Albert Trentini
Goethe
Albert Trentini

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»Lotte!«

Und sie lag in seinem Arm. Göttliche Flut in Seele und Gliedern. Wie im Rausch eines sonnigen Wirbels umlichtete ihr Mensch sich. Es war der alte Arm, der sie hielt. Und die Lippen die alten, die sie küßten. Er sagte nur noch einmal: »Lotte!« Dann nichts mehr. Dieses aber hatte er leise, lächelnd, fast beschwörend gesagt. Sie fühlte aufschwebend: wie rast ihm das Herz! Hatte er sich seit Monaten gefürchtet vor dieser Stunde? Oder sich monatelang gesehnt nach dieser Stunde? Sehen konnte sie, wollte sie ihn nicht. Nur: »Er ist wieder da!« Andächtig staunend, halb unbewußt, streichelte sie seine Hand. Schmiegte das Gesicht tiefer an ihn. Seufzte. Ach, seufzte. Löste sich endlich, erlöst, von ihm.

Und sah ihn nun. Und sagte noch während dieses ersten Blicks, unbewußt: »Also bist du auch zu mir gekommen!«

Wie aus großer reicher Nacht heraus lächelte er.

»Zuletzt auch zu mir?«

»Ich mußte wohl zuerst zum Herzog?«

Mit verzweifelten Fingern, verzweifelt, zerdrückte sie den unwiderstehlichen Zwang ihres verhexten Wesens, zu vernichten, obwohl es gerettet schon aufbauen wollte; würgte machtlos die Ohnmacht hinab, gegen diesen Zwang aufzukommen. Er war stärker als sie. »Die ganze Stadt hat dich schon gesehen!«

»Ich – konnte nicht früher.«

Der Teufel, so tapfer sie sich auch gegen ihn wehrte, riß sie tiefer noch in die Krallen. »Man weidete sich schon daran, daß du mich für zuletzt aufspartest. Ganz Weimar!«

Er blickte, ohne zu antworten, im Raume umher. Alles wie einst! Und alles lebte noch! Atmete noch! Und alles Erlebte sitzt untötbar da drinnen im Herzen! Mit völlig gleichmütigem Auge streifte er die Frau. Er hatte sich schon zwischen den Zaubern Roms bis zum Bleichwerden vor dieser Stunde gefürchtet. Die Angst vor diesem Wiedersehen die Räder seines Wagens, der von Italien herauffuhr, tückisch gehemmt. Er war, ehvor er die paar Schritte da herüber getan hatte, stundenlang in der engen, versperrten Stube zu Hause auf und nieder gegangen, zögernd vor dem Schwert dieser Stunde. Und nun drohte von diesem Schwerte her nichts mehr! Diese Frau, mit dieser Frau hatte er mehr als die Liebe zwischen Mann und Frau erlebt. Er liebte diese Frau nicht mehr als Mann. »Aber als Mensch muß ich sie, solange ich lebe, noch lieben!« Diese Frau allein konnte auch verstehen, warum er nun Heimweh litt. Und weil sie wissen mußte, wie ihre Gemeinschaft jenseits von Liebe und Kälte lag, auch verstehen, warum er auch dieses Leid bedürftig zu ihr hintrug. »Du empfängst mich nicht lieb, Lotte!« sagte er unschuldig; er sah keine Gefahr mehr.

»Hast du dir einen anderen Empfang erwartet?«

Fest sah er sie an. Erkannte ohne Erstaunen: alt ist sie geworden. Ohne Erstaunen: sie möchte so gerne weich sein, zergehen in der Freude des Wiedersehens. Sich ganz vergessen und hingeben dieser Freude, ohne die sie diese Nacht nicht ertragen hätte. Aber es war von allem Anfang viel Eitelkeitsstolz in ihrer Liebe gewesen! Den Stolz der Beleidigten mag sie nicht einstreichen; sich zur demütig genießenden Wonne des Wiedervereintseins zu entschließen, vergönnt sie sich nicht, ehevor sie mir nicht gezeigt hat: Du hast mich zu Tode gekränkt. »Gewiß!« sagte er, indem er sich setzte. »Ich war und bin sicher, nur von dir so empfangen zu werden, wie ich es nach dieser Heimkehr bedarf.«

Ich liebe dich! Liebe dich! Blühe wieder auf, weil du nur endlich wieder da bist! Ich habe alles vergessen! Es war ja nichts Böses, was du mir angetan hast! Nimm mich nur wieder hin, mache, was du willst, aus mir, – nur: rede so weiter! wollte sie im Schauer der Seligkeit sagen. Schöner Frühlingssturm flog durch das entfesselte Gemüt. Wie schwächliche Irrungen starben die Monate des Wartens unter seinem bloßen Blicke dahin, nur weil er wahrhaftig und körperlich da saß. Mit ganz jungen Füßen stand die Gegenwart im Raum, und was dieser Raum von ihnen beiden gesehen und gehört hatte, knüpfte sich am ungetrübten Strahl seines Auges ohne Hindernis an eine noch reichere Zukunft. Und dennoch – was bohrte so unnachsichtig in ihr drin: übergib dich nicht? Umflorte die Wollust ihres Augs, ihres Ohrs mit dem satanischen Gift des unersättlichen Mißtrauens und preßte ihr die Lippen zusammen, daß sie nicht so reden konnte, wie sie reden wollte, und befahl unerbittlich: erst muß er zerknirscht mir zu Füßen liegen und seine Schuld bekennen, bevor ich . . . . . ? »Du hast also nicht das Empfinden,« stieß sie in der fieberhaften Spannung, ob er dem Zwang, den der Teufel ihr auflegte, sich beugen würde, hervor, »daß du – sagen wir: häßlich an mir gehandelt hast?«

