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Dreizehntes Kapitel.

Staatsanwalt und Verteidiger waren die ersten, die wieder im Saale erschienen. Sie nahmen beide Platz und bedeckten zur Hand genommene Bogen Papier mit Notizen.

Der Staatsanwalt war ein kleiner Herr von hagerer Gestalt. Aus dem eingetrockneten Gesichte funkelte ein Paar unruhiger Augen; die Stirn war hoch und frei, das graumelierte Haar spärlich.

Der Ankläger strich sich, als der Gerichtshof und die Geschworenen wieder versammelt waren, den spitzen, grauen, nachgefärbten Napoleonsbart, funkelte durch die Brille unwillig nach einem Geschworenen hinüber, der etwas verspätet und geräuschvoll Platz nahm, und begann seine Ausführungen, die er mit häufigen und lebhaften Gesten unterstützte.

Das Verbindliche des Vorsitzenden war ihm nicht gegeben, auch nicht der Klang des Organs; er sprach schneidend hart und rücksichtslos, preßte in wirkungsvoller Pause mitunter die schmalen Lippen fest aufeinander und schleuderte mit einem Ruck die zurückgehaltenen Worte hinaus.

»Wir haben uns mit einer Angeklagten zu beschäftigen,« setzte er ein, »die einen Vorzug hat. Gewiß, ich erkenne ihn an. Ich bin ja nicht blind, ich sehe ja, daß sie mit Gaben des Körpers ausgerüstet ist, die nicht gewöhnlich sind, die geeignet erscheinen, zu erobern, zu bestechen, die vielleicht sogar in diesem Saal erobert und bestochen haben. Mich lassen äußere Vorzüge kalt, ich gehe mit sehenden Augen darüber hinweg wie die Themis mit verbundenen. Und wenn ich die glatte Larve außer acht lasse – nichts bleibt an dem bevorzugten Weibe als die krasse Genußsucht, der verbrecherische Egoismus.

»Sie hat ein Nein gefunden auf die Schuldfrage, sie hat eine Zeugin zur Stelle geschafft, die ihre Aussagen bestätigt, die den Mohren weiß, That und Schuld abwaschen soll! Aber gemach, die Anklage läßt sich nicht beirren, nicht durch die Beschuldigte und nicht durch die dienstwillig hergekommene Freundin. Pardon, ich will mich nicht mit einer schweren Anklage gegen die Zeugin wenden; hätte ich mehr als den Verdacht, der mich Zweifel in ihre Aussagen setzen läßt – ich würde wissen, meine Pflicht zu thun! Es ist am besten, ich befasse mich mit der Zeugin möglichst wenig. Sie gehört einer Klasse von – Geschöpfen an, die in der deutschen Sprache mit Namen belegt werden, von denen nicht ein einziger schmeichelhaft klingt. Ob in der Heimat der Zeugin milder geurteilt wird, weiß ich nicht, kümmert mich auch nicht. Ich frage auch nicht danach, ob es an der Seine üblich ist, an Gerichtsstelle in bunter Seidenfahne zu erscheinen, als ginge es unter aufgeputzten Menschen auf den Rennplatz – – ich frage überhaupt nichts nach dieser Zeugin und verstehe mich nur widerwillig zu der Annahme, daß sie – daß sie – ihre Aussagen in gutem Glauben unter den Schutz des Eides gestellt hat.

