Albert Trentini
Goethe
Albert Trentini

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»Herr Kniep,« rührte Goethe eine Stunde später, am Ende des ratlos schlotternden Heimgangs, vor der locanda Moriconi, den ratlosen Maler an, »ich fahre morgen früh, pünktlich acht Uhr, nach Paestum. Wollen Sie mitkommen?«

»Herr Kniep,« redete er nach achtundvierzigstündigem Schweigen den noch Ratloseren zum zweitenmal an, – sie kauerten im Boden des Poseidontempels von Paestum – »haben nicht auch Sie die Vorstellung hieher mitgebracht . . .?«

»Welche Vorstellung meinen Exzellenz?« wagte Kniep schließlich zu stottern. »Wenn ich bitten darf: welche?«

»Vielleicht versuchen Sie«, lenkte Goethe ab, – ihm graute – »von diesem Geröllhaufen da drüben die drei Tempel abzunehmen?«

Aber auch das einsame Hineinstarren in diese Tempel machte den zernichteten Geist nicht wieder schlagen in Glauben. So also ward jede kreuztragend erbeutete Spanne Wegs von der folgenden verschlungen? Der Übermut endlich erstrittenen Selbstvertrauens gezüchtigt? Jedes springende Licht wieder abgelöst von der Nacht? Nein, vom Chaos! Vom wohltätigen Feuer des Vesuvs zur Enttäuschung des Gemütes an Tischbein! Von der Ergebung darein auf das luziferisch überlegene Piedestal im Toledo! Vom Toledo in die sittliche Folge der Menschheitentwicklung im Gespräch mit Filangieri! Von dieser makellos edlen Stirn in die Verquickung des Vaters – des leibeigenen Vaters! – mit dem Verbrechen an Miß Harte! »Gehe ich zugrunde in Neapel?« schrie er verzweifelt heraus. »Verliere ich mich in Neapel?« Zum Buckel krümmte die Scham den Rücken. Zum Kriecher den ziellosen Schritt. Wenn ein Tag diese demütigende Zickzacklinie aufwies, was war dann die Summe von allen? Und das: nachdem die Torturen von Rom aufgelöst worden waren in die brüderliche Versöhnung der zwei herausfordendsten Geister, und das Herz – überwunden vom Geiste?

»Wenn ich mich zertreten und aus dem Brei neu schaffen könnte!« Oder: sind diese Peinen die naturnotwendigen Geißeln des Menschen, der wundoffen an Seele und Leib die Vollendung seiner Gestalt sucht?

Oder doch nur Disziplinlosigkeiten unter betrügendem Mantel? »Griechenland! Maß! Zucht! Arbeit!« bettelte er stöhnend, indem er die Basilika umjagte, hinein in die Trümmer.

Aber: Hier war nicht Griechenland! Zum zweitenmal umlief er die Basilika. Dann das Ceresheiligtum. Dann den Tempel des Poseidon. Grau kam er aus dem Tempel zurück. Zur verjagten Gebärde der Gebirge, den immer ungepflegter sich vordehnenden Feldern, ins Meilen-Endlose hinsiechenden Sümpfen, wahllos zwischen Wildpflanze und Kummersaat stockenden Pfützen, Erdhaufen, aufspringenden Buckeln, mattklaffenden Tälern, die keine Fortsetzung fanden, stimmte das Antlitz dieses mittelpunktlos hindämmernden Himmels genau. Nicht Urerde war hier, nicht die Weite des Lichts, in die er pilgern gewollt; nicht das Mal sieghafter Sammlung aller Krausheit der Erde und aller Spiele des Himmels im einenden Sinn eines Kunstwerks. Wie gedankenlose Zufälligkeiten nur ragten die drei Tempel empor in den gleichgültigen Unsinn von Scholle und Wolke. Umsonst diese flehende Flucht!

Trotzdem von neuem zurück stieg er die Stufen des Poseidontempels. Stellte sich zwischen den zwei mittleren Außensäulen der Vorhalle auf. Ungeheuerlich, urfremd wie Hottentottenzeichen, traten das kyklopische Dreieck des leeren Giebels im zerstückten Kranzgesimse, die Triglyphen und Metopen, das Fünftor der Halle zwischen den sechs Säulen ins hoffnungslose Auge. Die Cella war nur noch in den Ecken der Vorderwand erhalten. Hindernislos drang der Blick durch ihre Löcher hinaus in die Opisthodomos. Dicht aneinandergedrängte Reihen ungeschlachter Kegel aus Konglomerat, schienen die Säulen des Umlaufs und innerhalb ihres Zauns die übereinandergeschichteten Säulen, die das Mittelschiff rahmten, den wirr suchenden Blick zur Wiederherstellung der Ordnung anzurufen. Oder, spöttelten sie tückisch, zähle uns wenigstens! Miß den Zwischenraum zwischen uns, den Umfang der untersten Trommeln, die Spannweite der Hohlkehlen, das Verhältnis, in dem sich die Schäfte nach oben verjüngen! Und stelle es wieder her, das Idealbild deiner Seele vom griechischen Tempel; Bild aus dem Atlas, Bilderbuch, Traum!