Überrascht fuhr er auf. Werden Frauen, wenn man sie allein läßt, dumm? »Wenn man von einer Schuld reden kann,« antwortete er, noch immer gleichmütig, »so habe ich das Gefühl, sie in Rom gebüßt zu haben. Damals, als deine ersten Briefe mich aus allen Himmeln rissen. Übrigens auch, dir diese Schuld demütigst abgebittet zu haben. Seither . . .«

»Hast du sie niemals mehr gefühlt?«

»Nein!« Er nahm die Lehne seines Sessels kräftig in die Hand. »Meine regelmäßigen Briefe, die dir mein ganzes italisches Erlebnis schilderten, . . .«

»Dein ganzes?«

»Jedenfalls alles Wesentliche!«

»Und das Unwesentliche?«

Nur noch schärfer sah er sie an. »Ich glaube, daß, wenn man einander eilf Jahre lang so gut wie jeden Gedanken anvertraut hat, man auch reif genug dazu geworden ist, einander auch das Unwesentliche aus der Zeit der ersten Trennung anzuvertrauen. Ich wenigstens fühle kein Bedürfnis, Geheimnisse zu machen. Wir sind nun ja wieder beisammen!«

»Wie stellst du dir das vor?«

»Was?«

»Dieses Beisammensein?«

»Ja – kannst du dir vorstellen, daß wir nicht beisammen sein müßten?«

Wie der Schein einer noch verborgenen Sonne, die aber gewiß, alles leicht übersiegend, bald aufgehen wird, traf sie das Wort. Aber nur umso entschlossener, jetzt mit der einzigen Karte zu spielen, die ihr die Raserei ihres Stolzes noch aufzwang, verhüllte sie das Gesicht mit dem gefährlichen Nachschein einer Sonne, die niemals wieder aufgehen wird. »Du konntest es dir doch vorstellen! Du verließest mich ja!«

»Lotte!« Getroffen von all den unsterblichen Einflüsterungen, die ihre Gestalt, ihr Auge, ihre Stimme, die vertraute Landschaft dieser Stube ihm zuschickten, neigte er sich zu ihr hinüber. »Müssen wir davon wirklich noch einmal reden, Lotte?«

»Sehe ich nicht, daß dir bange ist davor?«

»Nein!« Aufrichtig beteuerte er. »Ich meine nur: ist es nicht abgetan? Lange schon?«

»Wenn die Frage noch einmal an dich heranträte: mit Abschied oder ohne Abschied von mir gehen? – Du gingest wieder ohne Abschied?«

»Gewiß nicht! Nachdem ich gesehen habe, wie ich dich damit kränkte, gewiß nicht mehr! Aber so, wie es damals stand, . . .«

»Wie stand es denn damals?«

Und im Nu, als ob er es im Augenblick wieder so erlebte, wie damals, umtrübte sein Auge sich. Überfiel die lähmendste Unsicherheit seine Gestalt. Stockte ihm das Bewußtsein vom Leben in Seele und Gliedern. »Ich mußte fort! Es war nicht mehr aufzuschieben! Und niemand sollte mich davon noch zurückhalten! Ich fürchtete . . .«

»Zugrundezugehen?«

Weit und furchtlos öffnete sich sein Auge. »Ich wäre totsicher zugrundegegangen!«

»Verdurstet?«

»Vertrocknet! Ich hätte mich niemals gefunden ohne die Flucht!« Bange, allen Gleichmutes auf einmal ganz ledig und nichts anderes mehr erschauend als das grauenhafte Gesicht der Gefahr, die nun freilich überwunden war, sprang er vom Sessel. »Ich kannte nur eine Welt! Hatte nur ein Bild vom Menschen! War stumpf geworden in einer einzigen, täglich drückender gleichartigen Arbeit. Sah mir nirgends den Gegensatz meines Wesens vorgehalten werden. Suchte vergeblich die ergänzende Hemisphäre. Und hörte doch Kräfte in mir brausen, Geister mich rufen, Fähigkeiten in mir flüstern, und fand den Stab nicht, um diese wartenden Wasser aus dem Felsen zu schlagen. War also verdammt dazu, mich unter Umständen begraben zu lassen, ohne geworden zu sein, was ich, vielleicht, hätte werden können! Mit einem Wort . . .«

»Mit einem Wort: du hast mich schon damals nicht mehr geliebt!«

»Hierauf – erwidere ich nicht.«

Sie erhob sich. Schritt wie blind, von zielloser Hand geleitet, durch die Stube, die sich mit dem Grau der Dämmerung grinsend anfüllte. Ließ sich, zurückgekehrt, Opfer peitschender Hetzstürme, wieder nieder. »Dann antwortest du mir vielleicht auf eine andere Frage? Klipp und klar? Jetzt liebst du mich nicht mehr?«

»Lucchesini« – schonungslos, gerade als er schon den Mund auftat, um zu reden, stieß sie ihm die Worte mitten ins Auge hinein – »soll in Berlin erzählt haben, du hättest dich ausgiebig – sagen wir: amusiert?«

Blitzschnell machte er sich steif. Bolzengerade. Und undurchdringliches Dunkel überzog sein Gesicht. »Seit wann frägt Lotte den Klatsch, um über Goethe etwas zu hören?«

»Du wirst doch nicht behaupten wollen, daß du wie ein Mönch gelebt hast, unten?«

Er ließ die Lehne des Sessels aus der Faust fahren, daß der Sessel wankte. »Ich fühle mich zwar nicht im mindesten verpflichtet, auf diese Frage zu antworten,

»Ich habe dir alles gegeben, was ich dir geben durfte!«

»Aber ich beantworte sie trotzdem!« Wachsgelb stach sein Gesicht, hoch überm Sofaholz, in die finstere Wand hinein. »Und sage: nein!«

