Albert Trentini
Goethe
Albert Trentini

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»Exzellenz!« hielt ihn Sutor auf dem Treppenabsatze auf, »Herr von Dalberg lassen fragen . . .«

Ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen, begann er die Treppe hinabzusteigen.

»Aber Seine Durchlaucht der Prinz von Gotha sind auch da gewesen!«

Dieses nämlich war es: Diese Stube, dieses Haus, diese Stadt, dieses Land war die Heimat! Aber jene Frau an der Ackerwand drüben, – wenn dieses Herz nicht wie durch ein Wunder sich noch einmal aufmacht und alleinsichtig lispelt: Aber ich bin es noch mehr . . ?

»Aber erst der Weinbauer, Exzellenz!« Atemlos kam Sutor nachgesprungen. »Dreimal sprach er schon vor, und wenn Sie nicht heute bestellen, – er hat nur noch sieben Yhren vom Weißen!«

Nicht einmal mit der Hand winkte Goethe ab. Wie ein Nachtwandler stieg er die Treppe zu Ende. Wie ein Nachtwandler nach wenigen Minuten sie wieder hernieder. »Tu es nicht! Tu es nicht!« beschwor ihn vor dem Tor die Geliebte, in panischer Furcht hängte sie sich an ihn, alle Wonnen dieser Glieder, alle Zauber dieser Seele, des Glücks ungemessene Tage riefen ihn an: »Tu es nicht! Tu es nicht!« Er aber nickte nicht einmal mehr. Löste sie wortlos von sich und ging. Dreimal, weil ihm das Blut wie ein Hammer die Schläfen schlug, umkreiste er das Haus an der Ackerwand. »Nein!« stampfte er in der Wiese, abseits vom Hause, in den Boden. »Nein, ich tue es nicht!« Ein Stückchen Blauhimmel sah er im Osten. Die Sonne traf einen Heuwiesenabhang, daß er hell zwischen Obstbäumen glänzte. Der Duft streichelte ihn. Der Glanz tröstete ihn: es muß, wird auch allein gehen! Aber der Schritt seiner Füße gehorchte ihm nicht mehr. Er ging nicht dem lockenden Hang, ging in Windungen, in Abwegen, dennoch in stetem Näherhinzielen dem Hause zu. Auf der Schwelle noch schien er zu überlegen. Das rechte Bein stand im Stufenstein, das linke im Erdboden. Aber als er von der Stufe wahrhaftig zurücktreten wollte, – »und wenn sie mich auch gesehen haben sollte!« – erscholl ein Jauchzen, zwei stürmische Arme fühlte er um seinen Hals, Kuß auf Kuß auf den Lippen. »Endlich!« jauchzte trunken der Knabe. Trunken, in seligem Zögern, lauschte Goethe. Erlösung brach die Starre der Glieder, in süßer Ermattung verebbte der Herzschlag. Also war es doch das Richtige gewesen! »Komm, mein Kind!« schluchzte er, ohne Scham liefen ihm die Tränen über die Wangen herab. »Mein gutes, liebes Kind, komm!«

»Nein!« machte er sich zärtlich los, als der Knabe ungeduldig die Klinke in die Hand nahm und ihn ins Zimmer hineinschieben wollte. »Rufe die Mama! Ich habe mit ihr zu sprechen. Du kommst um sechs ins Gartenhaus hinaus. Dort reden wir zwei miteinander!«

»Mama!« jubelte der Bub ins Stockwerk hinauf.

Sie vernahm es sogleich! Mordlustig war ihr Herz von ihren eigenen Händen zerfetzt worden. Wie eine Leiche kalt und starr war sie schon gewesen. Aber selbst diese Leiche noch hatte sie zerfetzt. Nichts mußte zuletzt sein! Nicht jenes Nichts, das sie nach der Verjagung des Geliebten in aller Welt und in ihr selber gesehen hatte! Dieses hatte sein Gesicht nicht behalten. Nein! Ein Gorgohaupt trug jetzt die Welt! Und wo sie diese Miene noch nicht trug, gor die wahnsinnige Gier, zu schänden, was noch nicht geschändet war, den Geifer des zertretenen Gemüts in jeden letzten Winkel hinein zu spritzen und für ewig und immer zu schaffen: das endgültige Nichts!

Jetzt aber, als der Knabe sagte: »Mama, er ist unten!« – ah!

Also war das Herz doch noch nicht Nichts? Mit dem Schlag eines Blitzes in die chaotische Vielheit der Möglichkeiten gerissen, die nun, zauberhaft, sich dem ermordeten Sinn wieder auftaten, kniete sie zu Füßen ihres Bettes nieder. »Laß mich,« rang die blutbesprengte Seele nach oben in bebender Bitte, »laß mich nur jetzt nicht allein! Es geht diesmal auf Leben und Sterben!«

