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4.

Der kleine, dicke Polizeirath fand in der Fuhrmannsstube drei Personen: den alten Knecht Kasper, die alte Magd Kathrine und den Baron von Stromberg.

Die alte Magd nähte wieder an ihrer groben Küchenleinwand und bekümmerte sich um die Anderen nicht.

Der alte Knecht sah durch das Fenster in die Dunkelheit des Abends hinein, die schon voll eingetreten war, und schien sich um Niemanden bekümmern zu wollen.

Der Baron ging in dem Zimmer auf und ab und schien darüber nachzusinnen, wie er etwas anfangen solle.

Als der kleine, dicke Herr eintrat, flog ein vornehmer leiser Verdruß über seine Stirn, und in der That fragte sein Blick den kleinen Herrn etwas unmutig: »Was wollen denn Sie hier?«

Der Gefragte ging aber gleichgültig an dem Blicke vorüber, als habe er ihn gar nickt gesehen, und setzte sich still in einem Winkel des Zimmers auf eine Bank.

Der vornehme Baron war wohl ein gutmüthiger Mensch. Er sann noch ein paar Augenblicke nach.

Dann ging er auf den alten Knecht zu und begann mit diesem ein Gespräch.

»Der rothe Krug liegt recht einsam hier!«

»Es geht,« war die kurze, zum weiteren Fragen nicht eben einladende Antwort. Der Baron fragte dennoch weiter.

»Es ist ein hübsches Gebäude.«

»O ja.«

»Steht er schon langes?«

»So lange ich denke, und also wohl noch länger.«

»Aber das Haus ist neu.«

»Früher stand der alte Krug.«

»Und seit wann der neue?«

»Es kann fünfzehn Jahre her sein.«

»Stand der alte Krug auf der nämlichen Stelle?«

»So ungefähr.«

»Früher war wohl viel Verkehr im rothen Kruge?«

»Es ging an.«

»Die Landstraße scheint jetzt wenig befahren zu sein?«

»Wie man es nimmt.«

»Sie kam mir verfallen vor.«

»Im besten Zustande ist sie nicht.«

»Sie ist wohl seit der Zeit so, da mehr nach oben im Gebirge die neue Chaussee angelegt ist?«

»Ja, so ungefähr.«

»Wie lange besteht die neue Chaussee schon?«

»Vielleicht seit zwölf oder dreizehn Jahren.«

»Also bald nach dem Neubau des Kruges! Es war verdrießlich.«

»Wie man es nimmt.«

»Nun, Ihr Herr – wie heißt er doch?«

»Herr Sellner heißt er.«

»Richtig. Arm ist er dadurch nicht geworden. Man spricht in der ganzen Gegend von dem reichen Herrn Sellner im rothen Kruge.«

»Ein Bettler ist er nicht.«

»Stand der alte Krug gerade auf der Stelle dieses neuen?«

»Er stand wohl etwas mehr nach dort oben hin.«

»Nicht weit von ihm stand ein Stall? –«

Der alte Knecht stutzte.

»Ein Stall?« fragte er.

»Ja, ein alter Stall Er stand nahe beim Hause.«

»So?« sagte der Knecht

Er war verlegen geworden und schlug die Augen nieder. Dann sah er sich um, wie nach einer Veranlassung, dem Gespräche zu entkommen.

Die Augen des Barons leuchteten triumphirend.

Mit den triumphirenden Augen sah er nach dem kleinen dicken Herrn hin. Der kleine dicke Polizeirath war, wie gleichgültig er anfangs zugehört hatte, bei den letzten Fragen und Antworten sehr aufmerksam geworden. Der Baron wollte in seinen Fragen fortfahren. Der kleine Herr sah noch rasch etwas, was dem triumphirenden Baron entgangen war.

Die alte Magd saß mit dem ängstlichsten Gesichte von der Welt da. Ihre Arbeit ruhte und ihr Blick war auf den alten Knecht gerichtet, als ob sie Furcht vor jedem Worte habe, das er sprechen werde. Er hatte nicht nach ihr hingesehen, jetzt wurde er indeß von weiteren Fragen erlöst.

Die Thür des Zimmers hatte sich leise geöffnet. Ein Frauenzimmer war langsam eingetreten. Der alte Knecht stand mit einem mißmuthigen, fast zornigem Gesichte auf, als er sie sah. Er ging zu der alten Magd.

»Sieht Sie, Kathrine, daß das heute ein Unglückstag ist?«

Die Magd war heftig erschrocken.

