Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wie Christen Räß seine Last los wurde

Langsam fuhr der kleine eidgenössische Postwagen aus dem obern Leimbachmoos gegen Rappendorf hinan. Die beiden einzigen Insassen — der alte Postillon und ein Student — schienen es durchaus nicht eilig zu haben. Der Kutscher wußte, daß er, was jetzt an Zeit verloren ging, auf der Talfahrt vom Hindelrücken zur Eisenbahnstation Nonnenbuchsee reichlich wieder einholen werde. Wohl zwanzigmal des Jahres machte er die Fahrt mit seinem gelehrten jungen Freunde, und kein Fahrgast der ganzen Postroute war ihm lieber als Peter Falb, des Müllers zu Rechenthal ältester Sohn. Und so gern der junge Theologe das Land per pedes apostolorum durchwanderte — wenn es irgend in seinen Reiseplan sich schickte, so setzte er sich zu dem Knappen vom Posthorn auf den gelben Kutschbock. Ja ein Knappe war der schweigsame Graukopf, wenn wenigstens der mittelalterliche Ehrentitel auf einen paßt, der mit Herz und Gewissen der Sache und den Menschen dient, denen er sein Leben geweiht hat. Kein Ordensknappe der Johanniter zu Nonnenbuchsee konnte verläßlicher gewesen sein als Christian Räß, der heute schon seit nahezu 243 zwanzig Jahren die Post täglich an dem alten Kloster vorüber­kutschierte — zweimal hin, zweimal her.

Es war ein wundervoller Herbsttag. Wie ein Saphir wölbte sich der Himmel von einem rotleuchtenden Buchenwald zum andern, und auf den Wiesen des schmalen Tälchens flimmerte es überall wie Silberbrokat. Die beiden waren guter Laune und führten einen seltsamen Disput. Der Student hatte seinem alten Freunde vorgerechnet, wie weit auf der Poststraße für ihn ein Stumpen reiche. «Den ersten rauche ich von der Wangibrücke bis zur Kirche von Rappendorf, der zweite hält, wenn ich ihn auf dem Hindelrücken anstecke, bis zur Station vor.» — «Da brauchtest du manches Päckli rund um die Erde,» meinte der Postillon. «Ich käme mit einem Pfund Tabak von Paris bis Wien.» — «Was?» lachte Peter, «da müßten aber deine eidgenössischen Vollblutjucker anders ausgreifen.»

«Weiß nicht. Der Gottlieb davorn freilich käme mit einem Pfund nicht aus.»

Einen Büchsenschuß weit vor dem Postwagen knarrte ein gewaltiges Mehlfuder bergan. Prächtig funkelte die Sonne an den Messingschnallen der Geschirre und auf den Drachenköpfen der dachsfell­behangenen Kummetscheiter, die sich im Schwertakt mit dem dunklen Geschell auf dampfenden Widerristen hin und her bewegten. Sechszehn wohlbeschlagene Hufe traten mächtig den kreischenden Kies. Gottlieb schritt bedächtig neben dem Wagen, aus dessen Naben die Schmiere blinkend auf 244 die Straße troff. Die Geißel schwang er nicht. Er trug sie eher wie eine Fackel, deren Pechtropfen man nicht auf den Kleidern haben möchte.

Wenn das Viergespann der Rechenthalmühle durch das Land fuhr, reckte sich Halm und Busch, denn das war der Stolz und Triumph der Gegend. Da fuhr die Frucht, das tägliche Brot, der Segen der Dörfer. Wer die gewaltigen, hellblau gestrichenen Wagen und die mit dem Mühlrad und einer Kaiserkrone gezeichneten Säcke kannte — und wer kannte sie nicht! — der sah auch gleich in seiner Erinnerung die achtunggebietende Gestalt des Müllers und noch deutlicher das Güte strahlende Gesicht der Müllerin, von der sie rings herum sagten: Siehe da, eine Mutter in Israel!

Begegnete Christian Räß den Fuhren der Rechenthalmühle, so ward ihm allemal zumute wie einem invaliden Kapitän, der den Bug seines alten Schiffes die Wogen durchschneiden sieht. Die Stelle eines Karrers im Rechenthal gab einem Manne mehr Ansehen als der blankste Zylinderhut, und kein Mensch begriff, warum einer sie verlassen konnte, der dazu nicht gezwungen worden. — Gezwungen? — Ja, können denn nur Menschen zwingen, nur Meistersleute in Fleisch und Blut? — Das eben war die Meinung im denkfaulen Volk, und machte zusammen mit einem tiefen Geheimnis die Last aus, welche Christian Räß zu tragen hatte. Darum auch lag in seinen dunklen Augen jenes wehmütig stimmende Rätsel, das ein wenig an 245 den Blick eines treuen Hundes erinnerte. Unwiderstehlich fühlte sich darum der junge Theologe zu dem Postkutscher hingezogen. Es war ganz gewiß nicht nur das Bewußtsein, in Christian Räß einen Mann vor sich zu haben, der ehedem in wohl dreißigjährigem Dienst der Vertraute des elterlichen und großelterlichen Hauses gewesen. Oft schien es Peter Falb, als ginge gerade ihn das Sehnen im Blick des Alten etwas an, als müßte er dabei sein, wenn es dereinst zum Durchbruch kommen sollte.

Durch das Pferdegeschell schlug von ferne der Viertakt von Dreschern. Das Geklapper kam vom Gsteighüsli her, einem Bauernhof an der Gemeindegrenze von Rappendorf. Ebendort holte der Postwagen die Mehlfuhre ein, mußte aber einen Augenblick halten, um den Briefsack von Rauchwyl auszuwechseln, wohin hier die Straße abzweigte. Peters Blicke hafteten auf seines Vaters Fuhrmann, der, hinter dem Wagen herschreitend, mit den ausruhenden Dreschern ein Wortgeplänkel ausfocht. Dem Studenten kam es vor, als brächen die Leute plötzlich ab, weil sie ihn auf dem Postwagen erblickten. Nur das letzte Wort des einen Dreschers noch hatte er deutlich verstanden. Der hatte Gottlieb nachgerufen: «Kommst aus der Gipsreibe?» Das war ein Spaß, wie ihn mancher Müllersknecht zu hören bekommt, und dem Jüngling hätte er ohne das plötzliche Verstummen nicht den geringsten Eindruck gemacht. Auch Christian Räß hatte den Kopf nach den 246 Dreschern gewendet und aufmerksamer hingehorcht, als es des versonnenen Mannes Gewohnheit war. Er hatte den Bock wieder erstiegen und trieb nun die Pferde an, um den Mühlewagen zu überholen. Mit Gottlieb ward im Vorbeifahren nur ein flüchtiger Gruß getauscht; aber Peter glaubte in des Karrers Augen eine schalkhafte Neugier bemerkt zu haben. Nach einiger Zeit fragte er den Postillon: «Wem hat das wohl gegolten, das von der Gipsreibe?»

