Albert Trentini
Goethe
Albert Trentini

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Zehntes Buch

Gestalt

Aufgeregt, ohne anzuklopfen, stürzte die alte Lise in Frau von Steins Salon herein. »Euer Gnaden! Wissen Euer Gnaden schon: Der Herr Geheimerat ist angekommen! Nach zehne. Die Marianne hat die Kalesche einfahren gesehen!«

Steif drehte sich Frau von Stein auf ihrem Fauteuil um. »Leibhaftig gesehen?«

Die alte Lise ward noch aufgeregter. »Sie sollen eine Masse Gepäck ausgeladen haben. Und das Erste, was er getan hat, war, daß er die Dorothee ausgeschimpft hat, weil ihr ein vezianischer Spiegel in der Hand blieb. Mein Gott!«

»Scherben bedeuten Glück.«

»Ein vezianischer Spiegel!«

»Venezianischer!«

Die alte Lise schlich an die Tür zurück. »Trotzdem!«

»Wie spät ist es?«

»Nah an halbzwölfe.«

»Gute Nacht!«

Frau von Stein glitt der Stickrahmen in den Schoß. »Also wieder da!« Auf violettem Grunde ein Schäferpaar liebte sich im Stickrahmen. Die Gesichter waren grau und verzerrt. Die Gewänder wiesen scharf gegeneinander stechende Farben. Der Wiesenplan, in dem das Paar, haargenau stereotyp, schäkerte, hatte ein falsches Grün. Schließlich blieb es gleichgültig, was man stickte!

Frau von Stein erhob sich und blies die dritte Kerze aus. Dann sperrte sie die Tür ab. Josias war bei Hofe; konnte aber jeden Augenblick kommen. Nun nahm sie den zweiarmigen Kandelaber und schritt an den Sekretär. Der Schlüssel mußte dreimal gedreht, dann aber erst noch ein geheimer Knopf gedrückt werden.

Da lagen: das Tagebuch aus Venedig und die Briefe.

Als sie schon blätterte, kam ihr der Zweifel. Sie warf das dicke Tagebuch zu, schob den Brief vom November 1786 fort. Was sollen Buchstaben beweisen, wenn das Gefühl nicht bewies? Das Gefühl aber sagte . . .

Auffahrend, hochrot, schloß sie den Sekretär. In gewohnter Gebärde strich die Hand den schwarzen Taffet des Kleides nieder. Staubig! »Es ist einfach vorbei! Lange schon!« sagte sie, mit ganz schmalen Lippen. Trat an den Spiegel. Wie alt war sie nun? Ausdruck von Ohnmacht kam in die Züge, die sich spiegeln ließen. Sechsundvierzig? Sie war wirklich alt geworden. Der Hals zeigte Schatten. Die Backenknochen traten zu stark aus den Wangen hervor. Das Haar silberte silberner als Puder. Der Mund . . .

»Nein! Er wird dich nicht mehr küssen!« sagte sie scharf, mit ganz spitzigen Lippen. Obwohl sie nicht erkannt hatte, daß sie verwelkt war.

Als es von der Schloßkapelle ein Uhr schlug, Regen an die Wände flog, streckte sie sich streng gerade, steif und knöchern in ihrem Bette aus. »Es ist einfach vorbei! Lange schon!« Und mit aller Helligkeit des zerwühlten Geistes rief sie die Monotonie der letzten anderthalb Jahre vor das Bewußtsein. Wenn man sich frägt: ein Mann, dem eine Frau elf Jahre lang angeblich Alles war, dem diese Frau ihren ganzen Menschen hingegeben hat, dieser Mann schreibt: zugrundegegangen wäre ich, hätte ich nicht die Flucht ergriffen!

»Niemals! Niemals!« Sie preßte die Lippen fest aufeinander, die Hände unterm Kopfkissen machten erzwungene Fäustchen. »Das vergesse ich eben niemals!«

Übrigens: stand nicht dasselbe in jedem Briefe? War der Ausdruck der höchsten Lust, die er in Welschland genoß, nicht das unwiderlegliche Urteil über die Lust am Besitze von ihr?

»Er hat – zweifellos! – geliebt unten! Ich kenne ihn! Nein!« Krampfhaft schloß sie die Augen. »Es ist und bleibt vorbei! Ich könnte auch gar nicht mehr!«

»Lotte, was ist dir?« Nach Stunden – laut stöhnend – fuhr sie auf. Erblickte Licht, Steinen im Nachtkleid über sie gebeugt. »Du schriest als ob du am Messer stecktest!« Gern beugte sie sich zurück. »Lösch aus!« Und noch klarer wurde der Geist. Da sagen die Leute: eine kalte Hundeschnauze ist sie. Den Mann läßt sie, den gutmütigen Stallmeister, neben ihrer hochgeputzten Seele dreinlaufen. Die Kinder hext sie an. Hat keiner was Gutes neben ihr. Etepetete. Ein unwarmer Egoist. »O, ich könnte schon anders sein!« Armselig hob sich die Brust, die im Alleinleben Meer von Gift und Bitternis geworden war. »Konnte es auch! Aber: erst in tauber Luft atmen, dann einen Mann finden wie ihn, dann ihm nie ganz gehören, – und ihn dann verlieren . . .?«

An wen? Woran hatte sie ihn verloren? An andere Frauen? Höchstens tage- oder wochenlange. An ein Land? Kann man einen Menschen an ein Land verlieren? An seine Kunst? War nicht sie der Quell seiner Kunst gewesen? Oder – doch nicht?