Aber kraftlos, das jämmerlichste »Nein« in der Pupille, floh der Blick nur in die flatternde Unrast der Lüfte hinaus, die als unbegrenzte Allheit von Fahlnis und Anarchie die traurige Öde umgrinste. »Nein! Das ist nicht Griechenland! Oder wenn es Griechenland ist . . .«

»Es will nicht gelingen!«

Schwer drehte er um. Kniep stand hinter ihm; wies zwei Blätter. »Es wird immer nur ein Schock Säulen, und das Ganze heißt Nichts! Lüge ich, dann sind es nicht die Tempel von Paestum; und lüge ich nicht, dann erschrickt man davor!«

Blitz im Auge? Licht? Hoffnung? »Ich finde die Zeichnung recht annehmbar,« lobte Goethe nach langem, genauem Betrachten. »Wahr, gewissenhaft. Besonders in den Säulenmaßen!«

»Besser: Unmaßen.« Erlöst lachte Kniep auf; wie hatte er sich vor dieser ersten Probe gefürchtet! Gleich bekam das verzagte Gesicht Farbe und Regung. »Wie das häßlich nach obenhin abschwillt! Und dieser formlose Echinus! In der Fronte gesehen, will es noch angehen. Aber im Profil – schauderhaft!«

Ja! Schauderhaft! Dennoch: trieb das geweckte Blut nun nicht schon Gegengift gegen das seuchende Gift? »Sie dürfen aber nicht vergessen: sechstes Jahrhundert vor Christo!«

»Gewiß!« Echt deutscher Glanz im geretteten Blick. Dieser Mann ist ja zugänglich, sogar freundlich! »Aber – wenn der Parthenon auch so ist?«

»Parthenon ist Perikleisches Zeitalter. Fünftes Jahrhundert.«

»Oder, überhaupt«, – rot wie ein Mädchen ward Kniep – »wenn die anderen alle so sind? In Olympia? In Delphi? Segesta? Selinunt? Girgenti? Unter einem griechischen Tempel stellt man sich doch nicht ein solches Monstrum vor?«

»Öser in Leipzig,« sagte Goethe, – wie ein Pfeil drang das Auge in die Fetzen der Wolken empor, jetzt kreist Leben im Hirn wieder, wird der Himmel nicht heller? – »Öser in Leipzig pflegte zu predigen: jedes Kunstwerk muß aus jener Zeit heraus beurteilt werden, in der es entstanden ist. Nicht, was wir Heutigen verlangen, ist für dies Urteil maßgebend, sondern . . .«

»Aber das Schöne,« unterbrach gierig der Junge, »ist doch immer von einem und demselben Gesetze? Und schön sind diese Säulen gewiß nicht!«

»Auch wenn sie es heute nicht mehr sein sollten, jedenfalls waren sie es damals. Sonst wären sie nicht gemacht worden.« Bei Zeus, dieser Bursche war ja lebhafter, als er aussah! »Und das muß uns Späteren genügen. Jede Zeit hat ihre Kunst und jede Kunst ihre eigenen Ideale.«

»Aber das, was wir Späteren doch eben die ›griechische Schönheit‹ nennen? Die absolute Gültigkeit jenes griechischen Ebenmaßes, auf das wir doch alle – Hand aufs Herz! – eingeschworen wurden?«

Nein! Es ward nicht heller! Nicht entgiftet das Gift! »Jene griechische Schönheit . . .«

Aber er fand die fortsetzenden Worte nicht mehr.

»Ich will es nun doch wagen«, erklärte Knieps veränderte Stimme, »und nehme ihn schlankweg von vorne?«

Aber Goethe hörte es nicht mehr. Sah gar nicht, daß er wieder allein war. Wolken in wirbligen Tänzen flatterten vor dem umflorten Auge. Müdigkeit, lähmend wie Schlaf, floß durch die Glieder. »Wonach sonst hätte ich mich so heißhungrig gesehnt hierher, wenn nicht nach diesem griechischen Ebenmaß als dem Stab wieder in den Strudeln dieser dämonischen Reise?« Rann denn nicht alles schon wieder seit Neapel? Stand noch irgendetwas felsenfest aufrecht? Wohin gehe ich? Was treibt mich? Warum versank jeder Meilenstein wieder im Morast, kaum gefunden und kühn überschritten? »Und ist nur irgendetwas entschieden schon?«

Nein! Nichts war entschieden! Noch immer nichts!

Ohnmächtig bückte er sich ins Gras nieder, das in vergilbten Büscheln hoch aus den Fugen des Bodens wuchs. Erhaschte auf der Stelle, wo das Steinbild Poseidons gestanden haben mochte, einen Skorpion. Traf zwischen der zwölften und dreizehnten Säule des Westperistyls eine schwarzgelbe Schlange um einen Distelschaft geringelt. Schlug aus dem Friesbrocken, der wie Goldklumpen im schmalen Violettschatten schimmerte, ein Stück heraus. Zog Brot aus der Tasche, verzehrte es mit dem hartnäckigen Willen, bedächtig zu sein. Schritt langsam im ungleichen Boden dem Tempel entlang. Bemerkte ein Loch voll bleichen Blaus im Himmel, fern nordwärts. Darunter einen Baum. Neben dem Baum eine Hütte. Ging auf diese Hütte zu. Sah, als er vor ihr stand: sie war versperrt; leer. Ein Schwein grunzte aus unentdeckbarem Kofen. Geruch von Angebranntem lag in der umschwebenden Luft. Als er sich, noch rettungsloser, umwandte, standen die drei Tempel, genau unter dem Mittag, brennend in plötzlichem Lichte. So lange verharrte er steingebannt vor diesem Lichte, bis die durchgekämpfte Sonne sich westlich verschob, hinter dem Schattenriß der Tempel hinabsank. Nun war in der Welt, die er übersah, nur noch die zaunlose Weite und dies einzige, kapitale Aufragen der Schatten der Tempel. Die Stummheit ringsum wie unausgesetzt wiederholtes Todesurteil. Die Glanzarmut des Lichtes um die Silhouette plattestes Nichtleben. Die Silhouette selber: Symbol der vanitas aller Zeiten, mit der sein zerquälter Geist voll diese vanitas gemein hatte. Nutzlos – jeder Splitter sprach es aus – alles Streben nach Einheit! Die Welt ist die Summe der Teile; das Leben die Summe der Becher, voll von den Würfeln der Tage!