Christian Räß schüttelte leicht den Kopf und trieb seine Pferde an. Ohne ein Wort zu verlieren, fuhren sie weiter.

In die braun-rote Farbensinfonie trugen hier die glühenden Blätter der Kirschbäume und das hellgelbe Laubgeflimmer der weißrindigen Birken neue Töne. Die beiden Fahrenden staunten die Herrlichkeit an, aber keiner hätte hernach zu antworten gewußt auf die Frage: Was habt ihr unterhalb Rappendorf Schönes gesehn? Beider Gedanken weilten in der Mühle von Rechenthal, des einen Sinnen tauchte in ferne Vergangenheit, des andern Sorge war kaum geboren.

Jenseits des Dorfes bemerkte der Postillon, daß sein junger Freund ihm das Gesicht zuwandte, als wollte er eine neue Frage an ihn richten. Dem kam er zuvor, indem er unüberlegt sagte: «Trotzdem — es hat nicht jeder solche Eltern wie du, Peter. Dir ist das Los freundlich gefallen. — Schau, so eine Mutter, wie die Müllerin vom Rechenthal, das ist ein seltenes 247 Glück. Man muß das Elend der Verdingkinder erfahren haben, dann erst lernt man solche Menschen schätzen. Ei, wenn ich so dran denke! — In meinem ganzen Leben werde ich’s nicht vergessen, was ich einmal gesehen habe.

Du bist noch gar nicht gewesen. Da haben wir drunten auf dem Leimbachmoos Rüben ausgemacht. Ein Tag war’s wie heute. Auf dem Nachbaracker, ennet dem großen Graben haben die vom Banzenhaus gearbeitet, die Kinder. Sie sollten den Rest ausräumen; aber des Banzenhaus­bauers eigene Kinder hatten das Feuern und Äpfelbraten im Kopf und ließen das Verdingmeitschi allein schaffen. Und wie es nachtete, da war das arme Tröpfli weit und breit allein und war nicht zu Ende gekommen und arbeitete drauflos. Schon bald nichts mehr gesehen hat man, und kalt war’s. Da ist unsre junge Frau, deine Mutter, hinübergegangen und hat dem Meitschi zugesprochen und es heimschicken wollen. Aber mit dem war nichts mehr anzufangen. Laut auf hat es geheult: ‹Ich darf nicht, ich darf nicht› — ‹Das wär’ mir auch!› hat deine Mutter geantwortet. ‹Komm du nur, komm!› Dann hat sie das Kind bei der Hand genommen und ist mit ihm dem Graben entlang hinaufgegangen, Banzenhaus zu. Wir sind alle stehen geblieben und haben den beiden nachgeschaut.

Es war schon finster. Moosabwärts hinter ihnen lag der Nebel dicht und kalt, und vor ihnen blinzten 248 aus dem schwarzen Berg wie feurige Augen die zwei Lichter des verhaßten Hauses. Wir konnten die beiden Gestalten schon nicht mehr unterscheiden. Da hörten wir das Kind auf einmal wieder schreien. Es war der Müllerin entronnen und lief in die Nacht hinein. Gott weiß, was aus ihm geworden wäre, hätten wir’s nicht eingefangen.

Als deine Mutter wieder zu uns stieß, begehrte sie auf mit dem Meitschi. Nicht etwa, daß sie wüst getan hätte mit ihm. Sie wollte ihm nur Verstand einreden. Dann nahm sie’s mit heim, in die Mühle, und behielt es dort.

Aber damit war die Sache noch lang nicht fertig. Andern Tags ist sie ins Banzenhaus gegangen, und weißt, es will etwas heißen, wenn eine kluge Hausfrau sich aufmacht, einer Nachbarin in ihre Sache zu reden. Das hat aber auch Lärm abgesetzt. Und zum Pfarrer ist sie gegangen und zum Waisenvogt. Im Banzenhaus haben sie getan wie die Wilden. Eine Zeitlang haben sie die Gemeinde in Aufruhr gebracht. Dann ist’s wieder still geworden. Ihr, deiner Mutter, ins Gesicht hat niemand gemuckst, nur hinten herum. Wo dein Vater oder deine Mutter hinkommen, da wird’s still. Was sie wollen, das ist beschlossen und kommt zustande. Fast zu ring geht’s ihnen. Hab’ manchmal gedacht...»

Peter blickte fragend auf den Postillon. Aber der gab ihm die Zügel in die Hand und schlug Feuer in die Pfeife. 249 «Du meinst wohl, ein wenig Widerspruch könnte den Eltern nicht schaden?» fragte Peter.

«Ja, weißt, manchmal läuft eines beliebten und gefürchteten Menschen Wille auch zu weit.» Christen Räß sprang vom Bock — sie hatten den Hindelrücken überschritten — und legte den Radschuh unter. Dann setzte er sich wieder zu seinem Freunde und fuhr fort: «Es ist ja lang her und sollte vergessen bleiben, aber dir kann’s nichts schaden, wenn du’s weißt. Gib mir die Hand drauf, daß es unter uns bleibt.»

Die beiden reichten sich die Hand. Der Student lächelte, als ob er sagen wollte: Warum auch so feierlich? Aber in des Alten Gesicht lag ein tiefer Ernst, dieweil er zu erzählen begann: «Das war an deiner Taufe. Deiner Mutter Vater war damals Wirt in Rütersbach und wollte die Taufgesellschaft dort haben. Dort oben bist du ja geboren, und drum bist du auch im Balmkirchlein getauft. Der Predikant ist hinaufgegangen und hat dort gepredigt, wie es zu selbiger Zeit an jedem ersten Sonntag des Monats geschah. Nun weiß ich nicht, warum er gerade den Text hatte, aber das hat dann den Lärm verursacht. Er predigte über das Wort: ‹Ich bin nicht gekommen Frieden zu bringen, sondern das Schwert.›»

Den Studenten dünkte, der Alte, den er noch selten so gesprächig gesehen, schaue ihm jetzt ganz besonders tief in die Augen.

