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XIV. Lindsay

Lindsay, wo wir am 14. Juni in später Abendstunde anlangten, ist ein Städtchen, eine Town also, keine City, mit seinen etwa 7000 Einwohnern aber unter den 57 Towns der großen Provinz Ontario die achtgrößte. Es liegt an der schmalen südlichen Verlängerung des Sturgeonsees, dem Scugog River, durch den der genannte See mit dem Scugogsee, der im Süden den Abschluß eines großen Systems von Seen bildet, verbunden ist. Durch den Scugog ist Lindsay verbunden mit den Seen von Kawartha, aus denen viel Floßholz nach dem Städtchen kommt, um dort in einer am Wasser liegenden großen Holzschneiderei bearbeitet zu werden. Lindsay hat zwei Kirchen, eine Presbyteriankirche – zu der wir uns hielten – und eine methodistische, und es hat eine Hauptstraße mit ansehnlichen Gebäuden. Dort findet man allerhand Geschäfte und Läden, ein Hotel und eine Brauerei mit einer Bar, an der man in Gesellschaft von Männern aus dem Volk ein leidliches Glas Bier trinken kann. In dieser Hauptstraße hatte unser Gastfreund, der von Beruf Advokat ist, sein Bureau, sein Wohnhaus aber lag im äußersten Teil des Städtchens und konnte wohl als ein Landhaus bezeichnet werden. Es lag in einem Garten mit Blumenbeeten, schönen Bäumen und einem schattigen Platz vor der Thür, wo wir oft gesessen haben. Natürlich gehört dazu auch Gemüseland, außerdem eine Wiese, auf der viel Schafgarbe nicht mit den gewöhnlichen weißen, sondern mit purpurroten Blüten stand, wie diese Pflanze sie hier und da auch bei uns trägt. An zahmem Vieh fehlte es auch nicht, es war eine Kuh da, die ihrer etwas heftigen Gemütsart wegen mit Vorsicht behandelt werden mußte, und ein nettes Kälbchen. Allerhand Federvieh wurde gehalten, und endlich gab es ein paar Hunde, deren größerer, ein wunderschönes Tier, willig es gestattete, daß die Kinder des Hauses mit ihm spielten. In diesem traulichen Heim verlebte ich ein paar nach den Irrfahrten der vorhergegangenen Zeit überaus wohlthuende Tage des Friedens und der Ruhe.

Der Friede und die Ruhe wurden auch dadurch nicht gestört, daß Lindsay sich am Tage nach unserer Ankunft in großer Aufregung befand. Ein »Cirkus« mit Kamelen und Elefanten war nach Lindsay gekommen und hielt einen Umzug durch die Stadt. Um das anzusehen, war alles, was Beine hatte – zumal, was noch kleine Beine hatte – zusammengeströmt, und der Jubel war groß. Elefanten und Kamele waren noch nie in Lindsay gesehen worden. Am Abend fand auf einer Wiese vor dem Städtchen eine Vorstellung statt, die einfach großartig war. Da kam mir eine Erinnerung aus alter Zeit, als noch vielfach solcher Art fahrende Künstler im Lande bei uns umherzogen. Da gaben eines Tages auf der Jäschkenthaler Wiese bei Danzig fahrende Akrobaten und Zauberer eine Vorstellung, und meine kleine Zwillingsschwester und ich sahen mit zu. Als aber die erste Pause gemacht wurde und die Direktorin anfing mit dem Teller herumzugehen, riß alles aus und entfloh in den Wald, nur wir zwei Kinder blieben stehen, weil wir das Bewußtsein hatten, bezahlen zu können, und auch bezahlen wollten. Die Künstlerin trat an uns heran, und jedes von uns legte auf den Teller, was es besaß: einen Pfennig. Es giebt einmal gehörte Worte, die man nie vergißt, so alt man auch werden mag. Dazu gehören diejenigen, die zu uns damals die arme Seiltänzerin sagte. Sie gab uns das Geld zurück mit den Worten: »Behaltet eure Pfennige, liebe Kinder! Bettler sind wir nicht.« Diese hochmütige Bemerkung – ich hielt sie damals für hochmütig, bin aber nachher, als ich selbst auf den Gelderwerb ausging, anderer Meinung geworden – verdroß uns sehr. Entrüstet entfernten wir uns und kauften uns beim nächsten Bäcker für die zwei Pfennige Zwieback.

Mein erstes Geschäft in Lindsay, zu dem ich durch den Rat edler Frauen gedrängt wurde, war dieses, mir einen neuen Hut zu kaufen, da die bis dahin von mir getragene Kopfbedeckung durch Schweinfurter Grün und durch das mir von den Blackflies entzogene Blut etwas an Ansehen verloren hatte. Den alten Hut, der so viel mit mir ausgehalten hatte, gab ich ungern auf, im fremden Lande aber und niemand auf meiner Seite sehend hielt ich es für besser, mich der weiblichen Übermacht zu fügen und ließ mich wie ein geduldiges Schäflein in einen Laden führen, wo außer vielen anderen Sachen auch Hüte zu kaufen waren. Am liebsten hätte ich mir einen Farmer- oder Pflanzer-Strohhut mit ungeheurer Krempe, der sehr billig war, erstanden, aber auch da stieß ich auf Opposition von einflußreicher Seite und mußte mich endlich entschließen, einen neumodischen Herrenhut für 2½ Dollar, was ich ein bißchen viel fand, anzukaufen. Wenigstens aber hat er dann in Europa noch tief bis in den nächsten Sommer hinein gehalten.

