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Der «Bourbaki»

Eine Geschichte aus der ersten Interniertenzeit

Es ging gegen das Ende des Herbstmonats. Man freute sich auf einen schönen Sonntag. Da würde wohl Besuch kommen, und deshalb nahmen sie’s mit der Samstagsarbeit noch einmal so genau wie sonst, denn der Herr Forstmeister war streng und duldete in Wittigkofen auch nicht die leiseste Unordnung. Änneli wußte nicht, wo wehren. Ihr waren die Schattenanlagen um das Schloß her anvertraut, und heute strich von Zeit zu Zeit ein schalkhafter Windstoß durch die alten Ulmen und Platanen, als fehlten im traulichen Vielklang der Herdenglocken noch die Flüsterstimmen. Da flatterten die dürren Blätter zur Erde, und immer, wenn Änneli einen Kiesweg gewischt hatte, so mußte sie noch einmal drüber, um die gelben und roten Nachzügler in ihren Kratten zu sammeln.

Als sie im äußersten Weg über dem Gemüsegarten angelangt war, wohin es schon lange sie gezogen, stellte sie den Korb auf die breite bemooste Stützmauer, lehnte sich darüber und blickte wie träumend auf die schönen rotgescheckten Kühe, die in herrlicher Sorglosigkeit das 217 mutze Gras abrissen und vergnügt mit Ohren und Schwänzen wedelten.

«I wett bald lieber ga ds Veh hüete,» sagte Änneli. Es sollte klingen, als sagte sie es nur so für sich. Dann hätte es aber nicht so laut herauszukommen gebraucht. Änneli erwartete eben, wenn auch nicht gerade eine Antwort, so doch Aufmerksamkeit, und zwar von dem kräftigen jungen Mann, der am Fuße der Mauer mit breitem Schuh die Stechschaufel in ein Gartenbeet stieß. Er hatte sie wohl gesehen, der biedere Jakob, aber er wandte seine gutherzigen, grauen Augen nicht von der Arbeit ab, als er ihr antwortete: «He, warum?»

«Ho, vowäge. I mueß geng ume vorfer afah, wenn i hinger use bi.»

«Su fah einisch hingefer a!»

«Aba!» schnellte sie geneckt heraus und verschwand wieder hinter der Mauer, um Blätter aufzulesen. Aber es dauerte nicht zwei Minuten, so erschien ihr goldener Lockenkopf mit den rot angelaufenen Wangen wieder über der Brüstung, und Jakob flog ein harziger Kiefernzapfen an den Kopf. Wiederum tat er, als hätte er’s gar nicht bemerkt, und schaufelte weiter. Aber daß er in seinen braunen Bart hineinlachte, hatte sie doch gesehen. Dadurch ermutigt, fuhr sie fort, ihn mit Steinchen und Holzstückchen zu bewerfen, ohne ihn zu treffen, und je eifriger sie warf, desto gleichgültiger tat Jakob. Erst als ein neuer Windschauer durch die Wipfel fuhr und ein in der Sonne flimmernder Regen von 218 welken Blättern über Weg und Rasen herabwirbelte, so daß Änneli ein Ausdruck wilden Ärgers entwischte, stützte sich der Gärtner ausruhend auf den Schaufelstiel und lachte hell auf.

«Lue, lue!» rief er, «gang ga ufläse!» Und als sie sich nicht zur Arbeit anschicken wollte, schleuderte er mit kräftiger Hand einen festen Erdknollen nach ihr. Aber — husch — war sie zur Seite, und das feuchte Geschoß klatschte an den Stamm einer Platane, in deren Schatten der Herr Forstmeister beim Mittagskaffee eingeduselt war. Er hatte eben in der Zeitung gelesen, daß nun Paris völlig eingeschlossen sei und daß die Geschosse der deutschen Batterien um den Mont Valérien pfiffen. Erstaunt wandte er den energischen Kopf und rief mit seiner Stimme, die fast den Ton brechender Äste hatte: «Oho, oho, das geit ja wie z’Paris, was?»

Errötend und kichernd hatten die beiden andern ihre Arbeit wieder aufgenommen. Der Forstmeister zog seine Uhr, stand auf und humpelte behende dem Schloß zu. Man muß nämlich wissen, daß der sonst kerngesunde, gedrungene Mann ungleich lange Beine hatte.

