Ludwig Tieck
Eigensinn und Laune
Ludwig Tieck

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Der Vater verwunderte sich, daß Emmeline nach der Abreise des Freundes sich eben nicht heitrer zeigte. Die Gegend war schön, man war in den Bergen, angenehme Städte boten mit allen ihren Bequemlichkeiten Ruheplätze an und das Wetter war beständig. Du freutest Dich seit lange auf diese Reise, sagte Runde, und nun scheint sie Dir doch nicht gar viele Begeisterung zuzuführen.

Ferdinand, antwortete sie, hat es gut, der verliert sich als ein ganz Einzelner so völlig in die Strömungen der Menschenmenge, ihm ist alles neu und unerhört; er darf alles auf sich beziehn und vergißt Heimath und alle Langeweile des gewöhnlichen Lebens. Ein armes Mädchen kann natürlich nicht so allein und ohne Begleitung reisen, aber es ist betrübt genug. So schleppen wir nun Deinen Bedienten und ich meine Kammerjungfer mit uns, und mit diesen beiden langweiligen Leuten unsern ganzen Haushalt aus der Stadt, ich sehe unsre Wände und Tapeten von dort vor mir, alle die elenden Gespräche und Klätschereien summen mir im Ohr, wir sind nicht in der Fremde. sondern nur zum Schein von unsrer Stadtwohnung fortgereiset.

Du wirst niemals gescheidt, sagte der Alte mit einigem Verdruß. Ich lebe ganz Dir zu Gefallen, und Du bist niemals zufrieden.

Als sie in der nahen Stadt angekommen waren und der Vater einige Besuche gemacht hatte, kam ihm die Tochter freundlich entgegen, indem er das Zimmer in seinem Gasthofe betrat. Ich bin zufrieden, mein Väterchen! sagte sie, ihm schmeichelnd und liebkosend; Du thust mir sehr Unrecht, 293 und es schmerzt mich, daß ich von Dir so verkannt werde. Du weißt es selbst, wie oft mir von allen meinen Bekannten Unrecht geschieht, wie die Frauen mich nicht lieben und die Männer mich vergöttern, um nachher desto dreister auf mich zu schelten. Alles das würde mich nicht so viel kümmern, denn ich bin es schon gewohnt, daß aber der eigne Vater, mein einziger wahrer Freund, sich auch noch zu meinen Gegnern gesellt, das muß mich mehr als alles schmerzen.

Gieb Dich zufrieden, sagte der Alte, ich bin schon wieder gut; morgen überschreiten wir nun die deutsche Grenze und betreten das schöne Schweizerland, dort wollen wir recht ungestört der Natur leben.

Dazu aber, sagte sie mit weicher Stimme, mußt Du mir noch eine Bitte erfüllen. Dann will ich auch nie wieder etwas verlangen. Wir bleiben dann immer vergnügt und ganz einig den lieben langen Tag und vergessen Verdruß und Sorgen.

Nun? Es ist gewiß etwas Besonderes, daß Du so lange Vorrede machst, Etwas, wovon Du schon im Voraus weißt, daß es mir verdrüßlich fällt. –

Gleichgültig muß es Dir seyn, denn Du bist ein kluger Mann, ein Weltmann, ein Denker, der nicht zum ersten Mal eine Reise unternimmt, der in seiner Jugend manche Beschwerlichkeiten überstanden hat, der kein Weichling ist –

Und hauptsächlich, unterbrach sie der Alte, der Vater einer mißrathenen Tochter, die er selbst durch übertriebene Zärtlichkeit verdorben hat.

