aber damals wenig Bekannte und kam mit diesen nur selten zusammen. Fast immer sass ich Abends allein bei meinem Glase.

Eines Tages fiel mir in dem Lokal, wo ich gewöhnlich verkehrte, ein Mensch auf, der, wie mir schien, mich beobachtete. 95 Das wiederholte sich an drei oder vier Abenden, und das Individuum fing an, mir unangenehm zu werden. Ich wechselte das Lokal. Umsonst! Wer mir zuerst am nächsten Abende in die Augen fiel, war der fatale Mensch. Ich wählte wieder einen anderen Ort zur Ablöschung meines Durstes, aber auch dort erreichte mich mein Verfolger. Am ersten Abende bemerkte ich ihn nicht und wähnte schon, ihm glücklich für immer entronnen zu sein. Am zweiten Abende aber, als ich nichtsahnend bei dem zweiten Glase sass, gewahrte ich ihn plötzlich. Er sass ziemlich fern von mir und etwas versteckt in einer Ecke, wo er schon gesessen haben mochte, als ich kam, und seitdem mich belauert haben, ohne dass ich etwas davon wusste. Jetzt aber fasste auch ich den sauberen Patron scharf ins Auge. Es war ein kräftiger breitschultriger Mann etwa meines Alters. Er trug einen Backen- und 96 Schnurrbart, hatte etwas tiefliegende Augen, eine Nase, die in seinem Reisepass, wenn ihm je ein solcher ausgestellt war, als ›gewöhnlich‹ verzeichnet gestanden hätte, und ein rundes Gesicht von gesunder Farbe. Den Ausdruck seines Gesichtes hätte ein oberflächlicher Beobachter leicht wohlwollend genannt, ich aber hatte längst herausgefunden, dass unter dieser leichten Decke von Wohlwollen Verschlagenheit in beträchtlicher Menge sich verbarg. Seine Kleidung hatte nichts Auffallendes an sich. Einen Schirm führte er nicht.

So ungefähr sah der Mann aus, der für lange Zeit mir zu einer grossen Plage wurde. Denn wohin ich auch mein Standquartier verlegte, überall begegnete ich ihm wieder. Weiss der Himmel, wie er es immer herausbekam, wohin ich ging. Ein böser Dämon muss es ihm wohl verrathen und ihm den Weg gezeigt haben – wenn er nicht selber ein böser Dämon 97 war. Uebrigens nicht am Abend allein kam er mir in den Weg, sondern nicht selten auch am Tage. Besuchte ich eine öffentliche Sammlung, so konnte ich mit ziemlicher Sicherheit darauf rechnen, ihn dort anzutreffen. Machte ich am Sonntag einmal einen Ausflug in die Umgebung der Stadt, so konnte ich vorher darauf schwören, dass seine verhasste Gestalt irgendwo vor mir zwischen den Bäumen auftauchen oder um eine Ecke biegen werde. Als ich einmal mit der Bahn nach einem Orte fuhr, wohin niemand sonst fährt, weil dort absolut nichts zu holen ist, sass er richtig auch mit im Zuge. Ich bin überzeugt, wenn ich nach Amerika gereist wäre und hätte mich der neuen Welt genähert, so würde ich schon mit dem Fernrohr ihn unter den am Strande auf das Schiff wartenden Personen herauserkannt haben. Was Wunder, dass ich manchmal auf den Gedanken kam, er sei 98 in Wirklichkeit gar nicht vorhanden, sondern bestehe nur in meiner Einbildung, und ich thäte gut daran, mich auf dem kürzesten Wege zu einem Arzt für Kopfkranke und Gemüthsleidende zu begeben. Aber er war wirklich vorhanden.