Während er unten wartete. Ohne Angst wartete. Das Mumienhafte, die Drohung der Mauern und Wälle war von ihm plötzlich geschwunden. Wie den sicheren Morgenstrahl des Erwecktseins trug er den jauchzenden Kuß des Knaben in der Brust. So war es also doch das Richtige gewesen! Leicht atmete er auf. Die Sonne kam. Ein heiteres Windchen fächelte draußen. Das Grün entbreitete sich. Die Dinge, jedes Aug und Seele altvertraut, stiegen heimlich von den Wänden fort und lächelten in freundlichem Reigen ihm zu. »Nicht wahr,« klang es von überallher auf ihn ein, »hier ist doch deine Heimat?« – »Ja!« Gerne ließ er sich nieder. »Ja!« wiederholte er fest. »Und nun wird alles werden!« Wie man nur hatte fürchten können, daß es nicht werden würde! Man muß opfern! Sich hinzugeben wissen! Hatte er in Italien jemals anderes bezielt, als sich über das Schicksal, das ihm und Lotte nun einmal zugeteilt war, siegreich zu erheben? Sein Leben und sein Werk nicht mehr stören zu lassen von der Tyrannei einer Leidenschaft, die nur durch Geist zu bändigen war? »Nichts anderes! Herr über das sein, was trennt!« Und nun? Herrschaft in Blut und in Seele! Ist das nun die Heimkehr? Wirkt jetzt erst die zweite Geburt?

»Lotte!«

Wie ein Kind lief er ihr entgegen. Riß die Hände an die Lippen. »Ich hielt es nicht mehr aus, Lotte! Vergib und vergiß! Wir zwei können doch so nicht auseinandergehen! Lotte!«

Also stand es fest: er liebt mich noch! Man mochte es lesen, wie immer man wollte, es stand untrüglich da in seinen Augen! Er liebt mich! Sie lächelte. Himmlisch sanft, so, wie einst. Er liebt mich! Das Nichts zerrann! Das Gorgohaupt schwand aus der Welt! Tief, tief jetzt Atem ziehen! Fest steht es: er liebt mich! »Es ist gut von dir,« sagte sie, trotz allen wilden Jubels in der Brust doch gemessen, »daß du kommst. Ich danke dir! Wir wollen doch den Leuten nicht das Schauspiel bieten . . . .«

»Ich bin nicht der Leute halber gekommen!« unterbrach er innig – o, diesmal wollte er vorsichtig sein! – »sondern meinetwegen! Ich konnte es nicht ertragen so!«

Sie nickte nur. Wie der Raum seine Maße nun wieder bekam! Die Welt sich draußen leicht wiederum zusammenbaute! »Komm«, sagte sie, jetzt war sie wie ein Kind, »setz dich zu mir her und erzähle!«

»Der Hund war also – doch treu?«

Ohne ein Wort herauszubringen, nahm sie den Stickrahmen. Die Hände zitterten ihr. Daß dieses Wunder doch geschehen war! Denn: ein Wunder war es! Und welches!

»Und: sag!« Mit einer Stimme, in deren Spannung noch der ganze Wahnsinn der verquälten Nacht zitterte, tappte er sich näher. »Ist's nun vorbei? Endgültig wieder rein zwischen uns, Lotte?«

Ob er jetzt, in der nächsten Sekunde, aufspringen, sie in die Arme reißen, umschlingen, küssen, küssen wird, daß der letzte Rest des Grauenhaften aus ihr schwand, das letzte Eis schmolz, die Zukunft ihren goldenen Vorhang aufzog und das Meer vor ihrem Blick erschien, in dem die durstverbrannte Seele endlich eintauchen durfte? »Ich glaube,« sagte sie, mit Mühe sich behauptend im Wirbel, den ihre ruhelose Wonne und seine selige Ruhe um sie tanzten, »wir sollen gar nicht mehr reden davon? Meinst du nicht?«

»Im Gegenteil!« Ihm war so köstlich wohl jetzt im Innersten, in so erlösten Zügen genoß er die Befreiung, daß er keine Gefahr mehr zu fürchten vermochte. »Ich möchte davon reden! Sag« – weil sie unwillkürlich die Lippen schloß –: »hättest du es so – ertragen?«

Was hieß diese Frage? Sie war nicht nur zugrundegegangen in diesem Zusammenbruch, sondern die Fratze eines Menschen geworden darin! »Es mußte wohl ertragen werden!«

»Wieso: mußte?« Gespannt rückte er den Sessel.

»Wenn du nicht kamst?«

»Dann hättest du mich doch gerufen?«

»Ich glaube nicht!«

»Doch! So wie ich, hättest du empfunden, . . . . Du! Lotte!« Heiß nahm er ihr die Hände vom Rahmen fort. »Sag doch! Du hättest es doch nicht ertragen können! Du so wenig wie ich!«

»Ich hätte dich nicht gerufen.« Sanft entzog sie ihm die Hände. Schein namenlosen Grauens fiel auf ihr Gesicht zurück. »Nicht, weil ich es ertragen hätte, . . .«

»War's denn nicht furchtbar?«

Der schwache Leib, im Ansturm seiner Worte, seiner Blicke viel zu schwach, erbebte. »Natürlich. Aber . . .«

»Aber?«

Es stand ja fest! Sie lächelte. Erhob sich, ließ sich, wie um zu prüfen, ob sie wohl nicht träume, wieder nieder. Ja! Es stand fest! Bewußtlos legte sie das zuckende Gesicht in die zuckenden Hände. »Ich meine,« hauchten die Lippen zwischen den Fingern hervor, »wenn es feststand, daß du mich nicht nur verlassen, sondern auch verraten hattest?« Im Nu darauf entschlossen das Haupt hoch emporgerissen und angstvoll: »Reden wir nicht mehr davon!«