Also es geschieht, um was ich Dich bitte? –

Weiß ich doch noch gar nicht, worauf Du dein Absehn richtest. Nun? –

Bitte, bitte, nicht ungeduldig. Sieh einmal, wie wohl uns seyn könnte, wenn wir nicht unsre angewohnten fatalen 294 Dienstboten bei uns hätten. Schicke die mit der Post oder sonst einer Gelegenheit zurück, wir nehmen dann einen Fuhrmann und sind uns ganz selbst und unsern Launen überlassen, frei und in nichts gehemmt. Nun kommen uns erst alle Gegenstände als neue entgegen, und wir werden nicht mehr von dem Geschwätz der albernen Menschen belästigt, von ihren fatalen Blicken, die uns immer auszuforschen scheinen, bedrängt. Es geht erst dann ein andres frisches Leben für uns auf.

Närrisches Kind, sagte der Mann, wenn ich mich auch ohne Bedienten behelfen kann, da ich nicht verwöhnt bin, wie willst Du ohne Deine Jungfer zurechtkommen?

Sie hindert mich mehr, als sie mir hilft, und ärgert mich nur durch ihre Ungeschicklichkeit. Ich kann mich recht gut selbst bedienen, auch macht es mir Spaß, wenn ich beim An- und Auskleiden Jemand bedürfte, mich mit den verschiedenen Mädchen in den Gasthöfen einzulassen. Da hört man denn so vieles Närrisches und Lustiges, daß es ein Spaß fürs ganze Leben bleibt, auch lernt man das Volk dadurch mehr kennen.

Verdrüßlich fällt es mir allerdings, sagte der Vater, und dann das Wechseln der Fuhrleute, da es in der Schweiz keine Posten giebt.

Alles ist abgemacht, lieber Vater. Ein junger Thüringer, ein muntrer Bursche, er heißt Martin, ist unten im Hause. Er hat von Basel eine Herrschaft herübergebracht und ist ohne Wagen. Seine Pferde sind rüstig und brav, der Mensch allerliebst. Er hat mir schon vielerlei erzählt, und freut sich sehr, uns nach Bern, Basel, Zürich zu schaffen. Er kennt alle diese Orte, denn er hat die Reise schon öfter gemacht. Seinen Wagen hat er in Stuttgart zurücklassen müssen, weil er dort die französischen Leute und ihre 295 Kutsche traf. Man kann gewiß nicht besser bedient seyn, als von diesem braven Mann.

Der Alte ließ diesen Martin zu sich bescheiden. Ein schlanker junger Mensch trat herein, ohne Verlegenheit, oder jene bäurische Dreistigkeit, die wohl von Leuten, die stets sich auf der Landstraße umtreiben, dem feineren Reisenden lästig fallen kann. Sein schönes braunes Auge hatte einen klugen Ausdruck, und es stand ihm gut, wenn er den Kopf schnell wendete und die krausen Locken des braunen Haares sich bewegten. Seine Freundlichkeit war Vertrauen erregend, und man sah, daß Runde sich über den Jüngling verwunderte, da er wohl eine ganz andre Erscheinung erwartet hatte. Man war bald über die Bedingungen einig und es ward beschlossen, wenn man die Schweiz wieder verlasse, über Stuttgart zurückzureisen. Der Diener und die Kammerjungfer waren nicht wenig erstaunt, als man ihnen ankündigte, wie sie allein den Weg nach der Heimath zurücklegen müßten.

Man blieb noch einen Tag länger, als erst bestimmt war, um alles besser ordnen zu können, und als nun der Banquier mit seinem neugedungenen Fuhrmann den Weg nach Basel einschlug, war Emmeline im Wagen, welcher beim schönen Wetter ganz zurückgeschlagen war, außerordentlich fröhlich. Sie freute sich der schönen heitern Gegend, sie lachte, scherzte und umarmte ein über das andremal den Vater, der sich nun auch gern und freundlich in die sonderbaren Launen der Tochter fand, seinen Verdruß fahren ließ, und dem es nun selbst angenehmer dünkte, mit einem Fremdling, statt des bekannten Kutschers und seiner Dienstleute, zu reisen. Der junge Mann war äußerst aufmerksam und achtete auf jeden Wunsch. Er fuhr sicher und schnell, sodaß Herr Runde seine starken und gut eingefahrnen Rosse nicht vermißte. Als der Wagen eine Anhöhe hinauffuhr und Martin 296 einige Minuten zu Fuß ging, sagte der Bauquier zu ihm: Eins, Freund Martin, habe ich gestern doch bei unserm Accord noch vergessen. Mir ist der Taback so unerträglich, daß keiner meiner Dienstleute rauchen darf; reise ich mit der Post, so müssen sich die Postillone auch meiner Eigenheit fügen. Wie steht es mit Euch? Wird es Euch sehr schwer, so will ich für die Entbehrung dem Fuhrlohn noch etwas zulegen.