Was mich so sehr an diesem Unhold verdross, war dieses, dass ich immer seine Blicke auf mich gerichtet fühlte. Was in aller Welt hatte er an mir zu sehen? Wenn wir in einem Local, ein paar Tische weit von einander sitzend, einander den Rücken zukehrten, hatte ich immer die Empfindung, als sähe er nach mir hin. Und richtig, als ich mich einmal umdrehte, gewahrte ich, dass er sich auch umgedreht hatte und wirklich nach mir hinübersah. Das war mir so unangenehm, dass ich ihm seitdem nicht mehr den Rücken zukehrte, sondern mich stets so setzte, dass ich ihn im Auge behalten und beobachten konnte. Aber auch so 99 fuhr ich nicht sehr viel besser, denn ihn immerzu anzusehen, war gerade kein Vergnügen. So nahm ich denn eine Zeitung vor und vertiefte mich in den Inhalt derselben oder gab mir doch den Anschein, als ob ich es thäte. Dasselbe pflegte er dann auch zu thun, als hätten wir es miteinander verabredet, uns gleichzeitig in das Meer der Politik zu stürzen. Das war wieder für mich eine sehr peinliche Sache, denn erstens interessirte mich damals sehr wenig, was in den Zeitungen stand, zweitens beunruhigte mich in den Fällen, von denen ich rede, beständig der Gedanke, mein Plagegeist sei gar nicht mit Lesen beschäftigt, sondern luge über den Rand des Blattes nach mir hinüber. Das quälte mich so sehr, dass ich endlich nicht anders konnte: ich musste über den Rand meiner Zeitung hinweg nach ihm ausspähen. Wie ich mir gedacht hatte, verhielt es sich: unsere Augen 100 begegneten einander. Mit Ingrimm wandte ich mich dann ab, und offenbar war es auch ihm nicht angenehm, dass ich ihn auf dem Spioniren ertappt hatte.

Einmal nahm ich mir vor, ihn auszudauern, damit ich doch ein Stündchen noch in Ruhe und Frieden beim guten Bier zubringen könnte. Aber da hatte ich die Rechnung ohne den Wirth gemacht. Er hielt immer gleichen Schritt mit mir, und so oft ich mir ein neues Glas bestellte, liess er sich auch eins kommen. Nachdem ich schon zwei Stunden über meine gewohnte Zeit geblieben und eine Reihe von Seideln über mein gewohntes Mass gezecht hatte, verlor ich die Geduld, bezahlte und brach auf. Als ich mir den Hut aufsetzte rief er auch den Kellner an, um zu bezahlen. In stiller Wuth ging ich fort. Ich will jetzt gestehen, was mich an diesem Abend ganz besonders wurmte: es war dies, dass ich bemerkte, 101 mein Widersacher konnte viel vertragen, eben so viel wie ich, vielleicht sogar mehr noch. Welch ein Mittel gab es jetzt noch, mir ihn vom Halse zu schaffen? War es im Guten und auf dem Wege rechtlichen Vorgehens überhaupt noch möglich?

Häufig beschäftigte ich mich mit dem Nachdenken über seine persönlichen Verhältnisse. Dass er unverheirathet war, nahm ich mit Bestimmtheit an. Er konnte doch sonst nicht jeden Abend, den Gott werden liess, im Wirthshaus liegen. Aber was war er seines Zeichens? Am liebsten hätte ich ihn für einen Kornwucherer erklärt, aber, um ehrlich zu sein, musste ich mir doch sagen, dass er nicht danach aussah. Auch ein Winkeladvocat, ein Pfandscheinbeleiher oder ein Quacksalber konnte er seinem Aussehen nach nicht sein, so leid mir das that. Für einen kleinen Beamten oder Schullehrer sah er zu wohlgenährt aus und lebte zu gut. 102 Er ass häufig ein Beefsteak oder ein mit geräuchertem Lachs belegtes Brötchen. Einmal liess er sich auch Kaviar geben. Er rauchte auch und zwar, wie ich einmal im Vorübergehen wahrnahm, recht gute Cigarren. Ein Assessor war er auch nicht, denn Assessoren sieht man nie einzeln irgendwo sitzen. Was also war er? Nachdem ich lange darüber nachgedacht hatte, rächte ich mich an ihm dadurch, dass ich beschloss, ihn für einen Stümper von Maler oder für einen Dichter ohne die geringste Begabung zu halten. Er trug allerdings weder Sammetjacke noch langes Haar, aber Ausnahmen in Bezug auf diese Dinge kommen ja bei den Künstlern auch vor. Seine gute Ernährung begründete ich dadurch, dass ich mir für ihn eine alte wohlhabende Tante construirte, welche selbst geistig in hohem Grade beschränkt, sein ödes Streben durch reichliche Geldunterstützung förderte. 103 Warum soll es nicht solche Tanten geben?

