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2.

Der große Fährprahm lag zum Abfahren bereit. Die Fährleute saßen darin auf ihren Posten, mit Rudern und Stangen. Man wartete auf die Passagiere, die über den Strom geschafft werden sollten.

Sie kamen – nach und nach.

Zuerst der Reisewagen des Baron Stromberg. Er fuhr leer in den Prahm hinein.

Der Baron kam mit seinen drei Reisebegleitern zu Fuße nach.

Er mußte den reißenden Strom wieder bedenklich ansehen. Das Wasser schien, seit er vorhin dagewesen war, noch höher gestiegen zu sein.

Die Fährleute höhnten den Postillon.

Auch der sah bedenklich in das Wasser hinein.

»Du fürchtest Dich wohl, Christian? Ja, das Wasser ist tief und verdammt kalt dabei, und wer darin umkommt, der kommt nicht lebendig wieder heraus.«

Sie lachten laut und lustig.

»Das sind frivole Menschen,« sagte der Baron mit seinem nachdenklichen Gesichte zu dem Polizeirat.

»Polizeiwidrig frivol!« knurrte der dicke, runde Herr.

»Aber warum fahren wir noch nicht ab?« fragte der Baron.

Der Polizeirath fragte den langen Zugeknöpften, der hinter ihm stand.

»Schmidt, warum fahren wir noch nicht?«

»Wir warten noch auf Jemanden,« antwortete dieser.

»Auf wen?«

»Auf die junge Dame, die –; ah, da kommt sie schon.«

»Ah,« sagte auch der Baron, und sein Gesicht wurde vergnügt, und er sah nicht mehr bedenklich in den reißenden Strom.

Mamsell Caroline Sellner, das reizende, unerfahrene, unschuldige Kind von kaum siebenzehn Jahren, nahte sich dem Fährprahm. Sie war allein. Nur ein Knecht aus dem Posthause folgte ihr mit ihren Reisesachen.

Der Baron trat ihr mit seinem vergnügten Gesichte entgegen.

»Ah, Sie wollen ebenfalls über den Strom?«

»Ja,« antwortete sie verschämt.

Sie hatte den Namen des vornehmen Herrn gehört, der so freundlich zu ihr sprach. Sie kannte den Namen. Sie war in der Residenz gewesen, und die Freiherren von Stromberg gehörten zudem ersten Adel der Residenz, und sie war die einfache Krügerstochter. Das trieb ihr das Blut in die frischen, schönen Wangen.

»Wohnen Sie auf der andern Seite?« fragte der Baron sie.

»Ja, ein paar Meilen von hier.«

»Da sind Sie wohl mit der Gefahr des Wassers vertraut?«

»Ich könnte es nicht sagen; ich kam nicht oft herüber.«

»So fürchten Sie sich wohl?«

»O nein!« sagte sie so natürlich.

Den Baron schien es ein klein wenig zu verdrießen. Weil er selbst sich fürchtete? Oder weil er sich tapfer der jungen Dame hatte zum Beschützer, zum Retter anbieten wollen?

Sein Gespräch mit dem jungen Mädchen wurde unterbrochen. Die Aufmerksamkeit Aller wurde auf einen anderen Gegenstand gelenkt.

Die Fährleute wollten eben vom Ufer abstoßen.

»Halt! Heda! Haltet!« rief auf einmal eine befehlende Stimme hinten auf dem Lande.

Es war eine weibliche Stimme. Alle sahen sich nach ihr um.

Ein Wagen kam in vollem Trabe von der Chaussee her, am Posthause vorüber herangefahren. Es war eine ländliche Kutsche, mit zwei starken, muthigen Pferden bespannt. Sie war an dem warmen, sonnigen Oktobernachmittage offen. Man sah einen Mann und zwei Frauen darin sitzen.

Eine der Frauen hatte gerufen, befehlend, laut, überlaut.

Sie rief noch: »Wir wollen noch mit – Haltet!«

Der Mann schien ihr zuzureden, daß sie schweigen solle. Sie rief lauter, befehlender:

»Sieht man denn nicht, daß wir mit hinüber wollen?«

Die Fährleute hielten; aber sie lachten dabei.