Als ob sie plötzlich Glas wäre, aus dem dünnsten Glas gebaut und in Glas gekleidet, klirrte sie, wie sie sich erhob. Mit dem vollkommen blutlosen Antlitz, den farblos mageren Armen bewegte sie sich tappend durchs Zwielicht an das Fenster hin. In der Brust drin, nach oben, nach unten, nach allen Seiten züngelten giftrote Flammen, so, daß Fleisch und Blut wie gefoltert aufkreischten. Aus den Wänden und Dingen des Raumes feuerheiße Schlangen mit spitzen Köpfen nach diesem brennenden Blut, diesem zuckenden Fleisch hin. Taumelnd erreichte sie das Fenster. Ergriff mit der Rechten den Flügel; stieß ihn auf. Stieß ihn zu. »Gut, daß du den Mut hast, aufrichtig zu sein!« Ah! Und da hatte sie sich noch einen ganzen nichtswürdigen Tag lang verzeihend, nachsichtig und demütig gemacht! Ihren richtig witternden Stolz gesteinigt, im geheimsten Inneren drin noch gehofft, nur ein Wahn sei es gewesen, der sie seit Jahr und Tag mit den grausamsten Visionen peinigte! Ja, vor Minuten noch sich eine va banque-Spielerin genannt, die mit besessenem Riskiermut den Tod herausfordere! »Wie gesagt: gut, daß du ihn endlich findest! Es erleichtert den Abschied! Adieu!«

Wie von einem tollwütigen Hund angefallen, stürzte er auf. »Ich bin der letzte, der sich das zweimal sagen läßt!«

»Ich sage es zum zweitenmal: Adieu!«

»Ich kann Steine klopfen, einen Mord begehen, mich aufhängen, Alles, was du willst! Aber eines nicht: gegen dieses Wort auch nur ein einziges aussprechen!«

»Ich sage es zum drittenmal: Adieu!«

»Ahnst du nicht,« – und mit eisernen Händen fing, preßte er ihre gläsernen, – »wie du frevelst?«

»Das auch noch?« Wirr und schrill lachte sie auf. »An deinem Herzen?«

»Laß mich mit dem Herzen aus!« Außer sich riß er die klirrende Gestalt an seine wild aufgewachsene. »An deinem und an meinem Leben! Und das ist mehr, als das Herz, kommt mir vor! An der Vergangenheit von elf unsterblichen Jahren, . . .«

» . . . die in Rom in einem Bordell gestorben sind! – Laß mich!« schrie sie; stieß ihn wie den Feind aller Feinde von sich. Aber seine Hände, sogleich, während seine Zähne niegesehen nackt aufblitzten, griffen noch sicherer nach ihr. Hinter seiner Stirne, wie er die Hassende noch unbarmherziger an sich heranzwang, kreisten die Gesichte eines furchtbaren Todes. Gebar sich von Sekunde zu Sekunde höhnischer überwältigend die Ahnung des grauenhaften Irrtums, der ihn elf nutzlose Jahre gekostet und Rom mit vergeblichen Krämpfen zerquält hatte. Und, wenn er sich wirklich erwahrte, den gerade erst geborenen und heimgekehrten Menschen mit einem einzigen Schnitt in zwei Hälften auseinanderriß: Körper und Seele! »Wenn dir's meine Briefen nicht sagten, daß ich, selbst wo ich weit weg von jedem Menschen sein wollte, der mich abhängig zu machen begehrte, nicht einen Augenblick lang unseren gemeinsamen Besitz an Erleben und Erfahrung im Stiche ließ! Mich nur, weil ich die volle innere Sicherheit empfand, mich dir zurückzubringen, todesverachtend in alle Weiten und Höhen hineinwagte und . . . . .«

» . . . in alle Tiefen!«

»Und bin ich etwa kein Mensch?« Daß der Raum erbebte, stampfte er in den Boden. »Und wer hat dir im Feber noch geschrieben, daß er es nicht verwinden kann, – nicht verwinden konnte,« – und zum zweitenmal stampfte er in den Boden – »daß du nicht ihm gehörtest? Daß ich mich jahrelang umsonst abmühte, das natürliche Betteln meines natürlichen Menschen nach dir, die ich liebte, zu erwürgen, . . .«

» . . . um es« – ha, jetzt hatte sie sich freigemacht, stand mit lästernden Augen vor ihm! – »im Arm einer Dirne zu erlösen?«

»Wer hat das Recht, mir das vorzuwerfen?«

Unbegreiflich hoch, gegen seine tollkühne Stirn, wuchs sie auf. »Ich habe nicht das leiseste Bedürfnis, dich wegen deiner römischen Abenteuer zur Rede zu stellen!«

»Und tust es dennoch!«

»Und die Antwort genügt mir! Du scheinst nämlich nicht mehr zu wissen,« – wie zwei lachende Dolche durchbohrten ihre Augen seine Augen, – »daß du mir, mir! der du zehntausendmal die Ewigkeit deiner Liebe vorgedichtet hattest, bei Nacht und Nebel durchgegangen bist!«

»Weil ich mich sonst nicht losgerissen hätte!«

»Und zwei Jahre lang unten wie ein Prasser geschwelgt hast!«

»Wie ein Lasttier mich abgequält!« Aus zerfleischter Brust stöhnend, die noch alle Wundmale der Erweckung trug, und mit hilfloser Hand wehrte er ihre häßlich anzeigende Hand ab. »Im Schweiße meiner Seele mit den Engeln des Herrn gerungen!«

»Mit jedem Wort deiner Briefe schadenfreudig in mein Darben, in meine roh bloßgestellte Einsamkeit hineingejauchzt hast du: Ja! Ihr Elenden, Spießbürger, Philister, denen ich, Gottseidank! endlich entflohen bin, kriechet da rettungslos im dreckigsten Staube, indes ich, der Begnadete, . . . .«

Mit einem Krach, unter seinem Hieb, schlug der zweite Flügel des Fensters zu. ». . . . . . der für euch sammelte, für euch sich bereicherte, für dich sah, hörte und aufnahm!«

»Und der jetzt, weil er wieder da ist, wieder daherkommt in dieses Zimmer, und als ob nicht das mindeste geschehen wäre, sich einbildet: nun fangen wir eben wieder dort an, wo wir aufgehört haben. – Du!« Und wie eine Furie flog sie vor seinen Leib hin. »Wofür hältst du mich eigentlich?«

Er tat einen Schritt von ihr weg. Machte nach einer Minute, während ihr empörtes Wort schaurig verhallte, mit unsäglicher Anstrengung: »Hm«. Tat dann den zweiten Schritt. Und die kleine mißgestaltete Parze in der Nacht des Busens drin hob nun spöttisch ihr Scherchen und schnitt den Faden ab. Er war tot.