Gnädiger Herr, antwortete Martin lachend, Ihnen kann das fatale Zeug und der Geruch davon unmöglich so zuwider seyn wie mir. Darum bin ich auch immer für mich und kann mit den übrigen Fuhrleuten nicht in derselben Stube aushalten. Mir ist alles dergleichen zu unsauber.

Ihr seid ja auf die Art ein prächtiger Mensch, sagte Emmeline, die sich über den Vater wegbog, um mit dem jungen Manne sprechen zu können; ein Sonderling unter Eures Gleichen. Nehmen sie euch das nicht übel?

Wohl, schönes gnädiges Fräulein, sagte der Fuhrmann, es hat schon manchen Verdruß gegeben. Aber ich begreife nicht, wie die Menschen, auch viele Gebildete, den Gestank von diesem Kraut nur dulden, geschweige ein Wohlgefallen daran finden können. Wenn mir das Zeug aber auch nicht zuwider wäre, würde ich doch nicht rauchen, denn wenn mir auch meine Genossen deshalb aufsässig sind und ich bei denen etwas verliere, so habe ich wohl gemerkt, daß ich damit bei den Herrschaften gewinne, besonders bei den Damen. Man erscheint ihnen weit reputirlicher und reinlicher. Es ist auch nichts so abscheulich, als immer die garstige, übelriechende Pfeife in der Tasche mit sich herumzuführen. Und ein Kutscher mag sich ausreden, wie er will: er kann, wenn er das Ding im Munde hängen hat, nicht so auf- und abspringen, wie es manchmal ein dringender Augenblick nothwendig macht. Nun ist noch das elende Feueranschlagen; der Schwamm will 297 nicht brennen, die Pfeife ist verstopft und dergleichen. Glauben Sie mir nur, es ist schon manches Unglück aus dieser schlechten Gewohnheit entstanden. Dabei betäubt der Geruch und macht schläfrig. Sie reden im Gegentheil vom Muntermachen, aber ich habe es oft beobachtet, wie sie verdusseln und beim Rauchen in halben Schlaf gerathen. So trinke ich auch niemals von dem abscheulichen Branntewein, der den Menschen auch dumm macht, und von welchem auch der widerwärtige Geruch den Trinker verfolgt. Ein gemeiner Mann, wie ich es bin, muß auf seine Ehre und Anstand weit mehr halten, als der Vornehme und Reiche, sonst möchten uns manche von diesen wie das Vieh behandeln.

In diesem Augenblicke fiel ziemlich nahe ein Schuß hinter der grünen Hecke, die sich um einen Garten längs der Landstraße hinzog. Die beiden Reisenden fuhren erschreckt zusammen, aber der Kutscher und die Pferde blieben in ihrer ruhigen Haltung. – Das war ich in jedem Augenblick vermuthend, sagte Martin lachend, denn als wir herunterkamen, sah ich den Patron schon mit seinem Gewehr, der unter die Sperlinge schießt. Wenn man den Zügel recht in Wahrsam nimmt, so merken meine Pferde schon, daß so was unterwegs ist, und sie wissen, daß sie nicht erschrecken dürfen. – Mit diesen Worten schwang er sich wieder auf seinen Sitz.

