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8.

Wenn man durch die Hausthür in den rothen Krug trat, so befand man ich, wie wir schon früher bemerkt haben, in einem geräumigen Flur, an dessen beiden Seiten rechts das Fremdenzimmer und links die Fuhrmannsstube belegen waren. Hinten am Ende des Flurs war die Treppe, die in die oberen Theile des Hauses führte. Rechts neben der Treppe war eine Thür, durch die man unmittelbar in die Küche des Hauses gelangte. An der Küche lagen die Wohngemächer der Familie Sellner, auch das freundliche Familienstübchen, in dem die Verlobung des Sohnes des Hauses mit der gelben Mamsell Steinauer gefeiert wurde, und nach der Absicht des Herrn Sellner und des Herrn Steinauer, auch die Verlobung der Tochter des Hauses mit dem jungen Gottfried Steinauer noch heute Abend gefeiert werden sollte.

Hausflur, Treppe und Küche waren erleuchtet. In der Küche brannte auf dem Heerde ein lustiges Feuer. Ueber dem Feuer standen Kochtöpfe; in dem Bratofen des Heerdes dampften Bratpfannen. Eine Köchin achtete auf Alles, eine Küchenmagd war ihr zur Seite, um ihre Befehle zu vollziehen.

Es war halb neun Uhr Abends. Die Köchin war ärgerlich, verdrießlich.

»Wann soll denn heute Abend endlich im rothen Krug gegessen werden? Kein Mensch denkt daran, und die Kartoffeln verkochen, das Gemüse verbrennt und der Braten wird hart und trocken wie Leder. Der Herr ist wie verschwunden, die Frau läßt sich nicht sehen; der Ludwig ist nicht da, und wenn er auch da wäre – er ist fortgejagt aus dem Hause, er darf nichts mehr anrühren – Ah, da ist er ja doch noch!«

Der Kellner Ludwig mit dem hübschen, frischen, fremdartigen Gesichte und den schwarzen krausen Locken trat in die Küche. Seine Locken waren wohl noch kraus und sein Gesicht noch hübsch, aber frisch war es nicht mehr.

»Herr Gott, Herr Ludwig, Sie sehen ja aus, wie das Leiden Christi,« rief ihm die alte Köchin entgegen.

»Ich wollte Ihnen Adieu sagen, Jungfer Christine,« antwortete er ihr.

»Was? Sie wollen doch nicht in der Nacht fort?«

»Dann habe ich es auf einmal hinter mir.«

»Ja, ja, aber essen müssen Sie vorher etwas.

»Es ist Alles fertig, längst, und Sie sollen vom Besten haben, was auf dem Feuer ist.«

»Die Henkersmahlzeit!« lächelte traurig der junge Mensch. »Aber ich rühre im rothen Kruge nichts mehr an. Adieu, Jungfer Christine, leben Sie wohl und haben Sie Dank für Alles.«

»Mein Gott, mein Gott, Herr Ludwig!«

Sie hatte schon die Schürze vor den Augen, um sich die Thränen zu trocknen. Er reichte ihr seine Hand. Sie nahm sie.

»Gott sei mit Ihnen, Herr Ludwig. Ich habe Sie immer lieb gehabt. Das ist ein wahrer Unglückstag.«

Er gab auch der Küchenmagd die Hand. »Lebe auch Sie wohl, Justine!«

»O, der arme, arme Herr Ludwig!« schrie sie auf. Sie hatten ihn Alle im Hause lieb. Er mußte sich losreißen. Die Thränen standen ihm selbst in den Augen. Er stürzte aus der Küche. Er wollte durch den Flur aus dem Hause stürzen. Er mußte an der Treppe vorbei. Da hätte er fast Jemanden überrannt.

Die Mamsell Caroline stand vor ihm. Sie war die Treppe herunter gekommen. Sie hatte die letzte Stufe erreicht. Er sah, er erkannte sie. Er wollte an ihr vorüber. Auch sie erkannte ihn.

