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IX.
Der neue Gefangene.


Die Absicht des Criminalraths war, den Gefangenen sofort zu verhören. Zwischen dem Menschen und der schönen Nichte des Gefangenwärters mußte irgend eine Beziehung bestehen. Er mußte wissen, was es war.

Seine Klingel rief den Gerichtsdiener Braun herein, der ihm den Sekretär als Protokollführer rufen sollte.

Braun trat mit sichtlicher Verlegenheit ein.

Wollte er diese zeigen?

»Bitten Sie den Herrn Sekretär zu mir,« sagte ihm der Criminalrath.

Braun hatte etwas zu sagen, konnte das Wort nicht finden, stand zögernd.

»Haben Sie mich nicht verstanden?« fragte ihn der Criminalrath.

Der Mann nahm sich zusammen. Man sah in seinem offenen, ehrlichen Gesichte den Kampf, den es ihm kostete.

»Herr Criminalrath, wollen Sie mir vorher einige Augenblicke Gehör schenken?«

»Was hätten Sie mir zu sagen?« erwiderte ihm der Criminalrath.

Er sprach die Worte kurz, strenge. Er war einmal eingenommen gegen den Mann, vor dem sein Amtsvorgänger ihn gewarnt hatte, den er selbst als Horcher ertappt zu haben glaubte, an dem ihm dann gerade das offene, ehrliche Gesicht als Maske erschien.

Braun gewahrte leicht die Stimmung seines Vorgesetzten gegen ihn. Er sprach ruhig weiter:

»Herr Criminalrath, mit diesem Gefangenen hat es eine ganz besondere Bewandtniß.«

»Ich hoffe, es durch das Verhör mit ihm zu erfahren.«

»Dürfte ich es Ihnen nicht vor dem Verhöre mittheilen?«

Die Bitte war nicht zurückzuweisen. Der Inquirent muß jede Aufklärung für die Untersuchung annehmen.

»Sprechen Sie.«

»Der Gefangene war schon in der heutigen Nacht hier.«

»Was verstehen Sie unter hier?«

»Hier auf dem Weißenstein; vielleicht in diesem Hause; jedenfalls auf dem Hofe.«

»Woher haben Sie Ihre Wissenschaft?«

»Ich selbst sah ihn.«

»Erzählen Sie.«

»Es war nach Mitternacht, schon zwischen zwei und drei Uhr Morgens. Er war mit zwei anderen Personen unten auf dem Hofe. Nach zehn Minuten entfernten sie sich alle drei wieder.«

»Mit wem, bei wem waren sie hier?« fragte der Criminalrath.

Der Gerichtsdiener antwortete nicht. Er sann nach.

»Warum antworten Sie mir nicht?« sagte der Criminalrath.

Braun nahm sich noch einmal zusammen.

»Der Herr Criminalrath sind eingenommen gegen mich.«

»Ich? Gegen Sie? Sie irren sich.«

Der Mann schwieg.

Der Criminalrath fuhr strenge fort:

»Was Sie mir mittheilen wollen oder wollten, ist für Sie entweder eine Amtssache oder nicht. Ist es eine, so werden Sie durch Verletzung Ihrer Amtspflicht verantwortlich. Ist es keine, so will ich Ihre Privatgeheimnisse nicht wissen.«

Der Mann stand noch einen Augenblick nachsinnend. Dann sagte er rasch:

»Der Herr Criminalrath befahlen mir, den Herrn Sekretär herzurufen?«

»Ja.«

Der Diener ging.

Der Criminalrath war doch unruhig geworden.

»Ist der Mensch ehrlich oder ein Schuft? Er wollte das Mädchen, die Laura, anklagen! Sollte sie auch die drei Menschen in der Nacht hereingeführt haben? Aber zu welchem Zwecke, zu wem? Den Schlüssel zu dem Hinterpförtchen hat sie. Etwas Besonderes ist es mit ihr! Aber der Mensch, der Braun, hat ein zu ehrliches Gesicht, als daß man ihm trauen könnte; ich bin der Einzige nicht, der ihm nicht trauen durfte, und belauschte er mich nicht mit ihr? – Ich hätte ihn doch weiter fragen sollen. Jetzt kann ich nicht mehr.«

Der alte Sekretär trat ein.

Der alte chablonenmäßige Geschäftsmann hatte den zu verhörenden Gefangenen gleich mitgebracht.

Das Verhör wurde abgehalten.