Ist es nicht ein prächtiger Mensch? fragte Emmeline ihren Vater.

Ich vermuthe, antwortete dieser, er ist von guter Herkunft. Alle seine Manieren verrathen eine gute Erziehung.

Alles steht ihm so hübsch, sprach die Tochter weiter, er hat so gar nichts Gemeines. Ich beobachtete ihn schon im Gasthof in der Stadt dort, wie Du mich allein gelassen hattest. Er kümmerte sich um die übrigen Domestiken wenig, er war viel in dem kleinen Gärtchen, hinter dem Hofe, las 298 dort, oder spielte mit seinem Hunde. Dabei ist er immer vergnügt, denn es ist keine Melancholie, die ihm von der groben Gesellschaft absondert.

Sie kamen spät in Basel an, und als sie mit einiger Noth im Gasthof zu den drei Königen untergebracht waren und man sich eingerichtet hatte, genoß Emmeline aus ihrem Zimmer die Aussicht über den Rhein und dessen schöne Ufer. Es klopfte, und als der Alte die Thür öffnete, trat der Kutscher mit einer schweren Cassette herein. Verzeihung, sagte er, die ungeschickten Kellner, die freilich oft auch zu viel zu thun hatten, haben gerade das Wichtigste im Wagen vergessen. Er setzte die Schatulle auf den Tisch. So geht es uns, sagte der Banquier, die wir durch unsre Bedienung gar zu sehr verwöhnt sind, man verliert alle, auch die nöthigste Aufmerksamkeit. – Ein Glas Wein, Freund Martin, verschmäht Ihr doch nicht? das wird nicht gegen Euer Gelübde seyn, um Anstand und Reputation aufrecht zu erhalten.

Im Gegentheil, Ihro Gnaden, sagte Martin schmunzelnd, von Ihres Gleichen ein Glas Wein anzunehmen, ist eine doppelte Wohlthat, denn erstlich ist es eine große Ehre, und zweitens ist es auch ein ausgezeichnetes Weinchen, zu dem wir auf unserm gewöhnlichen Wege niemals gelangen.

Er trank das Glas auf die Gesundheit der Herrschaft und in der Art und Weise eines Kenners und stellte den Römer dann mit einer zierlichen Verbeugung wieder auf den Tisch. Sagt einmal, fing der Alte wieder an, seid Ihr beim Fuhrwesen aufgewachsen? Oder haben Euch Unglücksfälle in den Stand getrieben und sind Eure Eltern vielleicht höher gestellt und reicher gewesen?

O mein gnädiger Herr, sagte Martin mit einem schlauen 299 Lächeln, Sie sind gar zu gütig, wenn Sie denken, daß ich vielleicht gar von vornehmen Leuten herkomme! Ach nein! Ich bin bei dieser Beschäftigung aufgewachsen und befinde mich auch ganz wohl dabei. Dieser Stand nährt seinen Mann und ist auch, bei den beständigen Reisen und dem Verkehr mit vielerlei Menschen, vielfach angenehm, wenn auch oft beschwerlich. Ich habe schon die Schweiz etlichemal durchreiset und bin bis Mailand und Verona in Italien gekommen; Deutschland kenne ich fast in allen Richtungen, und so treffe ich manchmal Bekannte, Herrschaften und Kameraden, wo ich es am wenigsten vermuthe. Es ist was Unbegreifliches, daß die meisten Leute in unserm Gewerbe etwas darein setzen, sich gemein zu betragen, übermäßig zu trinken, zu fluchen und grob zu seyn. Sie meinen, durch ein rohes barsches Wesen setzen sie sich in Autorität. So muß ich mich oft meiner Genossen schämen, und doch könnten sie alle mehr Ehre genießen, wenn sie die Ungezogenheiten ablegten. Es wäre ihnen selber bequemer, reputirliche Menschen vorzustellen, denn das Wohlfeilste und Nächste ist doch immer und überall die Vernunft. Weil ich aber so denke, um es mir im Leben eigentlich nur bequem zu machen, meinen Ihro Gnaden, ich müßte von Hause aus was Besseres und Vornehmeres seyn.