»Sie, Ludwig?« rief sie. Ein paar Stunden vorher, in dem freundlichen Stübchen, als sie den Tisch deckte, hatte sie Du zu ihm gesagt. Seitdem hatte sich freilich Manches zugetragen, auch mit ihr. Auch mit ihm – er war aus dem Hause gejagt.

»Ja, Mamsell!«

»Und Sie sind so eilig!« s

»Ja,« sagte er noch einmal.

»Ludwig –!«

»Was ist's, Mamsell?«

»Sie wollen fort!«

»Ich?« Er wußte wohl nicht, was er sagte, da er das Wort aussprach. Was Alles auf ihn eingestürmt war, schlug jetzt über ihm zusammen.

»Ja, Sie wollen fort, Ludwig, aus dem Hause, aus diesem Hause.«

»Ja, Mamsell,« sagte er noch einmal. Aber diesmal ganz anders. Es war keine Ueberraschung, keine Verwirrung mehr, die sich in den zwei Worten aussprach. Ein plötzlicher, tiefer Schmerz drängte sie hervor.

»Und ohne Abschied von mir zu nehmen, Ludwig?«

Es war ein Vorwurf, aber immer ein freundlicher. Er hatte dafür einen herben. Allerlei Gefühle waren ja in den letzten Stunden auf ihn eingestürmt und trieben ihn jetzt aus dem Hause, in dem er groß geworden, das Leben und Alles, was er hoffte und was er war, kennen gelernt, die Liebe gefunden und nun auf einmal wieder verloren hatte.

»Was wäre Ihnen daran gelegen, Mamsell?« sagte er.

»Ludwig?« Sie war blaß geworden. Sie griff nach seiner Hand. Er sah es und zog die Hand zurück. »Leben Sie wohl, Mamsell.« Er wollte fort.

»Ludwig! Ludwig!« rief sie noch einmal. Auch aus ihr schien ein plötzlicher Schmerz die Worte hervorzudrängen. Sie wollte ihm nach. Auf einmal stand sie wie erstarrt.

»O mein Gott!« rief sie fast entsetzt. Auf sie war mehr eingestürmt, als auf ihn. Das Bewußtsein einer eigenen Schuld mochte hinzukommen. Er war stehen geblieben.

»Mamsell –!«

»Du nanntest mich früher Caroline!«

»Sie waren noch keine Mamsell!«

»Du sagtest Du zu mir, Ludwig«

»Mein Gott!« rief auch der junge Mann.

»Ludwig, Ludwig, und Du könntest ohne Abschied von mir gehen? Und um meinetwillen gar mußt Du aus dem Hause! Und Du wagtest heute noch für mich Dein Leben?«

»Mamsell Caroline – Caroline –!« rief der junge Mann. Er sprach nicht aus, was er sagen wollte. Konnte er es? Was konnte er sagen? Hatte er die Liebe wieder gefunden, die er verloren hatte? Oder war es irgend ein anderes Gefühl, das den Schmerzensruf des Mädchens herausgepreßt hatte, ein augenblickliches Mitleiden mit dem in die Welt hinausgestoßenen Bettler, der keinen Vater, keine Mutter, keinen Freund und keinen Verwandten, der nicht einmal einen Namen hatte?

Und was für ein Gefühl war es denn, das so schmerzlich aus ihr herausrief? Sie war am Tage oft so glücklich erröthet, wenn der Baron Stromberg ihr Artigkeiten bewiesen, ihr Schmeicheleien gesagt hatte; und den jungen Mann, der jetzt vor ihr stand, den Bettler ohne Namen, den Diener in ihres Vaters Hause, ihn hatte sie zurückgesetzt, zurückgestoßen.

Und doch hatten sie früher Du, und Ludwig und Caroline zu einander gesagt, und sie hatten sich wohl mehr gesagt, was sie für einander fühlten, und –

»Ludwig,« rief sie, »hast Du mich denn nicht mehr lieb?«

»Mamsell, Mamsell!«

»Hast Du mich gar nicht mehr lieb, Ludwig?«

Sie hielt ihm wieder ihre Hand hin. Und er nahm sie jetzt.