Wie ausgeplündert kehrte er um. Vielleicht, wenn man die Stadt wiederherstellen könnte, die stilgerecht einmal die Tempel umgeben hatte, würde die Ruine symmetrisches griechisches Leben? Und schön? Und das Unmaß, wenn der Festzug der Gemeinde – voran nackte Knaben, dann die Priester in den weißen Gewändern, dann die Jungfrauen mit den Körben voll Blumen, endlich, von Reitern geflankt, die braunen Männer mit den Stieren – heraufzöge über den Schutt, wieder Kanon? Die ehernen Pforten der Cella springen auf, die Stufen, Säulen, Giebel leuchten wie aus ionischem Goldstoff, blutumdunstet und verhymnt steigt der Opferrauch aus dem schmalstangigen Dreifuß, und Poseidons Dreizack blitzt über seinem meerblauen Auge aus Lapis hinab auf die Angst und die Hoffnung der Beter?

Aber der blattlose Strunk des Feigenbaums, an dem sich der Zerspaltene festhielt vor dem grauenhaft offenen Rachen der Opisthodomos, war so unbesieglich wahr trieblos und verdorrt, daß auch die trotzigste Jugendphantasie wie eine Provinzdummheit vor seiner Unerbittlichkeit erblich. Nein! Mit erdichteten Bildern ließ sich hier nicht helfen! Entweder das eigne Leben, das man mitbrachte, – oder nichts vermochte das Begriffsfremde dieser Kolosse zu beleben. »Was aber, was bringe ich mit? Emma heißt mein letzter Zug Leben!« rief er schallend hinein in die ruchlose Unnahbarkeit. Aber hier ward auch der Hohn verschluckt. »Im Ernst also: stelle sie, stell dieses Weib auf kubischem Riesensockel in die zerbrochene Cella, und die Cella hat Sinn, der Umgang Anpassung, das Ganze Stil!« Wie sie – als er eingetreten war nach den drei bedungenen Minuten – schamhaft, mit gehöriger Schamhaftigkeit das Auge gesenkt hatte! Allerdings: eine Sekunde später schon hob sich ihr Antlitz völlig bar jeder Röte. Jedes Zögerns, jedes Zweifels in die Höhe. Sah ihn fest an, und – lächelte. Allerdings: durfte getrost lächeln. Wo hat eine griechische Göttin je Schultern besessen wie diese, die in singenden Bögen vom stammrunden Halse zu den Kuppeln der Achseln hinüber und zu den reinausgeprägten Knospen der Brüste hinabschwangen? Artemis konnte die biegsame Lust ihres Leibes nicht auf edleren Beinen, überlegener geschweiften Schenkeln aufgebaut haben, als diese, im freien Drang eines groß sich auslebenden Blutes Erwachsene. Hera nicht mystischer den Beruf des Weibes angekündigt haben, als diese Nordische mit der elastischen Wölbung des Bauches unter der knappen Höhle des Nabels. Und als sie sich umgedreht hatte, übergewissenhaft in ihrer Freigebigkeit, – »Aphrodite aller Aphroditenbezirke, warst du göttlicher Kallipygos als sie? Hinauf also auf den Sockel und herein in die Cella!« Zwischen Wahn und kühlstem Erfassen lachte er auf. »Und sie wird Griechenland neu gebären! Neu gebären aus dem gierigen Blick, den diese verlotterte Landschaft auf sie hinwerfen wird und diese barbarische Mißgestalt. Und mit dem Finger auf mich niederweisen, diabolisch, und richten: und dieser Weinreisende da hat mich entdeckt! Erst gefunden! Erfunden! Er . . .«

»Ergaunert!«

Und dieses Griechenland da – wie von Hunden gehetzt rannte er – dieses Griechenland hatte den Schmutz wegwaschen sollen, sogleich, von diesem ergaunerten letzten Spiel Lebens! Und hatte es nicht getan! »Nein,« donnerte es in die Sünde wider den heiligen Geist hinein, »ich bin nicht Schönheit, nicht Ebenmaß, geschaffen, um in Hochmut Gefallene wieder aufzuheben und verlumpten Gemütern wieder die zerknitterte Krause zu steifen! Übergang bin ich vom Riesentier Mammut zum lallenden Wilden. Und: bin es aus mir, und für mich!« Und als ob sich ihm Schlangen nachringelten, offene Mäuler ihm nachschrieen, die Erde ihn ausspiee und der Himmel ihn zurückstieße auf die wehrende Erde, jagte er von Säule zu Säule. Hinaus in den Rand der Stufen. Hinein in den Steinbruch der Cella. Durch das Licht. Durch den Schatten. Bis er, ohne zu wissen, wo er war, wieder in das Hinterhaus einfiel; an den Tod des zerborstenen Pfeilers. »Wenn mich die Weimarer nun sähen?« Mit den sinnlosen Händen rieb er die sinnlose Stirn, die entlichteten Augen. »Oder die plattfüßigen, poposicheren Bewunderer! Reise nach Italien! Wiedergeburt! Einheit! Harmonie!« In den Säulenwald hinein, durch den er von neuem gewälzt ward, daß es widerhallte, schrie er. »Und ich muß kämpfen mit diesem Lande wie mit der höllischen Bestie der Apokalypse! Heut gewonnen, morgen zerronnen! Gestern ergaunert, heute verspielt! Rom: eine Frage! Neapel: die grinsende Antwort! Und: wie weit noch? Wohin noch? Was wartet am Ende? Wer schwingt schon die Rute? Fletscht bereit schon die Zähne?«

Da fuhr er zusammen: Genau vor seinen gefesselten Füßen im Boden, in der Nische, die von zwei vorspringenden Pfeilertrümmern der Cellaruine gebildet war, saß ein altes Weib und las Erbsen.

»Was tun Sie da?« herrschte er, sinnlos erschrocken, das Weib an.

