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9.

In dem Fremdenzimmer des rothen Kruges war der Abendtisch gedeckt; freilich nur für zwei Personen. Es war aber nur erst ein Gast da. Der kleine, dicke Polizeirath ging ungeduldig in dem Zimmer auf und ab. Er sah knurriger aus denn je. So blickte er bald nach dem Tische, auf dem noch keine Speisen standen und zu dem der zweite Gast sich noch nicht einfinden wollte, bald horchte er am Fenster in die dunkle und stille Nacht hinaus. Der zweite Gast erschien endlich.

»Entschuldigen Sie,« trat der Baron vornehm ein, »ich hatte noch Allerlei zu besorgen.«

Eine Aufwärterin trug eine herrlich duftende und dampfende Hühnersuppe herein. Dem Polizeirath fingen die Augen an zu leuchten.

»Gehorsamer Diener!« sagte er höflich zu dem Baron, der sich entschuldigt hatte. »Aber befehlen Sie nicht, daß wir uns setzen?«

»Ich bitte darum.«

Sie wollten sich an den Tisch setzen. Draußen wurde ein schneller Schritt laut. Er kam auf den Krug zu.

»Donnerwetter!« fluchte leise, aber desto ergrimmter der Polizeirath in sich hinein.

Der Schritt war in das Haus gekommen. Die Thür des Zimmers öffnete sich. Ein Gensdarm trat schnell herein und auf den Baron zu.

»Herr Baron, ich habe zu melden, daß der Gefangene bittet, dem Herrn Baron vorgeführt zu werden.«

»Welcher Gefangene?« fragte der Baron.

»Der in dem Stall eingeschlossen ist.«

»Ah, ah!« – der Baron sprach es zu dem Polizeirath – »der Herr Sellner! Er wird ein Bekenntniß ablegen wollen! Die Einsamkeit! Er war ohnehin schon beinahe erdrückt von dem Gewichte der Vorhaltungen, die ich ihm machte. Ah, ich hatte es erwartet.«

»Ich werde auf der Stelle kommen,« sagte er zu dem Gensdarm; dieser entfernte sich wieder. Der Baron wandte sich zu dem Polizeirath zurück. »Gehen wir sofort!« sagte er.

Der Polizeirath erwiderte nichts. Er sah so sonderbar aus. Er warf einen wehmüthigen Blick auf den gedeckten Tisch, auf die dampfende und duftende Hühnersuppe. Dann lachte er doch wieder so listig in sich hinein. Und dann mußte er wie besorglich forschend den Baron ansehen, der schon ungeduldig auf ihn wartete. Aber seine gute und listige Laune gewann die Oberhand, und dann wurde er doch wieder ernst.

Sie hatten das Zimmer, das Haus verlassen und gingen in der Dunkelheit an der langen Scheune und der Gartenmauer entlang nach dem Stalle hin, in dem der gefangene Sellner eingeschlossen war.

Unterwegs begann er Polizeirath zu sprechen.

»Herr Herr Baron, ich wollte, er wäre schon über alle Berge.«

»Wen meinen Sie?« fragte der Baron.

»Den Herrn Sellner meine ich.«

Der Baron mußte sich zusammennehmen, um nicht aufzufahren. »Ich begreife Sie nicht, Herr Polizeirath? Der Mann, der das Geständniß eines schweren, empörenden Verbrechens ablegen soll, das so viele Jahre in tiefster Verborgenheit geblieben war?«

»Und wozu soll er das Geständniß ablegen, Herr Baron?«

»Damit der Arm der Gerechtigkeit ihn erreiche.«

»Hm, Herr Baron –«

»Was wollen Sie bezweifeln?«

»Ich wünschte bezweifeln zu können, daß auch die arme Frau und das brave Kind von diesem Arme der Gerechtigkeit mit ergriffen werden, und zwar die Verführte und die Unschuldige schwerer und härter, als der Schuldige, eigentlich der allein Schuldige. Aber –«

»Aber?« fragte der Baron.