»Potz Wetter, das ist der reiche Steinauer mit seiner Frau. Die kann schreien.«

»Wir sollten sie eigentlich nicht mitnehmen,« meinte Einer.

»Ja, ja, sie sind geiziges Volk. Kein Mensch kann sagen, je einen Groschen Trinkgeld von ihnen erhalten zu haben.«

»Seine Tochter ist dabei,« sagte ein Anderer, wohl ironisch; denn ein Dritter rief:

»Die alte Schachtel ist die Schlimmste von Allen.«

Sie hatten dennoch gehalten, und der Wagen mit seinen Insassen kam an der Fähre an. Die Insassen stiegen aus.

Zuerst ein kleiner dünner Mann mit einem bescheidenen und klugen Gesichte, in dem man eigentlich nur Rechenexempel zu lesen glaubte. Außerdem sah man ihm den wohlhabenden oder gar reichen Landmannn an. Der reiche Steinauer, hatten ihn die Fährleute genannt.

Er hob die Frau aus dem Wagen. Sie war eine große, kräftige, corpulente Frau, mit einem rothen, vollen Gesicht, in dem man die vollste Zufriedenheit mit sich und die vollendetste Verachtung für alles Andere las. Sie trug ein schwerseidenes Kleid und an dicker goldener Kette eine große goldene Taschenuhr.

Beiden folgte ihre Tochter. Eine alte Schachtel, die die Schlimmste von Allen sei, hatte einer der Fährleute sie genannt. Sehr jung war sie nicht mehr; ihre fünf- oder sechsundzwanzig Jahre konnte sie zählen, und was das Andere an betraf, so zeigte ihr gelbes, mageres Gesicht, das man nicht verblüht nennen konnte, weil es noch nie geblüht hatte, wenn nicht die volle Selbstzufriedenheit, doch die volle Weltverachtung ihrer Mutter. Auch war sie einfacher gekleidet, als diese, die sich mit Putz und Schmuck überladen hatte.

Mit der Tochter schritt die Mutter stolz in den Prahm. Um den Mann bekümmerte sie sich nicht weiter, auch um den Wagen nicht; dafür war der Kutscher, und wenn es nöthig wurde, der Mann da.

»Macht Platz für meinen Wagen!« rief der Kutscher den Fährleuten zu.

Der Wagen des Barons mußte, um Platz zu machen, weiter in den Prahm hineingezogen werden.

Die Fährleute schienen dagegen Bedenken zu haben.

»Das Wasser geht hoch,« sagte Einer, »und zwei Wagen auf einmal – es könnte nicht gut thun.«

Der Herr Steinauer sah seine Frau ein wenig ängstlich an. Er mußte aber auch unterdeß gerechnet haben. Er trat an den ersten Fährmann heran.

»Ich gebe ein Trinkgeld, Meister Waldmann.«

Er sprach leise, wohl damit es seine Frau nicht höre.

Wem ein Trinkgeld versprochen wird, der hört auch schon leise das Versprechen.

»Gut!« nickte der Fährmann zurück.

Der Wagen des Baron Stromberg wurde tiefer in den Prahm hineingeschoben; der Wagen des Herrn Steinauer fuhr in den Prahm hinein.

Der Prahm stieß vom Ufer ab.

Die Frau Steinauer hatte sich unterdeß näher umgesehen. Dann rief sie ihren Mann herbei.

»Andreas!«

Er kam gehorsam.

»Was soll ich?«

»Stelle diese Bank mehr auf die Seite. Hier steht sie im Wege. Ich und die Charlotte wollen mit Ruhe darauf sitzen.«

Er that, wie sie befahl, und sie setzte sich mit ihrer Tochter auf die Bank.

»Unverschämtes Volk!« sagte sie dann. »Wollten nicht einmal auf uns warten. Hast Du sie Dir angesehen, Andreas?«

»O ja!«

»Kennst Du sie?«

»Keinen einzigen von jenen.«

»Das Frauenzimmer muß ich schon irgendwo gesehen haben. Kennst Du sie nicht, Charlotte?«

»Ich achte nicht auf Landläuferinnen,« sagte die Tochter vornehm.