»Ich lehne es ab, dir auf diesem Wege weiter zu folgen,« begann er endlich ohne jede Stimme. Alle Glieder des Leibs, jeder Stein des neugefügten Daseins taten weh von der ungeheueren Gewalt der Zähmung, die er sich auferlegte. »Ich bin auf diesem Wege nicht anzutreffen! Wo ich noch immer zu finden bin . . .«

»Ich sage zum viertenmal: Adieu!«

»Bemühe dich nicht!« wehrte er traurig ab. »Du wirst mich nicht aus dem Konzepte bringen. Ich bin nicht klein genug, um dir auch nur eines der häßlichen Worte nachzutragen, die du mir an den Kopf warfst!«

»Höre!« Lodernd wandte sie sich um, durch die schwere Dämmerung blinkte das jähe Weiß ihrer Stirn, aus ihrer Faust fielen die Nadeln, die sie dem Thymianzweige abgerissen hatte. »Das ist der Gipfel! Bist du größenwahnsinnig auch geworden?«

»Ich werde diese Szene vergessen.«

»Ich werde sie niemals vergessen!«

Um einen Zoll, eiskalt, verneigte er sich vor ihr. »Ich werde sie vergessen, was immer auch dir zu tun beliebt. Du glaubst im Recht zu sein, und ich glaube im Recht zu sein. Da eine Vereinigung dieser Standpunkte nicht möglich ist, kann meine Pflicht nur noch so weit gehen, . . .«

Ohne noch zu wissen, was sie tat, warf sie ihm die Nadeln, die sie noch in der Faust trug, mitten hinein ins Gesicht, und alles an ihr, in dem Raum, in der Welt vor den Fenstern stürzte in Auflösung. »Ich verzichte auf jeden Beweis dieses Pflichtgefühls!«

»Es handelt sich um eine Pflicht mir gegenüber,« fuhr er unbeugsam fort. »Und aus dieser Pflicht heraus habe ich noch zu sagen, in welcher Absicht ich heute zu dir kam. Und das hast du« – und von neuem und noch unbarmherziger zwang er sie vor sich an die Wand – »jawohl: anzuhören! Mußt du anhören! Du fragtest mich vorhin, – erinnere dich!« Und atemlos preßte er die Frau, die rasend nichts anderes mehr im Sinn hatte als diesem Strudel von Todesqual zu entfliehen, in die Schrecknis der Ecke. »Fragtest mich: aber jetzt liebst du mich nicht mehr? Und darauf sollst du die Antwort haben!« Wie? Er stand mit Charlotte, mit Charlotte! wie ein Feind gegen die Feindin im Kampf an dieser Wand da? »Ich habe mich mit vollem Bewußtsein abgekehrt von jeder Liebe, die meine Existenz einem zweiten Menschen so verhaften kann, daß von ihr nichts mehr übrig bleibt. Aber nicht aus Leichtsinn oder Kälte habe ich diese Operation an mir vorgenommen, sondern, – glaube mir . . .«

»Oder glaube mir nicht!« lachte er furchtbar auf.

»Wie du willst! Sondern, weil ich zur Einsicht gekommen bin, daß ich, wenn ich überhaupt noch etwas werden wollte, als Erstem nur noch mir leben dürfte!«

»Lache nur! Spotte nur!« keuchte er, gegen alle tyrannische Bändigung rannen ihm die Tränen über die zuckenden Wangen herab. »Ja! Ich sage es noch einmal: meinem eigenen Ich! Meiner Aufgabe an mir selber! Und daß du das verstehen würdest, dein Herz weit und groß genug sein würde, um zu begreifen, daß ich diesen Weg gehen mußte, aber, auch wenn ich ihn ginge, ja, welchen Weg immer ich ginge, dir nicht verloren gehen könnte, im Gegenteil, dir noch viel ganzer und wahrer gehören müßte, wenn du mir weitsichtig einräumtest, meine eigene Person auszuentwickeln . . .«

»Still!« Mit wahnsinniger Hand fuhr sie ihm an den Mund. Mit wahnsinnigem Leib, während das Schluchzen des steil aufschießenden Hasses, der fluchenden Verachtung aus ihrer dampfenden Brust brach, schob sie ihn von sich, tat sie, als er totenblaß bis in die Mitte des Zimmers zurückgewichen war, die entsetzten Hände von ihm weg und griff mit diesen Händen ins verworfene Haar. »Und wenn du dir dann hier in Weimar eine Maitresse anschaffst und ich deine eigene Person »weitsichtig sich ausentwickeln lasse«, . . . . Geh!« schrie sie ihn an, daß die Fenster klirrten, »oder ich . . . . .«

Im nächsten Augenblick, weil er wie angenagelt in der Diele unter dem Luster Stein wurde, schoß sie an ihm vorbei, sausend hinein in das Zimmer nebenan, schlug die Tür zu und riß den Riegel vor.