Es krähten die Hähne den grauen Junimorgen durch, da sagte sie: »oder an ihn selber? Aber warum ist er mir plötzlich ein Rätsel? Er war es doch nicht?« Und in derselben Angst, in der sie seit vielen Monaten jede Nacht durchweint hatte, weinte sie jetzt. Niederlage. Hilflosigkeit. Waffenlosigkeit. »Wenn ich nur wenigstens nicht dieses böse Gift da innen hätte! Lachen könnte, als ob nichts geschehen wäre! Ihm trällernd entgegenlaufen könnte, so daß er mir schon am Gesichte ansähe: es ist nichts gewesen! Dann machte ich ihn spielend auch glauben . . .«

Weinend breitete sie die Arme aus: Er war doch wenigstens wieder da!

Der erste Sonnenstrahl traf die Stadt. Den Knauf des Pfarrkirchturms. Golden erschimmerten die Tore. Alte Giebel wurden angezündet. Hohe rote Schornsteine. Das Fürstenhaus, die Schnecke, die Bibliothek, der Wall der Esplanade, im Land draußen Tiefurt, Belvedere, der hochgelegene Sitz des Geheimerates von Schmidt, – nun auch das Gartenhaus erwachten. Karren rollten übers regennasse Pflaster. Türen öffneten sich. Stuben öffneten sich. In ganz helle Morgengärten, durch Fenster, Tore und Flure sahen die Gäßchen. Die Hähne krähten lustiger. Zum Erfurter Tor zog eine Schar Gänse mit Hofbäckers Nannchen hinaus. Vor dem blauschattigen, geräumigen Haus am Frauenplan standen der Stadtschreiber Solmann und der Poliziste Wack. »Er ist eingerückt gestern. Mhm!« sagte der Stadtschreiber. Er war klein, dick, grau in grau gekleidet und nieste morgens halbe Stunden lang. »Helf Gott!« erwiderte zum zehntenmal der Poliziste. »Nu mag's wieder angehen! Er soll zudem viel Dreck mitgebracht haben.« – »Mhm.« – »Ein ganzer Wagen mit Steiner und Statue.« – »War schon immer hoidioh; halbets wenigstens!« nieste der Stadtschreiber. »Bleibt es!« – »Hier werdt man gern hoidio.« – »Wird die Steinin . . .«

»Hihihihi!« Und wollüstig lachten sie. Beugten sich in drallem Verstehen über ihre Bäuche.

»Siehe,« neigte sich in derselben Stunde der Wiedergekommene zärtlich über die endlich träumende Frau, »das ganze Land da unten, die sagenhafte Schönheit, die es hat, und den innigen Rausch, den einer erleiden muß, wenn er von da aus hinabkommt, – mit einem Schrei der Erlösung habe ich sie hinter mir gelassen, als es endlich hieß: nun ist der Pflicht genug getan! Geht es wieder nach Hause! In die Heimat! Zu dir!« Und mit sehnenden Armen, Armen gänzlich unverwelkter Liebe umarmte er sie; jünger, als je zuvor.

Mit einem strahlenden Lächeln erschien sie am Frühstückstisch. Was? Sie umarmte den Gatten? Goß ihm die Milch ein? Und Fritz bekam den Lockenkopf frisch an ihre Brust gedrückt? Als Stein aufstand, begleitete sie ihn bis an die Haustür. Mit freundlicher Mahnung schickte sie den Knaben auf seine Stube. »Ja. Aber erst lernen, mein Kind!« Glanz lag auf ihren Zügen. Hatte sie sich am Ende doch getäuscht? Unrecht getan? Als es zehn schlug, kam sie erhitzt aus dem Flur zurück. Noch einmal nachgeschaut hatte sie, ob Ordnung sei. Vor zwei Jahren, als er den letzten Besuch bei ihr gemacht, hatte sie seinen Ring getragen. Sie holte den Ring aus dem Schränkchen und steckte ihn an. Auch, erinnerte sie sich, hatte damals der Thymianstrauch, den er ihr selber eingesetzt, auf dem Tische gestanden. Sie brachte den Strauch herbei, stellte ihn auf den Tisch. Die Hauptsache aber war – tapfer trat sie von neuem vor den Spiegel – die Hauptsache war: daß sie ihm froh entgegenlief. Sonst bestand vielleicht Gefahr, daß er . . .

Daß er . . .?

»Ah!« Hochmütig machte sie sich groß. Stand es so, daß sie, Charlotte von Stein, vor dem Mann, den sie liebte, die großmütige Verzeiherin spielen mußte, um ihn wieder zu kriegen?

Nervös setzte sie sich. Peinlich rasch, wie Gewohnheit das Fremde verläßt, sank die nachgiebige Stimmung von ihr ab; fiel der eingeborene Eitelkeitsstolz wieder über sie. Als ob nicht die ganze Clique schadenfreudig gelacht hätte, damals, als sie geheim plötzlich verlassen worden war? Fürstenhaus und sein Komet nicht schon Wetten abschlössen, jetzt, in dieser Stunde, ob er sie wieder »beglücken« würde oder nicht? Und als ob es ihm nicht gleichsähe, jetzt, in dieser Minute, sein Genie über die Diele seiner Stube schreiten zu lassen, wohlgefällig, fähig, jederzeit für jedes Verlorene Ersatz zu finden und dabei zu schmunzeln: Na! Kein böses Wort zu sagen, wird sie sich getrauen!