«Sonst,» fuhr der Postillon fort, «ist es nicht der 250 Brauch, daß der Pfarrer in seiner Predigt auf die Taufleute anzieht. Aber da hat er, scheint mir, etwas im Auge gehabt. Vielleicht wollte er dem Müller vom Rechenthal und Gemeinde­präsidenten eine besondere Ehre erweisen. Weiß nicht. — Kurz, er sagte, als unser Heiland, ein arm hilflos Kindlein, im Stall zu Bethlehem gelegen habe, hätten die Engel nur von Frieden und Wohlgefallen gesungen, und niemandem sei es eingefallen, daß dieser Neugeborene einst den Menschen ein Schwert durch die Seele stoßen, daß er rücksichtslos mit seiner Wahrheit in aller Herzen hineinleuchten und nicht einmal vor den eigenen Eltern damit Halt machen werde. Er möchte der Gemeinde und dem ganzen Schweizervolk wünschen, daß ihnen jeden Tag ein Kind geboren würde, welches das Schwert der Wahrheit auf der Zunge trüge.

Die Predigt rührte an, und so weit ich mich besinnen kann, hat keine so viel zu reden gegeben wie die. Als man vor das Kirchlein herauskam, da haben die Leute einander betrachtet, als wollte jedes zum andern sagen: aha, aha! Die Taufleute sind schweigsam durch den Wald hinausgegangen. Und weil der Pfarrer nach der Predigt schnurstracks wieder ins Moos hinunter und heimzu lief, hat’s erst recht geheißen: aha, aha! — Und an wem es hängen blieb, kannst du dir denken.»

«Etwa an meinen Eltern?»

«Schau, es ist ein merkwürdig Ding um das Ansehen der Menschen. Wenn’s einmal ausgemacht ist, 251 der und der sei der Mann, dem man Ehre geben muß, so schicken sich die Leute bald drein, und es erträgt viel, bis der gute Ruf ins Wanken kommt. Aber immer sind ihrer einige von Anfang an verschnupft und lauern und lauern, und finden sie das kleinste Löchlein im Ehrenkleid solch eines Obenanstehenden, so sind sie dir — hai! — mit dem Fingernagel drin und ruhen nicht, bis das Kleid in Fetzen hängt.

Der Pfarrer ahnte nicht, was er mit seiner Predigt angerichtet hatte. Von zwei Seiten wurde der Hund abgelassen. Die einen zeigten mit Fingern auf deinen Vater, die andern stellten sich auf seine Seite und hetzten gegen den Pfarrer. Das waren die Schlauern. Sie wollten den Starken zum Freunde haben und waren in der Mehrzahl. Es fehlte um Haaresbreite, so hätten sie den Pfarrer gesprengt.

Da zeigte sich die Klugheit deines Vaters. Als es auf die Gnepfe kam, schlug er mit der Faust auf den Tisch und erklärte den Leuten ins Gesicht, der Pfarrer sei ein braver Mann und er stehe für ihn ein. Wie vor den Kopf getroffen standen sie da. Und weil keiner mehr voran wollte, liefen sie auseinander. Die Predigt kann doch nicht ihm gegolten haben, dachten nun deines Vaters Gegner, und die andern wußten nicht genug zu rühmen, wie schön der Müller vom Rechenthal am Pfarrer gehandelt habe. Es ist dann lange still geblieben — so in der Gemeinde herum. Aber wir in der Mühle merkten doch, daß ein Schwert durch des 252 Hauses Frieden gegangen war. Der Pfarrer und der Vater taten sich nichts mehr zuleid, aber auch nichts mehr zulieb, und nach ein paar Jahren zog der geistliche Herr auf eine andere Pfrund. Der neue Pfarrer wußte von nichts — und wenn auch... Du kennst ihn ja. Der ist kein Unruhstifter.»

Eine Weile hörte man nun nichts mehr als das Geschell der Postpferde und das Quietschen des Hemmschuhs. Erst als sie am Fuße des Berges angelangt waren und man wieder ein Träblein anlassen konnte, fragte Peter Falb mit forschendem Blick: «Du sagst, der jetzige Pfarrer wisse von nichts. — Gab es denn da überhaupt etwas zu wissen? Ich meine... hatte der frühere Pfarrer nicht nur zufällig jenen Text gewählt?»

«Wie er darauf gekommen, weiß ich nicht. Aber Zufall gibt’s doch eigentlich keinen. Wenn ein Baum fällt, so fällt er nicht wider den Wind. — Jedenfalls ist deinem Vater etwas in der Seele hängen geblieben. Daß er seither die Glocke vom Balmkirchlein nicht mehr hören mochte, das hab’ ich selber gemerkt. Sie wird ja selten geläutet, und manchmal hört man sie kaum herwärts des Mooses. Aber mit eigenen Augen hab’ ich’s gesehen, wie dein Vater ins Haus lief und die Fenster schloß, sobald sie drüben läuteten. Und wenn ein Mann, wie der Müller von Rechenthal auf so etwas achtet, dann muß es seinen Grund haben.»

Sie hatten das alte Wirtshaus im Nonnenmoos erreicht, wo die Straßen nach Bern und nach Burgdorf 253 sich kreuzen. Da stieg eine Frau ein. Die beiden waren nicht mehr unter sich. Peter fragte nur noch, wo der frühere Pfarrer jetzt sei. «Das werden sie dir in Bern sagen können,» meinte der Postillon. Und als schon der Eisenbahnzug vor die Station fuhr, reichte Christen seinem jungen Freunde die Hand: «Bhüet dich Gott, Peter. Wann wir wieder zusammen hinüberfahren, erzähl’ ich dir, warum ich Postillon geworden bin.»

Aha, dachte Peter Falb, im Eisenbahnwagen sitzend, der hat noch mehr auf dem Herzen. Das hab’ ich ihm doch schon lang angemerkt.