Er wandte das Gesicht weg. Wie suchend. War hierin etwas, was nicht weggeleugnet und darum auch nicht ausgelöscht werden konnte? »Wie du willst, Lotte!« Um Gotteswillen nur jetzt nichts mehr kalt werden lassen! Einen zweiten solchen Bruch überlebten sie beide nicht! »Genau so, wie du willst! Wir machen es so:« – ganz der Alte, lächelte er – »Lotte frägt, und Hanns antwortet! Ist es recht so?«

Wenn er mir jetzt, – »Gut!« nickte sie zufrieden, sie hatte es wohl herausgehört: das klang, wie's einst geklungen hatte – wenn er mir jetzt zu Füßen fiele, so wie einst oft, wenn er das Übermaß der Liebe nicht mehr bändigen konnte, und mich erdrücken, ersticken würde mit seinen Küssen, – nicht, weil ich nach Küssen brenne, aber . . . . »Sitzest du nicht schlecht?«

»Nein! Herrlich!« In lange nicht mehr gekanntem Frieden lachte er. »Also frage, Lotte!«

»Ja!« Und fast sicher hob sich nun ihre Brust. »Zuerst aber noch: warum möchtest du davon reden?«

»Weil ich möchte, daß kein unverstandenes Stück Leben zwischen uns stünde.«

»Wenn ich es aber nicht verstünde?«

Die helle Gewißheit, daß nun sein gewordener Mensch sich ungehemmt erweisen und auswirken können werde, machte ihn vollkommen ruhig. »Du verstündest es gewiß!«

»Hast du mich angelogen? – Erschrick nur nicht!« Was für ein zärtliches Lächeln! Furchtvoll nahm sie seine Hand. »Ich meine: hast du übertrieben?«

»Worin nur?«

Sie wollte es, weiß Gott, nicht! Und tat es dennoch: fuhr ihm liebkosend über den Scheitel. »In dem, was du neulich erzählt hast! Versteh mich recht!« Ja! Jetzt strömte das Echte, das Gute, das Gütige, Warme, das früher doch gewiß auch in ihr gewesen war, endlich ganz wieder zurück in ihr Wesen! »Wir Frauen sehen die großen Linien der Entwicklung von Menschen, die wir lieben, viel weniger deutlich, als das Detail. Und an diesem Detail bleiben wir kleben! So erschreckt uns oft, was euch gar nicht berührt!«

»Sehr richtig!«

»Und dazu erst noch . . .«

»Erst noch?« Er sprang auch jetzt nicht auf, riß sie auch jetzt nicht in die Arme. Aber lieb hielt er ihre Hand an seine Wange. »Erst noch?«

»Unser – Stolz!«

»Und erst noch der deinige, Lotte!« Kindhaft herzlich lachte er auf.

»Also sag! Du hast nicht übertrieben?«

»Nein!« Und nur noch inniger hielt er ihre Hand an die Wange. »Dazu hätte ich keinen Grund gehabt. Und zum Zuwenigsagen kein Recht.«

»Wäre es nicht oft besser,« – blitzschnell wandte sie das Gesicht von ihm weg – »uns anzulügen?«

»Ich – dich?«

Das gab ihr einen Stich. Durchs Herz. Oder, wieder, durch den Stolz. Sogleich, kundig, merkte er es. »Ich hätte dich vielleicht angelogen, wenn . . . .«

»Darüber komme ich nicht hinweg!« Als ob sausender Sturmschatten überraschte Erde überflöge, veränderte sich ihr Gesicht. »Daß du mich nicht angelogen hast!«

Und jetzt sprang er auf. Jetzt kniete er bei ihr nieder. Aber nur der Arm, in einer Gebärde, die alle Gerechtigkeit seines endlich wieder freien Gemütes aussprach, legte er um ihren Nacken. Nicht die Spur eines Begehrens, von Unruhe oder Werben lag in der Zartheit, mit der er seine Schläfe an die ihre legte. »Das hätte ich doch nicht tun können, Lotte! Wir haben uns doch niemals angelogen. Wie hätte ich nur daran denken dürfen, die Frucht dieser Jahre mit dir genießen zu wollen, wenn ich dir nicht offen . . . .«

Als ob sie den Teufel von sich wegjagen müßte, der höhnisch grinsend sich wieder nahte, machte sie sich frei. Das alles wollte sie ja nicht hören! Warum verstand er nicht, daß sie gerade das nicht hören wollte? Nicht Geständnisse! Nein! Widerruf! Und wenn nicht Widerruf, dann: Feuer, Flamme, Ekstase, die die Lüge achtlos entseelten! »Jetzt soll lieber Hanns fragen,« schüttelte sie wirr den Kopf, »und Lotte wird antworten!«

»Nein! Lotte wird weiter fragen,« – er war ja zu arglos im Herzen, als daß er die Gefahr nicht unterschätzte! – »und Hanns weiter antworten.«

Ein Loch stach die plötzliche Nadel in den Stoff. In den Finger. »Was war also das Schönste in Italien?«

Jetzt – war es da! Jetzt sah der Geborene sich selber! Nach dieser Frage, aus diesem Munde, nach dem Bekennendürfen zu diesem Menschen hin hatte er sich bis zu dieser Stunde vergebens gesehnt! Glanz spielte um seinen Mund. Feuer, Flamme, Ekstase lohten im weitaufgerissenen Auge. »Daß ich endlich mich selber fand.«