Langsam, nach einer Ewigkeit ganz toten Nachlauschens, ging er. Deutlich hörte sie seinen Schritt im Flur. Dann auf der Schwelle. Dann in der Gasse. »Babette!« kommandierte sie; da war volle Nacht in dem Zimmer. Fritz solle kommen. Als Fritz vor der Tür stand: Joseph solle kommen. Als Josef hereintreten wollte: »Was hat die Herzogin antworten lassen?« Und schon unterbrach sie das Greisengestammel. »Richte die Jagdkleider des Herrn Stallmeisters her!« Und nun, urplötzlich, wie Flut geißelnder Körner, brachen ihr die Tränen aus den Augen. Mit kleinen, elenden Schrittchen schleppte sie sich an den Nähtisch. Erblickte auf dem Kästchen an der Wand die kreisrunde Schale aus Meißen. Mit einem Sprung an die Wand! Mit tobsüchtigen Fingern an die Schale! »Ah!« In zwei große Hälften zerkrachte die Schale.

Aber erst, als sich die Scherben weder von den tobsüchtigen Händen, noch von den tobsüchtigen Füßen noch teilen ließen, fiel sie in den Sessel zurück. Ohne Leben zu sein schien sie nun. Die Augen, während die blutenden Hände das Gesicht hielten, gingen glotzend hinaus in die Laterne, die am Rande der großen Wiese stand. In der Lampe der Laterne saß das Nichts. Im Schafte der Laterne saß das Nichts. In den kreisrunden Schatten um den Schaft saß das Nichts. Hier im Zimmer, in allen Dingen, die sie umstanden, saß das Nichts. Im Himmel draußen, der wieder leise Regen träufelte, saß das Nichts. Aber in ihrem Blut, in ihrem Fleisch drin, in dieser hingeschlachteten Seele drin, da saß es erst ganz: als die Welt! Nein, es gab keinen Gott mehr! Nein, es gab keine Menschen mehr! Keinen Frühling, keine Sonne mehr! Nur noch Teufel und Bestien, die sich zerfleischten. Und die Hohlheit des grenzenlos sinnlosen Raumes, darin diese Bestien sich, ewig Nichts weiterzeugend, zerfleischten. »Du!« schrie sie fluchend aus dieser Hölle hinaus in die regnende Nacht und preßte die Fäuste an die ganz leeren Schläfen. »Du!«

Aber, der es hören sollte, hörte es nicht! Der es hören sollte, saß wie ein Leichnam neben dem Herzog unter dem Überdach seines Hauses vorm Garten. Karl August wußte den Grund dieses Todes nicht. Er hatte mit bewundernswert andauernd gespieltem Interesse römische Marmore, vesuvianische Laven, sizilische Kiesel, Pflanzenkerne, Gipse, ein paar kleine Faunsköpfe, die Bilder Kniepens, die Zeichnungen Goethes, Kopien Burys, Lipsens und eine Anzahl von Stichen betrachtet; hundertmal Fragen gestellt, die beweisen sollten, wie nachwandelnd er den Spuren des Freundes gefolgt war. Einredelos zugehört, wenn der Freund ohne Ton, wie in ein Grab hinein, erzählte. Daraufhin jedesmal noch eine Frage gestellt, nur damit der Andere nicht glaube, daß die Teilnahme schon tot sei. Und schwieg nun. Er lag in einem altväterlichen Lehnstuhl, der dicht an der Wand stand. Unter seine Füße war ein Schemel gestellt worden, damit er nicht die Feuchtigkeit der Erde zu spüren bekäme. Als er schließlich das Empfinden hatte, zu lange und zu vorzeitig geschwiegen zu haben, und weil der Leichnam nebenan auf dem unbequemen Flachstuhl hartnäckig starr blieb, sagte er: »In einem Gespräch läßt sich dies Thema ja überhaupt nicht erschöpfen. Darüber werden wir noch Monate lang zu reden haben.«

Rührend bist du, Karl August! dachte Goethe wehmütig. Und weh ergriff er seine Hand. »Erzählen doch Sie mir! Das ist wichtiger!«

»Wichtiger?« Mit einem kurzen Lachen richtete sich Karl August auf. »Daß es nicht wichtiger ist, weiß ich. Halte mich nicht für so dumm, zu glauben, daß ich nicht wüßte, daß das Wichtigste, was ich noch tun kann, das ist: dich leben zu lassen.« Gereizt stieß er die Hand in die Luft. »Ich habe doch keinen Grund, dir zu schmeicheln? Trotzdem möchte ich dir gerne von mir erzählen! Ja! Weil du der Einzige bist, der noch immerhin annimmt, daß, was ich tue, aus einem ehrlichen Willen heraus getan wird. Während mir alle anderen gerade diesen ehrlichen Willen vorwerfen. Mich gerade deshalb verspotten, weil ich ihnen nicht klug genug scheine, um die Lügen zu spüren und die Fangnetze zu durchblicken, die man Weimar stellt. Zu ehrgeizig, um die Roheiten und mitunter auch Dummheiten des Soldatenlebens nicht mitzumachen und Reisen zu Menschen zu tun, die mich für einen idealen Schwachkopf halten und als solchen abspeisen. Kurz: weil ich ihnen zu gläubig erscheine, als daß ich den Mitspielern der ganzen Weltgeschichte und ihrem zweifelhaften Repertoire mißtraute, werfen sie mir meine Bestrebungen vor!« Leidenschaftlich riß sich die Gestalt nach der Seite der anderen hin. »Ist es noch immer, auch nach Italien, dein Grundsatz, daß man im Lande bleiben und im Lande wirken müsse, weil man auf diese Weise auch am meisten für die Welt wirken könne, – die nicht hohl ist, wie diese anderen meinen? Sage!«