»Caroline!«

»Du liebst mich, Ludwig?«

»Nur Dich, nur Dich! Immer nur Dich!«

»Und ich gehöre Dir. Ich habe ja auch immer nur Dich geliebt, Dich allein. Und nun –«

»Hm, Mamsell, für das, was nun kommen soll, lassen Sie mich sorgen.«

Der kleine dicke Polizeirath sagte es, indem er aus einem Winkel hinter der Treppe hervortrat. Er hatte wieder einmal den Horcher gemacht. Zu seinem Metier gehörte es nun einmal.

Die Liebenden waren auseinander gefahren.

»Vor mir brauchen Sie nicht zu erschrecken.« sagte der Polizeirath. »Und Sie, Fräulein, oder Mamsell Caroline, wie der Bursch da Sie so lange nannte, um Sie zu ärgern – nun, Sie hatten ihn unterwegs auch genug geärgert, Sie müssen es zugestehen« –

Die Liebenden drückten sich zärtlich die Hände.

»Und, Mamsell Caroline,« fuhr der Polizeirath fort, »vor einem Anderen brauchen Sie sich auch nicht zu fürchten. Und nun geht Beide, und sprecht Euch ganz aus, und wenn Ihr fertig seid – macht aber nicht zu lange – dann, Herr Ludwig, kommen Sie zu mir, ich habe nothwendig mit Ihnen zu sprechen.«

Die beiden Liebenden gingen die Treppe hinauf.

Der Polizeirath sah ihnen nach, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Dann ging er mit einem listigen Gesichte nach der andern Seite der Treppe, dort war ein zweiter, dunkler Winkel.

»Herr Baron,« rief er leise in das Dunkel hinein. – Es rührte sich nichts darin.

»Herr Baron,« wiederholte der Polizeirath. »Darf ich bitten? Ich weiß, daß Sie da sind. Ich weiß ja auch, daß Sie nicht freiwillig da sind. Sie waren gerade gekommen, als die Beiden auf einander platzten. Sie konnten nicht mehr fort. Sie mußten sich hier verbergen.«

Ob er dem Baron damit die Wahrheit sagte?

Daß er ein Schalk war, der kleine dicke Polizeirath, und daß er seinen vornehmen und pedantischen und gutmüthigen Baron durch und durch kannte, wissen wir. Der Baron kam hervor, roth, etwas aufgeregt, noch mehr beschämt.

»In der That ich konnte nicht mehr fort,« sagte er.

»Und Sie haben also Alles mit angehört?«

»Ich mußte.«

»So werden auch Sie sich freuen, daß auf das Haupt der armen Frau ein Unglück weniger fällt.«

»In welchem Sinne meinen Sie das?«

»Nun, der Ludwig ist ein braver Mensch, der ihr Kind nicht verlassen wird. Er liebt sie ehrlich, und liebt ihn wieder. Glauben Sie nicht auch, Herr Baron?«

»Hm, es schien so.«

»Eine kleine, heuchlerische Wetterhexe ist diese allerliebste Mamsell Caroline freilich. Wie freundlich, wie innig, konnte sie andere Huldigungen aufnehmen, sogar ein wenig provociren. Aber wir wollen dem armen Kinde darum doch alles mögliche Gute mit dem hübschen Ludwig wünschen. Er paßt am Besten für sie, und sie wird wahrhaftig sonst genug zu tragen bekommen. Da muß sie starke und willige Schultern haben, auf die sie sich stützen kann. Aber wissen Sie, Herr Baron, was ich ihr weit lieber wünschen möchte?«

»Nun?« fragte der Baron doch.

»Daß das ganze Unglück an ihr vorüber gehen könnte, daß sie ihre arme Mutter behielte. Aber es geht nicht.«

»Nein, es geht nicht,« bestätigte der Baron.