»Also, eigentlich, – du selber warst das Schönste?«

Er sah den zweiten, noch drohenderen Schatten gar nicht, der wie böser Flügelschlag sie streifte. In unschuldigstem Triumph schaute er sie an. »Eigentlich: ja! Endlich einmal . . . .« – die Arme breitete er aus, als wollte, könnte, dürfte er nun die ganze Glorie des ungeheuren Erlebens an seine übervolle Brust reißen – »endlich einmal entdecken und erkennen: was man ist; wo man ist; wie man ist!«

»Das wußtest du doch auch früher!«

»Nichts!« Geringschätzig, im vollen Spiel der Schönheit, das ihn zum erstenmal in allen Akkorden frei umsang, warf er die rechte Hand aus dem Gelenke. »Was weiß man von sich selber, bevor man – zum Beispiel! – ein Schiff bestiegen hat und einem die Erde unter den Füßen schwindet? Welt gerochen, sich auf sich selber, nur auf sich selber angewiesen gefühlt hat? Überhaupt, Unsereiner . . . .«

»Der Mann überhaupt?« Das Blut tropfte ihr aus dem Finger. Er sah es nicht. Ihr Busen hob und senkte sich rasend. Er sah es nicht. Ein dritter, vierter, fünfter Schatten – er sah es nicht – flog über ihre Stirne. Gewarnt, mit Todesmut, rang sie gegen die feindlichen Heere: weg, weg von mir, Verdammte! Verfluchte! In atemlos ungesprochener Bitte flehte der wiederüberfallene Sinn nach oben: laß mich nur jetzt nicht allein! Jetzt geht es auf Leben und Sterben! Er aber hörte es nicht. »Vielleicht jeder Mann!« fuhr er ahnungslos fort. »Sicher aber: Unsereiner. Ein Künstler. Der muß sich einmal selber haben! Einmal zum eigenen Bewußtsein kommen! Da hatte ich mich eilf, zwölf Jahre lang nur anderen gewidmet, anderer Leben gelebt, nie bis ins letzte, bis in die nackte Wahrheit mich! Nur immer andere!«

»Und worauf« – obwohl sie keinen Bissen Luft mehr hatte, unterbrach sie ihn mit klarster Stimme – »hast du dich am meisten zurückgefreut, von unten?«

Ohne weiters gab er Antwort: »Darauf: den Fund, die Erweckung, das Geborenwordensein hier bei dir auszuleben. Auszuwirken. Sein zu lassen, was geworden ist. Zu sehen, wie . . . .«

»Also, wiederum eigentlich, auf dich?« Nein! Nein! zwang sie sich heroisch ab, weil sie ihn stutzen sah, mit letzter, eilig herbefohlener Kraft: heut darf nichts mehr scheitern! Gerettet, was noch zu retten ist! Nacht ist noch besser als Wahnsinn! »Ist's nicht wahr?«

»Auch das scheint wahr.«

»Ist's nicht?«

In komischer Verlegenheit senkte er den Kopf. »Es klingt mir gar zu scharf nach – Egoismus.«

Gegen ihren bettelnden Willen, wie mit einer Lampe schaute sie ihm ins Gesicht. »Der Hund kehrte zu Herrn Jenkins zurück, nachdem er und weil er sich in der osteria del diavolo sattgegessen hatte? Seine Treue war also Egoismus?«

Ungeschickt, als ob er nicht richtig gehört hätte oder sich so stellte, neigte er sich vor. Verschleierte sich die Sonne? Wankt der eben eingerammte Pfeiler schon wieder? »Jedenfalls,« sagte er mit einem falschen Lachen, – »ist er zurückgekehrt!«

»Darauf kommt es wohl nicht an?«

»Sondern worauf?«

Mit aller Gewalt richtete sie sich auf. So trieb man ja rettungslos in den Ruin! Mutig preßte sie den Stickrahmen an die Brust, in der verzweifelt Himmel und Hölle gegeneinander stritten. Vernunft! Klugheit! Kühle! »Fragen wir lieber wieder! Erzähle! Wie ist die Landschaft unten?«

Da erhob er sich. Ganz kurz. Trat auf das Sofa zu, das unterm Spiegel in der Ecke stand, und ließ sich darauf nieder. »Die Landschaft?« Schwarz wurde es vor seinen Augen. Wie Tau vom Baume, den der Wind mißhandelt, fiel von der Gestalt die junge Straffheit ab. Die süße Wärme, die das Blut entbunden, das Herz enteist, den Bann der letzten Wochen wie mit Frühlingswogen gebrochen hatte, wie vor dem unerbittlich wieder aufgetauchten Gesicht des Winters rollte sie zurück. Steif wurde der Leib. Fremd der Ausdruck. Wie in einem konstruierten Raume, worin Sanguinische sich plötzlich höhnisch enttäuscht wiederfinden, nachdem sie soeben den Äther durchflogen haben, bewegte er sich. »Die Landschaft? Soweit ich sie in meinen Briefen noch nicht beschrieben habe?« Und umständlich, und nur noch vom einzigen Wunsch getrieben, das gestrandete Schiff heil ans Ufer zu bringen und so unpersönlich und harmlos lange zu reden, daß auch der abgefeimteste Geist die Zeit nicht mehr finden konnte, um ein zweites Leck zu schlagen, beschrieb er: Ebene um Florenz. Hügel in Umbrien. Die Campagna. Das Becken von Terracina. Den Busen von Neapel. Sizilianische Küste. Sizilianisches Binnenland. Gesteine. Pflanzenzucht. Meteorologisches. Absichtlich nirgends Farbe aufsetzend. Die von Sekunde zu Sekunde unbarmherziger das Gemüt zurückerobernde Dämmerung mit abstraktem Schildern bannend. Die Verstockung, die ihn wie geile Todeskälte wieder überfiel, in Lakonität der Sätze umformend. Die beißende Reue, zuviel – und vergebens! – an Versöhnungssehnsucht und Selbstentblößung aufgewendet zu haben, in der Stimme nur zu frei verratend. Der Himmel Italiens? Ich mache ihn – die Fäuste ballte er – ich mache ihn grau! Tot! Verdorben! Die Glut der Sonne, Frömmigkeit der Linien, erhabene Form der Dinge, Reife der Früchte? Ich morde sie mit Worten! Sterbt! Verhüllt euch! Ja! Zerstörungswut, je länger und je ferner er so redete, floß immer unwiderstehlicher in seine Worte. »Im großen Ganzen kann man sagen,« – »es ist vorbei!« schrie drin im Inneren die endgültige Stimme, – »kann man sagen: Zuviel Stereotypes, Überliefertes. Wenig Primitives und Neues. Ich könnte auch nicht behaupten, daß mich so sehr die Landschaft als solche gefangen nahm. Viel mehr . . . . .«