»Dieser gute Glaube! Ich zweifle gar nicht – nein, wirklich nicht – daß die Freundinnen in Paris zusammengetroffen sind, daß die reiche Madame Herlet großmütig die kleine Freundin beehrt, sogar wiederholt beehrt, so oft beehrt hat, daß in der Kleinen die Vorstellung von einem fortdauernden Besuche sich bilden und festsetzen konnte. Ich bezweifle – wenn ich an der Wahrheit der Aussagen nicht rütteln darf – gar nicht, daß die Zeugin nachträglich die Eindrücke nicht mehr auseinander halten, die in ihrem Gedächtnisse verwischten Thatsachen nicht mehr trennen kann, daß sie selbst an ihre Aussagen glaubt. Solche – liebenswürdige Damen glauben ja so gern und leicht, glauben an ihre eigene Respektabilität, an die Achtung, Liebe – Anbetung ihrer Verehrer, glauben an das ärmste Scheinglück, glauben an die unsicherste Zukunft – ja warum nicht auch an ihre Worte! Sie schwören auf die Treue ihrer Liebhaber, auf die Beständigkeit ihrer Neigungen, auf ihre Jugend, Tugend und Schönheit, auf die Karten einer Wahrsagerin, auf den Sieg eines Rennpferdes – ja, warum sollten sie aus der Rolle fallen, wenn sie einmal an Gerichtsstelle stehen und mit ihrer Wichtigkeit auch noch eine Freundin retten können?

»Nein, ich spreche ihr den guten Glauben nicht ab, dieser Zeugin mit dem leichten Sinn – aber an Wert gewinnen dadurch ihre Aussagen und ihr Schwur um keinen Deut! Sie können nicht rühren und rütteln an dem wuchtigen Beweisbau, den die Anklage Stein für Stein zusammengetragen und aufgerichtet hat!

»Der Herr Verteidiger hat ein kleines Kampfspiel gegen den Mann in Aussicht gestellt, der in redlicher Erfüllung seines Berufes der Anklage das maßgebende Material geliefert hat. Es ist mir eine freudige Genugthuung – ich bedaure nur, daß ich mich mit dem Herrn Verteidiger nicht im Einklange befinde – die Findigkeit dieses Beamten konstatieren zu dürfen, dem die Lösung eines Rätsels gelungen ist, das unentwirrbar schien – unentwirrbar trotz des zweifellos auch zu Anfang schon aufgebotenen Scharfsinnes!

»Meine Herren Geschworenen! Der Verteidiger hatte ein natürliches Interesse daran, das begangene Verbrechen aufzuklären; er setzte in dankenswertestem Eifer seine Kraft an die Ausmittelung des von ihm vermuteten Verbrechers – – aber – eine Kleinigkeit – er irrte – – er irrte damals – er irrt heute! Da haben Sie meine Ueberzeugung! Sie ist nicht persönlich, sie ist rein sachlich.

»Sachlich, nicht persönlich, war auch das Vorgehen des Kommissars, und wenn er auch den Herrn Anwalt ohne dessen Wissen in seinen Bereich zog, so war das nicht nur sein gutes Recht, sondern zugleich sein Verdienst, daß der Ausgefragte in ungetrübter Harmlosigkeit nichts merkte. Hm, na ja! Da ist übrigens kein Grund zur Heiterkeit –«

Eine kleine Bewegung unter den Geschworenen ließ ihn sekundenlang stocken und übellaunig über die Brille schielen.

»Ich will,« fuhr er fort, »dem Anwalt nicht bestreiten, daß er richtig den Urheber des Verbrechens da suchte, wo er ein Interesse an dem Opfer voraussetzen durfte. Das war jedenfalls zulässig – und wenn er selbst später feststellen mußte, daß er sich geirrt hatte – – irren ist eben menschlich.

»Der Polizeibeamte ging von einer ähnlichen Voraussetzung aus, nur mit einer kleinen Abweichung: er fragte sich, ob nicht jemand an dem Manne ein Interesse hatte, das zur That gegen die Verlobte führte.

»Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen!

»Es ist durch nichts erwiesen oder nahegelegt, daß die Ermordete ein Opfer ihrer eigenen Beziehungen wurde; es spricht aber alles dafür, daß sie fallen mußte um des Mannes willen, dem nicht ihre Neigung allein, dem die Liebe noch eines zweiten Weibes galt! Und nota bene: bei diesem zweiten Weibe die ältere, die – gestatten Sie mir den – den Fachvergleich – nach der Anciennetät bevorrechtete Liebe!