»Und doch vielleicht, Herr Baron. Wenn ich nur wüßte, was mit ihrem Manne anzufangen wäre. Daß der Mörder hier nicht der reiche, hochmüthige, rohe Herr Sellner bleiben kann, das leuchtet mir ein, aber warum soll die unglückliche Frau mit ihm zu Grunde gehen und wie kann sie ohne ihn gerettet werden? Und dann, die Wahrheit zu sagen, Herr Baron, muß ich immer wieder auf meinen Aerger zurückkommen, daß wir das schöne Geld dem schuftigen Französischen Polizeivigilanten und seinem Könige verschaffen sollen. Wieviel Geld haben diese Franzosen seit Hunderten von Jahren aus unserem guten Deutschland herausgetragen, herausgestohlen und herausgeraubt! Und was haben wir jemals wieder von ihnen zurückbekommen? Und auch jenes Geld, hatten es nicht Deutsche, und immer wieder arme Deutsche aufbringen müssen? Und wir sollen es, nach zwanzig Jahren noch, herausgeben? Hören Sie, Herr Baron, wenn ich der König wäre, ich erließe sofort einen Befehl, durch den ich die ganze Untersuchung niederschlüge und nur den Mörder zum Teufel jagte und das Geld den beiden jungen Leuten ließe, die sich eben mit ihrem Herzen wiederfanden. Ich glaube wahrhaftig, es käme an die rechten und an die besten Leute. Aber Sie sind der Chef der Untersuchung, und ich bin nur zu Ihren Befehlen hier. Befehlen Sie, daß Ihnen jetzt die Frau zum Verhör vorgeführt werde?«

»Ja!« sagte der Baron.

»In Ihr Zimmer?«

»In mein Zimmer.«

»Sie soll in drei Minuten da sein.«

Der Baron stieg die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Der Polizeirath ging in die Küche.

»Wo ist die Madame?« fragte er die Köchin Christine.

»In der Stube dort.«

Sie zeigte auf die Thür des freundlichen Familienstübchens.

»Bitten Sie sie zu mir heraus.«

Die Köchin ging in das Stübchen und kam mit der Frau Sellner zurück.

»Madame, der Herr Baron von Stromberg wünscht Sie zu sprechen. Er hat ein Anliegen an Sie.« Der Polizeirath sprach es mit der größten Höflichkeit.

Die Frau konnte nicht anders meinen, als daß es sich um eine Wirthschaftsangelegenheit handle.

»Wo ist der Herr Baron?« fragte sie.

»In seinem Zimmer. Darf ich Sie sofort zu ihm begleiten?«

»Wie Sie wünschen.«

Sie ging mit ihm die Treppe hinauf, in das Zimmer des Barons. Der Baron war allein darin.

Was wollte er von der Frau? Warum hatte er sie herholen lassen? Wollte er wirklich jetzt mit ihr das Verhör beginnen, das ihren Mann und noch sicherer sie selbst auf das Schaffott liefern sollte, liefern mußte?

Die Frau war unbefangen. Der Polizeirath war gespannt. Der Baron war die vollkommenste Ruhe.

»Setzen Sie sich,« sagte er höflich zu der Frau.

Sie war eilig; sie hatte ihre Gäste verlassen. Sie blieb stehen.

»Setzen Sie sich,« wiederholte er. »Ich möchte über Mancherlei mit Ihnen sprechen.«

Sie sah ihm doch forschend in die Augen. Er war nur höflich. Sie setzte sich. Er nahm ihr gegenüber einen Stuhl ein. Sie erwartete seine Ansprache.

»Madame,« hob er an, »bei Ihnen im Hause ist ein junger Mensch – Ludwig wird er genannt.«

Das blasse Gesicht der Frau war schon bleicher geworden. Ihre Finger begannen leise zu zittern.

Sie mußte die Hände in einander legen, damit man es nicht sah.

»Sie werden ihn gesehen haben,« antwortete sie, und auch der Stimme hörte man ein Zittern an.