So? Jetzt glaubte er wohl im Kreise wiederum zurück zu sein und begann ihn, nichts fühlend, von neuem? »Und diese Ausflüge und Wanderungen,« unterbrach sie daher in panischer Angst – es war kein Zweifel mehr: zum zweitenmal und endgültig hatte sie verloren! – »hast du allein oder mit Tischbein gemacht?«

»Ja. Oder mit Kniepen.«

»Oder mit – kurz: mit den Freunden oder – Freundinnen?«

»Ich hatte keine Freundinnen!«

»Ich meine: mit jenen Freunden und mit der einen oder der anderen . . . . .«

»Ich hatte keine eine oder andere!«

»Du hast doch jüngst selbst gesagt . . . .«

»Ich habe dich mit dem Herzen nie verraten!«

Blitz und Donner, und doch keine Hilfe? »Erzähl weiter!« bettelte sie.

»Nein! Ich erzähle jetzt nicht weiter!«

»Doch!« In grausiger Furcht, – sie wußte genau vorher, wie es nun enden müßte –: »Erzähle! Erzähl weiter!«

Mit einem verzweifelten Sprung schoß er auf aus den Kissen, Dolch und Feuer im Auge. »Wenn du es nur endlich einmal natürlich nehmen wolltest! Sehen, erfassen, begreifen, aber nicht starrköpfig beurteilen! Da stehe ich zum zweitenmal vor dir, mache kein einziges Geheimnis aus meinem Erleben, decke mich dir völlig auf, zeige schamlos, wonach ich mich sehne, wessen ich bedarf, was ich nicht entbehren kann . . . . .«

Wie ein Pfeil von Gift sauste es von ihren Lippen: »Du kannst sagen, was du willst, aber – es ist nicht Liebe!«

»Ja, um des Himmels willen,« rang er gefoltert die Hände, »gibt es zwischen Menschen, wie wir zwei sind, denn wahrhaftig und wirklich nur den einen, engen, egoistischen Begriff der Liebe?«

Und sie erstarrte im Nu. Als ob sie gefrierend sich zusammenzöge, mit ganz und gar ratlosen Augen sah sie ihn an. Ihre Glieder schienen wie auf Befehl das Leben zu verlieren. Ihre Lippen bebten nicht unter der Wunde des Schwerts, das der Teufel der Teufel geschwungen hatte. Die Hände, die sich vom Stickrahmen gelöst hatten, suchten sinnlos im Schoße. »Ist das dein Ernst?« wollte sie, im letzten Aufzucken von Hoffnung, noch fragen. Aber jede seiner felsern gewordenen, rastlos und rücksichtslos verschlossenen Mienen, der Nachhall seiner drohenden Stimme, die lähmende Geradheit seines aufgereckten Leibes bestätigten: »natürlich ist es mein Ernst!« »Ich kann machen dagegen, was ich will«, stieß sie endlich armselig hervor, wie papierdünnes Messer, das Fleisch schneidet, klang es, »alle Müh ist vergebens. Es ist stärker als ich! Du hast mich verlassen und verraten, und kamst als absichtlicher, fast eitler Egoist zurück! Darüber komme ich nicht hinweg! – Deshalb brauchst du nicht bleich fortzugehen!« sprang sie wahnsinnig auf, weil er sich stumm eben verbeugte und ihre Hand an die Lippen zog. »Eine Rücksicht, glaube ich, bist du mir jedenfalls schuldig? Zu sorgen, daß nicht auch noch die Leute . . . .«

»Gewiß!« Eisig, in keinem Zug mehr anderes als Ende, verbeugte er sich zum zweitenmal. »Daran will ich's nicht fehlen lassen!«

Und ging.

Wie eine Statue starrte sie ihm nach. Was geschah nun?

Was war nun?