Ah nein! Wild nahm sie den Stickrahmen in die Hände. Häßlich war sie jetzt. In den Wangen dunkle Löcher. Um den unüppigen Mund ein Zug von eiskaltem Haß. Die Gestalt eckig, hager; abweisend. Und dennoch: während sie nun stickte, als ob ihr alle sinnlosen Arbeiten einfielen, die in anderthalb Jahren nur dazu aufgenommen und getan worden waren, um die trostlos leere Zeit totzuschlagen, kamen ihr die Tränen. Wie durch ein kleines Scheibchen im Fenster, hinter dem sich der fahlblaue Himmel wieder fahlgrau machte, schien der reiche Himmel der Vergangenheit in die zwiespältige Seele herein. Kam der niemals wieder? Warum nicht? Ist es nicht trotz allem möglich, ja fast wahrscheinlich, daß er reuevoll heimkehrt? Im ersten Augenblick des Wiedersehns durch irgend einen göttlichen Zufall das Eis schmilzt und das Unvergängliche – »denn es ist doch unvergänglich!« – wieder auflebt? Wenn sie sich nur abrang, ein heiteres Gesicht zu machen, so zu scheinen, als ob nichts gewesen wäre, und –

Sie fuhr vom Sessel auf; es hatte geschellt.

»Der Diener von Wedeln!« Rasenden Herzschlags setzte sie sich zurück.

Wo ist – er?

Aber wie gefühllos langsame Wellen zerrannen die Stunden. »Nein,« sagten sie, je mählicher, unbarmherziger sie zurück wallten ins Meer, »wir wissen nichts! Wissen gar nichts!«

»Mama!« Fritz schaute, als es gegen Zwölf ging, beim zaghaft geöffneten Türspalt herein. »Weißt du, daß Onkel Goethe gekommen ist? Darf ich hinüber?«

»N – nein!«

Als das enttäuschte Gesichtlein verschwunden war, tat es ihr leid, daß sie »Nein« und daß sie es so scharf gesagt hatte. Wie ein Schimmer von Trost ging's über ihre Reue: wenn schon nicht meinetwegen, kommt er doch sicher des Buben halber! »Fritz!« rief sie unschlüssig in den Flur hinaus, – da schellte es zum zweitenmal.

Wachsbleich, mit aller Mühe gegen das Zittern kämpfend, das sie wie der Sturm packte, stellte sie sich mitten unter dem Lüster auf.

Herder trat ein.

Ein tiefer, höfisch ausgehauchter Atemzug verließ ihre hochaufgerichtete Brust.

»Ja, was sagen Sie dazu?« Mit dem ganzen rosig backigen Gesicht lachte Herder. Einen Strauß Margueriten trug er in der Hand. »Das ist eine Überraschung? Was?« Und indem er ihr mit einer nicht eindeutigen Geste – hie und da sind seine Augen unausstehlich! blitzte es in Frau von Steins Augen auf – den Strauß überreichte: »Er war noch nicht da?«

»Ich komme soeben von der Herzogin.«

»Er spart sich das Beste auf zuletzt auf.« Prustend setzte sich Herder nieder. Die prallen Schenkel, ein wenig zu kurz für den langen, geblähten Oberleib, saßen in der gewitterhaft stechenden Sonne. Er habe keine Ahnung gehabt. Karoline sagte jeden Morgen: paß auf, heute kommt er! Er kam natürlich nie. Und nun, – »ich gehe vor einer Stunde zu Amalia, sie hatte nach mir geschickt, – wer jagt aus dem Tor heraus? Er! Prachtvoll sieht er aus!«

Ruhig, das glattgewordene, regungslose Gesicht tief über den Rahmen gebeugt, stickte Frau von Stein weiter. »Augen,« fuhr Herder fort, »wie gesättigte Löwen. Löwen sage ich, denn das Erste nach unserer Umarmung war, daß er sich mit beiden Händen an den Kopf fuhr, mich wütend anstierte und brüllte: Diese Käfige! Wie kann man's in solchen Kerkern nur aushalten!«

»Aber,« fuhr er nach einer Pause, in der Frau von Stein fast lustig aufgelacht hatte, fort, »aber – ich habe es ihm natürlich ins Gesicht gesagt, – etwas . . .Triviales, ja, wie soll ich sagen? etwas . . . Gewöhnliches steht in seinem Gesichte! Sie müssen es ihm wegwaschen!« Mit wehender Hand fuhr er durch die Luft. »Ich glaube: die Leute, mit denen er umging, waren un peu trop de bohême!«

»Und was sagt er von Italien?«

Sorglos lachte Herder. Es stand ja jetzt fest, daß er binnen kurzem mit Dahlberg hinabgehen würde! »Er macht mit der Hand einen verächtlichen Bogen um ganz Deutschland herum, wenn man ihn nach Italien fragt, mißhandelt mit dem Absatz den deutschen Kieselstein im deutschen Weg, und im übrigen, glaube ich,« – lauernd beugte er sein Gesicht tiefer – »wäre er uns nicht mehr gekommen, wenn nicht . . .«

» . . . . ich ihn gezogen hätte?«

Verblüfft stutzte Herder. Lachte kurz auf. Faßte sich aber rasch. Von Frauenherzen verstand er nichts. »Jedenfalls haben Sie die Aufgabe,« sagte er, indem er eine Marguerite zerzupfte, »ihm das aufgestaute Meer aus dem Damm zu reißen. Er muß voll sein von Erlebnis zum Platzen. Einem Manne wird er ja nur die eine oder andere Ähre zeigen. Ihnen muß er ganz Italien vor die Füße legen! Es macht mir den Eindruck, als ob, wenn man ihn nur mit dem Finger anrührte, schöne Berge, Kastellstädte, Prachtkirchen, Torsi, Gemälde, Geschichte, Verse, Musik und Erkenntnisse, ohne Maß, aus ihm herausspringen müßten. Rühren Sie ihn fest an und halten Sie einen en tout cas darunter! Obwohl er nämlich schon fast zwei Monate von Rom weg ist, . . .« Er sprang auf; ans Fenster. »Da kommt er! Ich höre . . .«

Ohne mit der Wimper zu zucken, blieb Frau von Stein sitzen. In sausender Jagd flog ihr das Blut durch den Leib, wechselten Nacht und Tag im Tanz vor den Augen, Todesangst und Himmelslicht durch die bebende Seele.