*  *  *

Die Sache ließ dem jungen Manne keine Ruhe mehr. Sollte ein Makel an seines Vaters Ruf kleben? — Und hatte der alte Christen recht, wenn er sagte, es gäbe keinen Zufall? Bis jetzt hatten ihm weder Vater noch Mutter je ein Wort gesagt von jener Taufpredigt, die doch wohl eine Art Losung für ihn enthielt. Ein rücksichtsloser Zeuge der göttlichen Wahrheit wollte er ja ohnehin werden. Das Studium der Theologie hatte er nicht ergriffen, um sein Leben in einem ländlichen Idyll zu verträumen. Aber nun erst kam ein heiliges Feuer über ihn. Christens Offenbarung machte in ihm alles Bisherige erblassen. Er fühlte voll seliger Begeisterung den Drang der Wahrheit auf seiner Zunge und wurde nicht müde, das Wort vom Frieden und 254 vom Schwert zu ergründen. Dabei stieß er im Weiterlesen auf die furchtbare Ankündigung: «Es wird sein der Vater wider den Sohn und der Sohn wider den Vater.» Sein natürliches Empfinden empörte sich gegen diese harte, kalte Weissagung. Aber je mehr er in seinen Überlegungen dagegen Sturm lief, desto deutlicher fühlte der junge Mann die unerbittliche Tatsache, die darin liegt. Die Wahrheit kann nicht nachgeben, sie kann nicht entgegenkommen. Man muß sich ihr ergeben oder an ihr zerschellen. Und warum heißt es weiterhin: «Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folget mir nach, der ist mein nicht wert?» — Ihm nachfolgen, der das Schwert der Wahrheit geschwungen, bis er am Stamm des Kreuzes verblutet! Wie riesengroß und gewaltig erschien das, wie anziehend aber auch einem Jüngling, der nach echtem Heldentum sich sehnte!

Aber gleichzeitig ward ihm klar, daß dies sein Heldentum, sein Kreuz, in nächster Nähe beginnen müsse, zwischen ihm und seinem Vater, dessen Herz doch bis jetzt als leben­ausströmendes Heiligtum ihm vorgeschwebt hatte. Ihm war, als wollten die Hände sich auf sein erwachendes Auge legen, als müßte er aufschreien: Nein, nein! Um Gotteswillen, nicht reißen! Sah er doch, wie der herrlich gewobene Vorhang, der ihm die über alles geliebte Gestalt seines Vaters in der Umarmung der Sünde verhüllte, durchscheinend und brüchig wurde.

Aber es kam, kam unabwendbar, trotz des Schreiens seiner Kindesseele. Auch da jedoch klang es ehern durch 255 das sich schmerzhaft lichtende Dunkel: «Ich bin nicht gekommen Frieden zu bringen, sondern das Schwert.» Er fühlte, wie ihm jemand das Schwert in die Hand drückte, das Feuer auf die Zunge legte. Zittern und Zagen kam über den Sohn. Aber er war aufrichtig, und suchte nicht die Flucht ins Dunkle, sondern hielt still und empfing in seinem lautern Herzen die Gewißheit, daß das Schwert der Wahrheit nicht tötet, sondern befreit, befreit aus der Umstrickung der Sünde. Jetzt fürchtete er sich nicht mehr vor dem Reißen des Vorhangs, sondern die Liebe zu dem Vater trieb ihn, selbst den Vorhang zu zerreißen, um zu sehen, um den befreienden Hieb zu führen.

So machte sich Peter Falb auf, jenen alten Pfarrer zu suchen, der ihm bei der Taufe die Losung gegeben. Im ersten Schneegestöder des hereinbrechenden Winters fuhr er hinüber, ins Emmental, und wanderte, Wind und Wetter trotzend, nach der entlegenen Pfarrei. An mancher Wegbiegung noch und zuletzt, als die rostigen Angeln des Gartentors ihn anschrieen, schoß ihm die Frage durch den Kopf: «Ist es nicht ein Frevel, daß du den Schleier lüften gehst?» Aber die tapfere Liebe legte ihm die Hand um den Klopfer der Haustüre, und wie ein Signalschuß dröhnte sein Schlag in den Flur bis an des Pfarrers Studierstube.

Hätte dem nicht schon das feine Ohr des alten Hirten gesagt, daß in dem scharfen Hall Herzensnot klinge, so würde doch das Angesicht des Eintretenden 256 es ihm verraten haben. Und nun die Art, wie der junge Mann sich einführte! «Herr Pfarrer, ich komme... ich bin... Sie haben mich noch getauft.» So im Tempo des Schnell­feuer­geschützes. Dazu waren die scheinbar nichtssagenden Sätzlein lauter Treffer — ins Schwarze. Und weil denn das Ding ganz von selbst zu kommen schien, wollte der silberhaarige Herr nicht durch Fragen ablenken. Er sprach kaum die nötigsten Worte, um seinen Besucher in den Lehnstuhl zu weisen, aus dem heraus nun das Gehäcksel seiner Rede ohne chronologische Ordnung geflogen kam. Das störte den Pfarrer durchaus nicht, und wie wenig konventionell sein Vorgehen war, wurde dem Studenten erst durch die Frage bewußt, die der Pfarrer auf die Erzählung von der Taufe hin an ihn richtete: «Sie wären also der junge Falb?» Daran schloß sich eine für Peter in ihrer gelassenen Umständlichkeit schwer zu ertragende Erkundigung nach dem Befinden von Vater und Mutter und mancher andern Pfarrkinder. Aber was der Pfarrer damit bezweckte, Einkehr ruhigen Besinnens, erreichte er.

Dann kam der Schwerpunkt des Gesprächs, die mit Herzklopfen vorgebrachte Frage: «Herr Pfarrer, hatten Sie einen besondern Grund, diesen Text zu wählen?»

«Kaum einen andern, als daß mich die Stelle inspirierte,» sagte der alte Herr.

«Oder können Sie sich wenigstens die Wirkung erklären, welche die Predigt auslöste?»

«Tja... ich habe mir natürlich die Sache zu erklären 257 gesucht. Aber ob ich richtig erraten... Wer weiß?»

Nun blieb es eine Zeitlang so still, daß man die gefrorenen Schneeflocken im Kamin herunterrieseln hörte. Dann stand der Pfarrer auf und lud seinen Gast ein zum Nachmittags­kaffee. Verlegen blickte Peter an die Uhr. «Ich will Sie nicht um Ihren Kaffee bringen,» sagte er, nicht ganz aufrichtig lächelnd, «aber ich möchte meinen Zug nicht verfehlen. — Wollen Sie mir nicht noch meine Frage kurz beantworten?» Und als müßte er dem Pfarrer auf den Weg helfen, fügte er hinzu: «Glauben Sie, daß mein Vater einen Grund hatte, sich betroffen zu fühlen, oder daß die Leute Anlaß hatten, die Predigt auf ihn zu beziehen?»