Ja! Was ist jetzt? Ein kaltes, unschönes Lächeln ging über Goethes Gesicht. Er wollte es in viel zu genauer Kenntnis seines Sinns, vertreiben. Es blieb. Groll? Schmerz? Weh? Gar nichts tat weh! Es war höchstens Bedauern darüber da, solange gebraucht zu haben, um bekehrt worden zu sein. Wovon bekehrt? Rasch ging er über die Ilmbrücke. Am andern Ufer angelangt, blieb er stehen. Drehte um. Kein Zweifel! Diese Brücke stürzte jetzt ein. Die Joche sanken in den Boden. Das Dielenwerk folgte. Mit einem Krach sausten Sparren, Streben und Trümmer nach. Unerstaunt schwemmte der Fluß das Zerbrochene fort. Die Stadt jenseits aber verlor ihr bekanntes Gesicht. In dieses zurück gab es keine Wiederkehr. Schonungslos, während Türme, Dächer, Wälle, Tore, Zinnen, Giebel sich wie in einem Märchenspiel verwandelten, mußte es gedacht werden: die Vergangenheit stirbt in diesem Augenblick, und – ein neues Leben beginnt!

Welches?

Überlegen ging er die Anlagen durch; in den Stern hinein. Bolzengerade Entschlossenheit kam in sein Wesen. Weder Reue, noch Grauen. Der Würfel ist gefallen! Und so, wie er hatte fallen müssen. Als er, mitten in der Wiese, abseits vom Weg, ein zärtliches Paar gewahrte, lächelte er mitleidig. Als ob es nicht von allem Anfang an festgestanden hätte, daß: zum zweitenmal geboren werden, heißt: reif werden, um vom eigenen Kapital zu leben! Natürlich! Mit knöcherigem Griff fuhr die Rechte über die Hirtentaschen, Sauerampfer und Labkräuter hin, durch die er unbewegt schritt. »Es werden noch Hunderte von Menschen in mein Leben treten. Es wird auch wieder Feuer fangen, Liebe fühlen, sich mitteilen, anderen schenken, auf andere sich freuen, das Herz. Aber jenes Herz, das einen einzigen Gott kennt, –: das zweite? Er lächelte. Gewaltsam. War's denn nicht eigentümlich? Der Himmel stand ohne Wolke. Und troff doch nicht Sinn, nicht Gefühl. Die Wiesenfelder brannten in hellgrüner Sommersonne. Und hatten doch keine Glut, keine Wärme. Die Hintergründe, Bäume, Sträucher, bestrahlte Wege, Rondeaus, ferne Bänke zogen sich perspektivisch reizvoll in den seinen Blaudunst des Mittags an den Hügeln zurück. Und sagten doch nicht Leben aus, Lieben. Stimmen von Vögeln, spielenden Kindern, schneidenden Sicheln, von naher Stadt, Grillen und Zikaden läuteten reg miteinander. Und läuteten doch: Einsam! Schnell, als müßte er auf der Stelle, in dieser Sekunde noch, die ein Schicksal entschied, diesen Symbolen gegenüber die Riesenstärke fühlen, in ihrer Einsamkeit kräftig zu leben, Reis zu treiben, Knoten auf Knoten zu schießen und Krone zu entwickeln, fuhr er mit der Hand an das Herz. Und eine süße, hohe, treue erfaßte die greifende. Und eine Stimme, die von jenseits aller irdischen Wechsel klang, flüsterte sicher: »Verzweifle nicht! Alles ist da noch! Du hast die Kraft! Hast sie!« Und ein ewiges Auge blickte ihn stolz an: »ich bin sie!« Verborgen – wie von nun an alles verborgen sein oder verwandelt werden mußte! – fuhr die Hand zurück. Die Jahrtausende, die Geister, und Faust, der sie in seinem Menschen einte, waren da drin! Voll lebendig! Ha! Jetzt lebe, Faust! Jetzt zeuge deine Welt aus den Welten! Jetzt erfahre: nur, wer niemals und von nichts je genug hat, – was immer er nicht hat, baut ihm die Pyramide! Frösteln durchfuhr ihn. Wägend setzte er sich auf die Stockkrücke. Schritt das Mädchen, das da drüben aus den Büschen trat, geniert errötend, auf ihn zu? Wohl, Faust, jetzt zeige recht, was du . . . . .

»Morgen!« unterbrach er sich; lächelte, als das Persönchen wahrhaftig vor ihm knixte. Klein war sie, derb, drall. Aber hübsch. Die braunen Locken fielen voll herein in die Wangen. Weiß blitzten die Zähne zwischen überroten Lippen. Ein allzu bunter Schal lag um die Schultern. Den Busen, der deutlich unterm weißen Mieder zitterte, ließ er frei. »Was soll ich für sie tun?« fragte er gewinnend, weil sie stotternd jetzt eine Rolle überreichte. »Wie heißt sie?«

»Vulpius.«

»Vulpius?« Durch einen spöttischen Rechen zog der Mund das Wort. »Schwester vom . . . . . ?«

»Jawohl!« Jetzt war sie geradezu verteufelt hübsch. »Christiane Vulpius. Mein Bruder, . . . ich bin in der Kunstblumenfabrik. Mein Bruder . . . er hat . . .«

