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Das Martins-Sömmerlein

Zum zweitenmal schon während des grausamen Weltkrieges zog der Frühling ins Land. Er machte kein besonders liebenswürdiges Gesicht, hielt vielmehr die Bauern zum Narren, welche, durch die Erfahrungen des Vorjahres verlockt, viel Frühkartoffeln gepflanzt hatten, indem er die keimenden Saaten in seinen Regengüssen ersäufte. Heute aber war doch die Sonne Meister, und die Menschen hielten ihr vergnügt den Rücken hin, damit sie den winterlich strapazierten Brustkasten ihnen so recht durchwärme.

Auch Herr Lukas Lindenblatt, der Maler und Dichter, hatte mit seinen beiden Freunden gleich nach dem Mittagessen das Haus zum Paradiesli verlassen, um sich dem Sonnenschein hinzugeben. Er trug die Zigarrenkiste unter den linken Arm geklemmt und in jeder Hand einen Stuhl. Krantzelmann, der Zeitungs­schreiber, schleppte einen geflochtenen Lehnstuhl hinterher, und der phantasiereiche Radierer Speck hatte sich einen Tisch auf den Kopf geladen, so daß er zugleich in der Rechten noch eine Flasche Kirsch und in der Linken drei Schnapsgläslein tragen konnte. So zogen die drei durch die Allee in ein nischenartiges Gartenhäuschen, das, gegen 308 Süden offen, die Sonnenstrahlen wie in eine Kelle auffing. Speck ließ sich auf den roten Backsteinplatten in die Knie nieder und kroch unter dem Tisch hervor. Die andern rückten die Stühle zurecht. «Hier ist gut sein,» sagte mit behaglichem Ächzen der Redakteur. Blaue Wölklein von sich blasend, ließen die drei Freunde ihre Blicke in die Allee zurückschweifen, deren Äste noch kahl waren, so daß ihre Schatten ein scharf umrissenes Netz auf den Weg zeichneten. Um die breitspurig aus dem dünnen Rasen aufstrebenden Lindenstämme herum blühten in zierlichen Gruppen die Anemonen. Wo man hinblickte, fühlte man ein Aufatmen, ein Sichauflassen. Und so war es auch den Freunden zumute, insbesondere dem Herrn Lukas Lindenblatt, der einen ganz besonders traurigen Winter hinter sich hatte. Ihm war im Herbst die Gattin gestorben, und er war sich trotz allen Grübelns an den langen einsamen Winterabenden noch jetzt nicht recht klar darüber, was alles er mit seiner Lebensgefährtin zu Grabe getragen hatte. Mit andern Menschen sprach er fast nie davon. Die einen — insbesondere seine leichtlebigen Berufskollegen — waren der Meinung, Lukas sei mit seiner Frau nicht glücklich gewesen; die andern dagegen sagten kurz und bündig, ohne die kluge energische Frau wäre der malende Dichter rettungslos versumpft. Demgemäß glaubten nun auch die Kollegen, für ihren Freund werde erst jetzt die goldene Zeit freien künstlerischen Schaffens anbrechen, während die Verwandten mit Bangen seiner weitern Entwicklung 309 entgegensahen. Und wie die meisten Menschen, hörte Lukas lieber von großen Dingen reden, die ihm die Künstler verhießen, als von drohenden Gefahren. Ja, die Warnung vor diesen Gefahren bewirkte in ihm immer mehr das Gegenteil von Abschreckung. Die Kollegen wußten ihn zu überzeugen, daß diese sogenannten Gefahren gar nichts Schlimmes, sondern gerade das seien, was allein dem Leben Reiz verleihe. Nur aus den abenteuerlichen Erfahrungen ließe sich schöpfen, was Maler und Dichter brauchten, und überdies ließe nur aus wirklichem Erleben sich wahre Lebensweisheit schöpfen.

«Und setzet ihr nicht das Leben ein.
Nie wird euch das Leben gewonnen sein»,

sang jetzt eben der übermütige Speck in die Allee hinaus, an deren anderm Ende Lindenblatts alte Dienstmagd, Eisi, mit dem in der Sonne blinkenden Kaffeegeschirr auftauchte.

Während des Einschenkens stieg in Lukas wieder die Erinnerung an seine Frau auf. Wenn die den Kaffee servierte, so war das ein ganz anderer Vorgang. Mit der Sorgfalt eines Miniaturen­malers schmeichelte sie der Wiener Kaffeemaschine, bis sie zu pfeifen anfing, dann goß sie das dünne glitzernde Brünnlein in die durchsichtigen Schälchen, die man beinahe nicht in die Hand zu nehmen wagte, aus Angst, man zerdrücke sie in Scherben. Und warf man ein gröberes Stücklein Zucker in das braune Naß, so erwartete man nichts 310 anderes, als daß der kleine Zuckerfels das ganze Glüngglein restlos aufsog. Es war alles wie ein Spielzeug, wunderlieblich anzuschauen, aber nur dem genießbar, der keinen kräftigen Lebensdrang im Handgelenk hatte. Jetzt hingegen ließ man den in der Küche gebrauten Kaffee mit grobem Platsch in die Frühstückstassen und warf den Zucker hinein, daß es hoch aufspritzte. Man konnte sich dabei in den Stühlen schaukeln, und wenn einer mit dem Fuß ans Tischbein stieß, daß alles klirrte, so erschrak niemand darob.

Dennoch! Jede Erinnerung an die Zeit der kurzen Ehe machte Lukas still. Die Freunde kannten dieses Verstummen mitten in der Fröhlichkeit. Speck faßte seinen Kollegen beim Arm und sagte: «Trotz allem, Lukas, bist du zu beneiden. Solch ein Gütlein, wo man drin seinen Zielen leben kann, wo man sozusagen den lieben Gott unter den Bäumen lustwandeln sieht, und wo einem kein Mensch drein zu reden hat... oder bist du nicht allein Besitzer?»

«Ja und nein,» antwortete Lukas. «Besitzer bin ich allein; aber das Eigentum teile ich mit Priska, der Schwester meiner Frau.»

«Na ja. Die kommt dir ja nicht in die Quere.»

«Wo ist sie?» fragte Krantzelmann.

«Sie ist Rotkreuzschwester und pflegt in einem Spital zu Lyon Verwundete.»

«Siehst du,» nahm der lustige Speck wiederum das Wort, «da bist du ja ganz allein Herr und Meister. 311 Was willst du mehr? Das Paradiesli verdient seinen Namen.»

Lukas lachte wehmütig. «Mein Martins­sömmerchen», sagte er. «Um Großes auszurichten, reicht es kaum mehr aus.» «Einen Martinssommer sollte man nicht einsam zubringen müssen,» meinte der Redakteur.

«Philister!» höhnte Speck. «Ihr Federfuchser habt gar keinen Begriff vom Künstlerleben. Dem schaffenden Künstler ist die Freiheit alles. In sorgenloser Freiheit liegt die Voraussetzung zum höchsten Schaffen.»