»Gott!« erwiderte Goethe zögernd, ihm rollten Schleier vor den Augen, was stand noch fest und was nicht mehr? »Je weiter sich mir da unten die Blickgrenzen entfernten, umso zwingender lernte ich erkennen: es gibt keine andere Weisheit vom einen zum anderen, als die: ihn nach seiner Fasson selig werden zu lassen.«

»Praktisch!« Hart ergriff Karl August das Kelchglas auf dem Tischchen neben seinem Sessel und leerte es auf einen Zug. »Aber kalt!«

»Gebe ich zu.«

»Warum der Seufzer?« Waghalsig versuchend legte Karl August den Arm um Goethen. »Seien wir einfach deutlich. Deine Heimkehr fiel problematisch aus. Mußte so ausfallen. Wie, wenn ich dir nun vorschlüge: komme auf vier Wochen mit mir zum Regiment nach Aschersleben?«

»Heiliger Dominikus!«

Mit aller Verstandestüchtigkeit wehrte sich Karl August dagegen, sich gekränkt zu fühlen. »Oder: rekapituliere mit mir die Ergebnisse meiner bisherigen Bemühungen um den Fürstenbund, mach dir ein resumierendes Programm daraus und führe zusammen mit mir die weiteren Verhandlungen durch?«

»Ich könnte es einfach nicht!« hauchte Goethe.. »Könnte es nicht!«

Fröstelnd zog Karl August die Decke über die Knie. »Obwohl du mich – am meisten von all diesen da liebst?«

»Aus meinem ganzen Herzen und mit meiner ganzen Überzeugung!«

»Und mich, persönlich, auch rechtfertigst in dem, was ich tue?«

»Ohne jeden subjektiven Rest!«

»Objektiv aber?«

Jetzt bekam der Leichnam Bewegung. »Ich weiß sehr gut, daß Sie Preußen, Stuttgart, Darmstadt und so weiter nicht für gütige Evangelisten halten!« begann er heiß. »Daß sie nicht nach dem äußerlichen Ruhm streben, pater patriae genannt zu werden, und daß das Soldatenleben mit seinen Schablonen Ihnen in Kürze unerträglich erscheinen muß. Kurz: daß Sie dies alles auf sich nehmen, trotzdem Sie seine Unzulänglichkeit genau und schon heute übersehen. Denn Sie können sich in den Grenzen dieses Landes nicht ausleben!«

»Was Sie aber,« vollendete er noch heißer, »in dieser persönlichen Verfassung auszuwirken streben, mißbillige ich genau nur so persönlich, wie Sie oder ein anderer mein ganz anderes, persönliches Streben mißbilligen. Es trennen uns also nur Anlageeigentümlichkeiten. Ansichtsunterschiede. Wenn Sie wollen: Geschmacksverschiedenheiten!«

»Die Persönlichkeit eben!« Nachdenklich senkte Karl August das Haupt. Sagte lange nichts. »Und dennoch erblicke ich,« fuhr er plötzlich auf, »eine gewisse Analogie zwischen deinem und meinem Wirken. Die nämlich, daß du . . .«

Traurig unterbrach Goethe: »Daß ich, der Prediger des Wirkens im kleinen Kreise, bei Nacht und Nebel in die Welt hinausfloh, . . .«

» . . . die nicht hohl ist!«

Inbrünstig ergriff Goethe die hellen, kühlen Hände des Herzogs. ». . . um von der Welt aus in den kleinen Kreis zurückzuwirken. Ja! Diesen Vorwurf habe ich mir oft gemacht, wenn ich mich, in der Welt draußen, der eifrigen, oft sehr intoleranten Monitionen erinnerte, mit denen ich Ihnen tausendmal lästig fiel!«

»Und hoffentlich noch recht oft lästig fallen wirst!« Und geradezu gierig rückte Karl August an ihn heran. »Italien darf dir nicht deinen Charakter genommen haben! Charakter aber ist immer etwas Intransigentes! Der Unterschied zwischen uns bleibt ja auch bei nachsichtigster Duldung meiner Steckenpferde immer noch groß genug: du wirkst für den Geist der ganzen Welt, ich für ein Stück ihres Körpers. Andere Fähigkeiten habe ich nicht!«

Wer ist da bei mir? Welches Haupt liegt an meiner Brust? stöhnte Goethes zerschlagenes Herz auf; den letzten Kuß unter der Porta del popolo küßte er wieder.

»Mehr aber, als seine eigenen Grenzen einsehen lernen,« vollendete Karl August ergeben, »kann man nicht!«

Gehe! flehten beschwörend die Augen aus dem Haupte, das an Goethes Brust lag, zu ihm empor. Kehre um! Gehe! Und mit der Glut jener Liebe, die ewig ist, weil sie erworben ward in der Prüfung des Herzens, im unerbittlichen Suchen des Lichts und im Kampf gegen das Finster-Bequeme, schmiegte das Haupt des Geliebten sich dem sehnenden Schlage. Oder siehst du nicht, schlug dieser Schlag, die unwandelbare Gräue, die dir die mühsam errungene Flamme raubend umfrißt? Nicht die Kleinheit der Gemüter, die sich deiner größeren Einsamkeit auftrotzen? Wenn schon dieser, der dich von allen am ehrlichsten liebt, nicht zu folgen vermag dem Wege, den dein neugeborener Mensch weist? Jene Frau, der du untrennlicher Gefährte bleiben wolltest, wo du ihr Geliebter nicht mehr sein konntest, dich wie einen untreuen Baron von der Schwelle jagt, – wie werden dann erst die noch Kleineren sein, die nicht lieben, sondern hassen . . . . . . ?

»Und – die Ackerwand?« fragte, nach langem Zögern, der Herzog.