»Die Angeklagte hat sich bei ihren Aussagen über ihre Beziehungen zu dem Verlobten der Ermordeten eine äußerst vorsichtige Beschränkung auferlegt, und der Anwalt ist als Zeuge ihrem Beispiele gefolgt. Diese doppelseitige Vorsicht hat aber wohl bei niemand den Eindruck verwischen können, daß der Anwalt sich mehr oder minder wirklich – um die Dame bemühte, daß er mindestens auch seinerseits die Bewerbung ernstlich erwog und daß von seiten der Dame ihm die zufassende Hand offen entgegengestreckt wurde.

»Und mehr als das: die Angeklagte bewahrte dem Manne ihre Leidenschaft über dessen schwindende Neigung hinaus; sie dachte an ihn, sie schrieb ihm, auch wenn sie in weiter Ferne war, sie lud ihn zu sich, sie setzte ihr Werben fort – sie reiste ab, als seine Verlobung – ihre Niederlage – ihr bekannt wurde.

»Damit konnte es sein Bewenden haben; sie konnte ihm nachtrauern, ihm nachgrollen, aber sie konnte Entsagen und Vergessen suchen.

»Sie konnte!«

»Ja, eine andere hätte es wohl auch gekonnt, hätte sich in hartem Ringen dazu gezwungen, gezwungen zum Siege über sich selbst.

»Die Angeklagte nicht!

»Die nicht!«

»Die war im Egoismus groß und stark geworden! Die kannte kein Kämpfen gegen sich, nur gegen andere! Kein Wünschen für andere, nur für sich! Die begehrte weiter, die ließ den ungezügelten Egoismus zur blutigen Selbsthilfe reifen!

»Meine Herren Geschworenen! Sehen Sie zurück mit mir auf Herkunft und Laufbahn dieser Frau! Nicht eine, nicht zehn fragwürdige Frauengestalten hat uns das Land der Dollars und der wüsten Emancipation des Weibes geschenkt – ihre Zahl ist Legion. Aber aus der Unzahl ragt die kleine Zahl empor, die ohne jede Skrupel die Genußsucht und den Egoismus zur einzigen Richtschnur wählten!

»Mit achtzehn Jahren nahm die Angeklagte die ihr gebotene Hand eines Mannes an, der um über das Doppelte älter war als sie. Die Angeklagte selbst hat nicht behauptet, daß sie ihn aus Neigung geheiratet hätte. Und wie hätte das sein können! Wie hätte das lebensdurstige, junge Geschöpf den gealterten, stets kranken Mann lieben können! Nein, aber er hatte etwas, was sie liebte, ein anderes als ihn: sein Geld! Sie selbst war nicht reich; er gab ihr mit einem Schlage die Fülle.

»Sie bewog den kranken Mann, mit ihr auf Reisen zu gehen; sie schleppte ihn übers Meer, nach Paris, nach London – sie trieb den Ruhebedürftigen zur raschen Aufreibung.

»Und kaum hatte er die Augen geschlossen, so flatterte die trauernde Wittwe in die Theater, suchte sie Zerstreuung und Aufheiterung an der Seite einer Dame zweifelhaftesten Wertes, einer Vertreterin der Lebewelt, der Halbwelt – besuchte sie, immer unterwegs, die lockenden Großstädte, die Centren des Verkehrs und des brandenden Genusses.

»So handelt kein Weib von Herz, so handelt der verknöcherte, nein, der steingewordene Egoismus, dem Vergangenheit, Zukunft und Welt um das eigene Ich versinken, wenn sie nicht diesem Ich und ihm allein – dienstbar sind.

»So handelt ein Weib, das von sich stößt und an sich reißt nach ihrem Begehren, das aus dem Wege räumt, was ihr unbequem ist, das zertritt und vernichtet, was sie nicht anders beseitigen kann.

»So handelte die Angeklagte!