»Nein! Es ist Bode.« Kleinlaut kam Herder vom Fenster zurück. »Was macht Bode bei Ihnen?«

Sie war schon aufgestanden. »Bode?« Ohne Herrschaft die Stimme. Es durfte nicht Bode sein! Mußte er sein! »Ich kann gar nicht glauben, daß Bode . . . .«

Da stand Bode aber schon im Salon. Und war Bode. Denn Goethe ritt soeben auf der schmierigen Straße nach Belvedere hinaus. Der Herzog weilte im Schloß. Die Luft war von erbärmlicher Schlaffheit. Die Landschaft lag in den farblosesten Horizonten unerträglichster Langweile. Die paar Hügel der Ferne erhoben sich wie ausgetrieben von einer Erde, die die Eintönigkeit ihrer Fläche nicht mehr ertrug. Kirchtürmlein blinkten spitzig. Bauernhöfe standen mit ausbietender Offenheit. Die Wiesen enthielten keine andere Wesenheit in ihren Blumen, als die des inzüchtig erstarrten ewig Gleichen, das keine Sonderart mehr hervorzubringen vermag. Die Bäume ragten mit geheimnislosen Kronen. Die Wolken hoben sich nicht in geprägten Formen aus dem Himmel, sondern verschwammen darin wie unausgebildete Kinderseelen in der unentwickelten Seele der Eltern. Was die Lerchen sangen, klang ohne Bezug auf die Harmonien im Kosmos, und die Grillen zirpten unausdehnbar: mitteldeutscher Morgen. Wie aber nun das Tier, das ihn trug, aus dem formlosen Gang in klappernden Trab verfiel, die Straße stillzustehen schien und mit leerem Körper das Schloß aus den Felderbuckeln hervorkam, rief er erschrocken: »Galopp!« spornte, legte sich tief über den Hals und flog mit geschlossenen Augen davon.

Ein plötzliches Geräusch machte ihn erwachen. Die zwei Posten vor der Toreinfahrt präsentierten die Gewehre. Präsentierten sie, daß ihnen die Knochen und den Gewehren die Knochen rasselten. Mit starr naturlosen Gesichtern, die starr sinnlose Schnurrbärte querten, schauten sie den Anjagenden kannibalisch schräg an.

»Du bist der Husar Kühnelt?«

»Zu Befehl!« schrie der Posten.

»Und du heißest Mahncke?«

»Zu Befehl!« schrie der zweite.

Im Hofe drin ward ihm sogleich das Pferd abgenommen. Der Gärtner, den Strohhut an der Hosennaht, stand grinsend im Sande und der Leibjäger Anton lächelte noch zufriedener. »Exzellenz sinn aber lang in Dalche geblieben!« wagte der Gärtner nach lange emsigem Nicken zu sagen; er war ein weinerlicher Greis. »Keine Samens oder Pflänzchens mitgebracht, Exzellenz?«

Ein dankbarer Strahl flog über Goethes Gesicht. »Eine ganze Menge!« erwiderte er und klopfte dem Alten auf die Schulter. »Komme Sonnabends um sechse ins Gartenhaus!« Es schlipste nämlich der Hofkommissar Bölker jetzt über die schmale weiße Treppe herab. Diese kleine weiße Treppe war vor drei Jahren gebaut worden, um leichtere Kommunikation zu schaffen. Drum sah sie so kerzenweiß aus im Braungrau der Schloßsteinmasse. »Euer Exzellenz,« nahte Bölker schwer höfisch – er war schmächtig, von oben bis unten tadellos, und kahlköpfig – »sind bereits gemeldet. Der Herr Hofmarschall von Klinckowström ist oben, der Herr Major von Knebel und ein Attachée vom Gothaer Hofe, dessen Namen mir« – er wurde rot wie bewegter Feldmohn – »leider entfallen ist. Nicht der übliche nämlich; ich sah ihn noch nie.«

Goethe stieg die Treppen hinan. Die Wände, die Kandelaber, die schüchternen Blumenvasen, die niedlichen Sofachen, die ausdrucklosen Historien- und Ahnenbilder, die von gestern her bekannten Lakaiengesichter, der Knix der Beschließerin Frau Inneberger, – es kam ihm der Schweiß auf die Stirn. Ja, nur rasch, in Gottesnamen, hinein in die Antichambre!