«Oho,» erwiderte Krantzelmann. «Sind nicht viele von den größten Kunstwerken gerade aus Not und Armut heraus geboren?»

«Darüber ließe sich reden,» meinte Speck. «Aber Schaffenslust will Freiheit haben. Und wem die Freiheit erst aufgeht, der soll mir nicht von Martinssommer reden. Frühling wird’s nun für dich, Lukas.»

«Nun wohl,» wandte sich Krantzelmann an den jungen Witwer, «aber warum sollte denn ein kluges Weib der Freiheit im Wege stehen? Siehst du, ein jeglich Stück Erde will eines Weibes Sohlen fühlen. Bleibst du allein, so wird dir dein Garten zur Last. Entweder mußt du ihm deine Zeit und Kraft opfern — und dann kommt deine Kunst zu kurz — oder er verwildert, und das darf in dieser teuren Kriegszeit nicht geschehen. Eine kluge Frau aber verrichtet Wunder. Sie hat in ihren Händen Wachstum und Blüte, Schönheit und Frucht.»

312 So stritten die Freunde noch lange hin und her. Lukas Lindenblatt wurde dabei nicht klüger, sintemal er sich für gescheiter hielt als die beiden Freunde zusammen gerechnet.

Als er abends noch einmal allein durch seinen Garten streifte, riefen ihm die Rosenbäumchen nach: «Du, Lukas, wann kommt sie wieder? Wer schneidet uns zurecht?» Und die Blutbuche flüsterte aus ihren ersten Knospen: «Weißt du noch? Wann hör’ ich wieder unter dem Schatten meiner Zweige den süßen Sang der Liebe?»

Lukas ward weh ums Herz. Er fühlte sich schwach werden. So, gerade so hatte es angefangen. Ein Großer im Reiche der Kunst hatte er werden wollen. Dann war die Liebessehnsucht über ihn hergefallen, hatte ihn in die Arme einer schönen jungen Frau gelegt, und diese weichen Arme waren zu stählernen Ketten geworden, zu Gitterstäben zwischen ihm und der Kunst.

Der Einsame murmelte vor sich hin: «Nie wieder!»

Kaum hatte er das ausgesprochen, so tauchte vor seinem Geistesauge Schwester Priska auf, die Schwägerin, mit der er sein Recht auf den Garten teilte und die vielleicht gar nicht so übel hierher — neben ihn — paßte. Sie war noch schöner als ihre verstorbene Schwester. Sie war aber auch noch energischer, noch klüger. Ihr Antlitz schon verriet es: der dunkle Flaum auf ihrer Oberlippe, die schwarzen Augenbrauen, die sich über der Nasenwurzel berührten. Lukas fühlte plötzlich 313 das Bedürfnis, ihr Bild zu betrachten. Er hatte sie einst gemalt. Träumerisch stieg er in sein Atelier hinauf, machte Licht und betrachtete das Bild lange. Er suchte die auf Brettchen gemalten Skizzen dazu heraus und sann und lebte sich ganz in die Züge hinein. Er fühlte, daß sein Herz an dieser künstlerischen Betrachtung teilzunehmen begann. Seine Blicke glitten von dem Bilde ab und schweiften durch das Fenster in den Garten, über welchem der Mond durch ein wie Perlmutter schimmerndes Heer kleiner Wölklein zu jagen schien. Und die alten Linden streckten ihre Äste in die dunkelblaue Luft, als bäten sie den Himmel um etwas. Baten sie wohl um eine neue Priesterin, aus deren Händen Wachstum und Blühen strömen sollte? — Wartet, ich will euch.

Lukas wandte sich einer Staffelei zu, auf welcher er einen pflügenden Landmann entworfen hatte, ein Bild, aus dem etwas Rechtes werden sollte. Es gefiel ihm. «Jawohl,» sagte er leise vor sich hin. «Ein Neues pflügen will ich, und frei bleiben für meinen hohen Beruf.» Auf einmal aber hatte er wieder das Bild der Priska vor sich. Nun griff er nach einer der Skizzen, nach Pinsel und Palette und malte der Priska eine Kranken­pflegerinnen­haube auf, legte einen durchsichtigen Schatten auf ihre Stirn, tupfte ein rotes Kreuzlein ihr aufs Gewand, als wollte er damit sagen: Dort gehörst du hin, das bist du. Viele hundert Meilen liegen zwischen uns. Und die Tracht saß ihr vortrefflich. 314 Die weiße Haube machte die dunklen Augen, die starken Brauen noch lebendiger. Die Schwester schien zu reden. Ein großer, heiliger Wille lag auf den regelmäßigen Zügen, eine kraftvolle Liebe.

Lukas wandte sich ab, betrachtete von neuem seinen kühn hingeworfenen Pflüger. Plötzlich schritt er hinaus, die Treppe hinunter, in den Garten. Ein paarmal ging er, die Hände in den Taschen, gesenkten Hauptes die Allee auf und nieder. Dort oben mahnte ihn das erleuchtete Fenster des Ateliers an seine Pläne, an seine künstlerischen Pflichten. Und ringsherum flüsterte verlangend sein Garten. Aber des Malers Entschluß war gefaßt. «Und du solltest mir zur Last werden?» sagte er zu seinem Garten. «Ich will schon zeigen, wer hier Meister ist. Jawohl, Früchte sollst du tragen. Jetzt, wo die Not an des Vaterlandes Schild pocht, sollst du Frucht schaffen. Für Lust und eitle Zier gibt es keinen Raum mehr. Und durch meine Kunst werde ich mit gewaltiger Stimme zum Volke reden.» Er schritt zu der schönen Blutbuche und schnitt das Datum des Tages in ihre Rinde. «Dir, dem Zeugen meines einstigen Glückes und meiner Verirrung,» sagte er leise und feierlich, «schwöre ich es, daß mein Leben fortan der Kunst gehören soll und allein meiner Kunst.»

Als Lukas Lindenblatt am andern Morgen sich ankleidete, kam er unwillkürlich wieder mit seinem Garten ins Zwiegespräch, denn der Frühling saß im Gezweige vor den Fenstern, und weil denn nun zur großen 315 Lebenskantate der Vögel alle hunderttausend Knospen von Auferstehen wisperten, so mochte der Maler gegen die aufquellenden Erinnerungen sich wehren und sträuben, immer und überall klang es wie: «Weißt du noch? Weißt du noch?»

«Warte nur!» antwortete er, sich zur Härte zwingend. «Ich will dich schon zum Schweigen bringen. — Du sollst erfahren, daß eiserne Zeit und daß auch dein Meister von Eisen ist. — Es soll niemand sagen können, daß der Idealist Lukas Lindenblatt sich nicht auf Ökonomie verstehe. Er braucht sich gar nicht unter ein Ehejoch zu beugen, um Frucht aus seinem Erdreich zu locken.»