»Mein Gott, die Liesbeth!« rief sie.

»Und gerade heute, Kathrine!«

»Das kann wahrhaftig ein Unglück geben! Was fangen wir mit dem Mädchen an?«

Von einem Mädchen sprach die alte Magd.

War die Eingetretene noch ein Mädchen, so hatte sie das Aussehen einer Frau, und wie sie ein Kind unter ihrem Herzen trug, so zeigte das blasse Gesicht einen Schmerz und zugleich einen Zorn, die einem jungfräulichen Herzen nicht mehr angehören konnten. Aber auch ein ruhiges, klares, entschlossenes Bewußtsein, wie einer schweren, aber unabweislichen Pflichterfüllung.

Sie war sehr blaß, als sie eintrat, von innerer Aufregung, von körperlicher Ermüdung. Sie schien einen weiten Weg gemacht zu haben, und sie hatte ihn zu Fuße gemacht.

»Guten Abend,« sagte sie, als sie in die Stube trat.

Ihre Stimme war bewegt, unsicher. Sie sah den zornigen Blick des alten Knechts, der auf sie gerichtet war. Es machte sie nur beherzter.

»Ein Glas Bier!« sagte sie, wie ein einkehrender Gast. Sie ging an den beiden Dienstboten vorüber und setzte sich auf eine Bank.

Die alte Magd – erschrocken wie sie war, erwiderte dennoch ihren Gruß.

»Guten Abend, Liesbeth.«

Der alte Knecht aber ging ihr nach.

»Was willst Du hier, Mädchen?« fragte er sie mürrisch.

»Ihr habt es gehört: ein Glas Bier. Ich werde es bezahlen.«

»Das meine ich nicht,« sagte mürrischer der Knecht, »und Du weißt es wohl. Was willst Du sonst hier?« –

Sie sah ihn mit ihrem ruhigen, klaren Blick an. »Seit wann müssen die Gäste, die in den rothen Krug kommen, Rechenschaft von ihrem Thun und Wollen ablegen?«

»Oho, Püppchen, Du thust ja vornehm, als wenn Du schon die Herrin im rothen Kruge wärst. Und was bist Du denn eigentlich?«

Das Mädchen wurde glühendroth. Die alte Kathrine war aufgestanden. Sie trat zu den Beiden. Sie schob den Knecht bei Seite.

»Schäme Er sich, alter Mann. Es ist ein armes Mädchen.«

Dann wandte sie sich an das Mädchen. Sie war nicht mehr erschrocken. In ihrem Gesichte kämpften Strenge und Mitleid.

»Und Du, Liesbeth, brauchst auch nicht so patzig hier aufzutreten. Ein Glas Bier bekommt Du nicht, auch nicht für Dein Geld. Aber einen warmen Kaffee sollst Du mit mir trinken. Der thut Dir besser, und den hat der rothe Krug noch übrig für ein Mädchen, das treu und ehrlich hier gedient hat, wenn auch –. Aber davon wollen wir nachher sprechen, und dann sollst Du mir sagen, warum Du hierher gekommen bist und was Du gerade heute hier willst; gerade heute, wo Du nur Unfrieden für Andere säen, aber doch für Dich nichts ernten kannst. – Aber nachher davon. Mache es Dir jetzt bequem.«

Sie verließ das Zimmer. Der alte Kasper war an sein Fenster zurückgekehrt. Er war etwas beschämt und ärgerlich geworden.

Das Mädchen machte es sich bequem. Sie hatte unterdeß eine frische Gesichtsfarbe wieder erhalten. Sie war hübsch. Jener Schmerz und jenes ruhige, klare Bewußtsein machten das frische, sanfte Gesicht anmuthig.

Als sie fertig war, sah sie sich in dem Zimmer um, nach Allem, was da war. Sie sah sich danach um, wie nach alten Bekannten, nach den Tischen, den Bänken, nach den Winkeln. Sie hatte im rothen Kruge gedient. Wie manche Erinnerung mochte jedes Stück, das sie sah, ihr in das Gedächtniß zurückrufen, und auch wohl in das Herz? Wie manche glückliche, aber auch wie manche schmerzliche! Und nun jetzt? Sie hatte hier treu und ehrlich gedient, und doch war ihr zum Vorwurf gemacht, daß sie wiedergekommen sei. Warum durfte sie nicht zurückkommen?

Der alte Knecht sah mürrisch nach ihr hin.