»Sie wollte einen Menschen an sich ketten, der widerstand und der einen Halt hatte in einer holden Menschenblume, die ihm lieb war; die Blume wurde zertreten – die Rivalin, das reine Mädchen hingestreckt mit dem tödlichen Feuerstrahl!

»Ganz selbstverständlich aber, meine Herren: der gewaltthätige Egoismus wäre nicht vollkommen gewesen, wenn er bloß das Hindernis beseitigte, wenn er nicht zugleich die eigene werte Person in Sicherheit gebracht hätte.

»Diese Sicherung des eigenen Ich – o ja, die hatte die Verbrecherin im Auge, die vergaß sie nicht einen Moment, auf die war sie bedacht mit verschlagenem Raffinement!

»Ehe sie zur That schritt, sicherte sie sich das Alibi.

»Sie war im Auslande, weit fort vom Schauplatze, und ihre Postkarten bescheinigten das! Sie war in Nizza an dem verhängnisvollen Tage, dem 30. Juli – so stand zu lesen auf der erlogenen Grußkarte. Sie war in Paris um diese Zeit, so sagt sie selbst aus mit dreister Stirn, so beglaubigt es ihr unter Eid die würdige Freundin!

»Lassen Sie sich nicht täuschen, glauben Sie nichts von der idyllischen Freundschaft, nichts von der Langeweile, die ihr die Mordwaffe zum Spielen in die Hand gedrückt haben soll! Glauben Sie an den Egoismus des harten Herzens, glauben Sie an die ruchlose That, suchen Sie ein Interesse an der grausamen Forträumung der Toten, wo es ganz allein vorhanden sein konnte! Und dann: Richten Sie die Verlogenheit, richten Sie das Verbrechen, sprechen Sie das Ja auf die Schuldfrage mit erdrückender Mehrheit!«

Der Ankläger hatte bei den letzten Worten die Rechte wie zum Schwur erhoben. Er riß den zurückgeschobenen Stuhl mit einem Ruck vor, setzte sich und rang kurzatmig nach Luft.

Niemand hatte sich der Wirkung der anklägerischen Rede ganz entziehen können, und ihr Pathos fand auch in der Antwort der Verteidigung einen Nachhall. Aber der Verteidiger beherrschte sich zu Anfang, und überließ sich in wohlberechneter Steigerung erst zum Schlusse einem höheren rednerischen Fluge.

Ein Strahl der sinkenden Sonne stahl sich durch die hohen Bogenfenster in den Verhandlungssaal, traf blendend auf das männlich offene Antlitz des Verteidigers, der sich zurückbog, und spielte in verschwommen abgezeichnetem Reflex auf dem Fußboden.

»Der Paragraph 257 ist für den Angeklagten eine Wohlthat, denn er sichert ihm das letzte Wort,« begann Bendring, den Blick noch halb auf den zitternden, spiegelnden Lichtfleck seitwärts am Boden gerichtet. »Sonst« – er hob das freie Auge nach der Geschworenenbank hinüber – »könnte es sich ereignen, daß unter dem frischen Eindruck einer staatsanwaltlichen Rede ein Verdikt gefällt würde, das mit Gerechtigkeit und Wahrheit in Einklang zu bringen vergebliches Mühen wäre. ›Dem Angeklagten gebührt das letzte Wort ...‹ Hat der Gesetzgeber, als er diesen Satz in die Prozeßordnung aufnahm, an Ankläger gedacht, die sich von ihrem subjektiven Urteil, ihrem Temperament und ihrer Begabung über die ihnen gestellte Aufgabe fortreißen lassen? Und hat er dem Angeklagten die Möglichkeit sichern wollen, das Uebermaß der Anklage zu berichtigen? Ich glaube es; und wenn ich nicht schon öfters die Erfahrung gemacht hätte, daß an Gerichtsstelle über die mangelnde Logik ein Ueberschwang der Ausführungen hinweghelfen soll – die eben gehörte Rede des Herrn Staatsanwaltes hätte mich darüber belehrt.