Sie waren an dem Stalle angelangt. Vier Gensdarmen hielten das kleine Gebäude auf seinen vier Seiten besetzt. Der Eine von ihnen bewachte zugleich den alten Knecht Kasper, der noch da war. Der Baron war sehr zufrieden. Er umging den Stall nach allen Seiten.

»Ist nichts vorgefallen?« fragte er die Gensdarmen.

»Zu Befehl, Herr Baron, nichts, als daß vorhin der Gensdarm Schmidt hier war –«

»Ich erkundige mich nicht nach dem Gensdarm Schmidt. Ich frage nach ungewöhnlichen Ereignissen.«

»Zu Befehl. Herr Baron, Ungewöhnliches ist nichts weiter passirt.«

»Gut. Einer von Ihnen zünde die Laterne an und führe uns zu dem Gefangenen.«

Die Gensdarmen waren im Dunkeln. Einer von ihnen zündete eine Laterne an, schloß die Thür des Stalles auf und wollte vorleuchtend, hineingehen. Der Baron hielt ihn zurück.

»Sie bleiben draußen.– Herr Polizeirath, Sie sind wohl so gütig, die Laterne zu nehmen. Wir Beiden allein werden zu dem Gefangenen gehen. Je weniger Zeugen zugegen sind, desto leichter wird einem Verbrecher das Geständniß.«

»Es ist eine alte Erfahrung,« sagte der Polizeirath.

Er nahm die Laterne und trat in den Stall. Der Baron folgte ihm, die Thür hinter sich schließend. Er sah sich in dem Stall um. Er fand es darin, wie er es vorhin verlassen hatte. Es mochte ihm wenigstens so scheinen. Die Laterne brannte etwas trübe, ihr Licht flackerte.

Darum sah auch wohl der Polizeirath so besonders forschend und neugierig umher und er war dabei wieder besorglich und er schien sich zusammennehmen zu müssen, um selbst den knurrigen Ausdruck in seinem Gesichte beizubehalten.

In dein trüben und flackernden Lichte stand hinten in dem Stalle der Gefangene. Der Baron wandte sich an ihn.

»Gefangener Sellner, Sie haben gewünscht, mich zu sprechen?«

»Herr Baron,« antwortete der Gefangene –

Der Baron wich zurück, wie vor einem Gespenst oder vor dem Bisse eines wilden Thieres. Dem Polizeirath wollte für einen Augenblick plötzlich der Athem ausgehen. Das war nicht die Stimme des Gefangenen Sellner, die sie gehört hatten. Der Gefangene trat aus dem Hintergrunde des Stalles hervor. Sie sahen auch nicht die Gestalt des Herrn Sellner vor sich.

Der Kellner Ludwig stand vor ihnen, in der Kleidung des Herrn Sellner, und die schlanke Figur war sonderbar genug anzusehen in dem weiten Rocke des starken, kräftigen Mannes, der nicht da war, und auch das hübsche Gesicht sah so eigenthümlich aus, wie gedrückt von einer schweren Angst, und doch strahlend in einem hohen, hellen Glücke, das sich am Ende um keine Angst und um keine Schrecken kümmerte.

»Was ist das?« rief der Baron.

»Herr Baron, ich nehme Alles allein auf mich,« sagte der Kellner Ludwig.

»Was ist denn geschehen?«

»Ich habe mit dem Herrn Sellner die Kleider getauscht –«

»Das sehe ich.«

»Und er ist so entkommen. Die Gensdarmen konnten ihn in der Dunkelheit nicht erkennen.«

»Aber wie konnten Sie hier hineinkommen?«

»Hm, hm, Herr Baron,« nahm der Polizeirath das Wort, »darf ich Ihnen die Antwort darauf geben? Haben Sie nur die Güte, mir vorher eine Frage an den jungen Mann zu gestatten.«

Der Baron stand in jenen tiefen Gedanken, in denen man nicht hört und nicht sieht.