»Landläuferin? Sie ist ganz ordentlich gekleidet.«

»Aber, wie kokettirt sie mit dem Herrn! Wie thut sie verschämt! Es ist ordentlich unanständig!«

»Du hast ein feines Auge, Charlotte.«

Wenigstens ein boshaftes Auge hatte die gelbe Tochter des reichen Herrn Steinauer und seiner corpulenten Ehegattin.

Der Baron hatte sein Gespräch mit seiner schönen Gesellschafterin wieder aufgenommen. Er war nicht mehr verdrießlich. Wie konnte er es dem reizenden Kinde gegenüber lange sein?

»Ich freue mich sehr, mein Fräulein,« sagte er, »in Ihnen einen so schönen Muth zu finden.«

»Man hat ja hier noch nie von einem Unglück gehört,« antwortete sie natürlich und bescheiden.

»Ah, ah, das freut mich!«

Das Herz wurde doch dem muthigen Baron wohl etwas leichter, und da wurde er gar poetisch.

»Es wäre auch schade, wenn diese schöne, romantische Gegend ein Schauplatz des Schreckens wäre! Wie großartig wild schießt dieser Strom unmittelbar unter den hohen, waldbedeckten Bergen dahin! Die Bäume verdunkeln das Ufer, spiegeln sich in den Wogen, und tief, tief unter ihnen die hohen Bergesspitzen! Oh, mein Fräulein, Sie haben eine schöne Heimat!«

»Ich freue mich, daß Sie sie so schön finden,« sagte das einfache Mädchen.

»Und drüben,« fuhr der Baron fort, »wohnen Sie wohl recht tief im Gebirge?«

»O, ja, mitten zwischen Bergen, in einer tiefen Schlucht.«

»Es ist auch wohl eine einsame Schlucht?«

»Es kommen nicht viele Menschen hin.«

»Und doch sehnen Sie sich in sie zurück?«

»Gewiß, es ist ja meine Heimath.«

»Und Sie kommen aus der großen, schönen, lebhaften Residenz!«

Das Mädchen sah ihn verwundert an.

»In das elterliche Haus kehrt man wohl immer gern zurück,« sagte sie.

Da glänzten und leuchteten die Augen des Barons so herzlich, fast begeistert, wie man es bei dem steifen, gemessenen Wesen und den glatten, blonden Haaren des vornehmen Herrn gar nicht hätte für möglich halten sollen.

»O, mein Fräulein,« sagte er »erhalten Sie sich immer diesen braven, reinen, einfachen Sinn.«

Und das junge Mädchen mußte wieder erröthen, tiefer als vorher.

Der Baron aber konnte auch nicht lange poetisch und auch wohl nicht lange herzlich bleiben, trotzdem daß er dem reizenden Kinde gegenüber stand.

»Darf ich fragen, wo Sie wohnen, mein Fräulein.«

Allein auf diese Frage sollte er keine Antwort erhalten.

Der kleine, runde Polizeirath hatte sich schon seit einiger Zeit unbemerkt in die Nähe des Paares geschlichen. Er hatte dem Gespräche neugierig zugehört, manchmal mit einem recht sonderbar vergnügten Knurren. Bei jener Frage wurde er unruhig. Und er hatte seine Ursache dazu.

»Hm, hm!« machte er sich bemerklich.

»Alle Wetter, was ist das?« rief er schnell hinterher.

Er hatte seinen Zweck erreicht.

Der Zufall war ihm freilich zu Hülfe gekommen; aber auch sein rascher, gewandter Polizeiblick, dem nichts entging. Das junge Mädchen hatte dem Baron antworten wollen. Auf den Ausruf des Polizeiraths hatte sie zur Seite geblickt. Auf einmal erblaßte sie. Ihr ganzer Körper zuckte; ihre Augen starrten auf einen Fleck.

»Mein Gott!« rief sie.

Der Baron folgte ihren Augen.