Der Pfarrer blickte eine Weile ins Schneetreiben hinaus, dann wandte er sich fast bittend an den jungen Mann, der ihn mit bohrenden Blicken verfolgte: «Wozu wollen Sie denn das wissen?»

Da kam etwas Ehernes in die Gestalt des jungen Gottesstreiters. «Weil ich meinen Vater frei machen will,» antwortete er.

Es klang wieder wie ein Ausweichen, als der Pfarrer fragte: «Wovon?»

«Das müssen die mir sagen, die um seine Sünde wissen.»

«Lieber junger Freund, Sie wissen doch, daß die Befreiung von der Sünde des Herrn Sache ist. Und erst muß man frei werden wollen

258 «Eben drum bin ich entschlossen, das Schwert, von dem Sie an meiner Taufe predigten, in meines Vaters Herz zu tragen.»

Der Pfarrer sann wiederum vor sich hin. Endlich richtete er sich fest auf und sagte: «Nun denn? Sie wollen es, so gebe Gott Ihrem Worte mehr Kraft als dem meinen. Ihr Vater ist ein Sklave seines Berufes und seines Geldes. Groß ist die Zahl derer, die ihm nachreden, er habe sie um den wahren Ertrag ihrer Äcker betrogen, indem er ihr Mahlgut fälsche.»

«Es ist also, was ich vermutete,» sagte Peter dumpf und traurig.

Als er bald darauf Abschied nahm, drückte ihm der Pfarrer mit Wärme die Hand und versicherte ihm, daß er seines tapferen Vorhabens in Treue gedenken werde. In tiefer Bewegung blickte er dem durch das Flockengewirbel Davoneilenden nach. — War das nicht keimende Saat, an die er längst nicht mehr geglaubt?

Der gewonnene Aufschluß brachte Peter Falb wenig Erleichterung. Im Gegenteil. So sehr es ihm an Welterfahrung noch gebrach, das fühlte er doch: Berufssünden erscheinen immer als besonders verzeihlich und werden deshalb auch nicht besonders schwer empfunden. Er aber wollte seinen Vater ins Herz treffen und sich nicht mit einer bloßen Wiederherstellung des guten Rufes zufrieden geben.

Die nächste Heimkehr ins väterliche Haus fiel auf die Weihnacht, und das kam den jungen Mann sehr 259 hart an. Sollte auch die schönste Stunde des Familienlebens, die erquickendste Stimmung des ganzen Jahres der Wahrheitsliebe zum Opfer fallen — just das Weihnachtsfest? — Im Grunde genommen war es vielleicht nicht so arg mit den — mit den — beruflichen Untugenden des Müllers von Rechenthal. Vielleicht ließe sich die Auseinander­setzung auf einen spätern Anlaß verschieben. Man brauchte es der Mutter nicht gerade an dem Tage anzutun, an welchem ihr Herz den höchsten Triumph des ungetrübten Familienlebens feierte. — Und wenn er sich erst noch erkundigte, ob sein Vater es heute noch so schlimm treibe...? — Jedenfalls wollte Peter zuvor Christen Räß befragen.

Unschlüssig bestieg er den Eisenbahnzug. Sogar da, im sonst so wenig gemütlichen, von hastenden Menschen belebten Halbdunkel hinter den angelaufenen Fensterscheiben, webte heute etwas, das ihm sagte: Laß es gut sein, sie sind allesamt so freudehungrig, und sie wollen alle Freude machen. In den Gepäcknetzen und auf dem Schoß hatten sie sauber eingewickelte Päcklein mit blauen, roten, goldenen Bindfäden. Als ob sie aus dem Erdendunkel ins Reich der Freude führen, so schauten die meisten drein.

Nonnenbuchsee! Neben dem Stationshaus harrte der gelbe Wagen. Christen Räß hatte, wie alle, die Weihnachtsfreude im Gesicht. Vor lauter Paketen und Briefsäcken konnte er Peter nicht einmal die Hand geben. «Willst hineinsitzen?» fragte er mit einer wegleitenden 260 Kopfbewegung. «’S ist kalt.» — «Fällt mir nicht ein. Du bist mir ja noch ein ganzes Stück Lebensgeschichte schuldig,» sagte Peter Falb und kletterte auf den Bock, wo ihn bald darauf der Postillon mit in die groben Roßdecken wickelte, während im Innern die übrigen Passagiere sich mit allerhand festlicher Habe zu einer kompakten Masse einnisteten. Dann ging es, glung glung, den Rain hinunter durch den endlosen Spalier der kahlen Pappelallee. Die Torfbrüche zeichneten dicke dunkelbraune Striche ins Schneefeld, aus dem sich da und dort noch ein vergessener Kohlstrunk mit seinem Schneekäpplein erhob. An einem Grabenrand guckte ein Rabe verwundert auf die gefrorene Pfütze hinunter. «Soso, schöne Geschichte!» schien er zu denken.

Jenseits des Wirtshauses im Nonnenmoos mahnte Peter den Kutscher an sein Versprechen. Es einzulösen kostete den Alten Überwindung. «Wenn’s nur nicht grad heute sein müßte!» sagte er. «Aber weißt, Peter, mir ist immer so, als führen wir nicht oft mehr zusammen. Und ich hab’s nun schon allzu lang mit mir herumgetragen. Von deinen Eltern hätt’ ich nicht wegziehen sollen. Wär’ ich ein braver Bursche gewesen, so wär’ ich vor deinen Vater hingetreten und hätt’ ihm gesagt: ‹Meister, so kann ich nimmer dabei sein. Zuschauen, wie Ihr die Kunden um ihr Brot betrügt und gar noch handlangern dabei, das verträgt sich mit meinem Gewissen nicht.›

261 Aber, wie das so geht: Mit ihrer Herzensgüte haben sie mir den Mund verbunden, und ich hab’ nicht der Undankbare sein wollen, ich Esel. Den Dienst gekündet hab’ ich und sie in ihrer Sünde stecken lassen. Deines Vaters Fürsprache verdanke ich noch die Anstellung bei der Post, und damit hat er mich erst recht mundtot gemacht. Wie oft haben mich seither die Leute zum Reden bringen wollen! Totsaufen hätte ich mich können von all den Halblitern und Schoppen, die sie mir beizten. Gelogen und übertrieben hat wohl mancher. Aber zu vielen Anklagen hätt’ ich sagen müssen: ‹Ja, es ist so, und sogar noch schlimmer.› Und der Reichtum der Müllersleute ist gewachsen — auf Sand gebaut. Und was man erst zu hören bekam, als es hieß, des Müllers Bub soll studieren, Pfarrer soll er werden! Da hab’ ich mir erst recht die Ohren zugehalten. Ich konnt’ es nicht mehr ertragen. — Und mir liegt’s so schwer auf dem Herzen. — Ach, du mein Gott!