Langsam hob das Weib den Blick zu ihm auf. Kein Erstaunen darin. Die Züge ihres vollkommen gelben Antlitzes sprachen kein bestimmtes Jahrzehnt aus. Die Augen waren noch groß, fest, blau. Über den steilen Bögen des Schädels lag das volle Haar, in der Mitte gescheitelt, weiß. Ein linnenes Hemde, sehr sauber, hüllte die Gestalt ein. Hals, Schulter, Rinne zu den Brüsten hinab nackt. Die rechte Hand hielt Erbsen über einem geräumigen Korb, der auf dem Schoß ruhte. Die linke las diese Erbsen aus, warf die gelesenen in einen ebenso großen Korb, der auf der Erde stand.

»Was tust du da?« fragte er noch einmal, noch erschreckter, weil das Weib wollüstig glotzte.

Zu schmunzeln begann das Weib. »Und Sie? Was tun Sie da?«

Es war eine blitzschnelle Sekunde, in der er in den Tempel zurück, durch den Tempel hinaus in die Wüste blickte und mit diesem Blick sich selber vorsagte: ich bin Johann Wolfgang Goethe, geboren am 28. August 1749 zu Frankfurt, und seit dem 8. September 1786 auf der Reise in Italien. »Warum aber,« stieß er hilflos hervor, »verrichten Sie dies häusliche Geschäft nicht lieber zu Hause?«

»Ich bin nirgends zu Hause.«

»Irgendwo wirst du wohl ein Bett haben?«

»Ich bin überall zu Hause.«

»Auf dem Meere, zum Beispiel?«

»S'intende!« Herzoffen lachte sie. »Ich bin die Tochter Poseidons, der Luft, der Erde und des Feuers. Von allem, was Vater und Mutter ist, Tochter.«

In den Boden stampfte er. Fünf Stunden lang hatte er den Unsinn dieses Tempels durchsessen und durchwandert und den Winkel dieser Spitzbübin nicht entdeckt. Und nun er ihn entdeckt hatte, schlug ihm der Unsinn dieser Spitzbübin diesen Unsinn noch krummer und kleiner. »Wie lange sitzest du da?«

»Von Anfang an.« Die Erbsen flogen. »Und ohne Ende. Immer.«

Als ob er sie schlagen wollte, zäh und drohend setzte er sich ihr gegenüber in den Boden. »Aber du bist doch aus Paestum?«

»Paestum?« Daß das Hemde hoch wackelte, kicherte sie. »Ich bin von der Bestialität des Lebens her. Genügt es?«

Also eine Wahnsinnige!

»Kinder?« fragte er nach langer vergeblicher Pause. »Hast du Kinder?«

Verschmitzt grinste sie. »Warum fragst du nicht zuerst nach meinem Manne?«

»Wo ist er?«

»Er?« Die Erbsen flogen. »Der erste war Odysseus. Diese Kanaille! Der zweite: Julius Cäsar. Mischung zwischen Affe und Gott! Der dritte: Paulus, der Apostel. Der vierte – Paolo non faceva bambini – der vierte: die Cumaea. Der fünfte . . .« Sie warf ihm, schillernd in allen Farben der Welt, eine Handvoll Erbsen ins Gesicht. »Nach dem sechsten, siebenten, achten, neunten kam der Kaiser! Federico! Che uomo! Maschio! Bello! Miracolo di creatura! Und so weiter und weiter! Aus jedem Jahrhundert der Jahrtausende je einer. Einer nach dem anderen. Immer Männer. Und alle« – Wonne rollte die beweglichen Züge – »tot; alle tot!«

Nach einer starren, zweifelvollen Weile, den Blick tief im Tempel drin, der nun halb schwerviolett, halb golden aus dem fahlgrünen Boden in den stahlblau gewordenen Himmel aufsproßte, fragte er: »Wie alt bist du?«

»Ich bin, und ich werde sein, und ich bin!«

»Und trotzdem keine Kinder?«

Die Zunge zeigte sie ihm. »Das Meer hat hunderttausend Wasser, die Erde hunderttausend Steine, die Luft hunderttausend Wolken, das Feuer hunderttausend Flammen. Sollen die alle leben? Genug, daß die Luft lebt, das Feuer, das Wasser, die Erde, – Ich! Die Mutter von allem! O, ich könnte Euch Geschichten erzählen! Geschichten!!«

Ekel, Ekel, Ekel im Hirn! Mit wilder Hand wehrte er ab.

»Bürger!« fletschte sie die Zähne. »Man sieht es ihm an: er hat von jeher feist gefressen, satt gesoffen, in guten Betten geschlafen. Wenn er sich in den Finger schneidet, der Herr Arzt muß kommen. Keinen Fettflecken ins Kleid. Kein Bauchweh in der Nacht. Deine eigene Verdauung weißt du von der Welt, – und sonst nichts!«

Hatte ihn der Skorpion, den er sicher in einem Schächtelchen in der Tasche trug, gebissen? »Du kannst schimpfen!« stotterte er kalkweiß. »Also weiter! Nur weiter!«

»Dieses beschränkte Gesicht!« Daß es prasselte, warf sie die Erbsen in den Boden hinab. »Diese steife Gestalt! Bewegung, mein Freund! Not! Marter! Folter! Biege dich!«

»Weiter!«

»Von deiner Nase nicht zu reden!«

»Was ist mit meiner Nase?«

Zur Grimasse spreizte sie den Schädel auf dem dünnen Halse. »Trägt sie hoch, als ob sie berufen wäre, die Welt zu beschnuppern. Beschnuppert sie hochmütig mit ihrem Gestank. Zwerg! Dummer! Steck sie in den Dreck der Welt; du bist für ihn da, nicht umgekehrt!«

Ohne sich noch zu besinnen, mit einem Ruck, streckte er ihr die Hand hin. »Kannst du lesen darin?«

Verächtlich warf sie die Hand ihm zurück. »Als ob ich das nötig hätte, offenes Buch du! Verzogener! Impotenter! Nichtstuer! Egoiste!« Aus vollem Hals: »Höfling!«