Zwischen Jakob und Änneli wiederholten sich seit langem die Neckereien fast täglich, und immer war Änneli die Angreiferin. Des Forstmeisters Haushälterin hatte sie deshalb schon oft «Ganggel» gescholten und Jakob mit ihr aufgezogen. Und die beiden ließen sich’s gefallen, sie wußten nichts zu antworten, daher es zutage lag: Jakob und Änneli hatten sich lieb.

219 Ein solches Geplänkel ist lustig, solange die Hoffnung besteht, daß es in absehbarer Zeit zum Ziele führt. Wenn aber die Rollen immer so verteilt bleiben, daß das eine den Angriff, das andere die Verteidigung führt, und wenn endlich gar aus der Verteidigung eine bloße Abwehr wird, dann geht schließlich beiden der Humor aus.

Drum war’s nicht so verwunderlich, daß eines Tages die Haushälterin auf Ännelis galanderiertem Fürtuch etwas blinken sah, wie silberner Morgentau — und ’s war doch längst nicht mehr Morgen. Dazu jagte die Bise die ersten Schneeflocken auf das Küchengesims herein. Ännelis Wangen waren schon von der Bise rot angelaufen, aber jetzt wurden sie noch dunkler, als sie die Blicke der wohlmeinend Gestrengen auf sich ruhen fühlte. Sie senkte das Gesicht so tief wie möglich und hätte am liebsten auch noch die Schultern über der Brust zusammengezogen, um ihr Herzklopfen zu verbergen.

«Brieggisch du?» fragte die Alte. Und als sie keine Antwort bekam, setzte sie sich neben Änneli und drang in sie:

«La gschoue! Was isch? Was het’s gä?»

Änneli wandte sich ab und wollte Reißaus nehmen. Aber eine von Neugier gekräftigte Hand hielt sie fest.

«Heit dir zsäme zangget?» In dieser Frage kündete sich mütterliche Teilnahme, vielleicht sogar das Anerbieten eines Frieden gebietenden Schiedspruches. 220 Und weil denn Änneli Macht und Ausdauer ihrer Meisterin aus Erfahrung kannte, so sträubte sie sich nicht lange, sondern rückte heraus:

«He wäge Köbi. Es macht mer jitz de afe Chummer, er leu mi hocke. Er het mer lang gnue gchüderlet. I gloube, es syg ihm gar nid ärscht mit mer. I mueß mi ja schäme. Er seit nid ja u seit nid nei u wott nit fürers mache.»

Die Tränen waren versiegt. Die Anklage quoll aus zornrotem Gesicht, und Augen machte Änneli der Haushälterin, als sollte sie an allem schuld sein.

Diese ließ das Mädchen ausreden, gab ihm dann ein paar besänftigende Worte und wies ihm neue Arbeit an. Der Sturm legte sich, und man hörte bald nur noch das Knistern im Herd. Erst als die Haushälterin der Türe zuschritt, ließ Änneli sich nochmals vernehmen:

«Aber säget ihm de nüt!»

Aus dem Gang hörte man eine Stimme, die dem Klange nach nicht ernst zu nehmen war: «Nei nei, häb nid Chummer!»

Da mußte Ordnung geschaffen werden. Die Haushälterin wollte kein «Gschleipf» im Hause haben, und den Zorn des Herrn Forstmeisters sich entladen zu lassen, verlohnte sich auch nicht. Sie wußte sich zu helfen, und ehe die Woche verstrichen war, hatte sie Jakob in die Enge getrieben und Aufschluß erzwungen.

221 «Es wär si o derwärt da ga z’gränne,» sagte er, «es mueß si halt jitz no chly lyde. — I ha emel gmeint, i well jitz no nes paar Zahltage dänne tue, bis i’s öppe gsej z’mache. — Was hätti äs dervo, we mer de z’sämethaft müeßte der Tüfel am Schtil zieh?»