Der Polizeirath wandte sich an den Kellner.

»Haben Sie Ihren Zweck erreicht?«

»Ja!« rief der junge Mann. »Und ich verdanke Ihnen mein Glück, mein Alles.«

»Hm, so verdanken Sie mir auch Ihre fernere Gefangenschaft. Sie bleiben vorläufig hier. Befehlen Sie nicht so, Herr Baron?«

Der Baron hörte wieder. »Unzweifelhaft,« sagte er.

»Darf ich dann bitten, Herr Baron, den Gefangenen einstweilen hier allein zu lassen? Ich wünschte Ihnen einige nothwendige Mittheilungen zu machen.«

Der Baron mochte einsehen, daß das in der That nothwendig sei. Er sagte auch wieder: »Gehen wir.«

Sie verließen den Stall. Der Polizeirath schloß ihn ab.

»Die Nacht ist schön,« sagte er zu dem Baron. »Der Hunger ist mir für den Augenblick vergangen. Darf ich Ihnen eine Promenade durch den Garten vorschlagen?«

Der Baron ging stillschweigend in den Garten hinein. Der Polizeirath gesellte sich zu ihm.

»Herr Baron, der Ludwig ist mit der Mamsell Caroline verlobt.«

»So?«

»Er hat auch das Jawort des Vaters, des Herrn Sellner erhalten.«

»Ah!«

»Ich schickte ihn – ich war doch einmal der Vertraute der Liebe der beiden jungen Leute geworden – ich schickte ihn zu dem Zwecke in den Stall zu dem Alten. Auf diese Weise kam er hinein.«

»Um mit Hülfe der Polizei selbst einen Verbrecher, einen Mörder entwischen zu lassen!«

»Herr Baron, ich will Ihnen nichts verhehlen; das war mein Gedanke, als ihn hinschickte.«

»Herr – und Sie gestehen mir das geradezu ein? Ihr Verfahren war gegen Ihr Amt, gegen Ihre Pflicht, gegen Recht und gegen Gesetz!«

»Hm, Herr Baron, Sie nannten Recht und Gesetz zuletzt. Lassen Sie mich zuerst bei ihnen verweilen; mein Amt und meine Pflicht finden sich dann von selbst.«

»Wie? Sie wollen Ihr Benehmen zu rechtfertigen suchen?«

»Haben Sie die Güte, mir zuzuhören. Sie sprachen also von Recht und Gesetz. Nun, das Recht ist gegenüber dem Gesetze eine eigene Sache; ein noch sonderbareres Ding ist aber das Gesetz gegenüber dem Rechte. Indes, Sie werden mir zugeben, daß das Gesetz gilt, nothwendig und unbedingt gilt und gelten muß, wenn es auch in dem einzelnen Falle das vollkommenste Unrecht sein sollte.«

»Das klare Gesetz muß man anerkennen,« gab der Baron zu.

»Hm, Herr Baron, und nach unserem klaren Gesetze verjähren Verbrechen, wenn zwanzig Jahre seit ihrer Begehung verflossen sind, dergestalt, daß dann keine Untersuchung und keine Strafe mehr stattfinden darf!«

»So lautet das Gesetz; auch für den Mord.«

»Und Herr Baron, dieses Gesetz kann in dem einzelnen Falle ein empörendes sein, dem Rechte geradezu in das Gesicht schlagen – es kann zum Beispiel hier das schreiendste Unrecht von der Welt sein, wenn dieser Herr Sellner, der heute als gemeiner, roher, frecher, unmenschlicher Raubmörder entlarvt wird, zugleich offen und frei gleich einem ehrlichen Manne, als loyaler Bürger umhergehen, vor Gericht und Polizist sich hinstellen dürfte, weil seit Verübung seines Verbrechens zwanzig Jahre verflossen sind. Nicht wahr, Herr Baron, Ihr Rechtsgefühl sagt Ihnen das gewiß?«

»Es wäre empörend,« sagte der Baron.