Schau, Peter, jetzt ist’s heraus und ich hab’ dir die Weihnacht zuschanden gemacht. — Aber wenn du wüßtest, wie’s mich plagt! Ich hätt’s wohl auch mit ins Grab genommen, wenn ich nicht gemerkt hätte, was du für ein wackerer lieber Sohn bist. Da hab’ ich mir gesagt: der Peter hat das Herz, er wird den Bann brechen. Nicht umsonst haben sie ihm das Wort vom Schwert mit auf den Weg gegeben.»

Peter Falb kauerte in seine Decken gewickelt und starrte vor sich hin auf die trabenden Rosse. Er sagte 262 kein Wort. — Nun war geschehen, was seit langem Christens Augen angekündigt.

«Gelt, jetzt hab’ ich dir wehgetan,» fuhr der Postillon fort. «Ach Gott, ach Gott! Aber versteh’ mich. Solchem Unsegen zuschauen und nichts dagegen tun können, das brennt wie Höllenfeuer. — Glaubst nicht, du könntest dem bösen Treiben ein End’ machen?»

«Ob ich kann oder nicht,» sagte Peter, «ich will. — Hätt’s nur lieber nicht heute getan; aber ich seh’ schon, grad heute haut das Schwert am tiefsten, grad just durch die Weihnachtsfreude, die falsche, hindurch. Und wenn ich heute den Mut nicht finde, so finde ich ihn nimmermehr.»

«Ja, so ist’s, Peter. — Ich hab’s doch gewußt, daß du das Herz dazu hast. Und glaub’ mir nur, wenn je auf Erden etwas seinen Lohn finden wird, so ist’s das. Tu’s, tu’s, Peter! — Wenn ich dir nur helfen könnte!»

«Du kannst,» sagte der junge Mann. «Du weißt schon wie.»

Lange fuhren sie schweigend durch den Wald.

«Wenn ich nur wüßte, wie ich den Vater allein finden könnte! An solchem Tag hält das schwer.»

«Nicht so schwer, wie du denkst,» antwortete Christen. «Sie sind heute im Holz. Sag’ doch dem Vater gegen Abend, ihr wollet dort hinauf, er kommt gern mit. Der Wald am Rechenthalhubel ist sein Stolz, und es freut ihn, wenn er sieht, daß du dich für die Wirtschaft interessierst. Und hast du ihn droben, so seid ihr ja 263 schön allein unter Gottes freiem Himmel. Da läßt sich wohl ein ernst Wort reden.»

«Du hast recht,» sagte des Müllers Sohn, dem der Rat des alten Freundes gleich weitere Gedankengänge erschloß. «Und just, weil’s Heiliger Abend ist und alles auf den Weihnachtsbaum blanget, will ich’s wagen. Ich bleibe draußen und komme nicht ins Haus, bevor es getan ist.»

Von da an sprachen sie wenig mehr miteinander und waren doch in ihren Herzen inniger verbunden als je zuvor. Schon rollte der Wagen am Gsteighüsli vorüber. Peter Falb wünschte, sie hätten noch stundenweit zu fahren. Aber auf einmal war die Straßengabel da. Der Student löste sich aus den Decken, sprang zur Erde und bot Christen die zitternde Hand: «Also denk an mich!» — «Du kannst auf mich zählen,» sagte der Postillon und ließ seine Gäule laufen.

Da wanderte er nun, der brave junge Bursche, und trug sein schweres Herz in die Weihnachtsfreude des heimatlichen Hauses, auf deren Schwingen die jüngern Geschwister ihm entgegengeflogen kamen. Ein Glück, daß sie ihm mit ihrem Jubel die Möglichkeit weiteren Überlegens nahmen, sonst würde er sich kaum von der Frage losgerissen haben, ob er nicht zuvor die Mutter in seinen Plan einweihen sollte. — Er war’s ja gewohnt, daß ihm alles mit offenen Armen entgegenlief, sobald der erstbeste Knecht oder Güterbub meldete: «Peter chunnt.» Aber noch nie, dünkte ihn, hätten sie 264 es ihm so deutlich zu verstehen gegeben, wie heute, daß er der Freudenbringer sei. Vater und Mutter strahlten vor elterlicher Wonne, der Müller in stillem stolzem Blick, die Mutter in einer eigentümlich abgekürzten Zärtlichkeit. Sie hatte nämlich Züpfen im Backofen, die längst heraus sollten, Güetzi im Füüröfeli und wollte überdies wachend verhüten, daß ihr die Kinderschar ihre versteckten Krämlein vorzeitig ausfindig mache. Alles, alles war von geschäftiger Freude ergriffen.

Als sie, ihren erquicklichen Sorgen nachlaufend, ihn einen Augenblick allein ließen, fühlte er sich wie gelähmt. «Ich kann doch nicht,» seufzte er halblaut. Aber dort drüben, über das Leimbachmoos, rollte der Postwagen, und der ihn lenkte, hatte sein Versprechen. So kämpfte sich Peter durch den langen, bangen Jubeltag, bald Tränen verschluckend, bald um Mut ringend. Dazu mußte er auf Listen sinnen, um sich unbemerkt zu den Hölzern hinaufzustehlen. Der Vater hatte nicht Lust, in den Wald zu gehen; dafür folgten die Kleinen auf Schritt und Tritt dem ältesten Bruder. Endlich gelang es ihm.

Als der Tag sich neigte und ein kalter Rosenhauch den Wäldern entlang schlich, kamen die Holzknechte zur Mühle. Ob der Peter nicht bei ihnen gewesen, fragte die Mutter. O ja, hieß es, er habe zur Kurzweil ein Beil genommen und versuche die Bissen in einen Buchenstock zu treiben.