»O, furchtbar!«

Wehmütig erhob sich Karl August. Aus dem Leibe, der sich neben ihm wieder steif an die Wand schmieden ließ, stieg ihm von Minute zu Minute durchsichtiger und vertrauter die Person dieses Leibes entgegen. Neigte sich ihm zu, seinem aufrichtigen Geiste, der aufrichtige Geist dieser Person, blickte ihn treu an, zweifelte nicht lange, legte sich ihm in die Arme und verschmolz mit ihm. Jugend dämmerte mit verklingenden Spielen auf. Die Rücksichtslosigkeit des Mannwerdens, die Mann von Mann reißt, fand harte Akzente. Draußen im Garten, weit voneinander geschieden, schritten zwei Getrennte. Da aber, in der Brust, die Vergangenes und Gegenwärtiges gleichzeitig und mit Ruhe schaute, floß die eine Seele brüderlich ein in die andere, und beide, als Eines, sagten lächelnd: »Widerfährt uns nicht dasselbe Schicksal?« – »Lebewohl!« Leicht stand Karl August auf. Leicht nahm er die leblose Hand. »Du hast mir wohlgetan! Wie immer! Ich glaube nicht, daß du jemals nicht wissen könntest, was du mir bist! Damit aber muß man sich wohl abfinden: daß . . . . .«

»Daß?« fragte leise der andre.

» . . . zwei ausgeprägte Persönlichkeiten, trotz dem innigsten Drang, einander in restlosem Verstehen zu erlösen, einander nicht weiter erlösen können, als ihre unabänderbaren Richtungen es erlauben. Und daß die letzte Möglichkeit dieses Drangs sich nicht im Positiven ausleben darf: im Wohltun durch Aufnahme des anderen; sondern im Negativen: in der Erkenntnis eben dieser Beschränkung! Ich hätte dir so gerne die ganze Fülle deines Erwecktseins von der Seele genommen, die keucht unter der Fülle, und kann es beim herzlichsten Willen nicht! Du nähmest mir so gerne ab, wovon mein kleineres Hirn und meine mäßige Seele übervoll ist, und kannst es auch nicht! Und doch, scheint mir, steht jedem von uns, im Männlichen, auf der ganzen Welt niemand verstehender nahe, als eben der andere! –Sei still!« lächelte er und zog den anderen zärtlich in den Flur. »Wenigstens wissen wir um das Geheimnis dieser Armut! Es heißt: Du und ich!«

»Bleiben Sie mir!« schlang sich Goethe im dunkelsten Flur drin bettelnd um ihn. »Bleiben Sie mir!«

»Bleibe du mir!«

»Mißverstehen Sie mich nicht!«

»Niemals!«

»Groß ist dieser Fürst!« flüsterte der Zerbrochene weh vor sich hin, als er, ausgelöscht völlig, die schwarze Treppe in die schwarze Stube hinaufstieg. »Ein Mensch ist dieser Fürst!« rief er laut in die Wände hinein, mitten in der taubstummen Nacht. »Ich liebe dich, Karl August!« – »Ich liebe dich, Lotte!« rief er, noch lauter, noch heißer in das noch schwärzere Finster. »Liebe euch alle!« Und wie niedergeschlagen sank er zu Boden. Umarmte ohnmächtig den Schafttorso einer Säule, der leidend aufragte aus der Unordnung der leidenden Dinge. »Ja, du weißt es!« Und als ob der kalte Stein das Antlitz der Geliebten wäre, mit dem vollen Feuer der Sehnsucht schmiegte er die Wange an die Säule, küßte sie, küßte sie. »Weißt es, wie ich sie lieben wollte! Alle! Während ich mir Liebe ausriß mit hartherziger Hand aus dem Herzen, um die Welt in mich hineinzutrinken, für sie, für sie alle, – immer nur neue, immer neue Liebe sammelte! Und nun knie ich da, die Arme voll Wunder und die Augen voll Sonne und die Brust voll Gnade, um sie alle so zu erlösen, wie ich selber erlöst wurde, – und sie stoßen mich alle zurück! Alle! Selbst sie!«

»Aber ich nicht!« flüsterte der Mund der Geliebten an seiner Wange.

Und noch sehnsüchtiger küßte er, küßte er die schmiegende Säule. Noch weher.

Freilich, als er an einem der nächsten Tage an der Hoftafel erschien, wußte sein Mund von diesem brennenden Kusse nichts mehr. Undurchsichtiger als jemals vor Jahren war sein Gesicht. Das Auge ungewiß. Die Bewegungen unfrei. Jede Regung unter der ständigen Obhut des Willens. Hingegen sein Wort, wo er es hergab, völlig sicher. Nur als er, zur Herzogin Mutter hintretend, Frau von Stein gewahr wurde, kam auch das Wort ins Schaukeln. Er schien zu stolpern, errötete. »Du und ich?« fuhr es eiskalt durch den steif getragenen Leib. »Muß da nicht noch etwas getan werden, zwischen: mir und dir?« In der nächsten Sekunde trieb er schon wieder im Flusse. Amalia entriß ihn, hängte sich ihm ein, zog ihn in die Fensternische. Gerade, als Karl August auf die Nische zusteuerte, ließ ihn Louise zu sich bitten. »Kommen Sie nächster Tage doch wieder!« bat das kühle Blumengesicht über dem blaßblauen Kleide aus Einsamkeit und Abwehr zu ihm empor. »Aber nicht so wie jüngst. Länger; zum rechten Erzählen!« – »Gerne! Zu gerne!« lächelte er mit bereitwilligster Verbeugung. – »Komödiant!« zischte der Herzog, mit düsterem Beifall, hinter ihm. Für einen Augenblick fiel die Maske; mit seinem eigenen Gesicht blickte Goethe ihn an. Im nächsten saß sie noch gefestigter in den Zügen. Aalglatt entschlüpfte er dem Herzog und der Herzogin, trat auf die Gräfin Reuß zu. Die Gräfin Reuß saß zwischen dem Grafen Goertz und dem Grafen Witzleben. Zwei entzückende Pflästerchen gingen mit ihren lebhaften Pausbackwängelein unentwegt auf und nieder. »Sehr richtig!« bestätigte er strahlend. »Ein herrliches Land!«

»Auch ein sehr romantisches Land?«

»Auch ein sehr romantisches Land!«

»Haben Sie viele Apfelsinen gegessen?«

»In Sizilien schon zum Frühstück. Vom Baum herab!«

»O, das muß . . . .« Parat schoß die Gräfin auf. Der Zeremonienmeister hatte das Zeichen zur Tafel gegeben.