Der Baron hatte mit dem kleinen dicken Herrn einen stummen Zuschauer des Auftritts abgegeben; das Mädchen hatte auf Beide nicht geachtet. Er war zweifelhaft, ob er zu dem alten Knecht zurückkehren und seine Fragen an ihn wiederaufnehmen solle. Seiner Unschlüssigkeit wurde indeß ein Ende gemacht

Die Thür wurde hastig und mit Geräusch geöffnet. Die kräftige Gestalt des Hausherrn erschien darin.

»Kasper!« rief der Herr Sellner.

»Hier Herr!«

»Es kommt ein Wagen. Geh' hinaus. Der Ludwig wird im rothen Kruge keine Dienste mehr thun.«

»Was ist es denn mit ihm, Herr?« fragte der Knecht verwundert.

Er erhielt keine Antwort. Der Herr Sellner hatte die anderen Personen in dem Zimmer bemerkt. Zuerst den Baron und den kleinen dicken Herrn. Er mochte sich wohl verwundern, daß sie in der Fuhrmannsstube waren; aber die vornehmeren Gäste, die in dem rothen Krug einkehrten, konnten ja auch in der Fuhrmannsstube ihren Aufenthalt nehmen. Es war Geschmacksache. Da sah er auch das Frauenzimmer. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt. Sie schien ihm dennoch keine Fremde zu sein.

»Wer ist sie?« fragte er den Knecht

»Herr, ich will es Ihnen draußen sagen.«

»Warum nicht hier?«

Da wandte das Mädchen sich um.

»Ich bin es, Herr Sellner.«

Sie sprach es fest und ruhig, und doch bescheiden, fern von allem Trotz. So sah sie auch den strengen harten zornigen Mann an. Die dunkelste Röthe des Zorns war plötzlich in das harte, stolze Gesicht getreten. Er schritt hastig auf das Mädchen zu und fuhr sie laut, drohend an.

»Du bist es? Was willst Du hier? Wie kannst Du Dich unterstehen hierher zu kommen mein Haus wieder zu betreten? Hinaus mit Dir!«

Das Mädchen war ruhig sitzen geblieben. Ein fester, klarer Muth leuchtete aus ihrem stillen Gesicht hervor, der Muth, den eben das Bewußtsein einer Pflichterfüllung giebt.

»Ja, ich bin es, Herr Sellner,« wiederholte sie. »Und was ich hier will? Sie wissen es, aber Sie wollen nichts davon wissen, Da habe ich es doch noch mit einem Andern zu thun, der ein Gewissen haben wird.«

Der Herr Sellner wurde blaß vor Zorn.

»Freche Dirne, hinaus mit Dir!«

Er hob den Arm auf, sie zu ergreifen. Der kleine, dicke Herr sah mit einem eigentümlich fragenden Blick den Baron Stromberg an. Der Baron ging in einer seltsamen Unentschlossenheit in der Stube auf und ab.

»Herr, vergreifen Sie sich nicht an ihr,« bat der alte Kasper.

Der Herr Sellner stieß den alten Knecht zurück.

Sein Zorn war zur Wuth geworden.

»Ich soll die Dirne hier dulden?« rief er. »Ich soll mich in meinem eigenen Hause höhnen lassen?«

Das Mädchen war doch erblaßt. Sie kannte den strengen zornigen gewaltthätigen Mann. Er hatte den Arm nach ihr aufgehoben. Der alte Knecht war von ihm zurückgestoßen. Die beiden Fremden rührten sich nicht zu ihrem Beistande. Und sie in ihrem Zustande konnte sich nicht wehren, und was sie unter ihrem Herzen trug, bedurfte so sehr einer Hülfe, einer Schutzwehr gegen den rohen Angriff, der ihr drohte.

Die Thür es Zimmers öffnete sich. Das Mädchen athmete auf. War ihr wirklich eine Hülfe gekommen? Caroline Sellner trat in das Zimmer.

Das hübsche, frische Mädchen war mit einem Blicke besorgter Neugierde eingetreten. Sie hatte wohl draußen die zornige Stimme ihres Vaters gehört; sie hatte nicht wissen können was es war.

Sie wußte mit einem Male Alles, wie sie nur einen halben Blick in das Zimmer geworfen hatte.

Sie wußte auch, was ihr Bruder ihr erst nachher hatte erzählen wollen. Ein Entsetzen ergriff sie.