»Ich will nicht in den Fehler verfallen, Subjektives mit Subjektivem zu erwidern; ich will mich befleißigen, möglichst sachlich zu sein. Aber ich kann doch nicht ganz ignorieren, was der öffentliche Ankläger an Persönlichem für seine Zwecke herangezogen und damit auch in den Pflichtenkreis der Verteidigung gestellt hat. Ich muß es vielmehr als meine Aufgabe erachten, dieses Persönliche auf dasjenige Maß zurückzuführen, das sich aus der nüchternen Betrachtung ergiebt.

»Der Herr Staatsanwalt hat zuerst von seinen offenen und den verbundenen Augen der Themis gesprochen, darauf sich mit der Hauptentlastungszeugin beschäftigt, dann dem Herrn Kriminalkommissar ein Kompliment gemacht, meine ungetrübte Harmlosigkeit gerühmt und schließlich ein Bild von der Angeklagten entworfen.

»Ich will diese Reihenfolge gern beibehalten und nur nebenher die Erfahrung wiederholen, daß schon mancher Staatsanwalt mit sehenden Augen blind gewesen ist und schon oft die Themis mit verbundenen Augen geschielt hat.

»Die Staatsanwaltschaft will der aus der Ferne gekommenen Zeugin nicht mit einer schweren Anklage danken, daß sie an der Ermittelung der Wahrheit hat mitwirken, durch ihr Zeugnis einen nicht gut zu machenden Fehlgriff hat verhindern wollen. Die Zeugin kommt aber der Staatsanwaltschaft nicht recht, weil sie das mühsam und künstlich aufgeführte Gebäude der Anklage mit ihrem Erscheinen und ihrer Aussage über den Haufen stößt, und die Anklagebehörde sucht sich der Unwillkommenen nach Kräften zu erwehren. Sie geht dabei von Anschauungen aus, die, auch wenn sie in der Grundidee richtig wären, in der ausnahmslosen Anwendung schwere Uebelstände mit sich bringen würden. Es hat manche berühmte Liebespaare gegeben, die über die von der Tradition vorgeschriebenen Formen sich kühn hinwegsetzten und dafür die Bewunderung – nicht allein der Mitwelt, sondern auch der Nachwelt ernteten. Es gab und giebt ungezählte wechselvolle Lebensschicksale, die allein durch die Romantik der Liebe in ein freundliches, versöhnendes Licht gerückt werden; und es giebt tausend und abertausend Fälle, in denen die legitime Liebe zu maßlosem Unglück geführt hat. Ich bin weit davon entfernt, jeder willkürlichen Form des Liebeslebens das Wort zu reden; aber ich sehe auch zu vorurteilslos in die Welt hinaus, ich habe gerade in meinem Berufe eine zu große Kenntnis von der Unzulänglichkeit menschlicher Einrichtungen sammeln müssen, und ich denke endlich zu hoch von der natürlichen Freiheit der Selbstbestimmung, als daß ich mit richtender Anmaßung alles verurteilen sollte, was von dem Alltäglichen und Ueblichen abweicht, was sich meinen oder anderen, kodifizierten oder augenblicklich vorherrschenden Anschauungen nicht unterordnen will. Meine Herren Geschworenen! Mögen die Zeugin und ihr Freund ihre Beziehungen und ihr Leben gestalten, wie die Umstände es ihnen gestatten oder ihre Neigungen es von ihnen fordern – wir dürfen nicht Splitterrichter sein und ihre Verdammung fordern, weil unseren Anschauungen andere Formen mehr entsprechen würden!

»Ich setze in die Glaubwürdigkeit der Zeugin nicht den geringsten Zweifel, und ich bin ihr dankbar, daß sie hergeeilt ist, in ernster Stunde für die geschmähte und gefährdete Freundin einzutreten. Ich rechne es ihr an, daß sie sich nicht gescheut hat, den Widerschein der gegen die Gefährtin erhobenen Vorwürfe lieber gegen sich selbst zu richten, als nach dem marklosen Grundsatz: ›Was dich nicht brennt, das blase nicht!‹ die Freundin im Stich zu lassen.