Ich litt unsäglich. Der greuliche Bursche hätte mich fast zu einem ausserordentlich soliden Menschen gemacht, denn manchmal war ich nahe daran, das abendliche Ausgehen ganz aufzugeben. Auch nahm ich mir mehrere Male vor, die Hauptstadt zu verlassen, so sehr es auch für meine Carriere von Wichtigkeit war, dass ich hier blieb. Dann aber sagte ich mir, wenn ich auch nach dem fernsten Hinterpommern oder nach dem abgelegensten Oberschlesien oder nach der unentdecktesten Südseeinsel ginge, in kurzer Zeit würde das Ungeheuer, das mir hier den Aufenthalt verleidete, doch wieder in meiner Nähe sein. So ging es ungefähr ein Jahr hindurch, da kam es glücklicher Weise zur Katastrophe.

Es war am Silvesterabend, und als das Jahr zusammengeschrumpft war bis 104 auf drei Stunden etwa, dachte ich bei mir nach, was mit dem Rest noch anzufangen wäre. Soviel stand fest: meinem Feinde durfte ich an diesem Abend auf keinen Fall begegnen; ich würde sonst – daran zweifelte ich nicht – das ganze folgende Jahr hindurch Unglück haben. Aber wie ihm entgehen? Mir fiel etwas ein: ich wollte mich einmal in den hohen Norden der Stadt begeben. Immer im Westen waren wir auf einander gestossen, dort oben in den höheren Breiten konnte ich hoffen, nicht von ihm aufgespürt zu werden.

Es war aber sehr kalt draussen und dazu ein scharfer Wind und ein Schneegestöber, dass man die Augen nicht offen halten konnte. Deshalb nahm ich mir die nächste Droschke, deren ich habhaft werden konnte, und gab ihrem Führer eine Strassenecke hoch im Norden der Stadt als Ziel an. Diese Ecke hatte ich 105 mir herausgesucht auf dem Plan, sie gehörte einer Stadtgegend an, in die ich noch nie gekommen war. So fuhr ich denn los in recht hoffnungsvoller Stimmung. Die Wagenfenster waren dicht von Eisblumen überrankt, von der Aussenwelt konnte ich nichts sehen, ich sass drinnen in einer gemüthlichen Einsamkeit. Nur dumpfes Geräusch drang von aussen zu mir und das Knirschen der Räder auf dem hartgefrorenen Boden, und ich merkte, dass wir nur langsam vorwärts kamen. Auf einmal, nachdem wir meiner Meinung nach schon sehr lange gefahren waren, gab es einen Krach und einen Klatsch, und das Gefährt stand stille. Der arme Gaul ist gefallen, sagte ich mir und stieg aus. Ich hatte richtig vermuthet: das kümmerliche Thier lag am Boden und machte keinen Versuch, sich wieder zu erheben. Obgleich der Kutscher sich der 106 Hoffnung hingab, es durch energisches Zureden in kurzer Zeit wieder auf die Beine zu bringen, beschloss ich doch, nicht darauf zu warten, sondern lohnte ihn ab und stand nun auf der Strasse da im Winde und Schneegestöber. Die Gegend war mir ganz unbekannt, aber von dem Hause her, vor welchem das Pferd sich hingelegt hatte, winkte eine rothe Laterne. Hier will ich einkehren, sagte ich zu mir. Das Schicksal hat mich hierher verschlagen, und ich vertraue ihm. Diese Gegend hier erscheint mir sehr sicher. Gedacht, gethan!