Aber da sah sie zunächst nur das hülflose Mädchen, deren sich Niemand annehmen wollte, und den zornigen und in seinem Zorne und seinem gewaltthätigen Sinne um keine Rücksichten und keine Schranken sich kümmernden Mann.

»Vater!« rief sie. »Vater, begeht kein Unglück.«

Und sie war schon zwischen dem zornigen Manne und dem hülflosen Mädchen mit jenem Muthe, mit jener Entschlossenheit, mit denen sie vorhin zu ihrem Bruder gesagt hatte: ich thäte es nicht, Fritz, was sie von Dir verlangen. Aber der zornige und rohe Mann warf auch sie zurück, wie er den alten Knecht zurückgeworfen hatte.

»Du, Dirne?« rief er seinem eigenen Kinde zu. »Ha, Gleich und Gleich soll sich hier gesellen. Aber noch bin ich Herr im rothen Kruge! Fort auch mit Dir! Fort mit Euch Beiden!«

In dem schwachen Kinde, wie muthig und entschlossen sie war, sollte das andere hülflose Mädchen eine Hülfe nicht erhalten. Aber ein anderer Beistand wurde ihr.

Man hatte schon vor einer Weile draußen am Hause einen Wagen vorfahren hören. Ueber dem Auftritt im Zimmer hatte Niemand darauf geachtet. Die Thür des Zimmers öffnete sich wieder. Ein kleiner, dürrer Mann war mit bescheidenem Wesen leise hereingekommen. Sein kluges und rechnendes Gesicht hatte sehr schnell gerechnet.

»Ei, ei, Gevatter Sellner!« sagte der Herr Andreas Steinauer ruhig, indem er an der Thür stehen blieb. Der Herr Sellner erblaßte. Der aufgehobene Arm sank ihm nieder. Er kannte die Stimme. Er wandte sich nach dem kleinen, dürren Manne um und war verwirrt geworden.

Von dem Mädchen ließ er ab. Er ging auf den Herrn Steinauer zu.

»Guten Abend, Gevatter Steinauer!«

»Guten Abend, Gevatter Sellner!«

Die beiden Gevattern standen beisammen.

»Hm, hm, Gevatter Sellner,« fuhr leise der Herr Steinauer fort, »die Geschichte da ist fatal –«

»Sie wissen –?« fragte der Herr Sellner, und er wurde noch verwirrter.

»Wie werde ich nicht, Gevatter? Aber was schadet es denn? Ich kann Ihnen auch noch mehr sagen. Sie waren da auf dem besten Wege, durch einen dummen Streich die Sache noch fataler zu machen. Wer in der Welt vergreift sich an einer Person, die in einem Zustande ist, wie diese da. Es kann nach dem Strafgesetze sogar in das Zuchthaus bringen. Und wie ich sehe, haben Sie auch für Zeugen gesorgt. Und an die Hauptsache scheinen sie gar nicht gedacht zu haben. Meine Frau und meine Tochter wissen von nichts, und sie halten Beide auf Reputation. – Kommen Sie, Gevatter. Für die Person giebt es Geld. Wir sprechen nachher davon.«

Der Herr Steinauer hatte Gründe vorgebracht, denen der Zorn des Herrn Sellner längst gewichen war. –

»Gehen wir zu den Meinigen, Gevatter.«

Die beiden Ehrenmänner schüttelten sich die Hände, und verließen das Zimmer.

Caroline Sellner war zu dem Mädchen getreten, das sie gegen den Vater hatte beschützen wollen.

»Liesbeth, wie konntest Du hierher kommen?« fragte auch sie. »Und gerade heute!«

Und die Unglückliche, die allen den Anderen gegenüber auf die Frage keine Antwort gehabt hatte, antwortete dem freundlichen theilnehmenden Kinde.

»Ich mußte hierher, Mamsell Caroline, und wenn es mir das Leben gekostet hätte. Ich muß ihn sprechen; gerade heute. Ich muß ihn sprechen und sollte ich an den Tisch dringen, an dem sie zur Verlobung sich die Hände reichen. Ja, ja, ich weiß, daß er sich heute verloben soll. Aber er darf es nicht, er kann es nicht, und wenn er es kann – ich nehme mir das Leben vor seinen Augen, mir und seinem Kinde.«

Es giebt einen Zorn der Pflichterfüllung. Er leuchtete voll und edel hervor aus den Worten, aus den Blicken, aus dem gerötheten Gesichte des Mädchens. Caroline Sellner hatte still nachgesonnen. Auch in ihr Gesicht war der Muth zurückgekehrt.