»Und es könnte so sein, Herr Baron! Die Frau hat mir ihren Kalender vom Jahre 1813 übergeben. Sie hat darin den Tag bezeichnet, an welchem der fremde französische Knabe Ludwig in das Haus gekommen sei. Der Kalender ist echt, die Schrift ist alt. Es ist also auch an der Richtigkeit des Tages nicht zu zweifeln, und der Tag kann nur der Tag des Verbrechens, des Mordes sein, und es ist der siebenundzwanzigste October des gedachten Jahres.«

Der Baron fuhr auf.

»Gerade der siebenundzwanzigste?«

»Gerade.«

»Und gerade dasselbe Datum haben wir heute!«

»Ja, es ist ein Schicksalsdatum. Das Verbrechen ist gerade heute verjährt.«

»Verjährt?« lachte der Baron. »Die Verjährung, mein lieber Polizeirath, tritt erst ein, wenn seit dem Verbrechen zwanzig Jahre verflossen sind, ohne daß eine Untersuchung eingeleitet war, und ich habe schon heute die Untersuchung eingeleitet, da die Zeit noch nicht verflossen ist«

Auch der Polizeirath lachte; doch er lächelte nur.

»Das Gesetz fordert eine gerichtliche Untersuchung, Herr Baron.«

»Ich bin Richter.«

»Aber nicht hier. Sie sind hier nicht im Auftrage eines Gerichts, Sie sind hier nur in einer Mission des Hofes, des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten und schon darum nicht als Richter.«

Der Baron wurde still.

»Habe ich Recht?« fragte der Polizeirath.

Der Baron antwortete nicht. Aber er sprach wie in Verzweiflung für sich: »Und die Residenz ist drei Meilen entfernt, und in zwei Stunden ist die Mitternacht da und dieser unglückliche Tag vorüber! Und auch das nächste competente Gericht ist mindestens drei bis vier Meilen von hier entfernt und vor Mitternacht nicht zu erreichen. Da ist in der That Alles vorbei.«

Es war doch eine Antwort. So nahm es auch der Polizeirath.