Ein kleiner Nachen ruderte mitten im Flusse, oberhalb des Prahms. Er wollte das andere Ufer gewinnen, wie dieser. Er mußte wohl später, als der Prahm vom Lande abgestoßen sein, hatte er doch diesen überholt, denn er war leicht, und zwei kräftige Arme regierten mit Geschick und mit Anstrengung das Ruder in ihm. Aber in der Mitte des Stromes war dessen stärkste Strömung, und gerade die Leichtigkeit des Nachens wurde nun sein Hinderniß, die gleich Pfeilen dahin schießenden Wellen zu durchschneiden. Der junge Mensch, der ihn regierte, kämpfte vergebens mit den Fluthen. Sie warfen das kleine, schmale, leichte Fahrzeug hoch empor, sie warfen es tief zurück. Der junge Mann war allein in dem Nachen. Er schwebte in augenscheinlicher Todesgefahr. Er schien sie nicht zu achten. Er war bleich, sehr bleich. Aber nicht von Furcht, nicht einmal von der Anstrengung. Er kämpfte mit den Wellen; aber der Kampf war ihm ein Spiel; freilich ein wildes und finsteres Spiel. Er sah wie mit Verachtung auf die Wogen, die ihn hin und herwarfen, die ihn zu verschlingen drohten. Einmal blickte er zu dem Prahm hin, der vierzig bis funfzig Schritte von ihm war, nur einen einzigen kurzen Augenblick; dann setzte er mit seiner ruhigen Anstrengung sein fürchterliches Kampfspiel fort.

Den einen Blick nach dem Prahm hatte Caroline Sellner gesehen. Hatte er sie vielleicht getroffen? Ihr ganzer Körper zuckte zusammen. »Mein Gott!« hatte sie gerufen.

»Mein Gott,« sagte auch der Baron von Stromberg, »der junge Mann ist in Lebensgefahr.«

»Aber Sie müssen gestehen, Herr Baron,« bemerkte ihm der Polizeirath, »er hat sich tollkühn hineinbegeben.«

»Man muß ihm gleichwohl zu Hülfe kommen.«

»Wie wäre das möglich?«

»Sehr leicht. Wenn wir die Mitte des Stromes erreicht haben – und wir sind sogleich da – so halten wir, und er läßt sich zu uns hinunter gleiten.«

»Und wir würden sämmtlich mit in Lebensgefahr kommen.«

»Glauben Sie?«

»Fragen wir die Fährleute.«

Der Baron wandte sich in der That an die Fährleute.

»Sind wir hier in Gefahr?« fragte er.

»Bei hellem Tag hat es sobald keine Noth,« meinte der Meister Waldmann, der erste Fährmann.

»Nun,« sagte aber ein Anderer, »es sind auch schon am hellen Tage Leute ertrunken.«

»Und der junge Mensch dort,« sagte der Baron, »scheint wirklich in der Gefahr des Ertrinkens zu sein.«

»Pah, der?« warf der Meister Waldmann hin.

»Sollten wir ihm nicht zu Hülfe kommen?«

»Dem, Herr? Der ist der beste Ruderer und Schwimmer weit und breit. Der könnte uns zu Hilfe kommen, wenn es Noth thäte. Und wahrhaftig –«

Der Baron hörte nicht weiter auf ihn. Er hatte sich den jungen Mann in dem Nachen genauer, oder auch wohl mit anderen Augen angesehen, und darauf hatten seine Augen das schöne Mädchen wieder aufgesucht, das erblassend nach dem jungen Manne hingestarrt hatte, und er sprach für sich:

»Ei, ei, das ist ja der junge Landmann, der vorhin schon so sonderbar den Boden stampfte und dann so neugierig in das Fremdenzimmer hineinblickte. Das schöne Kind schien nichts von ihm wissen zu wollen und doch sieht sie jetzt so angstvoll nach ihm hin. Er ist ein hübscher Bursch, und er hat etwas so Eigenthümliches, Fremdartiges, Stolzes.«

Der Baron ging zu dem schönen Kinde zurück. Als er bei ihr ankam, athmete sie gerade aus tiefer Brust auf.

Sie hatte Ursache dazu.

Der junge Mann in dem Kahn hatte mit drei oder vier raschen, kräftigen Schlägen seines Ruders die gefährlichste Stelle in der Mitte des Stromes durchschnitten. Er war in ruhigerem Wasser. Er war außer Gefahr und ruderte sicher und leicht voran. Nach dem Prahm sah er sich nicht weiter um.

Caroline Sellner athmete tief auf, aber unruhig war sie doch noch.

»Sie kennen den jungen Mann, Fräulein?« fragte der Baron sie.