Unternehmungslust leuchtete ihm aus den Augen, während er am Frühstückstisch Adreßbuch und Telephon­verzeichnis studierte. Eisi, die alte, erfahrene, auf dem Lande aufgewachsene Köchin, welche zu dem Garten das reinste Liebesverhältnis hatte, wurde wohlweislich nicht um Rat gefragt. Aber Adreßbuch und Telephon­verzeichnis vermochten den Maler auch nicht zu befriedigen. Er hielt es für richtiger, sich an einen alten vertrauten Praktikus zu halten. Und so lief Lukas gleich nach dem Frühstück zu Christeli Zaugg, dem Chummerz’hülf des ganzen Vorstadt­quartiers, der zahllose Gärtlein besorgte, Pudel schor, Katzen tötete (das Stück für 10 Rappen), Gummibälle aus den Dachrinnen herunterholte und sonst allerhand tat, was die Stadtleute nicht selbst über sich brachten.

316 «Christeli,» fragte Lukas, «weißt du mir niemanden, der meine Linden stumpen würde?»

Christeli Zaugg, der seinen grauen Kopf immer wie schief vor den Buckel geschraubt trug, blinzelte den Maler aus seinen tiefliegenden, von zahllosen Runzeln umgebenen Äuglein an, als müßte er erst eine Weile nachdenken, trotzdem er sogleich mit sich im reinen war, wie er die Situation ausnützen könnte. «Das ist eine böse Arbeit,» sagte er und kraute sich hinter den Ohren, «aber ich will mich umsehen.»

Noch am gleichen Tage gegen Abend erschien er mit einem schnauzbärtigen und blatternarbigen Mann aus den hintern Gassen im Garten des Paradiesli. Das sei einer, der sich auf die höchsten Bäume getraue. Es war in der Tat einer jener Menschen, die, ohne es einzugestehen, immer ein wenig auf einen Unfall spekulieren. Der Baumstumper hatte das von seinem Dienst in der Fremdenlegion her, wo ein Aufenthalt im Lazarett die einzige Gelegenheit zu ein paar erträglichen Tagen und die völlige Invalidität Aussicht auf eine lebenslängliche Rente bietet.

Sie gingen zu dreien die Allee auf und nieder, blieben bei jedem Baum ein Weilchen stehen und hielten Rat. Der Stumper und Christeli sagten kehrum: «Ja, ja, das gibt eine wüste Arbeit, und gefährlich ist sie dazu.» Wenn aber Lukas Lindenblatt schwankend wurde und sagte: «Ich weiß doch nicht, ob wir’s nicht besser bleiben lassen,» so beteuerten die beiden andern: «Ja 317 schaut, Herr, gemacht werden sollte es doch. Die Äste sind mürbe, manche ganz faul, und gäb’s lang geht, könntet Ihr argen Verdruß erleben.»

Schließlich wurde man einig, die Bäume stumpen zu lassen. Zehn Franken Taglohn mußte der Maler dem Stumper versprechen und sich dazu noch sagen lassen, das sei dann herzwenig für eine Arbeit, bei der man sein Leben aufs Spiel setze. Aber abgemacht war’s. Am andern Morgen früh sollte begonnen werden. Lukas besprach dann mit Christeli Zaugg und der Köchin noch die Umwandlung seines Lustgartens in einen Gemüseplatz. Das war jetzt einmal an der Tagesordnung, und Herr Lindenblatt wollte den Leuten schon zeigen, ob er der unpraktische Mensch sei, als der er verschrieen wurde. Längs der ganzen Allee sollten Kartoffeln gepflanzt werden, und aus dem Croquetrasen vor dem Hause sollten Kohl und Rüben mit Bohnen und Salat wetteifern. Man erklärte dem Maler-Dichter, vorerst müßte der Rasen geschält werden, dann würde der Mist eingezettet und «ungere» gemacht, entweder mit dem Pflug oder von Hand im Rigolen.

Auf diesen entschlußreichen Tag folgte eine Nacht voll schwerer Träume. Lukas rigolete in seinem Bett herum, daß Gott erbarm, zettete sein ganzes Bettzeug mit allem, was auf dem Nachttischlein gestanden hatte, ins Zimmer hinaus, hörte Äste krachen, sah einen Mann mit zerschmetterten Gliedern in der Allee liegen und mußte immer wieder Bohnen ablesen, wo keine zu 318 finden waren. Kurz, es war eine schreckliche Nacht, und noch nie in seinem Leben hatte der gute Lindenblatt den ersten Morgenstrahl so freudig begrüßt wie jetzt.

Potztausend! Es war schon ein Viertel nach 7 Uhr. Mit einem gewaltigen Satz verließ der glückliche Besitzer des Paradiesli den nächtlichen «Plätz» und eilte ans Fenster, zu sehen, ob nicht vielleicht schon der Stumper in seinem Blute liege. — Aber gänzlich unbehelligt trieben die Vögel mit jubilierendem Gepiepse ihr lustiges Spiel, und kein Zweiglein dachte ans Knacken. Ja nun, sagte sich Lukas, man ist’s ja gewöhnt, daß die Leute nicht so exakt antreten. Nach vollendeter Toilette setzte sich Herr Lindenblatt ans Frühstück. Als er damit fertig war, fragte er die Köchin, ob der Stumper noch nicht gekommen sei. Sie habe nichts gemerkt, sagte sie. So konnte man ruhig noch die Schlachtberichte von der englischen, belgischen, französischen, russischen, rumänischen, serbischen, mazedonischen, türkischen, montenegrinischen und italienischen Front durchlesen und die Kriegsdrohungen des Amerikaners genießen. Das alles war erledigt. Es ging gegen 9 Uhr.

Ungeduldig lief Herr Lindenblatt ein paarmal die Allee auf und nieder. Fast reute es ihn, daß er den Auftrag zu ihrer Verstümmelung gegeben. Aber nun war einmal die Sache im Gang. Da war’s schon besser, alles gehörig und umsichtig durchzuführen. Er hatte sich vorgenommen, für den Stumper eine kurzfristige Unfall­versicherung abzuschließen. Das wollte er nun 319 gleich noch tun, statt mit unnützem Warten seine Zeit zu vergeuden. Aber wie nun, wenn unterdessen endlich der Stumper ankam? Lukas wollte dabei sein. Erstens wollte er ihm wüst sagen wegen des späten Antretens der Arbeit. Bei so teurem Taglohn ließ man sich das nicht gefallen. Und dann mußte auch vorgesorgt werden, daß der Kerl nicht gar zu grob dreinfahre mit dem Beschneiden. Da sich aber noch um 9 Uhr weit und breit kein Baumstumper zeigte, eilte Lukas in die Stadt zum Versicherungs­agenten.