»Ich habe also Recht, Herr Baron. Es ist das Recht der Gesetze, nur der Gesetze freilich. Aber es ist bindend, maßgebend, wie Sie selbst einräumten. Man muß sich ihm unterwerfen. Und die Wahrheit zu sagen, Herr Baron – wir haben heute schon ein paarmal darüber gesprochen – im Grunde ist diesmal das Recht des Gesetzes auch das echte, wahre, gute und brave Recht. Von dem Verbrechen wußte bisher kein Mensch etwas. Nur jener Polizeispion da hinten in seinem Frankreich, in einer ganz andern, weiten und fremden Welt, hatte eine Erinnerung; aber er kannte nicht Ort, nicht Gegend, nicht Menschen. Er theilte aus den gemeinsten Motiven das, was er wußte, weiter mit. So erfuhren es ein paar Beamte, um es weiter zu untersuchen, das heißt, um zunächst festzustellen, ob denn wirklich die That geschehen, das Verbrechen, der Mord verübt sei. Wir sind zu dem Zwecke hier. Was haben wir ermittelt? Lebt das Verbrechen hier in der Erinnerung der Leute? Weiß nur ein einziger Mensch in dem Orte, in der Gegend, im Gebirge, im ganzen Lande etwas von ihm? Und, Herr Baron, am schönen Rhein, in Bonn, lebt ein Mann – er heißt Ernst Moritz Arndt und ist – aber zum Teufel, Herr Baron, der Mann ist jetzt in Untersuchung wegen demagogischer Umtriebe, und demagogische Umtriebe sind Hochverrath, und Hochverrat ist nach unserem Gesetze das schwerste, das allerschwerste Verbrechen, schwerer als der Mord, denn den Mörder rädern wir Gott Lob nur, den Hochverräther aber viertheilen wir, und so steht auch der Arndt unter der Strafe des Viertheilens; aber bei Gott! ich kann mir nicht helfen; ich muß trotzdem, daß ich zur Polizei gehöre, sagen, der Arndt ist einer der bravsten deutschen Männer, und auch Sie, Herr Baron, werden es sagen, denn Sie sind selbst ein braver Mann, und es werden nicht viele Jahre ins Land kommen, so wird es auch die ganze Welt sagen, und man wird die Demagogenfängerei von heute nicht begreifen können – jede Zeit hat ihre Krankheiten, für die eine andere Zeit kein Verständniß mehr hat. Aber, Herr Baron, um wieder auf unsere Sache zu kommen, Ernst Moritz Arndt hat einmal folgenden weisen Spruch gethan: Wenn ein Huhn vom Dache gefallen ist, und Niemand ist es gewahr geworden, so ist kein Huhn vom Dache gefallen. Und so, Herr Baron, ist es auch mit unserem Falle hier: Wenn kein Mensch etwas von einem Morde weiß, so ist eben kein Mord vorgefallen. Und wo kein Mord vorgefallen ist, da kann man auch keinen Mörder bestrafen. Hm, Herr Baron, was meinen Sie wohl, welchen Eindruck würde es hier in der Gegend, im ganzen Lande machen, wenn es auf einmal heißen müßte: da ist ein paar hundert Meilen weit ein lumpiger, hungriger Franzose hergekommen, der hier zu Gelde kommen wollte, und der hat zu dem Zwecke den alten Sellner und seine Frau wegen eines Mordes angezeigt, der einmal vor zwanzig Jahren begangen sein soll, und da haben die Gerichte inquirirt und inquirirt und zuletzt den Mann gerädert und die Frau geköpft und die Kinder um Eltern und Brod und Ehre und Alles gebracht. Und der Sellner hatte immer wie ein ordentlicher und anständiger Mensch in Achtung und Ansehen gestanden, und seine arme, kränkliche, leidende Frau war die Güte und Bravheit selbst, und jeder Mensch mußte sie lieb haben und hatte sie lieb, und wenn sie wirklich, von ihrem Manne verleitet, etwas verbrochen hatte, so hatte die schwerste Gewissensangst seit den zwanzig Jahren sie tausend- und tausendmal schwer und hart genug dafür bestraft, und die Kinder gar sind doch so unschuldig, wie nur Kinder im Mutterleibe sein können; die arme Caroline war damals in der That noch nicht geboren. – Und das Alles sollen wir dennoch als Recht hinnehmen, und wir sollen Trost und Beruhigung und Stärkung im Guten darin finden, daß die Menschen jetzt noch gerädert und geköpft und unsere vortrefflichen Gesetze auch nach so