Was es in Lindsay an Sehenswürdigkeiten gab, habe ich gesehen: das Collegiate institute, die Höhere Schule, wie wir sagen würden, deren Räume so hübsch und so praktisch eingerichtet sind, daß sie allen Schulen der Alten Welt darin zum Vorbild dienen könnte, dann die Holzschneiderei, in der aus den großen Baumstämmen Balken und Bretter geschnitten werden, und ein großes Eiergeschäft. Dieses Geschäft kauft auf den Farmen der Umgegend von Lindsay alles auf, was von den Hühnern gelegt wurde, zum großen Leidwesen der Hausfrauen Lindsays, die nicht wußten, woher sie Eier bekommen sollten, wenn sie selbst keine Hühner hatten. In dem Geschäft wurden die aufgekauften Eier, nachdem jedes einzeln zur Prüfung seiner Unbescheltbarkeit gegen das Licht gehalten war, zu Tausenden in große Fässer verpackt, und wenn das Faß voll war, mit Öl übergossen. Das geschah in Räumen, die durch Kaltluftmaschinen bis zum Gefrierpunkt abgekühlt gehalten wurden. In solchen Räumen lagen die Eier bis zum Winter, um dann die Reise über den Ozean zu machen. Auf meine Frage, weshalb der Eierversand nicht schon früher anfinge, wurde mir erwidert: Deshalb nicht, weil in Europa die Eierpreise im Winter sehr viel höher sind als im Sommer. Das hätte ich mir am Ende auch denken können. So ist dafür gesorgt, daß die Eier schon in etwas abgelagertem Zustande, wodurch sie ja an Wohlgeschmack sehr gewinnen sollen, nach der Alten Welt kommen.

In dem Städtchen stießen wir einmal auf Frauen der Heilsarmee, die an einer Straßenecke standen und sangen. Uns interessierte das, von den Stadtbewohnern aber schienen die frommen Sängerinnen kaum beachtet zu werden.

Weit über das Weichbild von Lindsay konnte ich auf meinen Spaziergängen nicht hinauskommen, denn überall stand ich bald vor einer Fence, bei der jeder Weg aufhörte. In der nächsten Umgebung des Ortes aber traf ich den verwilderten Pastinak, von dem schon einmal die Rede gewesen ist, und außerdem violettblütigen verwilderten Lauch-Bocksbart, eine Pflanze, die ihrer eßbaren Wurzel wegen hie und da in Deutschland gezogen wird und im südlichen Europa zu Hause ist. Sehr häufig war an den Wegen unsere gewöhnliche Königskerze ( Verbascum Thapsus) zu finden, die auch über das große Wasser nach Amerika gekommen ist. Die Engländer nennen sie mullein (französisch molène), was so viel wie Mottenkraut bedeuten soll.

Wir brachten die meiste Zeit in dem behaglichen Hause unserer Gastfreunde zu. Da wurde geplaudert, Klavier gespielt und gesungen. Es gab allerhand Bücher im Hause, unterhaltende wie belehrende, und u. a. fand ich Goethes Faust in englischer Übersetzung. Die Frau des Hauses, die nicht deutsch sprach, studierte dies Werk und hatte im Winter vorher im Wissenschaftlichen Verein des Städtchens einen Vortrag über die Faustsage gehalten.

Einmal aber schien es, als sollte die Behaglichkeit des Aufenthaltes dort empfindlich gestört werden. Wir saßen im Garten vor dem Hause, als plötzlich der Ruf erscholl: »Ein Skunk! Ein Skunk!« Ein Skunk oder Stinktier ( Mephitis mephitica) wurde gespürt, obgleich es der Schätzung nach eine halbe Meile noch entfernt war. So ist ja auch ein Mensch, der sich mit dem greulichen Patschuli parfümiert hat, bei Ostwind auf dem Potsdamer Platz in Berlin schon zu spüren, wenn er eben erst vom Dönhoffsplatz aus in die Leipzigerstraße hineinkommt. Einem solchen Menschen ist der Skunk zu vergleichen. Wo er auftritt, verbreitet er Schrecken, denn wer mit ihm in nähere Berührung kommt, muß sich für lange Zeit als von aller menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen betrachten. Von diesem Skunk hat eine widerlich riechende Pflanze Amerikas, Symphiocarpus foetides, nahe verwandt mit dem schönen Schneebeerenstrauch, den Namen Skunk cabbage, Stinktierkohl, erhalten. Nun, der Skunk kam uns zum Glück nicht näher, er wandte sich anderswohin, und so trübt nichts Unangenehmes uns die Erinnerung an die Tage des Friedens, der Ruhe und der erquickenden Weltabgeschiedenheit in dem netten Landstädtchen Lindsay am Scugog in Canada.


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