»Ich kenne ihn!«

»Und er interessirt Sie?«

»Er war in Gefahr.«

»Sie haben ein braves Herz, Fräulein.«

Sie mußte wieder erröthen; aber etwas anders, als sonst, als wenn sie das Lob, das ihr wurde, nicht verdient habe.

An dem Erröthen des Menschen erkennt man alle Seiten seines inneren Lebens; man muß es nur verstehen, – das Erröthen, wie das Leben.

Ihrer Verlegenheit sollte sie entrissen werden, aber um in neue Angst zu gerathen. Freilich in Angst geriethen sie Alle.

»Zum Donner, macht voran! Voran, was Ihr könnt!« rief der erste Fährmann mit lauter, dringlicher, fast ängstlicher Stimme seinen Leuten zu.

Der Prahm hatte seinerseits die gefährliche, reißende Mitte des Stromes erreicht, und in dieser Mitte sah man auf einmal ein halbes Dutzend ungeheurer Eichenstämme heruntertreiben. Sie bildeten eine feste, compacte Masse. Sie schienen zusammengebunden zu sein, wie Floßholz. Wahrscheinlich waren sie so durch die Gewalt des plötzlich angeschwollenen Wassers von irgend einem größeren Floß abgetrennt, von der Mitte des reißenden Stromes aufgenommen und in diesen weiter getrieben. Sie stürzten mit rasender Schnelle heran; sie vermehrten das Brausen des Wassers; sie flogen in und mit den Wellen auf und nieder. Sie waren noch kaum vierzig Schritte von dem Prahm entfernt; sie konnten, sie mußten diesen in zwanzig Secunden erreichen. Erreichten sie ihn –

»Vorwärts! vorwärts!« rief lauter und ängstlicher der erste Fährmann. »Faßt das Holz den Prahm, zersplittert es ihn wie Glas.«

Der Mann war blaß geworden.

Die Fährleute ruderten mit blassen Gesichtern, mit fast übermenschlicher Anstrengung ihrer Kräfte.

Keiner von ihnen sprach ein Wort.

»Sind wir wirklich in Gefahr?« fragte der Baron Stromberg den Meister Waldmann.

»Ei, Herr, gehen Sie zum – Fragen Sie mich nachher, wenn wir das Leben davon tragen.«

Der Baron verstummte. Er war wohl noch nie so angefahren. Etwas, wie ein leises Zittern, schien seinen Körper zu durchziehen.

Die Gefahr kam näher. Die Mitte des Prahms war in der Mitte der Strömung. Die Baumstämme waren um die Hälfte näher gekommen. Den Fährleuten rann der Schweiß von der Stirn. Den Passagieren klopften die Herzen, auch den muthigsten.

Die korpulente Frau Steinauer schrie laut auf:

»Wir sind verloren! Wir gehen zu Grunde!«

»Aber beruhige Dich, liebe Frau; noch leben wir ja,« tröstete ihr Mann.

Sie rief noch lauter:

»Was? Ich soll nicht einmal rufen dürfen, wenn es mir an das Leben geht? Das willst Du mir verbieten? Du? Und Du allein trägst die Schuld, daß ich hier umkommen muß! Ich mit meinem Kinde!«

Von ihm, ihrem Manne sprach sie nicht. Das mochte er gewohnt sein.

»Wie kann ich die Schuld tragen?« fragte er nur.

»Hast Du uns nicht in den Prahm hineinfahren lassen? War er nicht schon schwer genug beladen?«

Er stand wie erstarrt. Glich auch sein Gesicht einem Rechenexempel, das hatte er nicht berechnet.

»Ich, Frau? Sagte ich nicht, daß wir noch Zeit hätten?«

»Einerlei! Du bist Schuld an meinem Tode. Du hast schon lange auf ihn spekulirt. – Aber Du bekommst doch Deinen Willen nicht. Da ist Hülfe! Hierher, hierher! Komm, Charlotte! Springen wir hinein.«

Hülfe war gekommen. Aber ob der korpulenten Frau Steinauer und ihrer gelben Tochter?