langer Zeit noch zu Ehren gekommen sind? Meinen Sie, daß die Welt ein anderes Urtheil haben würde, haben könnte, Herr Baron? Meinen Sie, daß jenes Schicksal namentlich der Frau und der Kinder etwas Anderes, als das tiefste Mitleid einerseits und die höchste Empörung andererseits hervorrufen könnte? Der Mann, freilich, der eigentliche Mörder, der eigentliche Schuldige, der zudem auch später hart und roh geblieben, an den kein Gewissen und keine Reue herangetreten ist – hm, Herr Baron, um ihn noch zu rädern, dazu ist die Geschichte auch nicht wieder aufzufrischen, wohl aber darf er nicht mehr wie ein ehrlicher, redlicher Bürger hier umhergehen, und darum, Herr Baron, habe ich den Ludwig zu ihm geschickt, und der Bursch – hat er mich verrathen oder nicht, gleichviel – er hat gethan, was er thun sollte. Und was manchmal zum entsetzlichsten Schrecken der Polizei geschieht, das ist hier einmal mit dem Willen der Polizei geschehen. Der Mörder ist fort, er wird nicht zurückkehren, und das ist Strafe genug für ihn. Für die Todesstrafe bin ich ohnehin nicht. Hier wird ihn zudem kein Mensch vermissen. Und dann noch eins, Herr Baron. Wir gehen immer davon aus, daß hier ein Mord vorgefallen sei. Wir haben das für so gewiß angenommen, daß von etwas Anderem gar nicht einmal die Rede gewesen ist. Aber kann sich denn die Sache nicht anders verhalten? Selbst die Aussage des Franzosen, sie deutet mit keinem Worte direct auf einen Mord, eine Tödtung hin. Der Mensch hat seinen Herrn todt daliegen sehen. Aber wie der Tod gekommen war, davon weiß er nichts, davon konnte und kann er nichts wissen. Und wir sollen es können? Wir sollen dennoch annehmen können, annehmen müssen, daß die Sellners den Franzosen umgebracht haben? Kann der Mann nicht eines ganz natürlichen Todes gestorben sein? Er war seit vierzehn Tagen gehetzt wie ein wildes Thier von Hunden und Jägern. Er hatte Tag für Tag, Nacht für Nacht flüchten müssen von Busch zu Busch, von Schlucht zu Schlucht, von Berg zu Berg. Er hatte Hunger und Durst gelitten, alle Unbilden eines kalten, wilden, ungestümen Wetters; er hatte seine Frau auf der Flucht verloren und nicht einmal begraben können; er hatte das kranke Kind zu pflegen, um es vor Aehnlichem zu bewahren. Er war selbst krank, schwach, elend. An jenem Tage waren Ermüdung, Erschöpfung, Hunger, Angst und Noth besonders an ihn herangetreten. So fand er den Stall, verbarg sich darin, suchte Ruhe, fand die ewige Ruhe auf dem einfachen Wege der Natur – ein Nervenschlag, noch wahrscheinlicher ein Blutsturz – der machte dem auf den Tod erschöpften Leben ein Ende. So fanden ihn die Sellners; vielleicht hatten sie das Wimmern des Kindes gehört. Sie fanden bei dem todten Manne all das Geld. Sie wollten es nicht wieder herausgeben. Sie vergruben den Todten, von dem kein Mensch in der Welt etwas wußte. Sie schwiegen um des Raubes willen, und um nicht zugleich für Mörder gehalten zu werden. Kann es nicht auch so sein, Herr Baron? Ist es weniger wahrscheinlich, als jener entsetzliche Mord? Die Wahrheit können wir nicht mehr ermitteln. Wir haben keinen Leichnam mehr, den wir untersuchen könnten. Die Knochen, wenn wir sie fänden, sind eben nur Knochen. Da ist denn doch auch insofern die Verjährung nicht ganz zu verachten. Das Geld, das sie dem Todten abnahmen, ist freilich trotzdem bei ihnen unrecht Gut. Aber wäre es gerechteres bei dem Franzosen und seinem Könige? Und so, Herr Baron, meine ich denn, wir könnten doch mit unserer Mission zufrieden sein. Jedenfalls ist das Gesetz mit seinen Verjährungsparagraphen einmal da und die Mitternacht nahe, da können wir nichts Anderes, als gute Miene zu bösem Spiel machen, und mit der guten Miene befreien wir zunächst den armen, glücklichen Ludwig, und setzen wir uns dann endlich zu Tische. Ich bin wahrhaftig sehr hungrig geworden.«