Jakobs Worte dünkten die Haushälterin sehr vernünftig, und sie brachte es nicht über sich, ihn zur Eile zu mahnen. Sie nahm sich im Gegenteil vor, Änneli zur Vernunft zu bringen und ihr zu sagen, sie solle sich nur freuen, daß sie einst einen so klugen Haushalter zum Manne haben werde. Hätte sie aber noch tiefer in Jakobs Gedanken und in sein Sparbüchlein gesehen, so hätte sie doch anders überlegt; denn Jakobs Träume gingen fast so hoch wie die schöne Himmelsleiter, von der sein großer Namensvetter im Alten Bund geträumt, und im Sparbüchlein war er noch nicht über die erste Seite hinausgekommen.

Item, Änneli faßte sich unter dem tröstlichen Zuspruch seiner Meisterin in Geduld, und so ließ man den Winter mit seinen vielen stillen und einsamen Stunden doch mehr oder weniger getrost über Wittigkofen hereinbrechen. Aller Leute Gedanken weilten bei den schweizerischen Soldaten, die mit hochgezogenem Kaputkragen auf den eiskalten Bergen des Jura Wacht hielten und mit stillem Grauen nachts den geröteten Himmel jenseits der Grenze betrachteten, unter dessen feurigem Gezelte zwei Völker um Leben und Tod 222 rangen. Täglich brachten die Zeitungen furchtbare Nachrichten, die das Herz erbeben machten. Von den tausend und aber tausend Gebeten, die in stiller Nacht zum Himmel wallten, sagten sie nichts, und doch gaben sie so manchem Menschen heiligen Frieden in das empörte, bangende Herz. Barmherzigkeit durchflutete wie ein segnender Strom das Schweizervolk und befruchtete viele Herzen mit der Triebkraft jener Menschenliebe, die weder Nationen noch Grenzen kennt.

Kaum war in den Tälern der Schnee verschwunden — drüben auf der Jurakette schimmerte er freilich noch immer in silbernen Linien — so eilten die Gedanken über die kahlen Felder voraus in den Frühling und den Sommer. Jedermann spann seine Pläne, die einen sannen, wie sie «hantieren und gewinnen» wollten, die andern gedachten des neuen Wohlbehagens, das ihnen der Sommer bringen würde. Dem Bauer verhieß jedes sprießende Gräslein eine volle Scheune, sorglosen Menschenkindern weckte das Keimen unter dem dürren Laube neues Liebesglück. Und zu den letztern gehörte Änneli. Darum war, als in den ersten Februartagen Jakob einmal mit ungewohnt langen Schritten aus der Stadt heimkehrte und leuchtenden Blickes unter dem Efeuwall des Hoftores erschien, ihr erster Gedanke: «Jetzt rückt’s.» Und mit dem lautlos eilenden Fluge süßen Hoffens glitten ihr kühne Bilder durch den Kopf. Wer konnte es wissen, ob das Leuchten auf Jakobs Gesicht nicht seinen Grund in irgend einem Geldgewinn hatte, der 223 nun endlich freie Bahn schaffen würde? Am liebsten wäre sie ihm in dieser Voraussetzung gleich um den Hals gefallen. Aber da erschien der leibhafte Ordnungsgeist in Gestalt der Haushälterin an der Haustüre und zwang Änneli, sich Gewalt anzutun.

Mit Hast schob Jakob seinen Korb auf den Küchentisch, um zur Entladung seiner Seele Luft zu schöpfen. Er wartete keine Frage ab, sondern verkündete: «Es chöme-n-achtzgtusig Franzose ga Bärn.»

«Du bisch nid gschyd. Wär het’s gseit?» fragte Frau Marie.

«He si säge’s i der Schtadt. Der General Herzog heigi Bscheid gmacht.»

Obwohl man Mühe hatte, dem Bericht Glauben zu schenken, entfielen allen die Worte. Man wußte sich nicht zu fassen. Was wollten die Franzosen? — Das letzte Mal, als sie in Wittigkofen erschienen, war es ein Tag des Schreckens. Davon zeugten droben im großen Saal die von übermütigen Degenspitzen durchlöcherten Familienporträts. Ja, damals folgten sie dem fliehenden Landsturm aus dem Grauholz. — Schon regte sich in den Herzen der Frauen der Gedanke an Verstecken, Retten, Fliehen. Der Schreck machte Jakob Spaß, und er nahm sich Zeit zu weiterer Aufklärung. Daß die Franzosen diesmal an elendem Wanderstab, ohne Wehr und Waffen einziehen sollten, an das Erbarmen der Nachkommen jener Landstürmer appellierend, das erfuhr man erst nach und nach. Und völlige 224 Beruhigung brachte erst der Bericht des Hausherrn, der eine Stunde später eintraf.