Martin Stiehler nannte sich der Gefangene; er sei ein Weber aus Schlesien; er nannte den Ort; es war ein unbekanntes Dorf. Hier in die Gegend wollte er gekommen sein, um Arbeit zu suchen; in seiner Heimat müßten die Weber verhungern. Er sei unschuldig, habe kein Verbrechen begangen. Am heutigen Morgen, früh, kurz nach Sonnenaufgang, sei er am Strom hinausgegangen; gleich hinter einem Dorfe, etwa anderthalb Stunden von hier, seien auf einmal die Bauern hinter ihm her gerannt, hätten ihn ergriffen, ihm vorgeworfen, er habe, mit noch zwei Anderen, im Dorfe gestohlen, und ihn zu dem nächsten Amtsgerichte gebracht, das ihn hieher habe transportiren lassen.

Vor Ankunft der Acten über den Thatbestand war nicht weiter mit ihm zu verhandeln. Der Criminalrath hatte gleichwohl noch ein paar Fragen an ihn.

»Seit wann er sich hier in der Gegend aufhalte?«

»Seit gestern,« war die Antwort.

»Ob er schon früher hier gewesen sei?«

»Noch niemals.«

»Ob er nicht schon einmal auf dem Weißenstein gewesen sei?«

Der Sekretär horchte auf bei der Frage.

Der Gefangene wurde sichtlich verlegen.

»Nein,« sagte er zögernd.

Das verlegene Zögern, die Verwirrung des Menschen im Blick, im Ton der Stimme, im Niederschlagen der Augen machte für den Inquirenten wie für den erfahrenen Sekretär das Nein zu einem Ja.

Der Sekretär sah den Criminalrath verwundert an.

»Weiß der neue Chef denn mehr von hier, als wir?«

Der Criminalrath fand es gerathen, nicht weiter zu fragen. Er brach das Verhör ab und ließ den Gefangenen vorläufig in ein Vorzimmer führen.

Er mußte mit sich überlegen.

Es war ihm durch die paar Fragen, eigentlich blos durch die letzte, Mancherlei klar geworden.

Der Gerichtsdiener Braun hatte ihn nicht belogen.

Braun hatte mit der vollen Wahrheit zurückgehalten, mit Rücksicht auf die Nichte Hartmann's, die schöne Laura, und er hatte einen Grund dafür nur darin haben können, daß er schon jetzt an irgend eine intime Beziehung zwischen dem Criminalrath und der schönen Mamsell glaubte.

Andererseits mußte die Anwesenheit des Verhafteten auf dem Weißenstein in der vergangenen Nacht eine Beziehung zu der Mamsell Laura haben.

Endlich war klar, daß Braun von seinem Geheimnisse dem Sekretär noch nichts mitgetheilt hatte.

Dagegen waren dem Criminalrath folgende Momente unklar:

Was hatte dem Gerichtsdiener Braun ein Recht gegeben, schon gleich am ersten Tage seines, des Criminalrathes, Hiersein, jenes intime Verhältniß zwischen ihm und Laura zu argwöhnen? Blos das Lauschen vorhin an der Hausthür? Oder auch ein ähnliches Verhältniß schon zwischen Laura und dem Herrn von Detting? Oder war die schöne Mamsell etwas noch Schlimmeres, als eine bloße arge Kokette, und das schon bekannt?

Endlich, war Braun doch ein ehrlicher Mensch?

»Herr Sekretär,« sagte der Criminalrath zu dem alten Herrn, »ist der Gerichtsdiener Braun schon lange auf dem Weißenstein?«

»Seit etwa einem Jahre, Herr Criminalrath.«

»Ist er ein brauchbarer Beamter?«

»Ein außerordentlich brauchbarer.«

»Auch ein zuverlässiger?«

»Auch das, Herr Criminalrath.«

»Kennen Sie keinen Fehler an ihm?«

»Hm, er macht gern den Ankläger.«

»Durch falsche oder wahre Angaben?«

»Auf Unwahrheiten hat ihn wohl noch Keiner ertappt. Aber –«

»Aber, Herr Sekretär?« »Das Angeben liebt nicht Jedermann«

»Warum setzen Sie das hinzu?«

»Ihr Herr Amtsvorgänger zum Beispiel war deshalb dem Braun nicht gewogen.«

»Nur deshalb nicht?«

»Ich wüßte keinen anderen Grund.«

»Hm, Herr Sekretär, dürfen Sie mir sagen, was den Herrn von Detting bewog, so dringend seine Versetzung von hier zu beantragen?«

»Der Herr von Detting, Herr Criminalrath, war vor Allem ein sehr braver Mann, und dann ein eben so ausgezeichneter Beamter. Aber er war oder er kam mir immer vor, wie ein verhätscheltes und dadurch verwöhntes adeliges Söhnchen, und ich sah ihm schon in den ersten acht Tagen an, daß er es auf dem Weißenstein nicht lange aushalten könne.«

»So hätte er etwas besonders Unangenehmes hier nicht gehabt?« sagte der Criminalrath.