»Hm.« Er hob die Rolle. Las. Überlange. Dann noch einmal. Diesmal – anderes! Sein Auge, in absichtlich übertriebener Unbekümmertheit, flog über dem Papierrand das Persönchen ab: die gewöhnliche Stirn, die großen, runden, dunkeln Augen, die vollen Wangen, den unverkennbar üppigen Kußmund, die Arme, den Busen, die . . . »nun,« lächelte er fast lebemännisch: Füßchen waren es gerade nicht! Doch wohlgebaute Füße! Plötzlich, daß das Papier raschelte, ließ er die Rolle sich wieder rollen. Und – fuhr wie in einem Blitzeinfall auf. Warum denn nicht? Warum auch blinzelt dies niedliche Auge so vertraulich? »Kennt sie« – fremd riß er die Gestalt hoch; Luft! Entspannung! Entladung! – »kennt sie mein Gartenhaus?«

»Drunten an der Ilm? Gegen dem von Schmidtschen über?«

»Ganz recht!« Und noch fremder die Gestalt aufgereckt in den fühllosen Himmel! Und noch eindeutiger gelächelt! »Mag sie um fünfe hinabkommen? Wir sehen dann, was sich in der Sache machen läßt? Hm?«

Purpurrot ward sie. »Wenn Exzellenz . . .«

»Abgemacht! Um fünfe!« Und nun, unverschleiert spielerisch, blickte er nach. »Hm? Was wird das?«

Wäre das – zögernd schritt er weiter – das der richtige Beginn des Auswirkens der Erweckung?

Mit dem Stock, vernichtungsfreudig, köpfte er Disteln am Wege. »Wer hat mir was zu sagen? Wen geht es etwas an? Wer weiß etwas, – will etwas von mir wissen?«

Als er das Gartenhaus aus den frischen Linden hervorblinken sah, glaubte er, eine hohe, schwarze Gestalt in die Büsche am Berglein verschwinden zu sehen. Ingrimmig grinsend blieb er stehen. »Weißt du vielleicht etwas von mir, einseitiger Alter? Was heißt euch: ein Mensch?«

Rasch emporgestiegen, eingetreten in die obere Stube, befahl er Tinte und Papier. »Ich bin für niemand zu Hause. Um fünf Uhr kommt eine Bittstellerin; die wird vorgelassen,« schaffte er an, als Götz wiederkam. Setzte sich ans Fenster, in das die Zweige hereinrauschten. Und ward erfaßt. Und entführt. Sogleich. Um zwei Uhr standen über hundert Verse vom Tasso auf den Blättern. So? Es geht also allein auch? Groß, weitoffen schaute das Auge hinab in die Wirbel des Grünen. Wie einen harten Block aus Gold, dem keine Flamme mehr ankann, fühlte er das Herz in der Brust drin. Kalt. Nicht mehr biegsam, erreichbar. Aber sein! Stark stand er auf. »Steht es etwa schon fest, was ich mit dem Miselchen beginne? Ist Tasso nicht auch nur ein Stück Faust, wie: Erde-Untersuchen oder Blätter-Sezieren? Dichtet sich Faust nicht unwillkürlich von selber, indem er alle Stücke seines Lebens dichtet?« Aber, nachdem um vier Uhr auch die nächsten hundert Verse blank aufs Papier geschrieben waren, wandelte ihn unwiderstehlicher Trieb an, in den Garten hinabzusteigen. Zögernd plötzlich, voll geheimer Furcht, schwankte er die Treppe nieder. In der Kühle jenes Raums, in den es von einer Felsenplatte unvergeßlich herabflüsterte: »Hier gedachte der Liebende seiner Geliebten!« fiel ihm eine Träne verschämt aus dem Auge. Der Boden, der sie auffing, seufzte. Der Himmel, der in Fetzen durch die dunkeln Kronen herabblinkte, als er sie gewahrte, seufzte. Efeu, Steine, Fels und Bank, als sie sie glitzern sahen, seufzten. Die Arme wie nach einem entschwebenden Traume ausgebreitet, der bis ans irdische Ende mit himmlischer Weihe, mit Opfern ohnegleichen geträumt worden war, lispelte er gezwungen vor sich hin:

»Eine Liebe hatt ich, sie war mir lieber als alles!
Aber ich hab sie nicht mehr! – Schweig, und ertrag den Verlust!«

Aber als er, nach Stunden, zum zweitenmal in den Garten niederkam und wieder in den heiligen Raum trat, zerriß er diese Worte fluchend in Trümmer. »Mama!« stürzte in derselben Sekunde Fritz in Frau von Steins zerbrochenen Salon herein. »Mama, weißt du, wer heute abend bei ihm unten gewesen ist?«

Aus völlig erloschenen Augen blickte Frau von Stein auf den brennenden Knaben.

»Er hat mich doch eingeladen für sechse?«

»Und?« Wie mit der Zange riß Frau von Stein sich das Wort aus der Brust.

»Man ließ mich nicht vor!« Zitternd glühte der trostlose Blick. »Er habe Besuch. Weißt du, wen?«

Kein zweites Wort fand Frau von Stein. Sinnlos begann sie zu sticken. Nimmer die Welt allein trug jetzt das Gorgohaupt! Sie selber, die da für ewig zertreten im Fenster saß, war jetzt die Gorgo! »Nein!« stammelte sie endlich.