Halb 11 Uhr war’s, als er ins Paradiesli zurückkam und noch alles still und unversehrt fand. Nun denn, dachte er, mir kann’s schließlich einerlei sein, ob der Mensch heute oder morgen kommt, so brauche ich heute doch keinen Taglohn zu bezahlen. Er wollte sich nun endlich an die eigene Arbeit machen, brannte er doch vor Verlangen, seinen «Pflügenden Landmann» zu vollenden. «Aber eine verdammte Geschichte ist es, wie man so seine kostbare Zeit verliert,» brummte Lukas. Eben scharrte er sich vor der Haustüre den Kot von den Schuhen, als etwas Hölzernes hinter der Hausecke hervorkam. Eine Leiter war’s eine lange lange Leiter auf einem Karren, und hinten dran stieß der Stumper mit zwei schrecklichen Panduren. Jetzt erinnerte sich Lukas, diese Leiter mit den drei roten Sternen am Holmen schon gesehen zu haben. Wo doch? — Ach ja, vor dem Restaurant «Frohsinn» lag sie bereits auf dem Karren, als er zum Versicherungs­agenten ging.

320 Der Maler versuchte, dem Stumper das Mösch zu putzen wegen dieser Tröhlerei, verspürte aber gleich, wie schlecht er sich auf Grobheit verstand. Er begegnete einem überlegenen Lächeln und mußte sich belehren lassen, daß der Transport einer solchen Leiter an sich schon ein schweres Tagewerk sei. Und jetzt wäre es nache zum Z’nüüni. — Ob sie es in der Küche nehmen könnten oder ob das Köcheli es ihnen in das Gartenkabinett bringe? «Was Z’nüüni?» fragte Lukas. «Es hat niemand etwas von Z’nüüni gesagt. Mich dünkt, bei einem Taglohn von zehn Franken...»

Abermals erfolgte ein überlegenes Lächeln. Das sei jetzt einmal Brauch, hieß es, und der Herr Lindenblatt werde öppe wohl nicht eine Ausnahme machen wollen, so ein nobler Herr, wo sonst für niemere zu sorgen habe.

«Und übrigens,» begehrte Lukas, dem der Ärger ins Gesicht stieg, auf, «habe ich mit Euch allein abgemacht. Jetzt kommt ihr mir z’dreie höch.»

Da grinsten ihn alle drei mitleidig an. Ob er etwa meine, so ein Untier von Leiter stangi vo-n-ihm sälber uf, oder ob er sich gar eingebildet habe, sie mögen die Äste mit Bäumele vom Boden aus errecke? Es brauche da überhaupt noch mancherlei. Man deutete auf den Wust von Seilen, Ketten, Kloben, Äxten, Sägen, der den Karren füllte.

Wenn man da nicht den Koller kriegte? Lukas brüllte der Köchin zu, sie solle den Leuten ein Glas 321 Wein und Käs und Brot vorsetzen, rannte die Treppe hinauf und warf die Ateliertüre hinter sich ins Schloß. Er sah sich besiegt durch jene ihm bisher unbekannte Macht, in der eigentlich alles schwimmt, ein seltsames, unfaßbares Übereinkommen aller untergeordneten Menschen zur Übervorteilung der Besitzenden. «Ausgeliefert ist man ihnen einfach,» brummte Lukas Lindenblatt, «und das Unerträglichste von allem ist, daß die Leute noch den Eindruck haben müssen, man sei der dümmste Löl auf Erden und merke nicht einmal, wie sie’s treiben.»

Und drunten, in der Küche, wetterte Eisi: «Chäs! Chäs! Sakerhell! Hab’ ich etwa einen Ankenladen, daß er meint, er brauche nur hereinzubrüllen: ‹Chäs›? Kann man einem nicht zu rechter Zeit Bscheid machen?»

Die Stumper-Gesellschaft verzichtete dann großmütig auf den nicht vorhandenen Käse gegen die Bereitstellung eines ausreichenden Quantums Wein.

Grimmig beobachtete der Maler von seinem Atelierfenster aus, wie sie endlich die Leiter in der Allee niederlegten und von Baum zu Baum gingen, in das Geäst hinauf gafften und Rat hielten. Endlich, endlich trafen sie Anstalten, die Leiter aufzustellen, da scholl dumpf, machtvoll und erlösend der Klang der Mittagsglocke vom Münsterturm herüber, und mit einer erquickenden Exaktheit, doch ohne jeden beleidigenden Schneid trotteten die drei Eidgenossen von dannen. Die Vögelein aber wiegten sich lustig piepsend auf den Lindenzweigen vor dem Atelierfenster.

322 Das waren aber auch für lange Zeit die letzten fröhlichen Töne aus der alten Lindenallee, denn am Nachmittag hub der Greuel der Verwüstung an. Zu seinem großen Erstaunen fand Herr Lukas Lindenblatt, als er sich vom Mittagessen erhob, die Leiter aufgerichtet, und einer der Panduren sägte wie toll an einem mannsdicken Ast. Mit langen Schritten eilte der Maler hinaus. So weit herunter hätte man die Äste nicht zu nehmen gebraucht, bemerkte er gereizt zu den beiden, die unten auf das Krachen warteten. Wieder begegnete er dem verdammten überlegenen Lächeln, das ungefähr zu sagen schien: «Davon verstehst du nichts. Sei du froh, daß du dir so mühelos das Fell über die Ohren darfst ziehen lassen.»

Über die Leiter hinaus könne niemand, belehrte man ihn. Ob er denn nicht sehe: wenn der Stumper noch einen Seigel höher stiege, so könnte es ihn überländte. Darauf werde es wohl der Herr nicht ankommen lassen.

Verzweifelnd lief Lukas davon. Er rannte in sein Atelier hinauf, ließ die Storren herunter, um nicht zuschauen zu müssen. Aber das Krachen der stürzenden Äste drang durch alles hindurch an seine Ohren. Und hinter den Storren konnte er ja überhaupt auch nicht malen. So entschloß er sich, seine Malgeräte zusammen­zuraffen und auf einige Tage nach Locarno zu fahren. Mit dem ersten Frühzug wollte er verreisen, noch bevor er die gräßlichen Stumper wieder zu Gesicht bekam. 323 Es war wieder eine entsetzliche Nacht. Einmal fuhr er jäh aus dem leichten Schlummer. Beschwören konnte er’s, daß er die Stimme seiner seligen Frau vernommen: «Lukas, Lukas, was geschieht mit meinen Bäumen?»