Der hübsche junge Mensch in dem kleinen Nachen war seiner Gefahr entronnen. Er ruderte leicht und sicher dem Ufer zu. Nach dem Prahm hatte er sich nicht wieder umgesehen. Aber nach etwas Anderem hatte er auf einmal sich umwenden müssen, nach einem Rauschen und Tosen, das plötzlich im Wasser näher kam. Er sah die ungeheuren Bäume, die mit rasender Eile in der Mitte des Stromes hinabschossen. Und nun mußte er sich doch wieder nach dem Prahm umsehen, und wie er auch diesen gerade in der Mitte des Stromes gewahrte, und wie er die Anstrengungen der Fährleute sah, der augenscheinlichsten, der dringlichsten Lebensgefahr zu entgehen, aber auch die Erfolglosigkeit dieser Anstrengungen – da erschrak er zwar nicht, doch in dem Momente hatte er seinen Nachen herumgeworfen, und mit Blitzesschnelle jagte sein Ruder hinunter, nach dem Prahm hin, auf das Vordertheil des Prahms zu, das die Mitte des Stromes schon überschritten hatte.

Er erreichte es.

Er stand eisenfest in seinem Nachen. Die Wellen warfen das kleine, schmale Fahrzeug hoch und niedrig. Er achtete nicht darauf. In der einen Hand das Ruder haltend, ergriff er mit der andern kräftig den Rand des Prahms. Sein feines Gesicht glühte, von Anstrengung, von Aufregung, von Muth, von noch etwas. Die glänzend schwarzen krausen Locken hingen ihm unordentlich in das glühende Gesicht, und doch so schön. Seine dunklen Augen blitzten. Aber sie waren nur auf Einen Gegenstand geheftet.

»Mamsell!« rief er in den Prahm hinein. »Mamsell Caroline, hierher!«

»Ich bin schon da! Ich bin schon da!«

Nicht die Mamsell Caroline Sellner rief das. Aber die korpulente Frau Steinauer.

Sie war schon da, ihre gelbe Tochter an der Hand.

»Springe mir nach, Charlotte!« rief sie.

Sie selbst wollte doch die erste sein. Sie griff nach der Hand des jungen Mannes und wollte, auf sie gestützt, zu ihm in den Nachen springen Aber – »Zurück, Madame!« rief der junge Mann, und er schob ihre Hand zurück und wollte nach einer anderen fassen.

Die andere Hand sollte er aber nicht erreichen.

Caroline Sellner hatte, bevor sie seinen Ruf gehört, sich nach dem Baron von Stromberg umgesehen; er sah sich eins der kräftigen Pferde vor dem Wagen des Herrn Steinauer an, etwa als wenn er es fragen wolle: kannst du schwimmen und darf man sich dir anvertrauen?

Da war sie zu dem Vordertheil des Schiffes geeilt, an dem der junge Mann in seinem Nachen hielt.

»Ludwig!« rief sie, indem sie die Hand nach ihm ausstreckte.

»Schnell, schnell, Caroline!« rief er, indem er die dicke Frau Steinauer zur Seite schob.

Da erhielt der Prahm einen Stoß, daß er krachte und dröhnte und von einer furchtbaren Gewalt fortgerissen dahin flog. Die Frau Steinauer fiel zu Boden, ihre Tochter fiel auf sie. Caroline Sellner hatte den Rand des Prahms gefaßt. Sie konnte sich daran halten.

Der junge Mann war weit hinweggetrieben. Der Stoß, der den Prahm traf, hatte auch seinen Nachen emporgeschnellt. Beide waren aus einander gerissen. Der Nachen flog wie eine Nußschaale auf den Wellen dahin. Der Prahm schnitt schwer und gewaltsam in sie hinein.

Aber der Prahm war gerettet. Die Bäume hatten ihn nur gestreift und, anstatt ihn zu zerschellen, ihn auf die Seite gedrängt. Sie flogen ohne Schaden an ihm vorüber. Er konnte ohne weitere Gefahr dem Ufer zurudern.

Der junge Mann in seinem leichten, tanzenden Nachen hatte das Ufer schon fast erreicht.

Die Passagiere des Prahms hatten sich von ihrem Schrecken erholt. Die Frau Steinauer, um sehr zornig zu werden.

Ihr Mann hatte sie wieder aufgehoben.

»Wie konnte Du mich hinfallen lassen?« fuhr sie ihn an.