»Ich denke mit Bedauern daran, daß die Anklagebehörde in Ermanglung anderer Angriffspunkte sich soweit an Aeußerlichkeiten geklammert hat, sogar die Toilette der Zeugin herabsetzend zu kritisieren und es als unwürdig hinzustellen, so an deutscher Gerichtsstelle zu erscheinen! Ja, kann denn ein Gerichtshof den Zeugen vorschreiben, daß sie vor seinen geweihten Schranken im öden Schwarz der Amtstracht zu erscheinen haben? Hat ein deutscher Gerichtshof die Macht oder die Berechtigung, den Ausländern statt des Seidenkleides den Kattunrock zu diktieren oder von ihnen zu verlangen, die leuchtenden Farben, an denen sie bei sich und unter ihresgleichen ihre Freude haben, um Gottes willen daheim zu lassen? Muß denn alles über den Kamm farbloser Nüchternheit geschoren, muß den Ausländern imputiert werden, daß sie leichtsinnig, unglaubwürdig, minderwertig sind, weil sie anders gehen und sich anders geben als die deutsche Matrone oder der deutsche Gerichtsbeamte?

»Ich bitte Sie, sich doch gegenwärtig zu halten, daß die Gewohnheiten und die Mode in der Heimat der Zeugin anders sind als bei uns, und daß die Zeugin sich nicht nur berechtigt glauben, sondern auch berechtigt sein mußte, so bei uns zu erscheinen, wie sie es im eigenen Hause gewohnt war! Oder soll die fremde Zeugin bei uns im farblosen Wollenrock, bei den Türken in seidenen Pumphosen, bei den Indianern in Mokassin und Lendenschurz auftreten, um für voll gelten zu können?«

Der Staatsanwalt rückte bei den satirischen Vergleichen auf dem Stuhl; aber der Präsident hörte ruhig zu und schien zum Einschreiten eine Veranlassung nicht zu finden.

»Lassen Sie die Zeugin, wie sie ist,« fuhr der Verteidiger fort. »Klammern Sie sich nicht an ihre vom Ueblichen abweichende Erscheinung, halten Sie sich an ihr Wort. Halten Sie sich an ihre Aussage, die sie nicht nur unter den Schutz, sondern auch unter die Kraft des Eides gestellt hat! An dieser beeideten Aussage ist nicht zu rütteln! Durch diese beeidete Aussage ist das Alibi der Angeklagten unumstößlich nachgewiesen! –

»Ich komme zu der Verbeugung des Anklägers gegen den Herrn Kommissar, und ich mache diese Höflichkeitserweisung nicht mit.

»Ich weiß, daß der Beamte, der im Dienste des Staates steht, die Pflicht hat, Verbrechern nachzugehen. Er muß, wenn er seinen Beruf erfüllen will, auch krummen Wegen folgen können, weil der Verbrecher auf diesen vorangeht; er muß schleichen können wie der Jäger, um das Wild zu stellen; er muß in allen Ränken und Listen dem Verbrecher selbst noch überlegen sein. Ich drücke jedem Beamten die Hand, der die für ihn notwendigen üblen Kenntnisse am rechten Orte verwertet; aber ich wende mich von jedem ab, der sie auch dorthin verträgt, wo er nicht nur keine Verworfenheit zu verfolgen und zu überwinden, sondern wo er mit Solidarität der Interessen zu rechnen hat und wo ihm Offenheit und Vertrauen, ja Gesinnungen der Freundschaft entgegengebracht werden!

»Offenheit verlangt Offenheit, Geradheit Geradheit, Sympathie Sympathie.

»Der Kriminalbeamte hat alles bei mir gefunden und mir gedankt mit Heucheln und Horchen!