«So lauf!» befahl die Müllerin dem Jüngsten. 265 «Hol’ ihn. Sag’, wir warten nur auf ihn, um den Baum anzuzünden.»

Und der Bub keuchte davon. — Kleinlaut kam er nach einer halben Stunde zurück mit dem Bericht, sie sollten nur anzünden, der Peter käme nicht, er hätte denn den Vater zuvor gesehen. — Da warfen sich Vater und Mutter verwunderte Blicke zu.

Jetzt auf einmal wollte die Mutter an dem Jungen schon mittags etwas Ungewohntes bemerkt haben. Angst erfaßte sie, und sie bat ihren Mann, doch ja gleich hinaufzugehen.

Peter ging unterdessen zwischen den gefällten Stämmen hin und her, den Schnee von den Schuhen schlenkernd, und spähte nach dem Hohlweg, der im Bogen vom Rechenthal herausführte. Das Abendrot war erloschen, und am dunkel gewordenen Himmel glitzerten kalt die Sterne. Das Feierabend­geläute der Dorfkirche war verstummt. Die heilige Nacht zog herauf.

Endlich hörte man Schritte im Hohlweg. Peter Falb hieb sein Beil in einen Stamm und blieb daneben stehen, bis er deutlich die Gestalt seines Vaters unterscheiden konnte. Dann ging er — fast wollte ihm das Herz zerspringen — auf den Müller zu und sagte in tiefstem Ernst, doch zitternd: «Vater, ich habe mit dir zu reden. Vorher kann ich nicht Weihnachten mit euch feiern.»

Der alte Mann blieb stehen und staunte seinen Sohn wortlos an.

266 «Kannst du nicht drunten mit mir reden?» fragte er endlich. «Wozu diese Komödie?»

«Vater, ich kann dir das, was mir auf dem Herzen liegt, nicht sagen, wo andre Menschen in der Nähe sind. — Hier sind wir allein mit Gott.»

Der Müller forschte in seines Sohnes Gesicht. Aber noch ehe er eine neue Frage getan, fuhr Peter fort:

«Du wunderst dich, Vater, daß ich solche Worte gebrauche; es ist nicht der Ton, in dem wir sonst miteinander redeten. Aber, was ich dir zu sagen habe, kommt aus meines Herzens tiefster Not — Vater! Hörst du? — aus deines Kindes Gewissensnot. — Vater, lieber, guter Vater, sag’ mir: Ist es wahr, daß unser ganzer Wohlstand darauf beruht, daß du... daß, wie sie landauf, landab sagen — du die Leute um ihr Mahlgut... betrügst?» Dem jungen Mann wollte das Herz versagen. Er sah freilich in der Dunkelheit nicht, wie des Vaters Zornadern schwollen; aber ihm war, als wüchsen die Umrisse der mächtigen Gestalt, und er trat einen Schritt zurück, um diese Gestalt mit seinen Blicken zu messen.

«Wer sagt das?» schrie der Müller.

«Alle sagen es. — Deine Kunden. — Alle, die hier herum ihre Brotfrucht bauen.»

«So?» knirrschte der Alte. «Alle? Und alle haben es dir gesagt? — Dir, der du in der Stadt lebst und ihrer des Jahres kaum ein Dutzend zu Gesicht bekommst?»

«Vater, es kommt nicht drauf an, wer es sagt. Es 267 kommt darauf an, ob es wahr ist. — Gelt, Vater, es ist wahr? — Oder wenn’s nicht wahr ist, so sag’s und erlöse mich aus meiner Gewissensnot!»

«Und du,» keuchte der Müller, «du — mein eigen Kind — du, dem ich mit meiner Hände Arbeit den Weg zu Glück und Ehren geebnet, du glaubst den versteckten Anklägern mehr als mir, he? — Wo treibst du dich herum? — Und grad am Heiligen Abend, wo wir nichts als Freude und Liebe für dich bereit haben, kommst du mir mit solchen Sachen? — Bub, hab’ ich das um dich verdient? — Wer hat dich geheißen, mir so zu begeg...»

Der Ergrimmte schien plötzlich zu erstarren. — Schon vorhin war ihm, als hörte er die Glocke vom Balmkirchlein. Und jetzt klang es ihm wieder in den Ohren. — Er schrieb es seiner furchtbaren Aufregung zu, die ihm alles Blut in den Kopf gejagt. Er wollte nichts merken lassen. Er ahnte nicht, daß auch sein Sohn die Glocke hörte, die Glocke, welche sonst am Heiligen Abend von keines Menschen Hand je berührt wurde und die nun den Sohn zum Zeugnis der Wahrheit aufrief und den Vater anklagte. Beide standen sich schweigend gegenüber. Kein Lüftlein regte sich. Die Sterne flimmerten am stummen Himmelsdom. Über dem Dorf und seiner Weihnachtsfreude lag der Nebel. Er lag in schweigenden Schwaden bis hinüber an den Berg, und über die grauen Wogen kamen, Engeln gleich, die mahnenden, flehenden, zürnenden Töne daher. 268 Es war, als ränge über der schlummernden Welt eine Jakobsseele mit Gott, ein Menschenkind aus heißem Herzen mit seinem himmlischen Vater.

Und hier, unter den alten kahlen Buchen rangen sie wahrhaftig mit Gott, jeder mit seinem Gewissen, dem Engel Gottes, der von ihren Seelen Wahrheit forderte und tapfere lautere Liebe.

Wie in einer Kampfpause standen sie da, mit wogender Brust nach Atem ringend und — horchend.

«Mein Gewissen hat mich’s geheißen,» nahm endlich Peter das Wort wieder auf. «Und du sollst wissen, Vater, es ist mir nicht um eine Ehrenrettung vor den Menschen zu tun, sondern um deiner Seele Heil und den Segen des Hauses.»

Und abermals hörte man lange nichts als die flehende Glocke. Dann sagte der alte Müller dumpf:

«So komm!»

Aber sein Sohn blieb stehen, wo er stand, und sagte: «Ich weiche nicht von dieser Stelle, bevor du dein Unrecht mir zugegeben.»

«Aber, so komm doch um der andern willen,» bat der Vater ärgerlich. «Verdirb ihnen die Weihnachts­freude nicht!»

«Vater, wie kannst du das Fest dessen feiern, der die Wahrheit selber ist und in der Wahrheit den Frieden uns gebracht hat?»