Kaum aber drin in der Antichambre, wie in einem Traum, prallte er zurück: »Knebel!«

Gemütlich, nicht Traum, sondern eindeutigste Wirklichkeit, schritt ihm Knebel entgegen. Genau so unhastig, als kehrte Goethe von einem Ausflug nach Ilmenau zurück. »Also wirklich?« Im selben Augenblick aber, sie wollten sich gerade umarmen, fuhr der Kammerhusar im Fenster mit einem unterdrückten Schrei auf. »Herr Geheimderat von Goethe!« rief er strahlend, klirrte von Rüstung und Respekt, und war schon drin im Audienzsaal. Rot vor Wut stürzte Klinckowström aus der Tür. »Der Herr Geheimderat von Goethe!« meldete der wiedererschienene Kammerhusar herausfordernd. »Nein!« schob Goethe Knebeln vor sich hin; er hörte weder Klinckowströms »O??«, noch sah er sein Goldstrotzen. »Herr Major von Knebel war vor mir da.«

»Herr Geheimderat von Goethe!« wiederholte noch strahlender der Kammerhusar; schlug die Hacken zusammen, – Karl August stand da.

»Na nu?«

Als hätte er ihn niemals gekannt, flog Goethe Knebeln davon, Karl August an die Brust, und ließ sich wie ein Ding hinter die Tür hineinziehen.

»Also – endlich wieder da!«

Goethe fühlte, wie Karl Augusts Hände ihm das Haar streichelten. Wie Karl Augusts Herz stürmisch an seinem Herzen schlug. Krallte sich immer tiefer in die Husarenuniform ein, umschlang den schlanken Mann immer fester, grub das atemlos lechzende Gesicht immer durstiger in die Brust mit dem großen silbernen Stern. Als Karl August sich endlich von ihm löste, zärtlich mit beiden Armen ihn vor sich hinstellte, ihm mit seinem hellen Aug ins Auge schaute, ging ein Riß durch Goethes Gestalt. Heiß langte die Hand nach der geliebten, riß sie empor an die Lippen: »Mein Fürst! Mein fürstlicher, gütiger Fürst!«

»Um Gotteswillen!« entriß ihm Karl August die Hand. »Du wirst doch nicht . . . !«

»Doch!« Und unwiderstehlich fing Goethe die Hand wieder ein. Dicke Tränen stürzten aus den weitoffenen Augen. »Und Sie müssen mich's tun lassen! Es ist in dieser ersten Sekunde kein anderes Gefühl und kein anderes Wort da drin,« – mit der Faust schlug er an die Brust – »als: Dank! Dank! Dank! Und wieder nur Dank! Nein! Lassen Sie mich reden!«

»Ja! Aber sag »du«!«

»Sie wissen ja nicht,« fuhr Goethe unheimlich eilig fort, »was Sie mir getan haben! Wie Sie mich beschämt, überschüttet haben! Kein einziger Fürst in ganz Deutschland hätte so wie Sie . . .«

»Aber zum Donnerwetter!« Gerührt, über sein Maß verlegen war Karl August und wußte sich nicht mehr zu helfen. Mit rauher Hand schüttelte er den Berauschten. »Da kommst du nach zwei Jahren aus der Sonne der Freiheit, kommst als Künstler zurück, das Schiff vollgeladen mit Fasanen, nach denen mir das Wasser im Munde zusammenläuft, und weißt nichts Besseres zu tun, als zu winseln wie Herder, wenn ich ihm fünfzig Dukaten schenke! Anschauen laß dich!« Und noch einmal, mit soldatischen Armen, stellte er ihn vor sich her. »Herrlich! Wie ein Senner!«

»Nein!« Entzückend lachte er auf. »Wie Bacchus! Das hast du fein gemacht! Übrigens . . . ..«

Brüsk ließ er Goethen los. Wandte sich um eine Linie nach der Seite. Und schwieg.

»Übrigens?«

Karl August durchmaß dreimal den düsteren Raum. Zu den niedrigen Fenstern, die in den Hof gingen, kam nur soviel Licht herein, daß der schmutziggelbe Grund der zwei Gobelins gerade noch auffiel. Eine Büste Amalias stand zwischen den zwei Gobelins, ein Paravent mit Watteaubildern vor dem weißen Rokokoofen, und eine erzene Schale auf schwarzem Sockel unter dem neuen Porträt Friedrichs des Großen gegenüber der Eingangstür. Alle diese Dinge und seinen schmalen Ebenholzschreibtisch, der nicht hereinpaßte, betrachtete Karl August. »Armer Teufel!« dachte er wehmütig. »Wie muß dir das jetzt vorkommen!«

»Du bist also,« sagte er endlich, »nicht ganz ungerne zurückgekommen?«

»Es wurde mir,« antwortete Goethe ohne Pause, der unverhohlene Schauder vor diesen Dingen saß in seinen Augen, »von Monat zu Monat klarer, daß ich unten wohl werden mußte, sein aber nur hier könne.«

Scheu wie eine Frau trat ihm Karl August näher. Sein gescheites Gesicht hatte keine Farbe. »Rede ganz offen!« Stahlscharf fragte das Auge. »Bist du zu mir gerne wiedergekommen?«

Voll hielt Goethe den Blick aus. Ein festes Bewußtsein erschien glänzend auf seiner Stirn. »Ich verdanke dir allein, was ich bin und habe. Und ich glaube, du allein weißt, was ich bin und habe!«

Ganz leise ergriff Karl August seine Hand. Ließ sie aber gleich wieder los. »Ich kann dir darauf nur antworten, daß ich dich an allen Ecken und Enden vermißt habe!« Energisch richtete er sich auf. »Warst du schon bei Louisen?«

»Nein. Ich hörte, Sie seien bei der Herzogin Mutter, und ließ mich darum im Palais melden. Ich will von hier aus zu Ihrer Durchlaucht.«