»Ich wüßte nicht«

»Noch Eins, Herr Sekretär, erzählt man sich nicht allerlei geheimnißvolle und unheimliche Dinge von den unterirdischen Gefängnissen des Weißensteins?«

Das Gesicht des alten Sekretärs wurde zuerst ernst, dann lachte er.

»Weil es eben unterirdische Gefängnisse sind, Herr Criminalrath, und weil hier in alten Zeiten ein Nonnenkloster war! Wie könnte es da anders sein? Da muß es ja für die Leute vermauerte Nonnen, Kettengerassel, mitternächtliches Weinen und Jammern und dergleichen geben. Aber nur Gefangene haben es gehört, wenn sie fort waren, besonders alte Diebinnen, die hier saßen. Ich bin seit fünfundzwanzig Jahren hier und war bei Tag und bei Nacht oft da unten; aber niemals ist mir das geringste Verwunderliche passirt, und auch der alte Hartmann, der noch länger hier ist, als ich – doch –«

Der Sekretär brach ab.

Der Criminalrath sah ihn fragend an.

»Doch mit dem mag es seit einiger Zeit anders sein. Er hat da jetzt das junge Frauenzimmer bei sich – seine Nichte heißt es –«

Er brach wieder ab.

»Mit ihr wäre es etwas Besonderes?« sagte der Criminalrath.

Der Andere nickte stumm mit dem Kopfe. Dann sprach er fast hastig, als wenn es nothwendig aus ihm heraus müsse:

»Seine Nichte ist sie wenigstens nicht. Er hat eine Nichte, aber die muß älter sein und – … Aber was geht es mich an? Und es kann ja auch gleichgültig sein. Der alte Hartmann ist der ehrlichste Mensch und der treueste Beamte; treu wie Gold, Herr Criminalrath. Auf den Mann können Sie sich ganz verlassen.«

Der alte Sekretär sprach das eifrig, und Alles an ihm zeigte, daß er selbst zu den alten, treuen und zuverlässigen Beamten gehöre.

Er schwieg, und der Criminalrath durfte ihn nicht mehr fragen, namentlich nach der angeblichen Nichte des alten Hartmann nicht; er hätte dadurch ein Interesse für sie an den Tag gelegt, das ihn nothwendig hätte compromittiren müssen.

Der Sekretär ging. Das Geschäft, zu dem der Criminalrath ihn hatte rufen lassen, war zu Ende.

Der Gerichtsdiener Braun trat wieder ein, seinen Dienst zu versehen. Der Criminalrath hatte die Unterschrifts- und die neu eingegangenen Postsachen zu erledigen; der Diener hatte dabei allerlei Handreichungen.

Als der Criminalrath fertig war, hatte er etwas Anderes.

»Herr Criminalrath, es war doch wohl amtlich, was ich Ihnen mitzutheilen hatte.«

»Gut,« sagte der Criminalrath, »so bitten Sie den Herrn Sekretär wieder her.«

»Ich möchte es dem Herrn Criminalrath allein sagen.«

»Amtliche Mittheilungen müssen zu Protokoll genommen werden.«

Der Mann kämpfte einen Augenblick mit sich; dann ging er.

Der Criminalrath hielt ihn nicht auf. Er hatte den Angeber abgefertigt; mehr durfte er nicht mit ihm zu thun haben; wenigstens jetzt nicht. Aber was nun im Uebrigen weiter? Er war unzufrieden, mit Allem, am meisten mit sich. Oder mit der Mamsell Laura? Er war hier von vornherein in eine unangenehme, für den Vorgesetzten schiefe Lage gerathen, und sie trug die Schuld.

Sie? Trug er sie nicht selbst? Warum hatte er sich mit ihr eingelassen? Mit der Kokette! Und jetzt war sie sogar eine zweifelhafte Person! Der alte ehrliche Sekretär hatte zu ihrem Nichtenthum den Kopf geschüttelt.

»Ich will nichts mehr mit ihr zu thun haben!«

Zum Arbeiten hatte er in dieser Stimmung keine Lust; dringende Arbeiten lagen nicht vor. Er verließ das Bureau. Er ging in seine Wohnung, in sein Wohnzimmer.

»Ich muß Emilien Nachricht von mir geben!«

Er wollte sich zum Schreiben hinsetzen.