Wieder ward es still. — Und mitten in der Stille verstummte auch die Glocke... Nun war es totenstill.

269 Da sagte der Alte zu seinem Sohn: «Du hast recht. Es ist, wie du sagst, und ich will nimmer Unrecht tun.»

«Gott helfe dir, Vater!» sagte Peter. «Nun komm’ ich mit. Jetzt kann ich mit euch feiern und fröhlich sein.»

Schweigsam stiegen sie den Hohlweg hinab.

Dem Müller war, als ginge ein Gewaltiger neben ihm her. Er wußte: von nun an war der Peter nicht mehr das Kind, welches jeden elterlichen Wunsch unbesehen als Befehl hinnahm. Der Junge war ihm an Charakter über den Kopf gewachsen, und das war tief beschämend. Es tat weh. — Sollte er ihn darum hassen? — Hassen, sein eigen Fleisch und Blut? — Gott bewahr’ mich davor! dachte er, und im Tiefsten, Innersten seines Herzens verneigte er sich schamvoll und doch bewundernd vor der Liebe, die seinen Sohn so stark gemacht.

Als sie aber unten aus dem Waldsaum traten und die Lichter der Mühle sie grüßten, blieb der Vater stehen und sagte mit erstickter Stimme: «Ich kann nicht... kann nicht. — Gott sei mir gnädig!»

Da schlang Peter die Arme um den zitternden Mann und barg das Gesicht an seiner Brust. Sein Hut war ihm in den Schnee gefallen, und er fühlte heiße Tränen auf seinen Scheitel tropfen. Es dauerte ein paar schwere Atemzüge, bis er seine Stimme wiederfand und sagen konnte: «Laß uns doch zum Feste des Erlösers gehn — erlöster, lieber, armer Vater du!»

270 Als sie endlich in die Stube traten, wo die Lichter des Weihnachts­baumes am Erlöschen waren, ging eine seltsame, lähmende Stille von den beiden aus. Die Freude verkroch sich in die dunkelsten Winkel. Aller Augen weiteten sich in bangem Fragen und Staunen. Halb zürnend, halb in Angst ließ die Mutter ihre Blicke vom Gatten auf den Sohn gleiten. Sie ahnte, daß da draußen im Walde ein Kampf um das Heil des Hauses stattgefunden hatte, und es dämmerte auch in ihr ein Gefühl der Erlösung auf. Durch Tränen betrachtete sie mit Dank und Stolz den tapfern Erstgebornen, und ohne Worte segnete eine Erlöste ihren Sohn. Sogar die Knechte und Mägde, die staunend im Dämmer neben der Türe standen, ahnten etwas Wunderbares, das auch ihnen widerfahren wollte.

Ihrer Seele süße Qual überwindend, rief die Mutter dem Gesinde zu: «Könnt ihr nicht ein Lied singen?» — Eine Magd hub an: «O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit.»

Da ging schweren Schrittes der Meister hinaus, und die Meisterin folgte ihm.

Was sie draußen getan und geredet, vernahm niemand. In den nächsten Tagen aber sah man den Müller selten, und wer ihn zu Gesicht bekam, der erschrak ob seinem kummervollen Antlitz. Daß er in Mühle und Speicher anders maß als zuvor, das merkten sie bald alle. Aber keines hätte zu fragen gewagt: «Meister, was fehlt Euch?» Denn sie ahnten es wohl.

271 Drei Tage nach Weihnacht kam der Bericht, Christen Räß liege krank darnieder. Darob zuckte der Müller auf. «Ich muß ihn sehen,» sagte er zu Peter, «kommst mit?» Und vor des Postillons Hause fragte er den Sohn: «Du, hast du am Heiligen Abend die Glocke vom Balmkirchlein auch gehört?»

«Ja,» sagte der Junge, und um seinen Mund spielte ein seltsames Lächeln.

In des Postillons Augen leuchtete es auf, als die beiden an sein Bett traten. Er war schwer krank und rang mühselig nach Atem.

«Hast du mich bei meinem Jungen verklagt?» fragte nach der Begrüßung der Müller seinen alten Knecht. Aber er sagte es nicht zürnend. Es lag vielmehr eine stille Freundlichkeit in seinem Tone.

«Verklagt hab’ ich Euch nicht, Meister,» antwortete Christen, «ich hab’ nur meines Gewissens Last auf ihn abgeladen.»

«Du hast recht getan,» sagte der Müller. «Nun bist du sie los. Aber wer nimmt mir meine Last ab? — Mein Gott, mein Gott! Wie soll ich’s wieder gut machen? — Kann ich ihnen die Tausende von Zentnern wieder erstatten, die ich ihnen gestohlen? Sind ihrer nicht viele schon gestorben? — Die werden am jüngsten Tag wider mich zeugen.»

«Es ist nicht so,» sagte Peter zu seinem Vater, der wie gebrochen am Bette des alten Karrers saß.

«Gottlob ist es nicht so,» bestätigte der Kranke. 272 «In Ewigkeit vermöchte keiner von uns seine Schuld abzuzahlen. Aber sie ist abbezahlt. Des tröst’ ich mich. — Der hat sie abgetragen, Meister, der uns statt des Friedens das Schwert gebracht hat. — Besinnt Ihr Euch noch?»

«Ja, ja. Das hab’ ich nie vergessen.»

Bald mußten sie den Kranken verlassen, denn er erschlaffte im Fieber. Lang und innig drückte ihm der Müller die Hand, indem er sagte: «Bhüt dich Gott, Christen, und hab’ Dank.»

Neun Tage nach Weihnacht schloß Christen Räß seine treuen dunklen Augen. Mancher schüttelte an seinem Grabe den Kopf, als der Pfarrer erzählte, der Verstorbene habe am Heiligen Abend die Glocke des Balmkirchleins geläutet und sich dabei den Tod geholt. Man wisse nicht, was ihn angekommen sei, aber Gott werde schon verstanden haben, was Christen Räß damit gewollt. So sei doch des alten Mannes letzte Tat auf Erden eine Lobpreisung Gottes gewesen.

Ihrer zwei unter den vielen Männern, die dem Postillon das letzte Geleite gaben, wußten, was er mit seinem Läuten gewollt. Die wanderten voll Danks und stillen Frohmuts in das neue Jahr hinein und hatten einander ins Herz geschlossen wie nie zuvor.



 << zurück weiter >>