»Und Herdern? Schon gesehen?«

»Er ging ins Palais, als ich herauskam.«

»Frau von Stein?«

»Noch nicht.«

Wie zurechtgewiesen senkte Karl August den Blick. »Und sonst – wen?«

»Bertuchen, Boden, Ludekum, Wedeln, Schardten, Kalben. Jetzt noch Klinckowström und Knebeln.«

»Armer Teufel!« Zärtlich, mit einem ganz nur liebevollen Lächeln trat ihm Karl August dicht heran. »Es muß dir ja, auf deutsch gesagt, zum Speien zumute sein! Widersprich nicht! Wie wenn man nach einer Liebesnacht« – ungestüm: »natürlich war's keine Liebesnacht, ich weiß schon! – an den Familienfrühstückstisch zurück kommt! Oder?«

»Fort! Fort! Fort!« schrie in Goethes verzweifelter Brust drin die Sehnsucht. »Fort!«

»Sag! Ist's nicht wahr?«

»Gottseidank,« – heiser: »daß wenigstens Sie da sind!«

Jäh nahm ihn Karl August unter dem Arm. Zog ihn zur Tür hin. »Es weiß jedenfalls keiner besser als ich, was es einen Goethe gekostet hat, seine Fasanen gerade nach Weimar zu frachten!« Seufzer. »Ich muß jetzt den Gothaer nehmen. August kommt in den nächsten Tagen. Und Knebel will auch raunzen. Alle raunzen sie!« Mit tapfer zurückerobertem Lachen: »Ich bin nach neun bei dir, abends! Geh jetzt zu Louisen! Und – sei lieb mit ihr!«

»Er ist wahnsinnig!« fluchte Knebel, – Goethe hatte im Garten auf ihn gewartet – als sie nebeneinander heimtrabten. »Seitdem er Militär gerochen hat und jeden Morgen einen Preußen zum Frühstück essen muß, damit er sich großdeutsch genug fühle für den Weimarer Kartoffelton, ist mit ihm nicht mehr zu reden.« Alt war Knebel geworden. Das Mißmutige in seinem Stoppelgesicht stand wie nie mehr auflösbare Wolkenbank gegen ein hilfloses Sonnenschimmerchen im Auge. Es sei kein Mensch mehr mit dem Herzog zufrieden. Und er mit keinem Menschen. Preußen bescheiße ihn, wo es könne. Stuttgart lache ihn auf offener Straße aus. Die kleinen Höfchen machen sich nur wichtig damit, ihm zu folgen. Auch sei nie Geld da. Der neue Kammerpräsident habe die verdientesten Eigenschaften. »Aber was kann er machen, wenn das Land Experimenten dient? Und da stolziert Er in seiner Kürassieruniform herum und läßt Noten konzipieren und elfmal mundieren und sendet Herolde und sich selber, und glaubt, der Drahtzieher zu sein. Und wird gezogen! Du wirst eine schöne Mühe haben, mit ihm fertig zu werden!«

»Ich habe keine Funktionen mehr. Wenigstens so gut wie keine mehr.«

»Umso lästiger wird er dir persönlich fallen. Redest du mit ihm vom Wetter, so antwortet er: geeintes Deutschland! Von der Jagd: größeres Deutschland! Von den Weibern: nationalempfindendes Deutschland! Hat er dich über Italien ausgefragt?«

»Dazu langte die Zeit nicht.«

»Sie wird niemals langen!« Die Absätze gab Knebel dem Roß, obwohl sie schon in der Gasse drin trabten. »Er sieht eben nicht ein, daß in Deutschland für einen vornehmen Geist nichts zu machen ist! Warum bist du eigentlich zurückgekommen?«

Steif zuckte Goethe die Achseln; sie hielten vor dem Hause am Frauenplan. Der Diener Sutor kam aus dem Tor gesprungen; grinste unerträglich selig. Die Häuser platzauf und platzab schmunzelten unaushaltbar vertraulich. Ein Storch saß schnatternd auf dem höchsten Giebel des Hofbäckerhauses. Vor dem Martinschen Weinkeller rollten vier derbe Burschen Fässer über die geneigte Schwelle. Der Briefträger Ackermann trat gerade aus dem Schlundgäßchen herein. Über dem grünen Laden des Greißlers Haarholz schaute die Großmutter aus dem winzigen Fenster. Und fiel es einem gar zu bedenken ein, daß östlich, südlich, westlich und nördlich von diesem Platze auch nur solche Häuschen und Bursche, Briefträger, Greißler, Großmütter und Störche ihre tödliche Langeweile totschlugen, und dann weiter hinter diesen Häuschen und Toren . . .

»Also, besonders gut aufgelegt finde ich dich gerade nicht?« schimpfte Knebel gereizt; er war eben abgestiegen. »Wenn wir hier gallig und verdorrt herumlaufen, das versteh ich. Aber wenn man aus der Welt kommt? Apropos, kann ich bei dir essen?«

»Sei nicht böse,« erwiderte Goethe gewappnet, »ich bin von der Reise noch müde. Und muß noch zur Herzogin.«.