»Mein Gott, ich war ja nicht bei Dir, mein Kind.«

»Warum warst Du nicht bei mir?«

»Ich wollte gerade den jungen Menschen in dem Nachen – Weißt Du, wer er war, mein Kind?«

Er wußte doch wohl seine Frau zu behandeln. Er hatte ihren Zorn von sich abgelenkt.

»Ein Unverschämter, ein Flegel, ein Grobian war er.«

»Ich weiß noch mehr von ihm, mein Kind.«

»Und was weißt Du von ihm?«

»Er ist der Ludwig beim Sellner.«

»Wie der Herr so der Knecht.«

»Und ich kann Dir jetzt auch noch mehr sagen, mein Kind.«

»Und was wäre das?«

»Jenes Frauenzimmer, das wir nicht kannten, das Du aber doch schon gesehen zu haben meintest, es ist die Tochter des reichen Sellner.«

»Die Landläuferin?« fragte die gelbe Tochter Charlotte.

»Hm, hm, sie ist keine Landläuferin, und es ist mir da ein Gedanke gekommen –«

»Vater, daß Ihr sie nur nicht mitnehmt. Ich fahre nicht mit der koketten Person. Wie sah sie wieder den jungen Menschen in dem Nachen, den Ludwig an! Sie hatte nicht einmal mit dem Andern genug.«

Der Herr Steinauer hatte den Finger an die Nase gelegt.

»Sei ruhig, mein Kind; sie wird nicht mit uns fahren. Das steht nicht in meiner Rechnung. Wir dürfen sie nicht einmal kennen. Versteht Ihr?«

»Was rechnest Du schon wieder?« fragte ihn seine Frau.

»Nachher, nachher, wenn das Facit fertig ist.«

Er wurde nicht weiter gefragt, und er konnte ruhig weiter rechnen. –

»Fräulein,« sagte der Baron von Stromberg zu der Mamsell Caroline Sellner, »ich habe Ihren Muth bewundert.«

Das Mädchen erröthete wieder und antwortete so gutmüthig, so natürlich.

»Meinen Muth? Ach, ich hatte wahrhaftig Angst genug. Ich konnte mich ja kaum halten.«

Aber sie dankte auch ihm, doch mit einem freundlichen und glücklichen Blick.

Der Prahm erreichte das andere Ufer. Die Passagiere stiegen aus.

Die Extrapost des Barons von Stromberg und die Kutsche des Herrn Steinauer wurden an das Land gebracht.

Am Lande mußten die Reisenden sich trennen.

Zweien von ihnen schien es schwer zu werden.

Nicht dem Herrn Steinauer. Er war der erste, der in seinen Wagen einsteigen wollte. Aber seine Frau wollte es noch nicht.

»Der Schreck ist mir in die Glieder gefahren,« sagte sie. »Da muß ich mich erst mit einer Tasse Caffee stärken.«

Ihre Tochter schien derselben Meinung zu sein.

Mutter und Tochter gingen zu einem Fährhaus, das auch auf dieser Seite war, ohne um den Mann und Vater sich weiter zu bekümmern. Der Herr Steinauer mußte sich aber um sie bekümmern und er folgte ihnen.

Das Fährhaus war zugleich ein großer Krug, wie das Posthaus drüben zugleich ein geräumiges Wirthshaus war.

Der Baron mit seiner Gesellschaft mußte weiter fahren; seine Extrapost stand schon bereit. Er mußte sich von dem schönen Mädchen trennen, das er vor kaum einer Stunde erst kennen gelernt hatte. Ihm schien es recht schwer zu werden. Und auch Caroline Sellner stand so sonderbar unschlüssig da.

Auf dem Hofe des Fährkruges stand eine hübsche, blanke, wie nagelneue Bergchaise mit einem wohlgebauten, großen Braunen bespannt. Neben der Chaise stand ein Kutscher in einem nagelneuen blauen Rock, der beinahe wie ein Livreerock aussah.

Als der Kutscher des jungen Mädchens ansichtig wurde, übergab er die Zügel seines Pferdes einem Knechte und ging auf sie zu.

»Mamsell, der Vater schickt mich mit der Chaise.«

Er hatte seinen Hut abgenommen und stand ehrerbietig vor ihr; aber er mußte sie doch verwundert ansehen und seine Verwunderung war eine freudige.