Es war ein kleines Bierlokal, in das ich eintrat, und, wie am Silvesterabend nicht anders zu erwarten, war es erfüllt von Gästen, sodass ich nur mit Mühe noch einen Platz fand. Da sass ich nun und war seelenvergnügt. Es ergetzte mich, die kleinen Bürgersleute, die das Lokal füllten, in ihrer lustigen und immer lustiger 107 werdenden Silvesterstimmung zu beobachten, und ausserdem glaubte ich meinem Verfolger einen Streich gespielt zu haben. So brachte ich ein Stündchen in der angenehmsten Laune zu, da plötzlich – es war bald nach zehn Uhr – öffnete sich die Thür und eintrat in stark verschneiten Zustande der unausstehliche Mensch, dem ich entflohen zu sein glaubte. Er sah sich forschend um, er sah auch mich, und fast schien es so, als wollte er wieder umkehren. Da trat der Kellner auf ihn zu und sagte, indem er dorthin wies, wo ich sass: ›Bitte dort ist noch ein Platz frei.‹ Er hatte Recht, neben mir stand ein Stuhl, über den jemand seinen Ueberrock und Hut gelegt hatte. Diese Sachen nahm der Kellner fort und wies dann aufs Neue auf den nun ledigen Platz hin. Eine Weile schien mein Feind sich zu bedenken, dann zog er seinen Ueberzieher aus, gab ihn nebst dem Hute 108 dem Kellner zum Aufhängen und nahm Platz unmittelbar neben mir. Die Situation war schrecklich. Dicht neben mir sass der Mensch, der mir das Leben verbitterte. Sollte ich aufstehen und fortgehen? Nein, ich wollte ihm trotzen. Ich liess mir ein Glas Grog kommen, er bestellte sich auch eins. Ich trank mein Glas aus und bestellte das zweite.

›Mir auch!‹ sagte, als ich es forderte, mein schrecklicher Nachbar zum Kellner. Nein, so widerwärtig wie in dieser vorletzten Stunde des Jahres war er mir noch nie gewesen. Ich fühlte es, ehe es zwölf schlug, musste es zu einer Auseinandersetzung kommen, und diese würde ausserordentlich unangenehmer Art sein. Eine Zeitung konnte ich nicht bekommen, ich zog mein Notizbuch hervor und blätterte darin, als wollte ich etwas nachsehen. Mein Nachbar pfiff leise vor sich hin ; ich kann nicht sagen wie frivol dieses Pfeifen 109 mir vorkam. Es kochte in mir, und es kam mir so vor, als ob es auch in meinem Nachbar innerlich arbeitete. Schon legte ich mir eine in sehr scharfen Ausdrücken gehaltene Erklärung an ihn zurecht, als er plötzlich näher an mich heranrückte und in merkwürdig ruhigem Tone zu mir sagte: ›Sollten wir nicht vielleicht ganz gut zu einander passen?‹

Welche Frechheit! ›Woraus schliessen Sie das?‹ entgegnete ich ihm mit kaum verhaltenem Zorne.

›Ich meinte nur so,‹ sagte er. ›So wie es jetzt zwischen uns ist, können wir es ja doch beide nicht lange mehr ertragen.‹

Er hatte Recht. Ich empfand sofort, dass er das erlösende Wort gesprochen hatte. ›Gut denn!‹ sagte ich – ›versuchen wir's mit einander!‹ Ich hielt ihm mein Glas hin und wir stiessen an. Nun war es, als ob ein Bann, der bis dahin 110 auf uns Beiden gelegen hatte, gelöst wäre. Von dem Augenblicke an, da wir angestossen hatten, verkehrten wir mit einander wie alte Bekannte.

›Aber‹ – sagte ich, nachdem wir schon viele wichtige Dinge mit einander besprochen hatten – ›das müssen Sie mir doch sagen, wie Sie heute Abend hierher gekommen sind.‹

›Gern,‹ erwiderte er.