Als er das Zimmer verlassen hatte, sagte der Vater: er hat uns eine gute Lection gegeben. Wir denken immer, unsre sogenannte gute Erziehung bringe erst Menschen hervor. Und wie oft verhüllt sich nur in unserm Stande die Gemeinheit der Seele und der Sitten, und ist dabei viel schlimmer als die der niedern Stände. Man kann in vielen Gegenden von Deutschland beobachten, wie ehrwürdig der Bauernstand ist, wie viele treffliche Männer in der Stille und Unbekanntheit zur Reife erwachsen. Wo es noch 300 Bürgerstand giebt, liefert er auch oft so zu sagen Musterbilder, wahre Männer, die das Handwerk, statt sie zu erniedrigen, erst zu ihrer festen Bestimmtheit herausgearbeitet hat. Und in der Schweiz hat man Gelegenheit, Bürger, Bauern und Hirten kennen zu lernen, die so stark geprägt, so vom edelsten Menschenverstand durchdrungen und geläutert sind, daß jedes Wort von ihnen (wenn man es versteht, sich in sie hinein zu hören und sie zu fassen) für unser einen zur Lehre wird. Diese Art des gesunden Verstandes wird aber immer mehr bei uns untergeackert und unter hochtönende, nichts bedeutende Phrasen begraben, oder von jenen flauen Trivialitäten, nichtssagendem Gallimathias verdeckt, der sich auch nur zu oft als ächter gesunder Menschenverstand brüsten will.

Immer höre ich das Sprichwort, fiel Emmeline ein, gesunder Menschenverstand! Als wenn es auch einen kranken gäbe, oder geben könnte!

Und warum nicht? antwortete der Vater. Unsre Vorfahren haben sich bei dem Ausdrucke doch wohl etwas Eignes und Bezeichnendes gedacht. Der Verstand, die Einsicht, die im Menschen gleichsam wild und ohne alle Pflege wächst, weiß von den Conventionen und verschlungenen Combinationen eines künstlichen Zustandes nichts. Dieser Verstand kann in Kunst und Wissenschaft, Politik und fein verwickelten Rechtsfällen nichts entscheiden. Es vergleicht sich einem großen Wassersturze in der Wüste, wie wir deren viele in der Schweiz sehn werden. Brausend kommt die Flut und springend von Felsen herab, durch den Wald und rennt schäumend und vielfach tönend in das Thal, wo sie Bach und Fluß wird. Hier in der schönen Wildniß kann das Element keine Mühlen treiben und keine Fabriken in Thätigkeit setzen, noch weniger läßt es sich in Brunnenröhren vereinsamen, in Kanälen zertheilen, um da und dort Wiesen zu wässern, 301 oder Vieh und Menschen aus künstlichen Pumpen zu tränken, oder, in Schläuche gefaßt, dem Feuer Einhalt zu thun. Es ist also für diese frische Jugendzeit ganz unnütz und unerzogen. Wenn der Mensch aber davor steht und sieht seinem Treiben nach, so tritt in der bewegten Kühle und Einsamkeit wohl ein höher Gedanke auf ihn zu und erinnert ihn an das Ursprünglichste der Welt und des Gemüthes; ein Gedanke, der in sich doch mehr Werth hat, als die Theorien über Spinnmaschienen, als die künstlichen Rechenexempel des Staatshaushaltes, oder die Kenntniß unserer italienischen Buchhaltung. Um zurück zu kommen, so kann es sich wohl auch treffen, daß ein ungebildeter Mensch, indem er mit seinem frischen unverfälschten Verstande in jene künstlichen Verhältnisse cultivirter Zustände, überbildeter philosophischer Schulen und verfeinerter Sophisten, wie mit einem kühlen Morgenlichte hineinleuchtet, leicht das elende Verschrobene, Unnütze und Zugespitzte von Denkkünstlern ohne Anstrengung entdeckt, und den wahren Zweck unmittelbar erreicht, so daß die berühmtesten und abgefeimtesten jener bei ihm in die Schule gehen müssen.