»Komm mit mir in mein Stübchen,« sagte sie zu dem Mädchen. »Hier ist kein Platz für Dich.«

Sie nahm die Hand der Unglücklichen.

Auch die Beiden verließen Hand in Hand die Stube, wie vor wenigen Augenblicken die beiden Männer – aber doch wohl anders. –

Der Baron von Stromberg, sein kleiner dicker Begleiter und der Knecht Kasper waren wieder allein in der Fuhrmannsstube.

Der kleine dicke Herr hatte während des ganzen Auftritts, den wir erzählt haben, regungslos und mit dem unbeweglichsten Gesichte von der Welt an seinem Tische gesessen.

Der Baron – er hatte sich nicht dazu entschließen können, der Unglücklichen gegen die Mißhandlung, die ihr drohte, beizustehen; seine Unentschlossenheit machte ihn selbst um so mehr verlegen, als gewiß nicht Mangel an Muth es war, was ihn zurückhielt. Auf einmal war Caroline Sellner eingetreten und hatte ihn überrascht. Er hatte seinen Augen nicht getraut. Er war unwillkürlich zu dem kleinen dicken Herrn gegangen.

»Mein Gott, sie ist die Tochter des Hauses?«

»Nun ja.«

Der kleine Herr sagte es, ohne die Lippen zu bewegen. Durch das Gesicht des Barons zog ein heftiger Schmerz. Und der Polizeirath, der es sah, hatte keinen Hohn dafür. Kein Anderer hatte es gesehen. Keiner der Anderen hatte auf ihn geachtet; auf die beiden Fremden nicht.

Caroline Sellner hatte sie erst in dem Augenblicke bemerkt, als sie mit der Unglücklichen das Zimmer verlassen wollte. Sie hatte gestutzt, aber sie ging, ohne sich weiter nach ihnen umzusehen.

Als sie fort war, wollte der Baron sich wieder an den Polizeirath wenden. Er schien eine dringende Frage an ihn zu haben. Da vernahm er ein Geräusch hinter sich und wandte sich schnell um.

Und es war Zeit.

Der Dritte in dem Zimmer, der alte Knecht Kasper, sah sich auf einmal wieder allein mit den beiden Fremden. Man sah ihm an, wie unheimlich es ihm mit den Beiden allein wurde. Er wollte sich davon machen. Aber der Baron bemerkte es.

»Ah, bleiben Sie ,« rief er, »ich wollte etwas bei Ihnen bestellen.«

Der Knecht stand mechanisch still.

»Was wünschen Sie?«

»Eine Flasche Wein. Aber es hat Zeit. Setzen wir uns vorher wieder. Unser Gespräch von vorhin hat mich interessirt, und ich habe noch ein paar Fragen an Sie.«

Der Knecht konnte nicht fort. Es kam wieder Frage und Antwort zwischen ihnen. Aber es war ein Unterschied dabei gegen vorhin. Der alte Kasper hatte seine Aengstlichkeit verloren, und die alte Kathrine war nicht mehr da.

»Also,« sagte der Baron, »der alte Krug, der früher hier stand, war schon sehr alt?«

»Ja, er war schon sehr alt. Aber, Herr, warum fragen Sie denn nach dem alten Kruge?«

»Ich habe ihn gekannt, und für das, was man gekannt hat, interessirt man sich.«

»Sie waren früher schon hier?«

»Vor ungefähr neunzehn Jahren. Ich war damals ein kleiner Bube. Ich war mit meinem Vater hier. Wir wollten –«

Der kleine dicke Herr hörte plötzlich mit der erwartungsvollsten Aufmerksamkeit zu. Der Baron fuhr ruhig mit einem gewissen Selbstgefühl fort:

»Wir wollten über den Berg, um Mühlsteine zu kaufen. Mein Vater war nämlich Müller .Die grüne Mühle –«

Der kleine dicke Herr wäre beinahe von seiner Bank aufgefahren.

Der Baron sprach ruhig weiter.

»Die grüne Mühle in der Stadt gehörte ihm. Sie gaben sie wohl gekannt?«

»Ich komme wenig in die Stadt,« meinte der alte Knecht.

»Nun, es ist gleichgültig. Aber mir fällt ein, daß damals, als ich vor neunzehn Jahren hier war, davon gesprochen wurde, es sei einige Zeit vorher, ich glaube im Jahre vorher, ein Mensch hier verschwunden?«

Der Baron sah bei den letzten Worten den alten Knecht scharf an. Der alte Mann sah vollkommen ruhig vor sich hin. –

»So?« sagte er nur.