Änneli fiel aus rosigem Gewölk in die graueste Nüchternheit des Wintertages zurück. Was sollten ihr die achtzigtausend Paare flammend roter Hosen? Der eine, einzige Halbleinene allein hätte ihr mehr gegolten. Daß der General Clinchant, den sie auch dem Namen nach nicht kannte, mit seiner Armee gerade ihr zuhilfe kommen sollte, konnte sie freilich nicht wissen. Ihre Seele hub von neuem zu grollen an. Drum nahm sie den Holzkorb zur Hand, packte ihr bißchen Neugierde darein und ging mit erheucheltem Gleichmut ins Holzhaus, während Jakob im Schloß seine Neuigkeiten in immer neuer Gewandung zum besten gab.

Daß die Franzosen noch zu etwas nütze seien, das glaubte in jenen Tagen niemand, nicht einmal die steinernen Bären, die am Murtentor mit geneigtem Kopf auf die Straße hinunterblickten, als wollten sie horchen, was denn da für eine sonderbare Musik nach Bern hereinkäme. In langen Reihen standen die Leute von der Heilig­geist­kirche bis weit hinaus vors Tor, voller Neugier und Erbarmen; denn dem ersten Transport der in Verrières Entwaffneten war die Kunde von schrecklicher Not vorausgeeilt. Endlich füllte sich draußen die Allee an der Laupenstraße mit einem seltsam kriegerischen Getümmel. Die «Hiesigen», wie man damals zur Unterscheidung von den Internierten die Schweizer­soldaten nannte, machten Musik — nicht sehr schön. 225 denn die Trompeten waren gefroren — um die sich hinschleppenden, ausgehungerten Franzosen ein wenig «aufzuklepfen». Der Kommandant, der mit eingetätschtem Käppi und etwas verwildertem Knebelbart voranritt, machte, wie übrigens auch seine Untergebenen, ein Gesicht, als wollte er der neugierigen Menschenmenge zurufen: «Ja, lueget nume, was mer euch da heichrame.» — Gar manchem gutherzigen Menschen schossen die Tränen jählings in die Augen, als die hohläugigen, jämmerlich zerlumpten Franzosen, denen die Frostbeulen aus den zerrissenen Schuhen guckten, vorüberzogen. Und beinahe noch trauriger stimmten die Zuschauer die zu Knochengestellen eingefallenen Pferde, die sich auf dem Transport vor Hunger gegenseitig die Kamm- und Schweifhaare abgenagt hatten.

Kaum war der Zug zwischen den Toren angelangt, so machte sich alles heran, um den hungrigen Gästen Speise und Trank darzureichen, so daß die «Hiesigen» ihre liebe Not hatten, um die Ordnung zu schützen. «Nid, nid!» sagten sie etwa, «heit e chly Geduld!» Und wenn die Buben mit Zigarren und andern Geschenken zwischen den Doppelrotten hindurch­schlüpften, so gab’s wohl auch einen echt hiesigen Puff mit breiter Schuhkappe. Heute kam man nicht früh zur Ruhe. Die Franzosen aber hatten entdeckt, daß es doch noch Menschen auf Erden gebe, mit denen auszukommen wäre.

Andern Tags wurden auf dem Graben Pferde verkauft. Großen Zug hatte der Handel nicht eben. Die 226 armen Tiere bedurften besonderer Pflege, wenn noch etwas Brauchbares aus ihnen werden sollte. Viel wollte man nicht an sie wagen, und manches treue Tier, das mit herzzerreißend fragendem Blicke seinem Meister durch des Krieges schauerliche Not bis hierher gefolgt war, erhielt jetzt erst seinen Gnadenstoß. — Ja, da vernahm man das Seufzen der stummen Kreatur. Pferdekundige Leute, die sich einen Versuch leisten durften, fanden aber unter den Jammergestalten auch «edles Blut» und kauften um ein paar Fränklein einen «Bourbaki». Solche lebten noch viele Jahre im Schweizerland unter dem Namen ihres unglücklichen Kriegsherrn.