Ach Väterchen! rief Emmeline mit gefaltenen Händen, – warum sprichst Du denn nicht immer, oder wenigstens oft so?

Thörin! sagte der Alte. Ist also hiemit, fuhr er fort, der gesunde Menschenverstand bezeichnet, so kann es denn doch wohl auch einen kranken geben, der, wenn man sie nicht zu unterscheiden versteht, mit seinem robusten Bruder oft mag verwechselt werden. Auch er ist keine Philosophie und hat mit den tiefsinnigen Forschungen der Wissenschaft nichts zu thun. Er ist auch scheinbar selbständig, aber durchaus schwach und krank gemacht durch die neumodige Philanthropie, durch Menschenrechte, Psychologie, Erbarmen und 302 sentimentales Winseln über das Elend der Welt; – daß dieser kranke Menschenverstand, wenn er nun einmal jene Zustände, große und verwickelte Verhältnisse in seinem Spiegel erblicken will, nur Mißgestalten und Ungeheuer sieht und gewiß, von seinem Standpunkte aus, nichts rectificiren, sondern alles, in so fern er Einfluß gewinnen möchte, nur noch mehr verunstalten und verderben würde, ist leicht zu begreifen. –

Ei ja, sagte Emmeline nachdenklich, – wenn man nur immer wissen könnte, welche Art dieses Menschenverstandes sich in uns regte, so wäre damit schon viel gewonnen. –

Von Basel aus nahm man den Weg durch das unbeschreiblich schöne Münster-Thal. Emmeline war begeistert, und das leichtsinnige Mädchen, welches sonst nicht leicht gerührt war, war oft bis zu Thränen entzückt. An einer Stelle, als man wieder bergauf fuhr, fing der Vater an, von dem Wohlgeruch der duftenden Bäume und Kräuter, der Einsamkeit und dem Schaukeln halb betäubt, einzuschlafen. Auf einen Wink der Tochter fuhr Martin noch langsamer. Er stieg ab, und ging neben dem Wagen, auf der Seite, wo Emmeline saß. Ihr Hund, sagte das Mädchen, ist munter, aber jetzt schon recht ermüdet. Warum ließen Sie ihn vorher so lange laufen?

Gnädiges Fräulein, antwortete Martin, das kleine Vieh ist so dumm, und es ärgert mich, daß er nun schon seit Jahren, so klug er sonst ist, gar keinen Menschenverstand annimmt.

Wie meinen sie das? –

Sehn Sie, fuhr der Kutscher fort, ich lasse ihn oft laufen, denn es macht dem Köter Spaß. Was er davon hat, da solches Vieh sich doch gar nicht umsehen kann, weiß ich nicht; aber ich sehe, daß er sich daran freut. Nun ist 303 es aber unausstehlich, daß er, wenn ich nur etwa vorn am Zaum was zurecht schiebe und ihm einen Wink gebe, er doch mit herunterspringt, wenn er selbst müde ist. So war es gestern. Dann ärgert mich der Spitzbube so, daß ich ihn immerfort neben dem Wagen traben lasse. Ist er wirklich müde, so werfe ich den Narren selbst hinauf, daß er sich zu meinen Füßen ausruht.

Er schwang sich wieder auf den Bock und sah sich schalkhaft nach Emmelinen um. Warum nehmt Ihr das Hündchen nicht mit hinauf? fragte sie verdrüßlich. Sehn Sie nur, wie der Arme in der Hitze hinkt und schleicht und gar nicht mehr fortkann; ach, wie er so erbärmlich zu Ihnen hinaufblickt . . . . O nehmen Sie ihn doch wieder auf den Sitz dort, oder ich will ihn zu mir in den Wagen nehmen.