Diese Stimme blieb ihm in den Ohren, selbst während der Eisenbahnzug mit einem höllischen Getöse durch den Gotthardtunnel fuhr. Weder das Rauschen der Maggia noch das liebliche Säuseln der Mimosen und Palmen vermochte die Erinnerung an das Kreischen der Stumpersäge zu hetäuben. Lukas trank eine ganze Flasche schwarzroten Chianti, um die unangenehmen Gefühle darin zu ertränken, und jetzt schien es, als wollte es ihm gelingen. Er vergaß auf einige Stunden überhaupt Hören und Sehen. Als ihm die Sinne wiederkehrten, kam ihm sehr deutlich zum Bewußtsein, daß er nebst den Malgerätschaften auch seinen leiblichen Kopf mitgebracht hatte. Doch folgte dem Katzenjammer ein gewisses Erholungsgefühl, und beinah war ihm gegen Abend wieder recht wohl und behaglich. Er setzte sich nach dem Abendessen in die Halle des Hotels, steckte sich eine Brissago an und begann Zeitungen zu lesen. Er vergaß sich so weit, daß er sogar eine Berner Zeitung durchblätterte. O daß er es unterlassen hätte! Da stand unter «Lokales» zu lesen: «Vandalismus. (Eingesandt.) Wer unter unsern Mitbürgern erinnert sich nicht der prachtvollen Lindenallee des sog. Paradiesli-Gutes, welche dem Leierfeld­quartier zur herrlichsten Zierde gereichte! Sie ist nicht mehr. Ausgerechnet 324 in der Zeit des kräftigsten Triebes hat der gegenwärtige Besitzer des Gutes die kerngesunden Bäume in einer Weise ‹stumpen› lassen, wie es seit Menschengedenken nicht gesehen worden ist. Es kann kein Zweifel darüber walten, daß hier ein schlimmer Fall von Kriegspsychose vorliegt. Hoffentlich werden unsere Behörden Maßnahmen ergreifen, um weiteren derartigen Vandalen­streichen vorzubeugen.»

Lukas hätte vor Wut aufschreien mögen. Am liebsten hätte er sich wie der blinde Simson zwischen die Säulen der Halle gestellt und das Hotel über sich in einen Trümmerhaufen gerissen. Da er aber bei seinem notorischen Pech sicher als einziger mit dem Leben davongekommen wäre, begnügte er sich damit, seine Brissago in kleine Stücklein zu zerknittern. — Was sollte Lukas tun? In Locarno bleiben, bis alles ein wenig vergessen war? Das wäre ihn teuer zu stehen gekommen. Nein, er mußte heim. Er wollte sich überzeugen, ob es wirklich so schlimm ausgefallen sei. Der Zeitungsartikel konnte ja von irgendeinem mißgünstigen dummen Kerl herrühren. Auf der Heimreise rechnete sich Lukas vor, welchen Wert das gewonnene Holz für ihn hatte, und diese Berechnung brachte ihn zur Überzeugung, daß er sich seiner Tat gar nicht zu schämen habe. Im Gegenteil, man werde bei aller Schimpferei mit Ingrimm zugestehen müssen, daß er eben doch ein ganz geriebener Haushalter sei. Er war sozusagen in zwei Menschen zerfallen, als er abends spät den Berner Bahnhof verließ: 325 der eine, mit dem Malgeräte unterm Arm, wollte sich wie ein Dieb den Häusern entlang heimschleichen, der andere drängte mit erhobener Nase nach der Mitte der Straße, wo die Leute gehen, die sich gerne sehen lassen.

Als er aber durch die Gartenpforte des Paradieslis trat, fürchteten sich alle beide, der Maler und der gescheite Haushalter, vor den Bäumen. Hilf Gott! — Hatte er’s geschrien oder schrien’s die Bäume, die ihre handlosen Arme gen Himmel streckten? Lukas war, als müßte er die erste Linde umarmen und mit der Bitte um Vergebung sein tränendes Angesicht an ihre bemooste Rinde drücken. Der Artikelschreiber hatte recht. Ein Vandalenstreich war’s. Eine Flut von Verwünschungen über die Stumper quoll aus des Malers Herzen. Als ihn aber die Lust anwandelte, gleich wieder zu verreisen, um den stummen Anklägern zu entgehen, deren helleuchtende Wunden seine Schuld weit in die Gegend hinausschrien, erhob auch der Haushalter in Lukas die Stimme und sagte: «Bitte, Herr Lindenblatt, keine Gefühlsduselei. Messen Sie erst nach, wieviel Kubikmeter Lindenholz Sie nun auf Lager haben.»

Am folgenden Morgen, noch bevor Eisi wußte, daß der Herr wieder da sei, ging Lukas ins Holzhaus. Da war ein schäbig Häuflein Küchenholz, sonst nichts. Sie mochten aber die Äste draußen aufgeschichtet haben. Von den faulen Kerls war ja nicht zu erwarten, daß sie das Holz gleich klein gemacht hatten. In der Allee lag alles voll Splitter, Sägespäne und Rinde, aber 326 nirgends ein größerer Ast. An einer Stelle war der Staketenzaun eingedrückt, und — da hörte nun aber alles auf — das Dach des Gartenhäuschens war buchstäblich entzwei­geschlagen.

Nun wurde Eisi zur Rede gestellt. Sie wußte nicht zu erklären, wie das mit dem Gartenhäuschen geschehen sei. Aber das möchte sie dann doch gesagt haben: Wenn Herr Lindenblatt sie je wieder im Stich lasse mit solchen Uflät, dann sei sie zum längsten Köchin bei ihm gewesen. Es sei nur ein Wunder, daß nicht noch viel Schlimmeres geschehen sei.

«Und das Holz?»

«Welches Holz?»

«He, das heruntergehauene.»

«Dem könnte er nacheluege,» sagte Eisi. Es hätte die Männer geheißen, es schön an einen Haufen legen. Da hätten sie ihr noch das wüest Muul aghänkt und gesagt: «Allwäg legen wir’s an einen Haufen und aufladen tun wir’s auch, da gmüejet Euch nur nicht drum.» Und stübis und rübis hätten sie damit aufgeräumt.

Als Lukas nach Worten suchte, um seinem Zorn Luft zu machen, begann Eisi mit ihm zu schelten, warum er davongelaufen sei, ohne mit den Mannen etwas abgemacht zu haben. Das sei keine Art. Überhaupt hölfe sie wieder heiraten. Ohne Frau sei es keine Lebtig hier. Lukas machte rechtsumkehrt und schmetterte die Küchentüre zu, daß es klirrte. Eisi tat sie wieder auf und rief: «Herr Lindenblatt! — Herr Lindenblatt!»

327 «Was?»

«Da ist die Rechnung für die Stumperei.» Auf einem schief linierten Papierböglein stand zu lesen: «Für daß Beschneiden von zwölf Lindenbäum fünf Tag drei Mann 150 Fr. Miethe für Leitere, Karren und Werkzeüg 12 Fr. Sagiblatt zerbrochen 2 Fr. Dotal 164 Fr. ohne Drinkgelt.»