Der Baron hatte dem Polizeirath mit großer Geduld zugehört, und als der kleine dicke Mann fertig war, hatte er zwar keine sehr gute, sondern noch immer eine etwas verdrießliche Miene, aber er war doch vollkommen ruhig, und mit dieser Ruhe sagte er zu dem Polizeirath:

»Setzen Sie den Ludwig in Freiheit, und dann –gehen wir zu Tische. Und noch Eins, befehlen Sie unseren Leuten strenge bei ihrem Diensteide an, daß kein Wort von dem Vorgefallenen über ihre Lippen kommt.«

»Es soll Alles geschehen, Herr Baron, wie Sie befehlen.«

Als sie dann endlich zu Tische saßen, hatte der Baron auch die gute Miene, und jedenfalls eine weit zufriedenere, als wenn er sich – essen muß auch ein Inquirent – mit dem Bewußtsein hätte zu Tische setzen müssen, daß es ihm durch Kunst und Talent geglückt sei, den Herrn und die Frau Sellner reif zum Schaffot und ihre Kinder zu Waisen gemacht zu machen.

Nur Eins drückte ihn als guten Inquirenten

»Hm, Herr Polizeirath, was Sie da vorhin von der Wahrscheinlichkeit eines natürlichen Todes sprachen, hat mich frappirt.«

»Ich wünsche, es hätte Sie überzeugt, Herr Baron.«

»Ah, zu der Ueberzeugung möchte ich eben gelangen. Drei Fragen an die Frau –«

Der Polizeirath unterbrach ihn.

»Herr Baron, lassen wir auch das im Grabe ruhen. Die Verjährung ist nun einmal für Alles da; lassen Sie sie auch für die Ruhe der armen Frau da sein.«

Und der Baron schwieg. Er war wirklich ein braver Mensch. –

 

Und so nehmen wir Abschied von dem Baron und – nein, noch nicht von seinem Polizeirath

Der kleine dicke Herr hatte zwei Jahre später eine Geschäftsreise zu machen, die durch die Schlucht führte, in welcher der rothe Krug lag. Er mußte an dem Hause vorbei; wer konnte ihm verdenken, wenn er die Lust verspürte, halten zu lassen? Die Pferde waren zudem müde; er ließ halten, er ging in den Krug.

Er trat zuerst in die Fuhrmannsstube. Er hatte das Gesicht des alten Kasper schon von außen am Fenster gesehen. In der Stube sah er auch wieder die alte Kathrine. Der alte Knecht that nichts, wie früher; die alte Magd nähte, wie früher.

»Hm, wie geht's im rothen Kruge?« fragte der Polizeirath.

»Gut,« wurde ihm geantwortet. Der alte Kasper konnte dennoch nicht umhin, ihn etwas mißtrauisch anzusehen.

Der Polizeirath bestellte sich einen Schoppen Wein und ging auf die andere Seite des Flurs in das Fremdenzimmer. Er fand auch hier noch Alles, wie es vor zwei Jahren gewesen war. Auch die Glasthür war noch da, die in das hinter dem Zimmer gelegene freundliche Familienstübchen führte, und an dem Fenster noch der weiße Vorhang, und sogar noch in dem Vorhang jene kleine Oeffnung, durch die man in das Stäbchen hineinsehen konnte. Aber in dem Stübchen war es anders, als damals. Der Polizeirath blickte durch die Oeffnung – er hätte kein Polizeirath sein müssen, wenn er es nicht gethan hätte – und da sah er darin, nicht die Familie Steinauer an dem mit Speise und Trank zum Brechen bedeckten Tische, aber zwei hübsche junge, glückliche Frauen, die jede ein blühendes Kind auf dem Schooße hielten, und vor ihnen eine alte, blasse, aber im Glück still demüthige Frau, die mit den beiden Kindern spielte und lächeln konnte, während sie so spielte.

Und der Polizeirath erkannte die drei Frauen, die alte Frau Sellner und die hübsche Caroline, die die Frau des hübschen Ludwig, und die ehemalige Magd Liesbeth, die die junge Frau Sellner sein mußte.

»Hm, hm,« sagte er für sich, »nun weiß ich eigentlich genug, und wenn ich mich mit guter Manier heimlich wieder davon machen könnte, ich thäte es.«

Er konnte es aber nicht.

Die Thür des Fremdenzimmers öffnete sich, der vormalige Kellner Ludwig trat herein Auch dem jungen Manne sah man das volle Glück an, und als er so plötzlich den Polizeirath gewahrte, da schoß ihm eben so schnell die Gluth der freudigsten Ueberraschung und Dankbarkeit ins Gesicht.