»O?«

»Ja!« Noch verdammender schrie sie. »Glashaushyazinthe! Glaubt, weißgottwas für die Welt zu tun; und tut nur, was ihn kitzelt!« Aber, gleich darauf, lächelnd, ja geradezu kameradschaftlich: »Ich habe einen Ähnlichen gekannt. Geromino, den Kämmerling des hochseligen Papstes Alexander des Sechsten. Friede seinem Skelette!« Andächtig schlug sie das Kreuz. »Zeus belecke es! Mittelgroß war er. Mager. Stimme wie die deinige. Als er noch keine Gedanken hatte, befriedigte er in jeder Nacht alle Dirnen des Quirinals. Alle. Und es waren viele! Aber als ich ihn kennen lernte, spintisierte er bereits. Seit elf Jahren lebte er mit der Frau des Herzogs von Livia wie ein Bruder. Nur aus Feigheit vor der Ohrfeige, – die er niemals bekommen hätte! Auf einer Jagd kam er hierher. Ich saß hinter der Hütte drüben, in den Artischocken, und hatte den Gürtel aus Goldgitter an, den mir der Kaiser angelegt hatte. Sarazenengewand drüber. Schön war ich! Und gehabt hätt' ich ihn gern! Aber die Stirn über den Augen – die von Brunst troffen – hatte schon die verfluchten Gedanken! Wort war er. Nichts mehr als Wort! Er male, lockte er. Teuflisch! Ich sei die Schönheit der Schönheiten, Helena! Wenn er mich einmal nur nackt sehen könnte . . .«

Diese also, diese fletscht bereit schon die Zähne?! Weiß, wie die Zähne, die sie fletschte, gefror er.

» . . . Meister der Meister, Gott, allmächtig würde er,« – die Erbsen flogen – »wenn er mich nackt sehen könnte, einmal! Ich aber hatte den Gürtel an und war heiß unter dem Gürtel. Als er nun endlich so weit war, daß nur mehr das Gitter ihn trennte, – wie ein neugeborenes Kindlein im Nachthemd begann er zu zittern! Wie ein Besoffener zu lallen! Brach den Gürtel entzwei, und – schaute nur an! Ins Gesicht hinein . . .«

»Apage! Hexe! Verfluchte!«

» . . . gespuckt hab ich ihm! Mitten hinein! Wie jetzt Dir!«

Mit sausendem Ärmel den Speichel vom Gesichte wischte er; wie alles Gift der Welt, alle Schande der Welt, alles Nein, Todesurteil, Abschaumige der Welt vom Gesichte. Ja, was schrie das Blut jetzt? Begehrte, zerbrochen und jammernd in seinen Trümmern, das Hirn jetzt? Verlangte, nach Atem ringend im Sumpf der Vernichtetheit, die gezüchtigte Seele? Der bespieene Leib?

»Flieh nicht!« Flink, mit der jüngsten Gebärde erwischte sie ihn am fliehenden Zipfel. Rang mit ihm. Fing ihn zurück. Bleich taumelte er, schlotternd in vollkommenem Nichts, nicht mehr Schatten der noch gestrigen Gewißheit. »In Corsica«, zischte das Weib, die Erbsen schon wieder auf dem Schoße, »in Corsica drüben sehe ich eine Rute aufwachsen zum Kaiser der Ruten. Und in dir« – die Erbsen flogen – »auch einen Kaiser aufwachsen. Denn sonst wärest du niemals daher gekommen, ausgerechnet zu mir, der Begierde der Kaiser! Der Corsische wird ein Erdfresser, Thronfresser, Menschenfresser, Blutfresser sein, wie noch kein Assyrer, Babyloner, Phöniker, Meder, Perser, Grieche, Römer, Gote, Vandale, Barbare, Germane, Seldschuk und kein Hunne gewesen! Du hingegen: der Kaiser der singenden Herzen, aufgeweckten Gehirne, sehnsüchtigen Adern und dürstenden Seelen; vom Osten zum Westen, vom Norden zum Süden. In einem Reich ohne Grenzen, der Taten ohne Rast, Herr der Dörfer, Städte, Meere und Länder: er; – du in einem Nest, wo die Füchse sich gute Nacht sagen und im Schlammteich des erzwungenen Nichtmordens, Nichtunterjochens, Nichtwürgens die sogenannte Seele sich aufmästet zum Wasserkopf. Umso größer der Dunst deines Ruhms. Aber . . .« Und mit zu Fäusten geballten Händen, einer Stimme, die Gräber aufriß und Lebendige totwarf, drang sie ein auf ihn. »Du wirst der Erste sein, der, wenn dieser Eine euch wird zertreten haben wie eine rote Brut Wanzen, vor ihm kriechen wird, katzbuckeln, scharwenzeln! – Dann erinnere dich meiner! Und der Pyramide des Cestius!«

»Pyramide des Cestius?« stammelte er röchelnd.

»Bist du jemals geprügelt worden, daß dir die Fetzen von der Haut fielen?«

»Nein.«

»Geschändet worden jemals, daß das Blut sich dir umdrehte und der Atem zur Lästerung losbrüllte auf die verfluchte Götterhand, die dich zum Menschen gemacht hat?«

»Nein.«

»Je betrogen worden, wenn dein blödes Gemütchen gerade zu glauben begonnen hatte?«

»N – ein.«

»Und gesteinigt worden auch nie?«

»Nein.«

»Und gekreuzigt erst recht nicht?«

»Nein.«

»Also« – spitz wie eine Dolchklinge bohrte sich ihr Blick ihm entgegen – »niemals noch hingegeben hast du dich?«

»N – nein.«

»Und noch nie auf dein eigenes – Wohlsein vergessen?«

»N – nein.«

»Niemals, merk auf!« schrie sie brennend wie Dornbusch, »etwas lieber gehabt als dich selbst?«

»N – n – nein.«

»Keine Sorge? Nur Begierde?«

»J – a!«

»Die Welt ist ja schön! Was? In Ordnung?«

Er antwortete nicht mehr.