Lukas Lindenblatt überlegte sich allen Ernstes, ob er nicht die Sache einem Fürsprech anvertrauen sollte; aber er hatte nun Stumpens genug, ging hin und warf Eisi das Geld — «ohne Drinkgelt» — auf den Küchentisch, sie solle ihm die Bande vom Leibe halten.

Zu seinem Erstaunen brachte die Köchin abends die quittierte Rechnung mit vierzehn Franken zurück.

Was das sei mit diesem Geld, fragte Herr Lindenblatt.

«He, was sie zuviel geheischen haben,» erklärte Eisi. «Denen habe ich gesagt, was Gattigs. Mit dem Richter habe ich ihnen gedröit und ihnen den Marsch gemacht, daß sie gottefroh waren über den Rest. Das wegem Karren und der Leiter und dem Sagiblatt hat er mir dürtun müssen. Jawolle. Ihr seid viel zu gut mit solchem Volk, Herr Lindenblatt. Ich kann nicht zusehen, wie sie Euch überlisten.»

«So behaltet jetzt die ermärteten vierzehn Franken, Eisi, die gehören Euch.»

«Nüt isch. Das Geld gehört nicht mir. Das wäre mir eine kurlige Hushaltig.» Und draußen war die Alte.

328 Lukas ließ sich in einen Lehnstuhl fallen. Er war tief gerührt. Natürlich. Aber... die Lehre, die in Eisis Handeln lag, wagte er nicht in Worte zu kleiden. Sie hätte ungefähr lauten müssen: «Herr Lindenblatt, ich hölfe wieder heiraten.»

Neben dem angefangenen Bild mit dem pflügenden Landmann guckte aus dem Halbdunkel des Ateliers das Bildnis der Schwester Priska hervor. Es war schön. Aber in Wirklichkeit hatte sie zusammen­gewachsene Augenbrauen und ein ganz feines niedliches — Schnurrbärtchen.

Lukas drehte das Bildnis um, und es gelang ihm im Laufe der nächsten Tage wirklich, seine Gedanken auf den «Pflügenden Landmann» zu konzentrieren, den er auf die Herbstausstellung zu bringen gedachte. Das tiefe Behagen künstlerischen Schaffens begann seine Seele zu erfüllen, und der Maler schwur seiner hohen Lebensaufgabe wiederum Treue.

Da stand eines Morgens Christeli Zaugg wieder vor der Haustüre und wollte wissen, wie es sich nun mit der geplanten Gemüsepflanzung verhielte. Wenn was Rechtes daraus werden sollte, so wäre es jetzt an der Zeit zu schälen, meinte er. Eigentlich wünschte ihn Lukas mitsamt dem ganzen Gemüsebau ins Pfefferland, aber nun regte sich in ihm wieder der Ökonom, der nach einer Gelegenheit verlangte, seine Niederlage in der Allee auszuwetzen. Nein, Herr Lindenblatt durfte in den Augen der Nachbarschaft und seiner Freunde 329 nicht der Gimpel bleiben, als der er sich im Holzhandel ausgewiesen.

«Ja bedenkt, Herr Lindenblatt,» mahnte Eisi, «daß ein Plätz gepflegt sein will. Von ihm selber errünnt das Gköch nicht. Und Mist muß sein und Bschütti.»

Lukas ward ärgerlich ob dem Dreinreden. «Das kommt mir auch in Sinn,» brummte er.

«Und das kostet Geld,» fuhr Eisi fort.

«Einmal Ihr bezahlt es nicht,» wies Lukas seinen alten Hausminister zurecht.

Es wurde ausgemacht, Christeli solle zunächst einmal den Croquetplatz von Hand schälen. Hernach würde der Plätz mit dem Pflug befahren, wenn man den Kartoffelacker neben der Allee anlegte. Drei Tage lang schwitzte Christeli beim Schälen. Er schimpfte dazu nach Noten: Das werde ein schönes Baggelwesen geben. Nichts als Wurzeln und Grien seien in dem magern Wasen. Unterdessen war ein Bauer vom Liebefeld mit einer Fuhre Mist eingetroffen. Tiefe Geleise hatte der Wagen in die weichen Kieswege geschnitten. Eisi sah dem Treiben mit Mißtrauen zu und begehrte hernach auf. Christeli sollte sich schicken mit Ungeremache, sonst fliege dieses Mistlein im Bysluft davon; es sei ja kaum dicks genug dabei, daß die Strohhalme bösdings ein wenig aneinander­klebten. Bald darauf kam der gleiche Bauer mit einem Pflug angefahren. Man wollte längs der Allee z’Acker fahren für die Kartoffeln; aber wo immer man den Pflug ansetzte, stieß das Eisen auf 330 dicke Wurzeln. Mit allem Hüscht und Hott kam man nicht vom Fleck, und auch das Fluchen änderte nichts an der Sache. Der Bauer erklärte, in diesem Boden gäbe es überhaupt nie rechte Kartoffeln, es wäre schade um Saatgut und Arbeit. Lukas war der Meinung, den Bäumen sei über dem Boden schon Leides genug geschehen, es sei nicht nötig, sie noch an den Wurzeln zu quälen. So schleppte man denn den Pflug auf den einstigen Croquetplatz und schürfte den Mist in den Boden. Daß dabei etliche Rosenstämmchen geknickt, die Pfingstrosen zertrampelt und die Spitzen zweier seltenen kanadischen Coniferen abgefressen wurden, durfte man den Pferden gar nicht übelnehmen. Ein so winziges Äckerlein hatten sie noch nie befahren. — Wenn Lukas gehofft hatte, diese Operation an seinem Lustgarten gäbe ihm eine vorteilhafte Gelegenheit zu Studien für seinen «Pflügenden Landmann», so hatte er sich schwer getäuscht; denn statt des ruhigen Ausdrucks zielbewußter Arbeit trug das Gespann das Wesen eines Hundes im Kegelries zur Schau. — Nun, um so besser war vielleicht der wirtschaftliche Erfolg.

Als in den kommenden Tagen Christeli und Eisi einträchtig bemüht waren, dem Äckerlein ein gattliches Aussehen zu geben, die Furchen zu verebnen, die Erdknollen zu zerschlagen, Beete einzuteilen, Grüblein auszustechen, da gelüstete den Maler, sein Teil an der Arbeit auch zu leisten. Christeli und Eisi unterwiesen den Herrn in den Handgriffen und hatten ihren Spaß dabei. 331 Lukas bereute, daß er solches nicht längst betrieben. Es war ihm, als müßte diese grobe Arbeit, deren Ziel man mit jedem Schritt so schön verfolgen konnte, seine Phantasie zugleich befruchten und bändigen. Dabei hatte er noch das kostbare Gefühl, eine patriotische Tat zu vollbringen, indem er den Nutzertrag des Landes erhöhte.