Der Baron fuhr unbeirrt fort:

»Sie wissen nichts davon?«

»Ich habe nichts davon gehört. Wo sollte der Mensch denn verschwunden sein?«

»Ja, in dem alten rothen Kruge.«

»Dann müßten wir hier doch zuerst davon gehört haben.«

»Und Sie haben nichts davon gehört?«

»Kein Sterbenswort.«

»Dann ist es ein dummes Gerede der Leute gewesen –«

»Die Leute reden viel.«

»Oder ich habe mich geirrt.«

»So kann es auch sein.«

»Aber auf etwas anderes von damals besinne ich mich deutlicher. Ich sah hier im Hause ein hübsches Kind, mit krausen, schwarzen Locken und einem sehr feinen Gesichte. Was ist aus dem geworden?«

Der Knecht blieb auch bei dieser Frage ruhig.

»War es ein Knabe?« fragte er.

»Es war ein Knabe. Er konnte etwa fünf oder sechs Jahre alt sein.«

»Ja, ja, das ist richtig.«

»Und wo ist der Knabe geblieben?«

»Er ist noch im Hause.«

»Er ist also ein Kind des Hauses?«

»So eigentlich wohl nicht. Es ist der Ludwig, den Sie vorhin gesehen haben.«

»Der junge Kellner?«

»Der nämliche.«

»Und er ist kein Kind des Hauses, sagten Sie?«

»Nein.«

»Wie ist er denn in das Haus gekommen? Mich dünkt, ich hätte damals von einer eigenen Geschichte gehört.«

»Ja, es war eine eigene Geschichte.«

»Darf man sie erfahren?«

»O, warum nicht? Die ganze Gegend kennt sie ja.«

»So erzählen Sie sie mir.«

Der Knecht erzählte:

»Es sind jetzt gerade zwanzig Jahre – die Schlacht bei Leipzig war gewesen, und es zog Tag für Tag viel flüchtiges Volk durch das Gebirge. Sie wurden hart gedrängt von den Preußen und Russen, die dicht hinter ihnen waren, am meisten von den Kosacken. Sie verließen daher die großen Straßen und suchten, wo sie konnten, am liebsten das tiefe und menschenleere Gebirge auf; so kamen sie auch hierher, Tag für Tag, Tag und Nacht. Es waren Soldaten und Nichtsoldaten, Männer und Weiber, Kinder und alte Leute! Da hörte man an einem Abende ein Winseln draußen vor dem rothen Kruge. Man ging hinaus, um zu sehen, was es sei. Es war ein dunkler, kalter, regnigter Abend. Man fand vor der Thür, nahe an der Landstraße, ein Kind, einen Knaben von ungefähr vier Jahren. Er war steif von der Kälte, durchnäßt vom Regen. Er war allein. Die Straße war leer. Man sah und hörte draußen keinen andern Menschen als das Kind. Es wurde in das Haus genommen. Niemand kannte es. Es war ein wildfremdes Kind. Man fragte es, wer es sei, woher es komme, mit wem es hierher gekommen sei. Es konnte auf keine Frage Antwort geben. Es verstand unsere Sprache nicht, und wir verstanden die seinige nicht. Es sprach Französisch, aber Keiner im Hause kannte nur ein Wort davon. Wir dachten, es sei von Flüchtlingen in der Eile vergessen oder verloren; man werde es schon wieder abholen. Aber es wurde nicht wieder abgeholt. Wir warteten Tage, Wochen, Monate ab. Kein Mensch kümmerte sich um das Kind, Niemand fragte nach ihm. So war es im Hause geblieben, und so blieb es im Hause, als Waise, dies von ihren Angehörigen ganz verlassen und vergessen sei.«

Der Baron hatte eine Frage an den alten Knecht.