»Es geht alles wie am Schnürchen? Vom ersten Tag an bis heute? Und wird von heut an in noch sinnreicherer Folge gehen, als bis heute?«

Er nickte nicht einmal mehr.

»Wie ein wohlgeordnetes Haus steht dir die große Kugel? Was? Das du dir selber aufgebaut hast? Alles steht dort, wo du es hinstelltest. Und steht es noch nicht dort, oder stellte es sich fort, dann stellst du es eben hin oder wieder zurück. Keine andere Sorge als: daß alles dort bleibe: Luft, Wasser, Feuer, Erde, und Du, – wo du es haben willst? Dummkopf!« Wie einen Felsblock schleuderte sie ihm den Fluch an die Stirn, und als ob ein Felsblock ihn getroffen hätte, wankte sein Schädel zurück an den Stein. Allen Schleim der getanen Tat in den Winkeln des Mundes, stand das Weib auf. Schüttelte die Erbsen vom Hemde, nahm den ersten Korb auf, dann den zweiten, baute sie kunstgerecht zwischen Brust und linkem Arm übereinander und trat in die Stufe hinab. »Ich hatte mir auch einmal mein Haus gebaut,« keuchte sie höllisch; »vor dreitausend Jahren. Als ich noch dumm war wie eine Ziege. Nachher – sind die Verbrechen der Welt an mir getan worden. Alle! Ohne Ausnahme! Aber nicht deshalb stürzte der Bau zusammen! Das geschah erst, als ich anfing, auszuschlagen. Mich zu stemmen gegen die Einbrecher, Brandleger, Mauerstürmer, Maulwürfe, Dacheinreißer und Mörder. Bestie ward gegen Bestien. Leugnerin gegen die Leugner!« Daß der Riß zischte, riß sie das Hemde auf der Brust auf, die nackte Brust sprang aus dem Klaffen. »So wie sie mir alles zerstampft hatten, zerstampfte ich ihnen nun alles. Alle Gemeinheiten des Lebens, zuerst von ihnen an mir getan, nun noch einmal von mir getan ihnen. Für meinen eigenen Haß? Zur Vergeltung? Aus Rache? Hahahaha!« Wehend im Wind stand sie, halb Sonne, halb Schatten, zwischen den Säulen. »Für meine Schweine! Kaiser und Könige? Für die Schweine! Der Mann, dem man gehört, die Kinder, die man gebiert! Für die Schweine! Daß man sich nachts schlafen legen und tagsüber roboten, essen, trinken, lieben, für morgen sorgen muß? Für die Schweine! Gerade und Krumm, Hell und Dunkel, Gestern und Morgen, Gut und Böse, Leben und Tod, – für die Schweine! Alles für die Schweine! Nur für die Schweine! – Säugling der Ordnung, wach auf,« schrie sie ihn an, daß ihm die Glieder klirrten, »und brenne dein Spielzeug zusammen und geh in die Verzweiflung hinaus und entdecke den Rachen des Unsinns, – und lies Erbsen für deine Schweine, wie ich!«

Und stieg hinab.

Schritt, nicht mehr sich umwendend, vor seinem erloschenen Auge in die Wüste.

Trat in der Ferne, vor seinem totgepreßten Auge in die Hütte.

Und nichts mehr war rundum!

Nichts. In den Gliedern, die einem Leichnam gehörten, nichts. In der Seele, aus deren Bett gurgelnd der Fluß der Vergangenheit strömte, nichts. Im Gehirn, dem meuchlings die gemästeten Bilder des Bisher entflohen, nichts.

Überall nichts.

Die Hände zu heben, einmal, versuchte er; daß sie sich falteten, oder die Gebärde des Nichts höhlten mit ihrer gekrümmten Runde; oder frech abwehrend sich reckten gegen das Nichts.

Aber sie gehorchten nicht.

»Nichts!« stammelte er, in seinem vollen Nichts hingeboten dem fremden Auge, als eine fremde Stimme in seinem Rücken plötzlich fragte: »Schläfchen gemacht?« Aber Kniep, dieser Wecker, erriet ja nichts! Fünf Blätter hatte er zu weisen. Dampfte von Freude am Werke. »Das ist doch immer so!« strahlte er; wie vor einem Blinden tropfte dem Mann, der blind die Blätter prüfte, der Schweiß von der Stirne. »Wenn ich das grauslichste Schwein dreimal recht mit Fleiß zeichne, auf einmal wird es doch ein Porträt. Und das Schwein ein sympathisches Tier. Ich finde jetzt den Tempel viel maßvoller, schöner!«

Wie aus ziehendem Grabe stand Goethe auf. Nahm den Ahnungslosen unter dem Arm. Mühte sich Tritt für Tritt, wie ein Kranker, in die Bahn zwischen den Säulen zurück. Verwünschte zerfressen die Rede, die vom Jungen – nur weil er seine Arbeit getan – blühend niederfloß. Und griff sie trotzdem wie Strohhalm. Ihre gewöhnlichen Worte kampfloser Ruhe, nicht einmal an die Sockel der Gebirge hinan rührten sie, die vor seinem Entsetzen sich aufbauten. Keine Bewegung erfühlten sie von den zuckenden Parabeln, mit denen die Welt vor ihm rachsüchtig kreiste. Und griff sie trotzdem, lechzender nach Auferstehung von Sekunde zu Sekunde, wie das Tau der Errettung. Höre nicht auf, höre nicht auf zu reden! rang stumm, weil er nicht reden konnte, der zuckende Mund, der vom Grab kam; beschwor, weil es im Grab blieb, wenn es nicht hörte, das Ohr; bettelte die Hand, die den leitenden Arm preßte wie Kinderhand den Vaterarm preßt auf dem schwindligen Notsteg; rede nur, rede immer weiter und weiter! Schreite! Stundenlang, tagelang, ohne Unterlaß, bis du mich herausgezogen haben wirst aus dem Nichts! Durch das Dickicht der Säulen schreite! Über die Schlünde des Leeren! Aus dem Gähnen der Lücken in die Übervölle der Formen! Vom Gestade des Nichts vor der nördlichen Stufe an die – vielleicht doch einmal noch winkende Gestalt der Tat vor der südlichen! Rede nur, rede unaufhörlich, und schreite! Sekunde! Minute! Stunde! Wirkende Webe der Zeit über dem Loch der Vernichtung! Zieht schon ein Atemzug? Spannt die Säule des Rückgrats schon wieder den Rücken? Rinnt Blut in der Hand? Will mir, unter dem Auge, das die Lider aufschlägt, ein Wort wieder werden? Im Gehirn wieder Denken? Ein Gefühl in der Brust?