Freilich ihre Kehrseite hatte die landwirtschaftliche Herrlichkeit auch. Lukas, der nie Militärdienst geleistet und in seinem Leben nicht viel Zeit ans Turnen verschwendet hatte, bezahlte jede Stunde der ihm ungewohnten Arbeit mit einem Tag Kreuzweh, mit Blasen an den Händen und seinen ehrlichen Schweiß, den er im kalten Hausgang verdunsten ließ, mit einem endlosen Schnupfen. Es gab Augenblicke, da er sich in tiefster Stille eingestand: «Lukas, du hättest besser getan, das Gärtnern andern zu überlassen.» Seiner künstlerischen Tätigkeit war die Sache gar nicht förderlich. Bei den gstabeligen Fingern kam ihn die Lust zum Malen nur selten an. Er würde wohl die Erdarbeit aufgegeben haben, wäre nicht ein Gespräch an sein Ohr gedrungen, das Christeli Zaugg eines Tages über den Zaun mit einem Vorübergehenden geführt und dessen Hauptinhalt sich in der spöttischen Bemerkung ausdrückte: «Das gibt teures Gköch.» — Eine bittere Wahrheit, wenn Lukas alles ehrlich zusammenrechnete: Saatgut, Mist, Taglöhne. Um die Hälfte des Geldes, das er bis jetzt für den Spaß ausgelegt, konnte er vom 332 Markt ein ganzes Jahr lang die auserlesensten Gemüse haben. Den Spott von Krantzelmann und Speck hatte er jeden Freitag, wenn sie zum Abendsitz kamen, umsonst.

Es blieb nichts anderes übrig: wenn Lukas nicht sich selbst als zur Bevogtung reif erscheinen wollte, so mußten die Kosten eingeschränkt werden. Das heißt, nach Fertigstellung des Pflanzplätzes mußte er die weitere Besorgung selbst übernehmen. Er entließ Christeli Zaugg und zwang sich zu regelmäßiger Bedienung des Gartens. Jetzt bedauerte er, daß man die Sache so groß angelegt hatte. Was das zu tun gab! Lukas rutschte tagelang auf den Knien herum, und weil er’s satt hatte, sich von Eisi belehren zu lassen, wollte er alles allein machen. Aber wie sollte er nun Kraut und Unkraut unterscheiden? Er schämte sich, das Gartenbuch mit in den Plätz zu nehmen, und rupfte im Vertrauen auf gut Glück reihenweise die zarten Kohl- und Rübentriebe aus. Um so dankbarer schlug das Gejät aus dem teuren Mist aus. Wochenlang goß Lukas mit einer mütterlichen Sorgfalt die mit Ächzen herbeigetragene Jauche auf Placken, die sich statt des Kohls in den Grüblein breit machten. Eisi sagte eines Morgens mit einem eigenartigen Lächeln: «Herr Lindenblatt, ich glaube, wir haben schlechten Samen erwischt.»

Nun, dafür gedieh wenigstens das Kreuzweh. Und gegen den Herbst packte es den Maler auch in den Kniegelenken. Lukas mußte kapitulieren und Eisi das 333 Regiment bedingungslos abtreten. Eisi hatte aber keine Freude dran. Man müsse sich schämen. Ein solches Ghudel dürfe man keinem Menschen zeigen. Der Garten sei keine Anlage mehr und auch kein Gemüsegarten, und dem Gjät möge der Teufel nicht mehr Meister gwerden.

Lukas Lindenblatt war ganz kleinmütig geworden. Glücklicherweise verordnete ihm der Arzt eine Kur in Rheinfelden (das gab nun noch das nötige Salzwasser an das selbstgezogene Gemüse).

Lukas ergab sich gerne. Wenn er nur den Greuel vor dem Hause nicht mehr anzusehen brauchte! Aber erst wollte er noch den «Pflügenden Landmann» vollenden. Er zwang sich zur Arbeit, malte und kratzte aus, verspürte aber viel mehr Gsüchti als Schaffenslust, und eines Tages blieb er mit geschwollenen Kniegelenken im Bett. Eine Woche verstrich, ohne Besserung zu bringen. Da brachte eines Tages Eisi eine Depesche. Was konnte nun das sein? Lukas riß den Umschlag auf und las — der Schlag traf ihn beinahe —: «Komme mit Freuden. Priska.»

«Was soll das?» schnauzte der Maler seine Köchin an. «Eisi, habt Ihr meiner Schwägerin Bescheid gemacht?»

«Ich habe gedacht...»

«Eisi, Ihr seid ein altes Kamel,» brüllte der Maler, «ui ui ai ai.» Seine Knie stachen wie glühende Nadeln.

«Für das Kamel dankheigit, Herr Lindenblatt,» 334 erklärte Eisi gelassen, «aber ich lasse mich nicht mehr brichten. Wenn man nicht zu Euch luegt wie zu einem Kind, Gott weiß, was aus Euch würde. Wenn Ihr etwa meint, ich könne die Haushaltung machen, gartnen und dazu noch die Krankenwärterin spielen, so seid Ihr auf dem lätzen Trom. Jetzt muß etwas gehen. Da habe ich gedacht, statt in Lyon Franzosen zu pflegen, könnte Fräulein Priska...»

«O Eisi, Eisi! Was habt Ihr mir angerichtet!» stöhnte Lukas Lindenblatt und wand sich in seinem Bette.

«Ei, tut doch auch nicht so, Herr Lindenblatt!» schmählte Eisi weiter. «Es wird öppe nicht ans Töde gehen. — Haltet Euch schön still. In einer halben Stunde bringe ich Euch Euer Süpplein.»

Damit verschwand Eisi. Lukas hätte an einem fort aufschreien mögen. — Priska! Wenn die in den Garten kam! Und er wehrlos in seinem Bette! Auf Gnade und Ungnade einer weiblichen Bevogtung ausgeliefert!

Es dauerte lange, bis er sich in diesen Gedanken ergeben konnte. Im spätern Nachmittag schlich er sich aus dem Bett und humpelte unter großen Schmerzen ins Atelier hinüber. Er kehrte Priskas Bildnis wieder um. O, sie war hübsch, unheimlich hübsch, hatte den vornehm guten Ausdruck seiner verstorbenen Frau, aber — eben die viel verheißenden zusammen­gewachsenen Augenbrauen, den energischen Zug um den Mund herum.

Was wird sie sagen, wenn sie die Allee sieht und 335 all die Verwüstung? Heulen wird sie und mir eine entsetzliche Szene aufführen. Das waren die Gedanken, welche Lukas die ganze lange Nacht hindurch quälten.

Am andern Morgen horchte Lukas mit fieberhafter Spannung auf die Hausglocke, auf Schritte im Garten, auf jedes Geräusch, welches die Ankunft seiner Schwägerin ihm melden konnte. Es war eine Qual, und bei diesem unwillkürlichen Aufpassen kam der Kranke gar nicht mehr zu ruhigem Überlegen.