»Er ist schon lange bei Ihnen?«

»O ja, schon sehr lange.«

»Er ist Ihnen fremd?«

»Wir haben ihn als fremdes, unbekanntes Kind aufgenommen.«

»Wie geschah das?«

»Es war nach der Schlacht bei Leipzig, als die Franzosen aus dem Lande flüchten mußten! Auch hier durch das Gebirge waren viele Flüchtlinge gekommen. Da fanden wir eines Tages das Kind.«

»War es allein, oder war Jemand bei ihm?«

»Es war verlassen.«

»Von den flüchtigen Franzosen?«

»So meinten wir.«

»Wo fanden Sie es?«

»In der Nähe des Hauses.«

»Können Sie mir die Stelle näher bezeichnen?«

»Es stand damals der alte Krug noch. –«

Die Frau wich aus. Sie war schon lange nicht mehr unbefangen. Auch der Baron war es nicht mehr. Sein anfangs blos höflicher Ton hatte unwillkürlich dem ernsten, strengen, eindringenden Inquirententon Platz gemacht. Und was konnte der Fremde, der mit seiner eben so fremden Begleitung so auf einmal, ohne allen anderen angegebenen oder ersichtlichen Zweck in den abgelegenen rothen Krug gekommen war, was konnte er mit seinem Inquirententon Anderes von ihr wollen, als was der Frage nach dem unbekannten Kinde so unmittelbar nahe lag, was ohnehin Tag und Nacht mit Schrecken, mit Angst, mit Entsetzen ihr Herz erfüllte, ihr Verbrechen, ihr und ihres Mannes Verbrechen? Hat der Verbrecher, wenn ein Auge ihn nur unerwartet ansieht, einen anderen Gedanken, als, er werde auf seine That angesehen? – Sie antwortete langsamer; sie dachte über ihre Antworten vorher nach. Sie war auf ihrer Hut. Sie wollte es sein, die arme Frau. Ihr Gesicht war mit einer erschreckenden Blässe bedeckt. Ihre Hände, ihre Kniee hielt sie fest zusammengepreßt, um das Zittern zu verbergen, das stärker und allgemeiner ihren Körper durchrieselte.

Konnte die schwache Frau lange in diesem Zustande ausharren? Konnte sie dem Sturme, der ihr drohte, dessen erstes Wehen schon um sie war, auf die Dauer widerstehen? Der Baron war in den vollen Eifer des Inquirenten gerathen.

»Und in welcher Gegend des alten Kruges fanden Sie das Kind?« fragte er weiter.

»Es war ganz in der Nähe des Hauses.«

»Vor dem Hause? Oder neben ihm?«

»Ich weiß das in der That nicht mehr so genau.«

»Wer fand das Kind?«

»Ich glaube mein Mann, oder –«

»Oder?«

»Ich weiß auch das nicht mehr bestimmt.«

»Aus wie vielen Personen bestand damals Ihr Hausstand?«

»Außer meinem Manne und mir und einem Kinde waren nur ein Knecht und eine Magd da.«

»Leben diese Beiden noch?«

»Ja,« sagte die Frau zögernd. Rief sie mit der Antwort nicht Zeugen hervor, Zeugen, die ihr, ihrem Manne, sich untereinander widersprechen konnten?

»Und wo sind sie?« fragte der Inquirent.

»Hier im Hause,« antwortete sie fast lautlos.

»Und wer sind sie?«

»Der alte Knecht Kasper und die alte Magd Kathrine.«

Sie hatte zu der Antwort alle ihre Kraft zusammennehmen müssen, und sie hatte so wenig Kraft.

»Waren Sie zu Hause,« fuhr der Inquirent fort, »als das Kind gefunden wurde?«

»Ja«, konnte sie noch einmal sagen.

»Waren sie bei der Auffindung des Kindes zugegen?«

»Ich weiß es nicht.«

Ihre Kraft war gebrochen. Da sprach sie, ohne sich zu besinnen, vielleicht ohne einmal zu wissen, was sie sprach. Der Inquirent gewahrte es.

»Haben die Leute das Kind gesehen?« fragte er, als wenn er nur noch seiner Sache recht gewiß sein wolle.