»Dies nämlich wollte ich sagen . . .« Aber zaudernd senkte Kniep das Auge; redete er nicht den Unsinn der Jüngsten? »Wenn man sich . . .«

»Weiter! Nur weiter!« stieß der Mann an seiner Seite bettelnd heraus; es klang wie Schuß in der Wildnis. »Nur weiter und weiter!«

»Wenn man sich mit irgendetwas nur recht unerbittlich beschäftigt, verliert auch das Fremdeste bald seine Fremdheit. Wenn etwas also, dann ist's nur die eigen zu machen. – Ich habe das allerdings erst heute eigene Tat, die einem helfen kann, die Welt sich zu erfahren.« Töricht lächelte Kniep; kindlich. »Sie dürfen nicht böse sein, daß ich so rede. Tischbein warnte mich ausdrücklich davor, Sie zu beschwätzen. Aber . . .«

»Aber?« Lauter, hochaufspringender Atem. Stehen blieb der Fuß. Hart packte die Hand den Arm, der nicht wagte. »Weiter! Nur weiter!«

»Aber ich gehe in Neapel nur mit Menschen um, die noch dümmer als ich sind. Da bleibt man denn das Nichts, das man ist! Nun, zum erstenmal, finde ich mich einem Geiste gegenüber, der auch den besten überlegen ist, – und die Schiefertafel wird beschrieben! Sie ist natürlich eine ganz unbedeutende Schiefertafel . . .«

Jetzt bin ich durch! wußte Goethe. »Es ist nichts wichtiger,« – mit keuchender Wollust stieg das Wort aus dem überwältigten Grab herauf – »als zu wissen: wie unbedeutend wir Alle sind. Und daß wir trotzdem schreiben müssen; auf der Schiefertafel. Schreiben Sie seelenruhig weiter!«

»Sie schreiben ja!«

»Dann lassen Sie mich also weiterschreiben!« Lebenlechzend vom innerstverborgenen Nerv bis in den nußbraunen Stern und lebemächtig in jedem Punkt seiner gierigen Wohnung, jagte das Auge in die Formen des Tempels, die plötzlich griffbereit wie Stäbe dastanden und deutlich winkten: jawohl, unser, auf dem taumelnden Rückweg vom Nichts in das Leben, bediene dich, Tor, du! »Nicht hinterlassen muß man,« sprach er atemlos in sie hinein, »um gerechtfertigt sterben zu können. Sondern: wirken – im Leben!«

»Diese zurückgebliebenen Tempel aber . . .«

» . . . wirken weiter,« fiel er schlagend ein, – jetzt sank Vorhang auf Vorhang! – »weil sie damals gewirkt haben! Und wenn mir das auch erst jetzt aufdämmert, – wer geht da?«

»Ein Hirte.«

» . . . erst jetzt aufdämmert . . .«

Aber als sie vom Tempel in die Wüste niedergestiegen waren, sahen sie erst: in weiter Entfernung trieb der Hirte seine Schafe vorüber. Die Meile der Ewigkeit schaukelte zwischen ihnen und ihm. Erschreckend, als sie diese Meile fühlten, verließ sie die Hoffnung. Sollten sie dem Manne folgen? Oder in den Tempel zurückstreben? Denn dieser ungewiß zwischen Nähe und Ferne schwebenden Erscheinung gegenüber schien dieser Tempel festzustehen wie Leuchtturm im Meer des Unmeßbaren, Unbestimmbaren. »Ich wollte«, stammelte Goethe, von neuem ins Schwanke verzogen, wie Todesangst überfiel ihn die Furcht vor der Rückkehr nach Neapel, »ich hatte gedacht, – ich meinte . . .«

»Ich geh den Mann holen!« entschied Kniep und lief schon.

»Nein! Bleiben Sie bei mir da! Es ist mir lieber!« Im gleichen Augenblick aber ward schon erkenntlich: der Hirt wendete. Wie auf ein bedacht verfolgtes Ziel zu kam er ihnen näher. Genau immer näher. Nach einer kurzen Viertelstunde war er da.

»Kannst du mir nicht sagen,« redete ihn Goethe, eilig herabgestiegen, sofort an, »wer in jenem Schweinestall drüben wohnt?«

Der Hirte war breit und stämmig. Langen Bart hatte er, buschig umbraute Augen. Den Stab hielt er mit beiden Händen vor seiner Mitte. »In jenem Stall? Die alte Verrückte.«

»Warum ist sie verrückt?«

Bewundernd sah der Hirte ihn an. »Haben Sie sie gesehen?«

»Freilich.«

»Ihr Mann,« sagte der Hirte gleichmütig, während Knieps Auge ratlos die Miene des Anderen abforschte, »hat es mit ihrer Schwester gehabt. Sie hat ihn da drinnen im Tempel mit der Schwester erwischt und beide mit dem Rebmesser abgeschlachtet. Zwei Tage darauf ist ihr das älteste Kind an einem Natternbiß gestorben. Das zweite hat einen Monat darnach der Wolf zerrissen. Und das dritte, – deswegen ist sie eben pazza geworden.«

»Wieso?«

»Sie soll es auf ihrem eigenen Herde gesotten und gebraten – und dann auch gegessen haben.«