Auf einmal — von der Hausglocke hatte der Maler gar nichts gehört — nahten sich leise Schritte und gedämpfte Stimmen seiner Türe, und im nächsten Augenblick stand Schwester Priska vor seinem Bett. Sie war sehr einfach schwarz gekleidet, ohne besondere Tracht, noch Haube. Schlank war sie, im Gesicht sogar mager und bleich, und ihre Augen blickten, wenn auch freundlich, doch eher etwas traurig.

«Aber Lukas,» sagte sie teilnehmend, «was hast du angestellt?»

«Ach Gott!» antwortete er hastig, «sei mir nicht allzu böse, Priska. Es ist eben alles viel weiter gegangen, als ich’s beabsichtigte. Ich ärgere mich halb zu Tode.»

«Worüber denn?»

«Ei, über die verfluchte Stumperei da draußen und die dumme Plantage auf dem Croquetplatz.»

— Hatte sie denn die ganze Bescherung noch gar nicht wahrgenommen? —

336 Priska trat ans Fenster. Sie schien übernommen und sagte kein Wort. — Was wohl jetzt in ihr vorging? Ob sie ihn der Pietätlosigkeit anklagte? Ja, Lukas lag in Gedanken vor der Erinnerung an seine Frau auf den Knien. Tränen füllten seine Augen. — Sie schwieg immer noch.

«Kannst du mir’s vergeben, Priska?»

«Was denn?»

«Daß ich meinen Bäumen die Hände abgeschnitten habe! Gelt, gräßlich diese Stümpfe!»

Jetzt glitt ein Lächeln über ihre ernsten Züge. Und was für ein Lächeln! So etwas hatte Lukas Lindenblatt noch nie gesehen.

Priska trat dicht an sein Bett heran und strich ihm mit der Hand über das wirre Haar. «Kind,» sagte sie, immer mit diesem hoheitvollen und doch so lieben Lächeln, «über so was zürnt man heute nicht mehr. Wenn man sich an den Anblick zerhauener Menschen gewöhnen mußte...»

Lukas blickte sie erstaunt an. Plötzlich ging ihm ein Licht darüber auf, daß es an der Zeit wäre, seine Blicke über den Zaun seines Paradieslis hinaus, in die weite leidende Welt zu richten.

«Ach ja,» sagte er endlich, «du hast recht. Ich müßte mich über Schlimmeres schämen als über meine Eseleien.» Eine Träne rollte ihm in den Bart, und es dauerte ein Weilchen, bis er zu sagen vermochte: «Priska, es ist zu lieb von dir, daß du zu mir gekommen bist.»

337 «Ich mußte, Lukas. Meine Kraft war zu Ende.» Sie machte sich nun daran, dem Kranken das Bett ordentlich herzurichten. Dabei besprach sie mit ihm, wie sie sich nun einrichten wollten, daß sie nämlich zunächst noch bei einer Freundin wohnen und hernach, wenn Lukas nach Rheinfelden ging, seine Wohnung hüten würde.

Tagsüber pflegte sie ihren Schwager. Den Garten ließ man in Ruhe. Man regte sich nicht einmal heftig auf, als eines Morgens Eisi mit heißem Zorn berichten kam, das Brauchbarste aus dem Plätz sei über Nacht gestohlen worden. Priska unterhielt sich mit Lukas über sein künstlerisches Schaffen, und dieses Interesse belebte seine Schaffenslust derart, daß er den Tag seiner Genesung nicht erwarten konnte. Jetzt erst glaubte er wieder recht an sein Können. Zur Ausstellung freilich konnte der «Pflügende Landmann» nicht mehr gelangen. Aber in seinem Kopf wuchsen die künstlerischen Pläne schöner und üppiger, als je die Kohlköpfe im Plätz drunten es verheißen hatten. Und diese Schosse rupfte nun niemand aus. Im Gegenteil, es war, als gediehen sie in Priskas Nähe erst recht.

Als endlich der Tag nahte, da Lukas Lindenblatt die Reise nach Rheinfelden antreten konnte, sagte er unter heftigem Herzklopfen: «Priska, wenn die Blutbuche stirbt, werde ich frei sein, und dann... wirst du mir dann dein Herz ganz zu eigen geben?»

«Warum dann erst?» fragte sie mit ihrem wunderherrlichen Lächeln.

338 «Weil ich ihr etwas geschworen habe. Frag’ nicht weiter!» Und er verschloß ihr die rosigen Lippen, ungeachtet des zarten Flaum­schnäuzleins, mit einem Kuß.

Abends, als Schwester Priska das Haus verlassen hatte, schlich sich Lukas Lindenblatt mit einem scharfen Messer in den Garten und schnitt der Blutbuche einen Finger breit rings um den Stamm die Rinde ab.

«Was tust du?» jammerte der Baum.

«Gib mich frei! Ein neues Leben — mein wahres Leben will ich anfangen,» sagte der Maler.

Als der Frühling wieder ins Land zog und aus den gestutzten Linden die ersten Triebe zum Licht herausbrachen, führte Lukas Lindenblatt seine Schwägerin unter die dürre Krone der Blutbuche.

«Siehst du,» sagte er, «sie ist tot. Nun bin ich frei — für dich. Willst du mir meinen Garten bauen, den Garten eines fruchtbringenden Lebens?»

«Du frei für mich!» antwortete Priska schalkhaft. «Wenn ich nun aber nicht frei wäre für dich?»

Ein kalter Schreck überrieselte Lukas. Wie festgewurzelt blieb er stehen und richtete angstvoll fragende Blicke auf seine Schwägerin.

«Mein Freund,» fuhr sie fort, «du forderst eines Weibes Liebe, um dem Garten, den du in deiner Torheit verstümmelt hast, Leben und Schönheit zurückzugeben. Wenn nun aber nach dem Herzen dieses nämlichen Weibes Menschen schreien, die für ihr Vaterland sich selbst verstümmeln ließen?»

339 Unverwandt heftete Lukas seinen staunenden Blick auf Priska. Erst lag darin nichts als schmerzliche Enttäuschung; aber je fester sie seinen Blick aushielt, desto mehr verwandelte sich seine Enttäuschung in Bewunderung. Und nachdem er eine Weile umsonst auf ein Lächeln gewartet, das ihn aus der Spannung befreien, ihm sagen würde: Sei getrost, so ernst hab’ ich’s nicht gemeint, ergriff er ihre Hand, küßte sie und sagte: «Ich bin dein nicht wert. Geh’ und schenke deine Liebe den Helden.»

Da sagte Priska: «Jetzt erst bist du frei, Lukas. Und ich bin dein, denn sie wollen im Lazarett keine Fremden mehr. Ich bleibe bei dir und will dir deinen Garten bauen.»

Erlöst zog der Maler seine Braut ans Herz, und Arm in Arm wanderten sie selig durch das Paradiesli, hinein in Lukas Lindenblatts verheißungsvollen Martinssommer.



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