Lassen Sie ihn nur, gnädiges Fräulein; denn der Kerl, so duckmäusig er sich jetzt anstellt, ist doch nur ein wahrer Komödiant.

Ein Komödiant?

Ja, ich meine, daß er sich so ziert, daß er sich so müde anstellt, es aber noch gar nicht ist. O, es ist nicht auszusagen, und darüber ließe sich vielerlei denken, was diese Thiere so alles lernen, wenn sie in den Umgang mit Menschen gerathen. Und wo dieser es nur her hat, der immer nur bei mir und bei den Pferden ist, begreife ich vollends nicht. Sehn Sie, wie das Vieh den Schwanz hängen läßt, und gar nicht mehr wedelt, wie er den linken Hinterfuß nachschleppt, als wenn er lahm wäre, oder eine Blessur am Beine hätte. Die Zunge streckt er so röchelnd aus dem Halse, und sieht mich immer mit so erbarmungsreichen Augen an, als wenn schon seine letzte Stunde geschlagen hätte. Nun bellt er zu den Pferden auf, als wenn er sie ausschelten wollte und sie Schuld hätten, daß der Wagen nicht still 304 stände. Und doch schwör' ich Ihnen, das ist alles nur Verstellung.

Verstellung?

Ja, Heuchelei und Verstellung. Er will fahren. Und doch darf ich nur absteigen, so springt er wieder nach und hat keine Ruhe hier oben.

Seht nur, Martin, da legt er sich hin. Es ist sein Letztes.

Warten Sie, schönes Fräulein. – Munsche! rief er laut, und der Hund sprang munter auf. – Apport! Er schleuderte einen Stab mit voller Kraft weit in das Feld hinein, und das Hündchen sprang mit der größten Fröhlichkeit behende über den Graben und lief begeistert dem Stabe nach, der weit ab im Kornfelde niedergefallen war. Rasch und mit angestrengter Kraft schleppte er den langen Stock herbei und schien vergnügt und rüstig. Der Kutscher stieg ab, nahm ihm den Stab aus dem Maule, und Munsche sah ihn mit begierigen Augen an, als wenn er darauf lüstern wäre, daß sich das Spiel erneuern solle. Du hast vorhin so miserabel gethan, sagte Martin, und die Dame hat so viel Mitleiden mit dir gehabt, daß du jetzt schon Ehren halber wieder fahren mußt.

Er warf ihn auf den Sitz und stieg selbst hinauf. Wie nennen Sie Ihr Hündchen? fragte Emmeline.

Er heißt Munsche, antwortete Martin, ein russicher Herr, der ihn so nannte, hat mir ihn im vorigen Jahre geschenkt. Der Offizier trennte sich nur ungern von seinem Munsche. Er meinte aber, er gönnte ihn keinen lieber als mir, weil ich ihn gewiß in Acht nehmen und ihm kein Unrecht thun würde. Und so halte ich es auch mit dem Thierchen, denn ich habe ihn lieb. – Sehn Sie, so könnte ich mit Apportiren das Unkraut noch zwanzigmal weit in die 305 Felder hinein jagen, und der Bengel würde nicht müde werden.

Am folgenden Tage erschraken die Reisenden beinah, als sie von der Höhe, die sie erstiegen hatten, zuerst die blaue Fläche des Bieler Sees erblickten, und weit hinaus nach allen Seiten die Gebirge, und hinter sich Wald und Berg; so anmuthig und erbebend, daß das trunkene Auge nicht ruhen, sich nicht ersättigen konnte, und doch so selig befriedigt war.

Sie ließen den Wagen in Biel und fuhren auf einem Schiffe nach der Petersinsel. O mein Vater! sagte Emmeline, indem sie immer und immer wieder dem Alten herzlich die Hände drückte, was macht mich diese Reise glücklich!



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