›Ich hatte die Absicht, heute Abend ruhig in meiner Wohnung zu bleiben, ehrlich gesagt, um Ihnen nicht zu begegnen. Denn seit Jahresfrist ungefähr leide ich namenlos darunter, dass ich Sie überall treffe und von Ihnen beobachtet werde. Diesen Silvesterabend aber wollte ich ungestört bleiben. Meine Wirthin hatte mir eingeheizt und ging dann fort. Aber kaum war sie ausgegangen, so ging auch das Feuer aus, und vergebens bemühte ich mich, es wieder anzufachen. 111 Da beschloss ich, auch auszugehen, denn es wurde allmählich sehr kalt in meiner Stube. Trotz des schlechten Wetters begab ich mich weiter als sonst von meinem Hause fort, bis ich in diese Gegend kam, in der ich vor Ihnen sicher zu sein hoffte. Aber es hat nicht sollen sein, oder es hat sollen sein, wie man es nehmen will. Mein Unstern oder Stern führt mich in dies bescheidene Wirthshaus, und so haben wir uns hier gefunden.‹

So sprach er. In unserm lebhaften Gespräche beachteten wir es kaum, dass das neue Jahr anbrach, obgleich drinnen und draussen der Lärm gross genug war. Wir achteten kaum darauf, dass der Nachtwächter uns gratulirte und dass der Kellner uns seine Thonpfeifchen anbot. Doch Beide, glaube ich, haben reichliche Trinkgelder von uns bekommen. Wir sassen bei einander noch tief in das neue Jahr hinein. Im neuen Jahr kamen wir jeden 112 Abend zusammen, so lange, bis jeder von uns sein Heim hatte, und das dauerte nur kurze Zeit. Der ›Unausstehliche‹ war verlobt, als ich am Silvesterabend ihn genauer kennen lernte, und seine Braut hatte eine Freundin, mit der ich mich rasch verlobte. In demselben Mai hielten wir beide Hochzeit.«

So sprach der Doctor und indem er sich dann an den Baumeister wandte, der ihm gegenübersass, fragte er: »Hast du noch etwas hinzuzufügen?«

»Nur wenig,« erwiderte der Angeredete, »denn dass ich der ›Unausstehliche‹ bin, von dem mein Freund sprach, daran wird wohl niemand in diesem Kreise mehr zweifeln. Dass ich aber nicht weniger gelitten habe wie du und dass ich dich für das grösste Scheusal der Welt hielt bis zu jenem Silvesterabend, das kann ich versichern. Ich denke mir auch, es ist nicht ganz mit rechten Dingen dabei 113 zugegangen. Es giebt Menschen, die gehören zu einander und müssen zusammenkommen. Bei einigen ist das eine leichte Sache, andere aber sind so geartet, dass sie sehr schwer nur zusammenzubringen sind. So, glaube ich, gehörte bei uns Beiden der Silvesterabend mit allem, was an einem solchen Abend von geheimnissvollen Kräften im Gange ist, dazu, um uns zu Freunden zu machen. Ich weiss aber auch, weshalb du heute Abend hierauf die Rede bringst. Fünfundzwanzig Jahre sind es heute her, seit wir uns fanden. Fünfundzwanzig Jahre war damals jeder von uns beiden alt, oder auch ein wenig mehr – doch das wollen wir nicht rechnen. Nun erhebe ich das Glas, und wir wollen anstossen darauf, dass wir noch einmal fünfundzwanzig Jahre in alter Freundschaft und Treue zusammenleben, wir und die Unsern.«

Das war ein Toast, der allen 114 wohlgefiel, und alle beeilten sich, mitanzustossen. Es war aber in der Gesellschaft ein Jüngling, welcher der Sohn des einen der beiden »Unausstehlichen« war und ein Mägdlein, das Töchterchen des andern. Die stiessen mit den andern an und auch zusammen und dachten das Ihrige dabei. Was sie dachten, zerfällt in zwei Theile. Erstens dachten sie: Wie gut doch, dass die beiden Alten einander getroffen und gefunden haben. Ihr zweiter Gedanke oder des ganzen Gedankens zweiter Theil war: Wie gut doch, dass wir nicht so vieler Weitläufigkeiten bedurften, um einander zu finden, dass weder ein Schneegestöber nöthig war, noch ein ausgehendes Feuer, noch ein fallendes Droschkenpferd, noch ein langes feindseliges Gegenübersitzen. Und sie hatten Recht, von ihrem Standpunkt aus, wenn sie so dachten. 115

 


 


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