»Ich auch nicht. Als Götz heimlich zu tun anfing, kehrte ich um. Dann aber kehrte ich wieder um und kletterte in die Linde hinauf; in die, die vor der Schlafstube steht.« Das Herz schlug ihm bis in den Hals hinauf. Sollte er's sagen, oder nicht sagen? »Ich möchte nämlich wissen,« brachte er endlich feuerrot heraus, »hat er eine Braut, jetzt?«

Als ob ihr ein Eisenarm den Kopf hinüberrisse, wandte sich Frau von Stein dem Sohne zu. »Wie – so?«

»Es war ein Frauenzimmer drin. Und «– atemlos bohrte Fritz seinen Blick in den furchtbaren der Mutter – »und sie haben sich schrecklich – abgeküßt.«

»Wer: sie?« Schneeweiß war Frau von Steins Gesicht. »Wer: sie?«

»Er und, ich weiß nicht, wer!«

»Zerrinnt!« befahl da der Mann in dem heiligen Raume zu den Worten, die er knirschend zerrissen hatte. Streckte den Arm gegen sie aus wie gegen ein schneeweißes Gesicht, das nun den wirklichen, den lebendigen Tod litt. Und verzerrt ward sein Antlitz. Verbogen der Mund. Strich auf der braunen, der südlichen Stirne. »Wir wollen vielleicht lieber so sagen:« lachte es.

»Kennst du die herrliche Wirkung der endlich befriedigten Liebe?
Körper verbindet sie schön, wenn sie die Geister befreit!«

»Nein!« schrie er gleich darauf rasend, hieb mit den Händen in die verdämmerte Luft, ließ den Kies unter dem sausenden Schritt kreischen. »Auch ihr: zerrinnt!«

»Exzellenz wollen nicht zu Abend essen?« kam Goetz. Es war neun Uhr.

»Sperr das Haus ab und lege dich schlafen!«

»Und wann befehlen,« – so ein Abend war noch nicht vorgekommen, seit Goetz diente! – »geweckt zu werden?«

»Gar nicht!«

Ins Haus zurück! Jagdschritt!

Allein nun? Ganz allein?

War Erweckung auch nichts Endgültiges? Bedeutete die zweite Geburt nur die Terrasse über dem überwundenen Anstieg der Irrungen, erhob sich über ihr aber wieder eine neue, noch steinichtere Halde? Zu neuer Terrasse?

Lag einer der Sinne der Erweckung darin, daß man sein Herz vernichtete und Blut an Stelle des Herzens setzte? Rechtfertigte es die Gnade der zweiten Geburt, daß sich der menschvertriebene, herzbeleidigte Geist, um sich den Atem zum Weiterfliegen zu holen, trivialisch erniedrigte?

Oder: ist sich – tief legte sich Goethe, den Blick tief draußen in der Nacht, in den Sessel zurück – ist sich ein guter Mensch in seinem dunklen Drange des rechten Wegs doch stets bewußt?

»Denke nicht! Grüble nicht! Bereue nicht! Zögere nicht! Tue!« Und wieder erfaßte ihn die Zeit. Und entführte ihn. Als es vom versunkenen Ufer herüber zwölf Uhr schlug, standen Tassos heiligster Jauchzer an die entsagende Liebe, und Leonores heiligste Sehnsucht nach entsagender Liebe wie goldenes Gewirke aus Seele und Leib auf den tränenbeträufelten Blättern. Drinnen im tiefbegrabenen Herzen, das schmähende Reue zerriß und, zur gleichen Zeit, restlose Kenntnis seines menschlichen Wesens beschwichtigte, schwangen die Jahrtausende ungestört ihre ewigen Mäntel, streuten die Geister unbehelligt die ewigen Funken. Hinter dem Geist aber, der dies Herz barg und wie aus marmornem Brunnen mit unfehlbarer Hand Woge auf Woge heraufschöpfte, um ein Stück seines menschgewordenen Faust Mensch werden zu lassen, flammte Fausts wissendes Auge und war beides: Träne und Lachen zugleich. »O!« rief der zuckende Mund des göttlich unergründlich Befohlenen weh in die Himmel empor, als er, in finsterster Nacht, zum drittenmal unten stand im geheiligten Raume. »Wer es nicht weiß, daß ich Jesus sein möchte, erdelos, fleckenlos, ungetrübt, – wenn ich nicht ich sein müßte! Einsamer Seher, um – überhaupt zu sein!« Und wie angerührt vom letzten Geheimnis alles Lebendigen, schüttelte er das zwiefach umkränzte Haupt. Denn, siehe! beide Melodien, die er bewußtlos heute in die Welt gerufen und bewußt wieder zerrinnen geheißen hatte, – einträchtig klangen sie nun, webten sie, sangen sie nebeneinander durch die lichtlose Nacht. »Nein!« wehrte er wehmütig ab; ihnen beiden. Und preßte die einsame Stirn an den Stamm der Linde, die sie schweigend verstand. »Daß ich mein Herz nun dir, Liebste, und allen entzog und an mich nahm, dafür zahle ich – der Himmel ist Zeuge! – mehr als reichlich Tribut! Aber . . .«

Und da sah er es klar: das ist alles schon geschehen! In Italien ist dies alles schon geschehen! Nun bestätigte die Geburt noch: die Heimat! Ruhig löste er sich vom Baume. Friedlich grüßte er Felsen, Strauch, Efeu, den Boden, die Bank. Und auch als das Auge, indes der Fuß schon dem grabstillen Hause zustrebte, keinen Stern im Himmel gewahrte, nur geebnete, reglose Finsternis, blieb es ungerührt stark. »Das ewig Männliche zieht uns hinan!« sagte er laut vor sich hin, schritt zur Mauer und griff nach der Pforte.

 

Ende.


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