»Er hat mich damit nicht herabgedrückt, aber sich das Zeugnis ausgestellt, daß er die Fähigkeit des Unterscheidens verloren hat, daß er aus seiner Haut nicht herauskann, daß er beengt ist durch die Gewohnheit des leidigen Berufes.

»Und für einen solchen Mann Komplimente? Ich habe keine. Ich schäme mich auch der ›ungetrübten Harmlosigkeit‹ nicht, die mich den Mann nicht hat durchschauen lassen. Fortiter in re – fest in der Sache, jawohl; aber gerade im Wege!

»Ich gehe nach dieser Charakteristik, wie der Kommissar seine Kenntnisse erlangt hat, zu seinen Ermittelungen selbst über. Ich habe, aus den angeführten Gründen, keine Sympathie für den Beamten; mir mangelt der Respekt auch vor seinen Entdeckungen.

»Die Aufmerksamkeit des Kommissars ist auf die heutige Angeklagte gelenkt worden durch zwei von mir zurückgelassene Postkarten. Ich korrespondierte noch mit einer Reihe anderer Damen, mit denen ich teils durch meinen Beruf, teils durch Freundschaft verbunden bin; hätte es der Zufall wie bei Frau Herlet gefügt, so hätten vermutlich auch diese Damen den Kommissar auf ihrer Fährte gehabt! Und wer weiß, welche Verwickelungen sich bei ihnen ergeben hätten.

»Frau Herlet war zur Zeit des Mordes auf Reisen – wie viele andere auch!

»Frau Herlet schrieb mir am Mordtage – das hätten zehn andere gleichfalls thun können, das haben, so viel ich mich entsinne, eine Verwandte und die Witwe eines Kollegen thatsächlich gethan, ohne daß sich darum Weiterungen ergeben hätten, weil eben ihre Briefe nicht auch zufällig zurückgeblieben waren.

»Zufall ist die Anknüpfung der Fährte – Zufall alles, was sich in ihrem Verfolg ergab: die List, die mir durch vorsorglich geschriebene Karten die Reise nach Paris verbergen wollte; Zufall die Langeweile, die sich die Zeit mit einem Sport vertrieb, dem sich in manchen Kurorten alltäglich Hunderte ohne Mordgedanken hingeben; Zufall der Besuch bei der Freundin gerade an den Tagen vor und nach dem Morde.

»Zufall und Willkür sind die großen Leitsterne der Anklage!

»Die Willkür folgert aus dem Datum einer Karte, aus einem harmlosen Sporte, aus einer Reise für Modezwecke, aus einem freundschaftlichen Besuch bewußte, in den Dienst eines Mordgedankens gestellte Absicht und Vorberechnung!

»Die Willkür schreitet kühn über alles hinweg, was ihre Behauptungen zu entkräften geeignet wäre, schiebt das ganz unzweifelhaft nachgewiesene Alibi skrupellos beiseite und tritt mit Füßen die Zeugin, die es gewagt hat, aufzustehen und der Wahrheit die Ehre zu geben.

»Die Willkür zweifelt an den Aussagen der Angeklagten und der Zeugen.

»Die Willkür behauptet, wo sie nicht beweisen kann, und sie greift zu Phantasiebildern, wo die Thatsachen eine Belastung schlechthin versagen.

»Nichts, aber auch rein gar nichts hat der Angeklagten in ihrer bisherigen Lebensführung nachgesagt werden können. Ich, der ich den Verdacht der Oberflächlichkeit – einer gewissen wenigstens – im stillen gegen sie gehegt hatte, habe widerrufen auf Grund der besseren Erkenntnis. Die Anklage verschließt sich dieser Erkenntnis; sie ergiebt sich der Willkür und sucht Halt und Stütze gegen ihre Hinfälligkeit in der phantasievollen Schwarzfärbung vergangener Zeiten. Sie schildert einen Gatten, von dem ihr nichts bekannt ist als der Name, und dessen langsame Hinmordung durch die Angeklagte, ohne die Erbringung des ganz unmöglichen Beweises auch nur zu versuchen.