»Ich weiß es nicht,« sagte sie wieder.

Er hatte sie fest. Zum dritten Mal vielleicht konnte sie noch so antworten; dann war sie völlig vernichtet; dann sah sie ein, daß auch das Nichtwissen sie nicht mehr retten könne; sie konnte nur noch Eins: durch ein vollständiges Bekenntniß von der entsetzlichen Last sich befreien, der sie bis zur Ohnmacht erlag.

»Wie? Sie können mir das nicht einmal sagen?« rief der Baron.

»Nein!« konnte sie kaum hervorbringen. Ihre Antworten waren ein Schluchzen. Ihr ganzer Körper zitterte krampfhaft Der Polizeirath war blaß geworden. Das Gesicht des Barons hatte der Eifer des Inquirenten roth gefärbt.

»Dann wissen Sie auch wohl nicht mehr den Tag, an dem es war?«

»Den weiß ich,« konnte sie gerade noch sagen.

»Und welcher Tag war es denn?«

»Es war gerade am siebenundzwanzigsten October.«

»Ah, wie wissen Sie das noch so genau, da Sie doch von allem Anderen nichts mehr wissen wollen?«

»Ich schrieb den Tag sogleich in dem Kalender an.«

»Und warum das?«

Sie hatte keine Antwort mehr.

»Und warum das?« wiederholte der Baron. »Antworten Sie mir!«

Die Glieder der Frau flogen.

Aber der Polizeirath war aufgesprungen.

»Herr Baron –«

»Was wollen Sie?«

»Wollten Sie nicht die Güte haben, die Madame zum Beweise ihrer Behauptung den Kalender herbeiholen zu lassen? Man könnte daraus über Mancherlei Auskunft erhalten.«

»Besitzen Sie den Kalender noch?« fragte der Baron die Frau.

»Ja.«

»Können Sie ihn herholen?«

»Gewiß.«

»So bitte ich darum.«

Der Baron sprach es widerwillig. Dem Polizeirath schien ein sehr schwerer Stein vom Herzen gefallen zu sein. Die Frau Sellner war von einer plötzlichen Todesangst befreit. Sie athmete tief auf und erhob sich.

Die Frau verließ das Zimmer. Der Polizeirath folgte ihr. Sie gingen ihr Schlafzimmer unten im Hause.

Er hatte kein Wort mit ihr gesprochen und wartete an der Thür, aus der sie nach einer Minute mit einem kleinen alten Kalender in der Hand wieder heraustrat. Sie hielt ihm denselben hin, er blickte hinein.

»Hm,« sagte er, »wollen Sie mir den Kalender überlassen?«

»Recht gern. Aber zu welchem Zwecke, wenn ich fragen darf.«

Der kleine dicke Polizeirath sah so gutmüthig aus.

Da wagte die arme Frau in ihrer Angst die Frage, zu der sie an den strenge inquirirenden Baron keinen Muth gehabt hatte.

»Hm, wozu Madame?« erwiderte der Polizeirath. »Sie wissen es, und gerade darum fragen Sie mich. Darf ich Ihnen eine Antwort geben?«

Die Frau drohte zusammenzusinken. Sie hatte keine Frage, kein Wort weiter. Aber der Polizeirath hatte eine Frage an sie.

»Der junge Ludwig, Madame, der Knabe, nach dem der Herr Baron Sie fragte, ist er ein braver Mensch geworden?«

»Gewiß, mein Herr,« antwortete sie, »ein sehr braver Mensch.«

»Das freut mich. Und nun, Madame, kehren Sie in Ihr Schlafgemach zurück und legen Sie sich zu Bett. Sie bedürfen der Ruhe. Sie sind angegriffen, und die Stärkste sind Sie wahrhaftig auch nicht«

»Das weiß Gott,« seufzte die Frau.

Sie mußte doch fragend nach ihm aufblicken. Aber sie las nichts in dem runden, gutmüthigen Gesichte des gewandten Polizeimannes. Sie wollte in ihr Schlafgemach zurückkehren. Der Polizeirath hielt sie noch einmal an.