»Hat das Kind auch späterhin nie gesagt, wer es sei, und wie und mit wem es gekommen?«

»Niemals. Nach einiger Zeit kam Jemand in den rothen Kruge, der französisch reden konnte. Er sprach mit dem Kinde. Aber es wußte nur noch, daß es mit seinem Papa das Haus verlassen habe und mit vielen Leuten umhergezogen sei. Bald seien sie gefahren, bald habe sein Papa es getragen; bald auch einer von den anderen Leuten. Diese seien meist Soldaten gewesen, sein Papa aber nicht. Sie seien bei Tag und bei Nacht gereist. Einmal als es eingeschlafen gewesen und erwacht sei, habe es im Dunkeln gelegen, ganz allein. Es habe gerufen, nach seinem Papa, nach einem Georges, der es oft getragen – es habe keine Antwort erhalten Es habe geweint, es sei kalt und naß und hungrig gewesen. Da habe es ein Licht gesehen. Es sei darauf zugekrochen. Man habe es in das Haus genommen.«

»Das war Alles, was das Kind wußte?« fragte der Baron.

»Das war Alles. Es wußte auch das nur noch in der ersten Zeit. Später wurden ihm die Gedanken über die Vergangenheit immer verwirrter, und zuletzt wußte es gar nichts mehr.«

»Ja, ja,« sagte der Baron. »Da es seine Muttersprache nicht mehr reden konnte, vergaß es mit ihr um so leichter das Andere.«

»Es mag wohl so sein,« meinte der Knecht.

Er sprach es treuherzig genug.

Auch der Baron hatte mit allen Zeichen des aufrichtigen Glaubens zugehört. So sprach er auch weiter.

»Hat das Kind nie einen Namen genannt?«

»Niemals. Es sprach nur von seinem Papa.«

»Nannte es auch seinen eigenen Namen nicht?«

»Es nannte sich Lolo. Danach nannten wir es Ludwig.«

»Befand sich in seiner Kleidung kein Name, kein Zeichen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ist seine Kleidung aufbewahrt?«

»Ich weiß auch das nicht. Der Herr Sellner muß es wissen.«

»Noch Eins, alter Mann – Sie heißen Kasper?«

»Ich heiße Kasper.«

»Also noch Eins, alter Freund Kasper, damals stand der alte rothe Krug noch?«

»Ich sagte es Ihnen schon, daß er mehr dort nach links hinaus lag.«

»Und nicht weit von ihm war ein alter Stall?«

Der alte Knecht stutzte doch wieder bei der Frage.

Der Polizeirath wurde neugieriger.

»Ja,« antwortete der Knecht.

»Der Stall lag hinter dem Hause zurück; steht er noch und wird er noch gebraucht?«

»Er steht noch, wird aber nicht gebraucht, weil er ganz verfallen ist.«

»Hm, er ist wohl gerade seit jener Zeit verfallen, als das fremde Kind, der Ludwig, hier ins Haus kam?«

»Ich weiß das nicht so genau.«

»So weiß ich es. Der Knabe, von dem wir sprachen, der jetzt noch als der Kellner Ludwig im Zause ist, war nicht allein hier angekommen. Es war Jemand bei ihm.«

Der Baron sprach die Worte mit erhöhter Stimme, er sah den Knecht durchdringend an.

Der alte Mann zuckte leicht auf. Es konnte in der plötzlichen Erhebung der Stimme des Barons seinen Grund haben. Er blieb im Uebrigen ganz ruhig, und so antwortete er:

»Ich habe niemals davon gehört.«

»Sein eigener Vater war bei ihm,« fuhr der Baron mit Nachdruck fort.

»So?« fragte ruhig der Knecht.

»Und auch der Vater blieb hier, ist hier geblieben, wie sein Kind. Doch nein, nicht wie sein Kind. Denn der Knabe ist am Leben geblieben.«

»Ja, ja, er lebt noch.«

»Und der Knabe ist aus dem alten Kruge mit in den neuen rothen Krug herübergezogen. Der Vater aber liegt da hinten bei dem alten Kruge, als todter Mann unter der Erde. Ist es nicht so, alter Kasper?«

»Ich weiß nichts davon.«

»Und ich weiß auch, wo er liegt – in dem alten Stalle. – He, alter Mann, warum könnt Ihr mich nicht ansehen?«

»Ich sehe Sie ja an, Herr.«

»Ja, aber wie ein armer Sünder.«

Der Baron war aufgestanden.

»Steht auf,« sagte er dann zu dem alten Knecht.

Der alte Mann erhob sich ebenfalls.

»Besorgt mir jetzt eine Flasche Wein.«

Der Knecht wollte die Stube verlassen. Es schien ihm doch auf einmal sehr leicht um das Herz zu werden, daß er es konnte.

»Noch ein Wort!« rief ihn der Baron zurück.

»Was wünschen der Herr?«

»Was ich wünsche? Ihr seid mein Gefangener.«

»Aber, Herr!« stammelte der alte Mann.