»Es gibt keine größere Gnade des Schicksals,« hob Goethe auf der Heimfahrt ganz plötzlich zu reden an, – er hatte seit den Worten des Hirten wie ein Stein geschwiegen – »als die: das Leben – Natur oder Kunst – aus einem persönlichen Erlebnis erfahren zu dürfen, das darauf hinleitet.« Das Kaleschchen rollte am Strande Neapel entgegen. Hatte das lohgelb, giftgrün und schreirot geschminkte Neapel, das die Sonne peitschte, vor sich, roch den sorglosen Lärm schon der Hocker, Läufer, Fensterschauer und Fresser. Und dennoch sah er noch immer nur: die ausgebrannte, tümpelfahle, brockenbleiche Wüste, und in ihrer Mitte den Tempel, an dessen Säulen die Erbsen der Wahnsinnigen prasselten. »Stellen Sie sich vor: ein unerwartet hereingebrochener Schmerz, eine noch in der Sekunde vorher nicht ahnbar gewesene Niederlage Ihres innersten Selbst zertrümmert mit einem einzigen Schlage die Welt, wie Sie sie sahen, und Sie blicken plötzlich in ein vollkommenes Nichts! Nichts mehr ist da. Kein Gesetz, an dem Sie sich anhalten; kein Raum, in den hinein Sie sich stellen, keine Zeit, an der Sie sich besinnen könnten. Nichts. Es gibt keinen Sinn mehr, denn das Nichts ist der vollendete Unsinn, ein Nichts aber, das auf etwas Gewesenes folgt, der satanischeste von allen, denn er zeigt schonungslos, wie so schmählich auf Sand gebaut dieses Gewesene gewesen. Und nun fällt, ebenso plötzlich, Ihr verzweifelter Blick von diesem Nichts auf die ganz und gar ausgewogene Maßhaftigkeit, ganz und gar abgezielte Ordnung, mit Händen zu greifende Sinnfülle dieser Tempel zu Paestum . . .«

»Ja – haben Sie denn die alte Verrückte tatsächlich gesehen?«

Das Erstaunen drohte Goethen aus dem Wagen zu schleudern; so gut las dieser Bursche? Zum Teufel! »Man braucht dann,« setzte er mit geheimem Lächeln fort und breitete dabei heilig den Blick auf die Korvette, die mit prallen Segeln und Kurs nach dem Süden mitten drin stand in der Woge des Meeres, »nicht noch die Athene Lemnia des Phidias zu sehen, um vor ihnen anbetend niederzufallen, – die doch nur die Vorstufe zu solcher Vollendung gewesen sind! – und um sich daran aufzurichten, daß die Welt doch noch immer ein Wunder kennt, . . .«

»Griechenland? Hellas?«

» . . . mit dem zu jeder Zeit wieder der Unsinn des Chaos in den Sinn der Entwicklung kann gebannt werden: die schaffende Arbeit des Genius! Sagen Sie mir, kennen Sie die Geschichte vom Torquato Tasso?«

»N – nein.«

»Die der Nausikaa? Des Odysseus und der Nausikaa?«

In die Erde versunken wäre Kniep am liebsten. »Auch nicht.«

»Aber eines können Sie mir doch gewiß sagen?« Und ein Blitz, hinreißend unwiderleglich wie der messerscharfe Spruch eines Gottesurteils, schoß aus dem ganz und gar entblößten Auge in das furchtsam verzagte. »Was wären Sie lieber: ein Künstler, der sich in eine Prinzessin verliebt, – oder ein schiffbrüchiger König, in den sich eine Prinzessin verliebt? Hm?«

Wie von Tönen verschleppt, die er nicht verstand, überwinkt von nur fühlbaren Zeichen von Rätseln, Fügungen, Wandlungen, die an ihn nicht rührten, starrte Kniep ihn an.

»Sie halten mich für verrückt, wie ich sehe?« lachte Goethe aus der Demut der Brust in den Vollglanz der Sonne. »Und doch war ich's in keinem Augenblick meines Lebens weniger als in diesem. Ich habe nur nicht gewußt, . . .«

»Mein Gott!« Mit hilflosen Armen fuhr Kniep auf. »Ich habe ja auch nicht gewußt!«

» . . . daß mir erst eine pazza zu Paestum das Nichts zeigen müßte und meine ganze Erbärmlichkeit, damit ich endlich heimfinde in mein eigenes Reich. Schauen Sie doch, wie es sich sehnt! Sich entgegenbiegt! Von der Erde fortwindet, das Schiff!« Und die ganze rasende Sehnsucht des Schiffes: hinaus, in die Weite! und das ganze trunkene Armeausbreiten des Meers, diese ganze Strahlwut der Sonne, die über ihn ausgoß die ganze Wonne ihres Mittelpunktseins in den Räumen der Welt, funkelten aus dem neugeborenen Auge. »Wenn einmal jeder Boden zurückbleibt, die letzte Haft dem Fuß schwindet und der Leib verlassen schwebt zwischen dem Schaukeln des Himmels und dem Schaukeln der Wasser . . .«

»Ist dann dort dieses Reich?«

Zärtlich nahm der Erschütterte die bang fragende Hand in die seine. »Keine Angst, mein Kind! Ich weiß schon. Verstehe. Er braucht nichts zu fürchten. Ohne Abschied fahren wir nicht! In acht Tagen erst geht die nächste Korvette. Und wir bleiben nicht allzulang. Und damit er's nach der Heimkehr recht wohnlich finde, zu Hause, beim Schätzchen, . . .«

»O, Herr Geheimerat!« Aus einem Vesuv voll Scham sprang's heraus. »Nicht deshalb!«

»Sei er nur still! Ich habe mir's eben jetzt ausgedacht: noch bevor ich ausfahre, um Nausikaa zu suchen, kaufe ich dem Schätzchen und Kniepen zwei Betten. Eiserne! Feste! – Kein Wort mehr!«


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