»Ah, Madame, um etwas muß ich Sie doch noch bitten. Ich bin verzweifelt hungrig. Werden wir bald ein Abendbrod erhalten?«

»Es soll auf der Stelle bereit sein.«

»Wohl, Madame, und zwar, wenn ich bitten darf, unten im Fremdenzimmer.«

Die Frau ging, das Abendbrod zu bestellen. Er sah ihr sinnend nach. Dann schritt er durch den Flur zu der Hausthür; in dieser blieb er stehen. Die Octobernacht war stockdunkel geworden. In dem Dunkel herrschte rund umher die tiefste Stille.

Der Polizeirath schaute und horchte eine Zeitlang in Dunkel und Stille hinein; dann pfiff er, wie vergnügt oder gedankenvoll, vor sich hin. Aus der Stille und der Dunkelheit nahte sich ein Schritt.

Der lange Gensdarm Schmidt stand vor dem Polizeirath.

»Ist Alles besorgt?« fragte ihn der Polizeirath.

»Alles.«

»Gut.«

Der Gensdarm verlor sich wieder in der dunklen Nacht. Der Polizeirath kehrte in das Haus zurück.

Er ging die Treppe hinauf in das Zimmer des Barons, der ihn etwas ungeduldig zu erwarten schien.

»Sie blieben lange!«

»Ich bitte um Entschuldigung.«

»Und Sie kommen allein zurück?«

»Um Sie zum Abendessen in das Fremdenzimmer hinunter zu bitten.«

»Aber die Frau!«

»Sie brach zusammen; sie konnte nicht mehr von der Stelle. Ich mußte ihr selbst sagen, sie möge sich zu Bette legen.«

»Fatal! Sehr fatal! Was werden wir nun weiter machen?«

»Ueberlegen wir es während des Essens.«

»Es wird vorläufig nichts Anderes übrig bleiben. Ich werde gleich unten sein.«

Der Polizeirath verließ das Zimmer des Barons.

Er hatte noch etwas zu thun, bevor er zum Abendessen ging, wie verzweifelt hungrig er sein mochte.

Oben im Hause an einem Seitengange lag noch ein kleines Stübchen. An dessen Thür klopfte der Polizeirath, der schon überall im Hause Bescheid wußte.

Ein reizendes, freundliches, glückliches Mädchengesicht erschien in der Thür.

»Der Ludwig ist wohl bei Ihnen, Fräulein Caroline?«

»Die Liesbeth ist auch da,« antwortete verschämt und erröthend die Mamsell Caroline. Das Erröthen hatte sie nicht verlernt.

»Hm, von der Liesbeth will ich nichts. Aber schicken Sie mir wohl den Ludwig heraus?«

»Er soll sogleich kommen.«

Sie trat in das Stübchen zurück. Der Ludwig erschien draußen.

»Herr Ludwig, haben Sie Muth?« fragte ihn der Polizeirath.

»Ich denke.«

»So gehen Sie auf der Stelle zu dem Herrn Sellner und bitten Sie ihn um die Hand einer Tochter.«

»Wie –?«

»Haben Sie mich nicht verstanden?«

»Gewiß, aber –«

»Kein aber. Doch Eins. Sie wissen nicht, wo der Herr Sellner jetzt ist?«

»Nein.«

»Gehen Sie draußen auf den Hof; dort wird ein langer Mensch in einem zugeknöpften grauen Ueberrock zu Ihnen kommen. Dem sagen Sie, daß Sie zum Herrn Sellner wollen, und er wird Sie zu ihm führen. Aber gehen Sie jetzt gleich.«

»Ich werde gehen.«

»Und weder der Mamsell Caroline, noch sonst einem Menschen sagen Sie ein Wort. Und dann noch Eins, ziehen Sie Ihre Reisekleidung an.«

»Darf ich Sie fragen, warum das?«

»Nein. Eilen Sie!«

Der Polizeirath verließ den jungen Mann.



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