»Herr Polizeirath, welches Glück bereiten Sie uns, daß Sie einmal wieder in den rothen Krug kommen.«

»Hm, hm,« knurrte der Polizeirath, »ich wüßte eben nicht, wie Sie das glücklich machen könnte.«

»Verdanken wir denn nicht Ihnen Alles?«

»Sie verdanken mir gar nichts. Aber –«

So weit mußte der Polizeirath noch knurren; es war einmal seine Art so. Dann thaute er doch etwas auf.

»Sind Sie denn wirklich glücklich, Herr Ludwig?«

»Alle, Alle!« rief der junge Mann. »Kommen Sie mit mir! Ueberzeugen Sie sich. Auch die Anderen sollen Ihnen danken.«

»Still, still! Ein Paar von den Anderen habe ich schon durch die Thür da gesehen – die hübsche Caroline mit einem allerliebsten Kinde auf dem Schooß –«

»Meine Frau mit unserm Knaben!«

»Hm, hm, ich glaube es. Und dann die Liesbeth, auch mit ihrem Kinde –«

»Meine Schwägerin, die Frau meines Schwagers Fritz.«

»Ich hatte es mir gedacht.«

»Er selbst ist gerade verreist. Wir Beide bewirthschaften zusammen den rothen Krug.«

»So, so! Und auch Ihre Schwiegermutter sah ich. Sie schien glücklich mit den jungen Frauen und den beiden Kindern zu sein.«

»Ja, und besonders hat sie mein Kind so lieb, oder ob ich mir das nur einbilde –«

»Hm – und wo ist Ihr Schwiegervater?«

Der junge Mann wurde ernst.

»Wir haben ihn seit jener Zeit nicht wiedergesehen. Eine Zeitlang nach seinem Verschwinden hörten wir gar nichts von ihm, dann war meine Schwiegermutter eines Morgens so besonders, so recht innerlich still und ruhig und sie theilte uns mit, in der Nacht sei der Vater da gewesen und habe ihr eine Urkunde überbracht, worin er ihr und seinen Kindern sein ganzes Vermögen verschrieb und habe gesagt, hier wieder bleiben könne er nicht, aber es gehe ihm gut und es fehle ihm an nichts. So sei er wieder gegangen. Beim Abschiede habe er ihr auch den Ort genannt, wo er sich aufhalte; er habe sie aber gebeten, ohne Noth Niemanden damit bekannt zu machen.«

Der Polizeirath hatte noch eine Frage.

»Hat Ihre Schwiegermutter Ihnen nicht gesagt, warum ihr Mann nicht zurückkehren wolle?«

»Nicht mir, nicht den Anderen. Ich habe aber auch nie danach gefragt.«

»Fragen Sie die brave Frau auch ferner nicht danach. Und nun gehaben Sie sich wohl und grüßen Sie mir alle die Ihrigen.«

»Und Sie wollen ohne den Dank der Anderen gehen.«

»Dank, Dank,« mußte der Polizeirath doch noch einmal knurren. »Aber hören Sie, Herr Ludwig, sähe die Anderen gern noch einmal wieder, besonders Ihre kleine junge Frau. Aber es würde die brave alte Frau da angreifen und – leben Sie wohl!«

Er kehrte zu seinem Wagen zurück und fuhr weiter.

Im Wagen sagte er für sich:

»Hm, hm, ich möchte doch für mein Leben gern wissen, ob Mord oder nur Raub, oder am Ende gar eine lumpige Unterschlagung? – Aber mag es ruhen im Grabe; verjährt ist und bleibt die ganze Geschichte ja einmal! – Nur den Herrn Geheimrath Baron von Stromberg hätte ich wieder bei mir haben mögen, was der heute für ein Gesicht würde gemacht haben!«

Der Baron hatte also eine sehr rasche Carriere gemacht.



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