»Mamsell Caroline, wie sind Sie groß und schön geworden!«

Und sie mußte wieder erröthen, und diesmal war ihr Erröthen wieder ein anderes als früher, aber es war das schönste.

»Was machen Vater und Mutter?« fragte sie.

»Sie sind gesund und lassen vielmals grüßen.«

»Und der Bruder Friedrich?«

»Er ist auch gesund. Sie werden Alles wiederfinden, Mamsell, wie Sie es verlassen haben.«

»Das freut mich. Können wir gleich fahren?«

»Auf der Stelle.«

»Dann komm,« und sie gab ihm freundlich die Hand.

Sie hatte sich vorher nach ihren Angehörigen erkundigen müssen. Sie that das Alles mit der reinsten, einfachsten, natürlichsten Herzlichkeit. Dann wandte sie sich zu dem Baron, um von ihm Abschied zu nehmen. Er hatte jede ihrer Bewegungen, jedes ihrer Worte verschlungen. Er stand gleich einem Verzückten da.

»Fräulein Caroline,« sagte er, »darf ich auch diese Hand nehmen?«

Sie reichte ihm freundlich ihre Hand hin.

»Wir müssen ja Abschied von einander nehmen,« sagte sie.

»Aber nicht für immer, Fräulein Caroline. Ich fühle es. Wir sehen uns wieder.«

Er sah ihr mit seinem ganzen Herzen in die schönen Augen. Er mußte ihr dabei die Hand sehr, sehr herzlich drücken. Sie war über und über roth geworden; sie war fast verwirrt. Aber daß sie auch glücklich, daß sie recht innerlich glücklich war, das sah man den glänzenden Augen an.

Doch plötzlich erblaßte sie. Sie riß ihre Hand aus der des Barons. Sie fuhr wie in heftigem Schreck zurück.

Ihr Blick war zur Seite geglitten, und was sie da sah, hatte sie in der That erschreckt.

Neben dem Fährkruge stand ein breiter, dichter, noch blühender Hollunderstrauch, und zwischen den Blüthen und Blättern war plötzlich ein schwarzer, krauser Lockenkopf zum Vorschein gekommen mit einem feinen Gesichte, das noch von Anstrengung und von Glück glühte, und mit Augen, die wunderbar glänzten und blitzten. Und auf einmal war das Gesicht schneeweiß geworden, und aus den Augen fuhr ein wilder, zorniger Blitz, und Mamsell Caroline Sellner riß ihre Hand aus der des Barons von Stromberg und wollte nach dem Hollunderbaum hinstürzen und hatte auf den erbleichenden Lippen den Namen Ludwig!

Aber sie rief ihn nicht.

»Wir sehen uns doch wieder!« sagte der Baron von Stromberg, glücklich und tröstend.

Und so ging er zu seinem Wagen. Den jungen Mann hinter dem Hollunderstrauche hatte er nicht gesehen, und da hatte er das Andere mit den trunkenen Augen wohl falsch gesehen.

Der kleine, dicke Herr hatte mit nüchternen Augen wohl mehr und richtiger gesehen. Er lächelte vergnügt vor sich hin, indem er dem Baron zu dem Wagen folgte. Der Baron stieg dann mit seinen drei Begleitern in den Wagen, und dieser fuhr mit ihnen davon.

Wie Mamsell Caroline Sellner nicht den Namen Ludwig gerufen hatte, so war sie auch nicht zu dem Hollunderbaum gegangen. Als sie wieder nach ihm hinblickte, sah sie nur noch die weißen Blüthen und die grünen Blätter; die krausen Locken, das blasse Gesicht, die zornblitzenden Augen, das Alles war verschwunden.

Nur der Kutscher Wilhelm hielt mit der Chaise vor ihr.

»Fahren wir, Mamsell?« fragte der Kutscher.

»Ja,« antwortete sie hastig und stieg in die Chaise.

In das Gebirge, an dessen Fuße die Reisenden sich befanden, führten zwei Wege, der eine um einen hohen Berg herum, der andere den Berg steil hinauf. Jenen hatte die Extrapost genommen; diesen schlug die Bergchaise der Mamsell Caroline Sellner ein.



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