»O?«

Wie ein Dolch durchbohrte Goethen der Ruf. Zu seiner Rechten saß Frau von Stein. Wie einst. Lautlos ließ er sich nieder. An der Mitte der Tafel hatte Amalia Platz genommen. Zu ihren Seiten der Herzog von Meiningen und Karl August. Ihr gegenüber Louise mit dem Prinzen von Gotha und Goethen. »Sagen Sie mir,« fragte ihn, ganz im Sattel, Frau von Stein, kaum daß er die Fassung wieder erlangt hatte, »war die Tafel je so komisch zusammengestellt?« Aus vollkommen beherrschten Augen sah sie ihn an. »Ich meine . . . .« – »Fürwahr!« Das Herz schlug ihm bis zum Halse empor. »Höchst merkwürdig! Sie meinen, wie kommen wir zwei . . . .?« Erschrocken verbesserte er: »Sie und ich in die engste Familie?«

»Man will den Heimkehrer genießen! Sie sind das Wundertier! Also los mit der Vorstellung!« antwortete sie sehr laut.

»Ist's möglich?« hörte man da die Gräfin Reuß erschüttert lamentieren. Prinz Konstantin hatte soeben erzählt, die Vorstehhündin der Gräfin Benckendorff sei gestorben. »Die Diana, die entzückende Diana? Was für ein Unglück!«

»Was redet die Reuß von einer Diana?« suchte Amalia neugierig rundum.

»Finden Sie nicht, daß es heuer schon unerträglich heiß ist?« fragte Frau von Stein unbehelligt weiter. »Entsetzlich!«

»Ja? Ich bin schon sehr an höhere Temperaturen gewöhnt.«

»War es so arg?«

»Unerträglich, oft. Besonders, wenn der Scirocco ging.«

»Und im Winter?«

»Oft unerträglich kalt. Man kann nicht ordentlich heizen unten.«

»Puhhh!«

»Die Luft ist, dazu, so unglaublich dünn . . . .«

»Goethe!« Karl August hob den Kopf. »Du hast die Diana der Gräfin Benckendorff doch auch gekannt?«

»Gewiß, Durchlaucht!«

»Ist hin!«

»Die Diana!« kreischte Frau von Stein affektiert auf.

»Es gab keinen Hund, der besser auf Schnepfen ging!« klagte bewegt Karl August. »Jammerschade!«

Aber nur eine Minute lang währte die stumm nachempfindende Trauer. Die Gräfin Reuß begann, aufgeregt, zu erzählen, sie habe dem Tier, so oft sie zu Benckendorffs kam, Reiskuchen mitgebracht. Es fraß nichts lieber als Reiskuchen. Schnell deutete Prinz Konstantin an, daß diese Diana die Gräfin Benckendorff vor Jahren vor einer peinlichen Überraschung bewahrt habe. »Kann man's erzählen?« lachte Karl August dazwischen. Als Prinz Konstantin verlegen die Achseln zuckte, bemerkte, von unten herauf, ergebenst Herder, soviel er wisse, habe die Gräfin das Tier dreizehn Jahre lang besessen. Es sei also begreiflich . . . . . ? »Ihr Vater war ein Schotte, nicht?« fragte zärtlich Fräulein von Waldern. »Und sie war ein schönes Tier!« erlaubte sich Graf Goertz zu betonen. »Und Goethe mag Hunde nicht leiden!« stieß die Göchhausen, die gierigen Augen hungrig auf Goethens Miene, Herrn von Einsiedel an. Aber schon erzählte der Herzog von Meiningen eine rührende, ellenlange Hundegeschichte. Sie reichte über das filet de boeuf hinaus. Kaum war sie zu Ende, löste ihn Prinz August ab. »Hunde,« begann er teilnahmsvoll, sein freimütig offenes Gesicht schaute in tiefem Ernst auf das Pastetchen hinab, das seine Gabel eben zerteilt hatte, »Hunde haben zweifellos Seelen! Kann man das von einem Rinde, zum Beispiel, nicht behaupten . . .«

»Vom Pferde behaupte ich es!« behauptete Karl August.

»Und wenn man so einen Hund,« klang die gläserne Stimme der Frau von Fritsch empor, »noch so sehr mißhandelt, ja maltraitiert . . . .«

»Jawohl!« neigte Georg von Meiningen andächtig den semmelblonden Kopf. »Er kommt doch immer wieder!«

»Das weiß ich gerade nicht?«

»Immer wieder!« schwor Frau von Stein, rauschend von Hohn. »Es ist seine typische Eigentümlichkeit, treu zu sein! Ergo . . .«

»Herr von Goethe!« Mit anzüglichem Augenzwinkern lachte Amalia zu ihm hinüber. »Was sagen die lichten Götter hinter Ihrer Stirn zu diesem Hundezirkus?«

»Ja!« stimmte so überzeugt, als ob er von selber daraufgekommen wäre, der Herzog von Meiningen zu. »Erzählen Sie uns lieber etwas! Von unten!«

»Endlich!« Mit seiner ganzen Liebe zu Goethen beugte sich Prinz August ihm zu. »Ich habe mir nur nichts zu sagen gewagt. Exzellenz! Seien Sie gütig!«

»Hunde haben Seelen, haben Hoheit behauptet!« lächelte Frau von Stein schnippisch.


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