Da öffnete sich die Thür.

Mamsell Laura brachte ihm seinen Kaffee.

Er hatte ihn vergessen.

»Der Herr Criminalrath haben lange auf sich warten lassen.«

Er antwortete ihr nicht.

»Und ich saß während der ganzen Zeit in Angst,« fuhr sie fort.

Er wollte wieder schweigen; nicht einmal das Wörtchen: »Warum?« sollte über seine Lippen.

Aber er hatte doch aufblicken müssen, und da sah er die schöne Gestalt, das feine Gesicht, die hellen Augen, und durch die feinen Züge zog sich eine zitternde Unruhe, und in den klaren Augen spiegelte sich eine innere Angst.

»Warum?« sagte er.

Und sie antwortete auf das Warum?

»Ich fürchtete, die alte Christine hätte Ihnen den Kaffee auf das Bureau bringen müssen.«

Sie machte dabei ihren reizendsten Knix.

Er konnte doch wieder schweigen.

Aber zu ihr aufblicken mußte er dann noch einmal.

Warum sie nicht gehe? Sie hatte das Kaffeegeschirr auf den Tisch gesetzt. Sie hatte im Zimmer nichts mehr zu thun. Warum blieb sie noch?

Er sah sie bleich.

»Ihre Gesichtsfarbe hat sie in ihrer Gewalt,« sagte er sich.

Er sah ein paar Thränen an den Wimpern ihrer Augen, an jedem Auge nur eine. Aber er war, wenn auch ein junger, doch ein beobachtender und daher schon erfahrener Inquirent.

»Thränen?« fuhr es ihm durch das Herz. »Thränen kann die Verstellung sich nicht schaffen, auch die Koketterie nicht! Die kommen aus dem Herzen. Sie ist Unglücklich.«

»Was fehlt Ihnen?« fragte er.

»Nichts!« antwortete sie trotzig.

Aber, indem sie das Wort sprach, rannen die Thränen, die an den Wimpern gehangen hatten, ihr über die Wangen, und ein ganzer, heftiger Strom folgte.

»Sie sind unglücklich!« rief er.

»Ja!« sagte sie, und sie warf noch trotziger die Lippen auf.

Aber in dem Augenblicke nachher war es, als wenn sie zusammenbreche, und sie fuhr unter Schluchzen fort: »Ja, ich bin unglücklich, und ich kann Ihnen nicht sagen, was es ist. Und doch, und doch! Man hat Ihnen Schlechtes von mir gesagt. Aber ich bin nicht schlecht. Ich bin nur eine Unglückliche. Glauben Sie mir, ich bin nicht schlecht.«

Adalbert Huber war fast ängstlich geworden.

»Ich glaube es Ihnen ja!« sagte er.

»Sehen Sie mir in die Augen!« rief sie.

Er sah ihr in die Augen; er wollte es wohl recht fest und sicher. Aber er mußte seinen Blick doch vor dem ihrigen niederschlagen. Sie blickte ihn so ganz und gar besonders an, so weich und doch so durchbohrend, so schmerzlich und doch so stechend.

»Ah, Sie können mich nicht ansehen!« rief sie.

»Doch, doch!«

Er sah sie wieder an. Er nahm ihre Hand. Sie entriß sie ihm. Sie stürzte fort.

Adalbert Huber stand wie betäubt.

»Was war denn das? Auch Koketterie? Nein, nein! Das war Wahrheit! Das war Unglück! Aber was für eins? Ist sie eine Verbrecherin? Steht sie mit Verbrechern in Verbindung? Mit Verbrechern gar, die hier verhaftet sind?«

Der Gedanke fiel ihm schwer auf die Seele. Er mußte ihn verfolgen.

»Der Gerichtsdiener Braun hatte bestimmt versichert, der heute eingelieferte Gefangene Martin Stiehler sei schon in der vorigen Nacht hier gewesen. Braun denuncirte gern, und er hatte unzweifelhaft die angebliche Nichte des Gefangenwärters denunciren wollen. Aber Braun war ein Mann, der nicht falsch denuncirte, dem man keine Unwahrheit nachsagen konnte. Und hatte die schöne Laura nicht den Schlüssel zu jenem Hinterpförtchen, durch das sie in den Weißenstein einlassen konnte, wen sie wollte? Und hatte er sie nicht selbst hinten an den Gefängnissen gesehen und mißtrauisch sich fragen müssen, was sie dort mache?«

Das Schreiben an die Braut gab der Criminalrath auf. Er rührte nicht einmal den Kaffee an, den die schöne Unglückliche ihm gebracht hatte.



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