Einen gar verwunderten Blick tat auch ein magerer, aber gut gebauter Schimmel, dessen Temperament durch die Strapazen des Winterfeldzuges nicht gebrochen war. Ein bildhübscher schwarzäugiger Chasseur hatte das Halfterseil eben dem braven Jakob des Herrn Forstmeister übergeben und küßte unter Tränen noch einmal seinen treuen Kriegsgefährten, « Adieu chéri!» rief er dem Pferdchen zu, zärtlicher als er es seiner Geliebten hätte sagen können. Das rührte den Forstmeister, der dabei stand und seinen ergrauenden, ungleichen Schnurrbart strich; darum lud er den Franzosen ein, gelegentlich nach Wittigkofen zu kommen und nach seinem Schimmel zu sehen. Dann steckte er ihm einige Zigarren zu und schloß mit dem Kommissär den Handel ab, während Jakob den «Bourbaki» neben das Chaisenpferd band, um dann heimzufahren.

227 In Wittigkofen erfreute sich der Schimmel der freundlichen Aufmerksamkeit des Forstmeisters, der ihn täglich mit gütiger Schonung ritt, namentlich aber der Fürsorge Jakobs, der an der Rettung dieses Schiffbrüchigen auch teilhaben wollte und deshalb das Pferdchen verhätschelte wie ein kränkliches Kind. Änneli sah sich von neuem hintangesetzt und mied grollend und schmollend die Gegend des Stalles. Aber das Mädchen behielt den harzigen Liebhaber unter den Augen. Es hatte auffallend viel am Brunnen zu schaffen, von wo es, durch kahles Gebüsch verdeckt, in den Hof zwischen Scheune und Stall hinunterspähen konnte. Jakob sah es oft, wenn er die Pferde zur Tränke führte oder vor dem Stall mit dem Striegel bearbeitete. Dann lachte er siegesgewiß in sich hinein und freute sich königlich über die Art, wie Änneli ihm den Aufschub seines Vorhabens erleichterte. Jeder Tag, an dem seine Fränklein ruhig auf der Sparkasse liegen konnten, war ein köstlicher Gewinn. O wie sollte das kindische Geschöpf dort hinterm Brunnen ihn einst rühmen, seine haushälterische Klugheit mit bewundernder Liebe anerkennen müssen!

Wich etwa Änneli ihm einmal in der Küche schnippisch aus, um ihn zu strafen, so brummte Jakob sehr zuversichtlich: «Du murbisch de scho.» Wie recht er damit hatte, zeigte sich eines Tages, als der Chasseur, der frühere Meister des Schimmels, an der Stalltüre sich einstellte. Es war gar zu merkwürdig. Der Franzose 228 war von der Abendseite gekommen, während Änneli auf der Morgenseite hinter dem Schloß zu tun hatte. Sie konnte ihn unmöglich gesehen haben. Aber kaum hatte Jakob den Schimmel ans Tageslicht gezogen und mit strahlenden Augen auf das Verschwinden der Rippen hingewiesen, die unlängst noch so deutlich sich abgezeichnet hatten, so war Änneli auch schon da, und ehe es lange ging, hatte sie mit dem Chasseur angebunden. Änneli — konnte nämlich Französisch. Es war im Welschland gewesen.

Der Franzose streichelte seinen alten Freund und betrachtete gleichzeitig mit sichtlichem Wohlgefallen die lustige Bernerin, so daß diese sich ermuntert fand, ihr Licht leuchten zu lassen.

« Il lui est bien allé,» meinte es, « à votre cheval.»

« O, Mademoiselle,» antwortete der Franzose, « vous auriez dû le voir à la bataille, sapristi!»

Änneli fuhr getrost fort: « Voyez-vous, comme il a graissé? — Il l’a fort bien chez nous.»

Der Franzose verstand von Ännelis Welsch nicht viel mehr als Jakob, aber ihm war’s genug, Jakob schon zu viel. Und Änneli konnte sich nicht genug tun. Jakob sollte wissen: hatte er die Batzen am Schermen, so konnte sie Welsch, und das wäre auch ein Kapital.