»Kein Wort!«

Der Baron befahl es ruhig, vornehm.

Dann sah er sich nach seinem kleinen dicken Begleiter um.

Der Polizeirath war bei den Worten: »Ihr seid mein Gefangener!« plötzlich aufgefahren, dann hatte er, wie mißbilligend, das knurrige Gesicht geschüttelt.

Dann schien er auf einmal zufrieden zu sein. Der Baron sah ihn triumphirend an und wandte sich darauf wieder zu seinem neuen Gefangenen.

»Kein Wort!« wiederholte er. »Und nicht von der Stelle, bis Ihr Befehl dazu bekommt.«

Die Warnung war kaum notwendig. Der alte Mann stand wie erstarrt. Der Baron ging an ein Fenster, öffnete es und rief leise in die Dunkelheit hinaus:

»Weber!«

Eine Sekunde darauf erschien draußen an dem geöffneten Fenster ein Schnurrbart unter einem Tschako.

Die Gensdarmen trugen damals Tschakos, und ein Gensdarm stand draußen am Fenster.

»Was befehlen der Herr Baron?«

»Ist der Hof frei?«

»Zu Befehl!«

»Auch die Hausthür?«

»Es ist überall reine Luft.«

»Kommen Sie herein. Aber Niemand darf Sie sehen.«

»Zu Befehl!«

Schnurrbart und Tschako verschwanden. Der Baron verschloß das Fenster wieder. Ein stämmiger Gensdarm trat in die Stube.

»Der Mann ist Ihr Gefangener! Führen Sie ihn ab!« befahl der Baron dem Gensdarm.

»Zu Befehl, Herr Baron.«

»Aber, Herr Baron,« jammerte der alte Knecht, »was habe ich denn gethan? Wohin wollen Sie mit mir?«

Der Baron kümmerte sich nicht weiter um den Mann, der nach seinem Befehle der Gefangene des Gensdarmen war.

»Fort! Vorwärts!« kommandirte der Gensdarm. »Und – still geschwiegen.« Ein Griff an den Kragen des Gefangenen gab dem Kommando Nachdruck.

Der Gefangene und der Gensdarm verließen die Stube.

Der Baron wandte sich an den kleinen dicken Herrn.

»Sie schienen in dem ersten Augenblicke mit der Arretirung nicht einverstanden zu sein, Herr Polizeirath.«

»Ich bin es auch jetzt wieder nicht, Herr Baron.«

»Und warum nicht?«

»Darf ich um Ihre Gründe für die Maaßregel bitten?«

»Der Mord hat im alten Stall stattgefunden.«

»So behauptet auch der Franzose.«

»In dem nämlichen Stalle ist der Ermordete verscharrt.«

»Es ist dies die Vermuthung, von der wir für unsere Operationen ausgingen.«

»Und jetzt erst recht ausgehen müssen; denn sie hat durch mein Verhör mit dem alten Mann sich vollkommen bestätigt. Seine Verlegenheit, wenn ich des Stalles nur erwähnte, verrieth evident, daß dort der Beweis des Verbrechens zu finden ist. Darauf ist mein Plan gebaut. Jedoch darf Niemand erfahren, daß der alte Knecht arretirt ist. Man wird ihn vermissen. Er ist verschwunden; wohin, das bleibt ein Räthsel. Auch darauf lege ich Gewicht.«

»Wie Sie befehlen, Herr Baron.«

Der Baron wollte sich entfernen. Auch der Polizeirath hatte einen Augenblick nachgesonnen.

»Herr Baron!«

»Was wünschen Sie?«

»Unsere hübsche Reisegefährtin aus dem Wasser ist die Tochter des Herrn Sellner.«

Der Baron wurde roth.

»Es ist sehr unangenehm,« sagte er.

»Pah, Sie müssen die Sache nicht so tragisch nehmen, Herr Baron.«

Der kleine dicke Polizeirath lachte. Der Baron antwortete nichts; aber er sah in seiner Gemessenheit sehr finster aus. So verließ er die Fuhrmannsstube, in der er Mancherlei gesehen, erfahren und erlebt hatte. Der Polizeirath folgte ihm. Im Flur trennten sie sich. Der Baron begab sich durch die Hausthür auf den Hof vor dem Hause. Der Polizeirath ging zu der Thür des Fremdenzimmers, horchte ein paar Augenblicke daran, öffnete sie dann und trat in das Zimmer.



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