»Ja, meine Herren Geschworenen, auf solcher Grundlage zu kämpfen, ist undenkbar! Ich weiß von der Angeklagten, daß sie ihren Gatten geehrt und gepflegt hat – lassen Sie diese durch nichts widerlegte Behauptung mindestens dasselbe gelten, wie die durch nichts begründete der Anklage!

»Es scheint mir Ihre Pflicht, den Angaben der Angeklagten zu folgen, die nicht widerlegt sind, und alles in der Anklage abzulehnen, was sie nicht zugleich bewiesen hat!

»Es ist aber unzweifelhaft Ihre Pflicht, alle durch die Anklage etwa geweckte Animosität gegen die Angeklagte oder die Zeugin zum Schweigen zu bringen und Halt zu machen vor dem ›hierher und nicht weiter!‹ das Ihnen der Alibibeweis der Angeklagten laut und ernst zuruft!

»Und von mir eine Versicherung, eine schlichte und kurze –« er hob seine Stimme zu eindringlicher Betonung –: »Ich bin kein Anwalt, der sich von seinen Mandanten eine Richtung seiner Verteidigung vorschreiben läßt, ich plaidiere nach meiner felsenfesten Ueberzeugung! Und diese ist: Die Angeklagte ist unschuldig!

»Sprechen Sie auf die Schuldfrage ein unzweideutiges, energisches Nein, das die Angeklagte der Ehre und dem Leben zurückgiebt!« –

Nach den Hauptreden des Staatsanwalts und des Verteidigers näherte sich die Entscheidung in raschem Tempo.

Replik und Duplik fesselten nicht mehr.

Ein wohliges Halbdunkel lag über den Saal gebreitet, als der Vorsitzende die einzige Schuldfrage formulierte und verlas:

»Ist die Angeklagte schuldig, zu Ascheberg am Plöner See am 30. Juli Hedwig von Viersen vorsätzlich und mit Ueberlegung getötet zu haben?«

Einsprache gegen die Fragestellung erfolgte nicht. Der Vorsitzende erteilte eine kurze Rechtsbelehrung an die Geschworenen, und diese zogen sich in das Beratungszimmer zurück.

Das Publikum unterhielt sich halblaut und blickte, als plötzlich elektrisches Licht den Saal durchflutete, scheu nach den leeren Plätzen der Geschworenen.

Die Angeklagte stand blaß, das fragende Auge auf den Verteidiger gerichtet, der leise zu ihr sprach.

Die Geschworenen kamen bereits nach einer Viertelstunde zurück und der Obmann nahm in der beängstigenden Stille das Wort: »Auf Ehre und Gewissen bezeuge ich als den Spruch der Geschworenen:

›Ist die Angeklagte schuldig, zu Ascheberg am Plöner See am 30. Juli Hedwig von Viersen vorsätzlich und mit Ueberlegung getötet zu haben?‹

›Nein!‹ mit mehr als sieben Stimmen.«

Dr. Bendring streckte der Erlösten in lebhafter Bewegung glückwünschend beide Hände hin, und aus den Reihen der Zuhörer ertönten laute, freudige Bravorufe, die der Vorsitzende rügen, aber nicht ungesprochen machen konnte.

Die Freundinnen umschlangen sich nach dem Freispruch und verließen das Gerichtsgebäude Arm in Arm.

»Was der mit meinem Kleide hatte,« flüsterte Blanche du Midi draußen. »Aber dein Verteidiger hat's ihm gegeben; das wird mich freuen, so oft ich an den vertrockneten alten Griesgram von Staatsanwalt denken werde.«

Die Freigesprochene wehrte dem lebhaften Plaudern nicht. Sie horchte wie abwesend zu und atmete in durstigen Zügen die herbe, abendliche Frühlingsluft.


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