Mit der Reitpeitsche in die Luft, dann, grob, an die groben Stiefelröhren schlug Knebel; die Reitpeitsche war eine eschene, aus dem Hölzchen hinterm Gartenhaus. »Bon! Geh ich zu Steinen. Kann ich dich anmelden?«

Goethe klopfte der Stute überlang den Hals. »Ich bin nicht sicher, daß ich noch heute dazu komme.«

»Und wann kann man den welschen Hokuspokus sehen?«

Goethe umarmte fast den Hals des Tieres. »Von nächster Woche an immer.«

»Luftballon!« fluchte Knebel durch die Zähne, als er an die Ackerwand herankam. »Ein arroganter infamer Eisbär ist er!« wollte er sich die Entrüstung von der kochenden Brust donnerwettern, als er Frau von Stein erblickte. Aber Frau von Stein war Stein heute. »Wedel speist mit,« erklärte sie gleich beim Handkuß. »Josias kommt nicht.« Mit einer Grimasse schluckte Knebel hinab. »Er ist ungenießbarer denn je!« kitzelte es ihn, nach jedem Gang teuflischer loszubrechen, und er räusperte und hustete. Aber er kam nicht einmal dazu, den Namen des Ungenießbaren auszusprechen. Denn Frau von Stein sprach ununterbrochen. Und nur mit Wedeln. Sie sah, das war deutlich zu bemerken, ununterbrochen dabei beim Fenster hinaus. Aber umso angelegentlicher redete sie. Lachte. Wedel auch. Sie aber noch herzlicher. Wurde jetzt rot, jetzt wachsbleich, stieß einmal das Salzfaß um, rettete das anderemal mit bewundernswerter Ruhe das Glas Rotwein, das Knebel gerade umzustoßen im Begriffe war, und sagte, als nach dem Dessert die Göchhausen, Karoline Herder und Klinckowström zum Kaffee kamen und die Göchhausen listig meinte: »Sollen wir uns nicht zu den Oleandern hinaussetzen?« mit einem ganz kurzen, kindlich einfältigen Hochheben des Köpfchens: »Ist's nicht zu windig?« In einem Zug, kaum mehr Herr seines Dampfs, goß Knebel den Samos hinab. Das war doch die höhere Unverfrorenheit! Die da wie auf Eiern tanzten und lauerten, wollten ja alle nichts anderes, als von ihm reden! Und getrauten sich nicht! »Holla?« klopfte er umso bäurischer mit dem Mittelfinger ans Tischholz, »hat ihn noch niemand von den Damens gesehen?« Und – ward blaß bis in die Lippen. Als ob sie meuchlings einen Stich in den Rücken bekommen hätte, fuhr Frau von Stein zusammen. Jäh flammten Lichter auf in den gierigen Gesichtern der Besucher: das Stichwort ist gesprochen! Aber während sie noch einmal überlegten, sagte Frau von Stein – sie spielte mit den Fingern der rechten Hand auf der Lehne des Sessels, vor dem sie stand, und hielt sich doch fest daran –: »Goethen? Bei mir war er noch nicht. Hast du ihn schon zu Gesicht bekommen?«

»N – nein,« stammelte die Göchhausen, obwohl sie ihn schon um neun Uhr morgens zu Gesicht bekommen hatte. Ihr ungeheurer Federhut nickte verzweifelt: »Nein.«

»Sie auch nicht?«

Karoline Herder trug ein schwarzes Foulardkleid mit großen, weißen Tupfen und Sammetschuhe von bronzebrauner Farbe zu resedagrünen Strümpfen. »Nein,« antwortete sie todesverachtend.

»Aber Klinckowström und ich!« rief Knebel ungeheuer laut, indem er sich ungeheuer erhob.

»Also nur Herr von Herder?« lächelte Frau von Stein, während Klinckowström sich ergeben in den Fauteuil fallen ließ und Knebel wie erschlagen den Mund aufriß. »Und wie fand ihn Herr von Herder?«

»Ist Johann Gottfried nicht da gewesen?« Mit einem mitleidigen Blick maß Frau von Stein die Vorlaute. Aber ehe sie noch ein Wort sagen konnte, nahm ihr Wedel den Sessel aus der Hand. »Haben die Herrschaften den Schildpattfächer schon gesehen, den die Herzogin Mutter aus Paris geschickt bekommen hat?« fragte er parat wie ein Erzengel.

Und als ob sie allesamt eine zu gefährliche Klettertour gemacht hätten, aber im letzten Augenblick noch von geistesgegenwärtigem Arm zurückgerissen worden wären, atmeten sie erlöst auf; bis auf Knebeln. Denn was ging nun die Plappertasche dieser Buckligen so gewandt los? Und ließ der unverschämte Lügenmund dieses Wedel Anekdotchen auf Anekdotchen fallen? Und noch dazu alle über diesen Fächer? Geräuschvoll wurde es. Eng aneinander rückten die plötzlich quecksilbernen Leiber. Klinckowström trank in einem fort, von allen berühmten Fächern der Welt schwindelnd. Karoline Herder machte mit dem rechten Fuß das rotsamtene Schemelchen wippen, rollte die runden Augen und lachte umso unentwegter fromm, je mädchenhaft unschuldiger Frau von Stein lachte. Was? schien Frau von Stein zu lachen, geradezu hübsch war sie jetzt, was? Ihr habt euch eingebildet, mich fangen zu können, wenn ihr nur gleich recht plump über ihn herfielet heute? Und nun habe ich euch die Suppe versalzen! Gesindel! »Ich besaß einmal einen Fächer aus Goldfiligran,« lachte sie tückisch wie eine kokette Diebin, die den Fächer gestohlen und dann um eine Million verkauft hat. »Aus Petersburg war er. Irgend ein Zar soll ihn seiner mecklenburgischen Geliebten geschenkt . . .«

Da erhob sich Knebel. Ihm tanzte es schwarz vor den Augen. Er reimte sich nichts mehr. »Weißt du mir am Ende, Klinckowström,« fragte er jämmerlich und tippte den Hofmarschall auf den sattdasitzenden Schenkel, »weißt du mir eine nette Wohnung am Lande? In dem Nest da bleiben will ich nicht, und Jena ist genau so stinkfade. Und das Gartenhaus ist ab heute perdu!«

» . . . . . irgend ein Zar,« wiederholte Frau von Stein noch höher aufwachsend, als habe weder sie, noch Klinckowström, noch einer der anderen auch nur ein Wort von Knebeln erfangen, »seiner mecklenburgischen Geliebten geschenkt haben. Josias erwarb ihn auf einer Reise, weiß nicht mehr, wie und wo. Drei Jahre lang hatte ich ihn, alle Leute bestaunten ihn; so oft ich ihn aus dem Schrank holte, schaute ich ihn glücklich an. Und eines Abends, es war Ball bei Hofe, es ist schon Mitternacht vorbei, ruft mich die Herzogin, ich lasse meinen Tänzer gehorsam stehen und folge, . . .«

» . . . und folge . . .?«

»Nein,« kicherte sie lüstern, mit beiden Händen plötzlich abwehrend, »das weitere kann ich nur Thusneldchen erzählen!« Und indem sie sich schon zum Ohr der Buckligen, die gierig herantrippelte, hinüberbeugte, fuhr sie mit unbändigem Gelächter, so, daß es gehört werden mußte, fort: »die Herzogin hatte zuviel Eis gegessen und ich mußte sie begleiten. Und da dürfte ich irgend eine dumme Bewegung gemacht haben . . . . .«

Jauchzendes Gelächter.

»Und? Hat man ihn nie mehr gefunden?« brüllte Klinckowström überglücklich.

Und noch tolleres Lachen.

»Und jetzt?« Atemlos horchte sie auf. Niemand mehr da? Alle fort?

». . . bin ich allein?«

Wie? Heiß sprang sie empor, an die Tür. Versperrte die Tür. War, was diese Puppen da plapperten, nicht ebenso erbärmlich, wie das, was sie dachte? Hatte nur einer von ihnen die Ruhe in sich, die ihm überlegene Gerechtigkeit den anderen gegenüber erlaubte? Bestimmung in seinem Inneren? Unverrückbares Ziel seiner Stunden? Sie sah Fritzen mit dem Hofmeister in die Gasse treten. War sie etwa eine Mutter? Josias hatte beim Aufstehen am Morgen vergeblich um neue Manschetten gebeten. War sie eine Gattin? Und was hatte sie heute noch zu tun? Nichts! Und morgen? Auch nichts!

Und übermorgen?

Schauder erfaßte sie. Als er sie noch liebte! »Als du mich noch liebtest!« Und jetzt nützte keine Gewalt mehr! Zusammen stürzte das Kartenhaus der stundenlang tyrannisch geübten Beherrschung. Wie Frost des unbarmherzigsten Herbststurms kam das Zittern. Wie ein Strom, der nicht mehr frägt, wo er einreißt, das Weinen. Als er mich noch liebte! Wie da seine bloße Existenz das Land erweitet, den fahlsten Tag zur Sonne erkräftet, die Stimme des gewöhnlichsten Menschen bedeutend gemacht und die einfachsten Güter zu Wundergaben erhöht hatte! Fürchtete man sich etwa abends vor der Nacht? Sie war süßes Sichhingeben an die Erinnerungen des Tages. Vor dem nächsten Morgen? Er sagte es nur wieder neu, wieder anders: du bist die Gefährtin eines Geistes, der die graueste Erde zum Himmel umschafft! Solch ein Mann, wenn er liebt, aber –? Ja, darin stak der Kern des furchtbaren Geheimnisses! So ein Mann vermochte zweierlei: die Frau, die er liebte, zum Menschen zu machen, – und dabei trotzdem der Herr seines Menschen zu bleiben. Sein Geschöpf wird die Frau. Er aber, wenn er ihre Hand ausläßt, – geht zur Betrachtung der Welt zurück; zu seinem Gedichte; zum Lauschen in seine Erlebnisse, die sich, wie aus einander, stündlich neu gebären. Sie hingegen? Wohin geht sie? Er ist die Säule, die das Dach ihres Lebens trägt. An diese Säule gelehnt, bleibt sie wartend stehen, tagelang, wochenlang, monatelang. Denn sie kann keinen anderen Platz mehr finden, wo sie sonst noch zu stehen, keinen anderen Weltkreis entdecken, worin sie sonst noch zu atmen vermöchte. Verfallen ist sie dem Mann, der ihr nicht verfallen ist! Und er hat jetzt – Italien! Weil sie ihn nicht mehr ausgefüllt hatte, war er nach Italien geflohen! Und kommt er nun wieder, und füllt sie ihn nun wieder nicht aus, –

Wenn er aber nicht wiederkommt?

»O Gott! Gott! Gott!« Die hochaufgerichteten Arme an die Pfosten der Tür gestemmt und das verzweifelte Antlitz auf diese zitternden Arme gelegt, weinte sie hilflos. Wenn er jetzt käme, nur ein einziges gutes Wort sagte, mit seinen alten Armen sie umfinge, – »o, ehrfürchtig dich preisen und loben wollte ich, Gott, danken inbrünstig dem Strohhalm, der mir ins Meer hinaus gereicht würde, all meinen unseligen Stolz einstecken, diese hochmütige Fordersucht, Zerstörungswut, Kleinlichkeit, Sprödheit, Eifersucht, Neidischkeit, Scheelsucht, Mißgunst, Schwachherzigkeit, und dies versteinte Herz weich machen, – nur damit ich nicht mehr so allein sein müßte; so unfruchtbar all . . .«


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