Als der Franzose fort war, meinte der Melker, der auch dabei gestanden, zu Jakob: «Gäu wie das wäutschet; aber das meint si wie-n-e Pfau. Es fäut ihm nüt weder Fädere-n-im Bürzi, so chönnts es Rad schla.» An Spott 229 fehlte es Änneli überhaupt nicht, hieß sie doch fortan d’Mammeseu.

Der Franzose fand den Weg nach Wittigkofen immer leichter, und so oft er kam, um seinen Schimmel zu besuchen, war Änneli dabei, um den Dolmetsch zu machen. So sagte sie wenigstens, in Wirklichkeit war es ihr hauptsächlich darum zu tun, Jakobs Eifersucht anzublasen. Aber sie verrechnete sich, verrechnete sich sogar doppelt. Einmal war Jakob mit solchen Experimenten nicht beizukommen. Seine Gemütsruhe glich dem Felsblock, der aussieht, als wollte er zutale rollen, der aber aller menschlichen Kraft trotzt, wenn sie ihn weg haben möchte. Sodann wußte Änneli gar nicht, wie hübsch sie war, dachte nicht daran, daß die Franzosen sozusagen auch Leute seien, und ahnte nicht, wie leicht ein in die Fremde verschlagenes, einsames Menschenherz für jede Freundlichkeit empfänglich ist. François, so hieß der Chasseur, wußte bald nicht mehr, kam er um seines Schimmels willen oder zog ihn das fröhliche Mädchen an, das mit ihm so possierlich Französisch redete.

In den Baracken der Internierten auf dem Wyler gab es oft genug schlaflose Nächte. Die ermüdende Bewegung fehlte, und die Lagerstätten waren auch nicht mit Eiderdaunen gepolstert. Wenn nun ein Strohhalm unsern François stach, so erwachte er, und dann — er mochte wollen oder nicht — war auch Änneli zur Stelle, in seinen Gedanken nämlich. François überlegte sich, 230 vielleicht habe der liebe Gott ihn nicht umsonst nach Bern geführt. Warum sollte er nicht gerade hier sein Glück finden? Und aus dem Sinnen und Träumen löste sich allmählich ein Entschluß ab. François — seines Zeichens ursprünglich Barbier — wollte um Arbeit aus, wollte sehen, wie er seine roten Hosen los würde und in Bern festen Fuß fassen könnte.

Unmerklich überwucherten im Herzen des Franzosen die Zukunftsträume die kluge Überlegung, und ehe er sich dessen versah, hatte er verraten, was in ihm vorging. Eines Tages ritt Jakob den Schimmel zum Hufschmied an der Judengasse. Oben am großen Muristalden traf er den Chasseur, der auch gleich an das Pferd herantrat und ihm zärtlich auf den Hals klopfte. Das war nichts Ungewohntes. Jakob ritt seines Weges weiter, besorgte seine Geschäfte und hatte die Begegnung schon wieder vergessen. Sie kam ihm erst wieder zu Sinn, als er, heimkehrend, den Franzosen von Wittigkofen weg den Eichen entlang schlendern sah. Was hatte François dort zu suchen, während der «Bourbaki» in die Stadt geritten wurde? Und seit wann durften die Internierten mitten im halben Tag sich so weit vom Lager herumtreiben?

Danach fragen mochte Jakob nicht. Änneli, sagte er sich, brauche nicht zu merken, daß er überhaupt darauf achte, wann der Franzose sich in der Gegend aufhalte. Zudem werde es nun wohl bald ein Ende haben mit der Franzosen­herrlichkeit; die Zeitungen kündigten den 231 Frieden an, und dann würden die Internierten über die Grenze abgeschoben.

Änneli hatte an jenem Tage einen Schalk in den Augen. Es brauchte einer wahrlich keine Brille, um darin zu lesen: «Gäll, wenn wüßtisch, wär da gsi isch?» Jakobs Augensterne hingegen schienen nur noch nach innen zu leuchten. Was sahen sie dort? Sie glitten träumend über die Tannenwipfel des Egghölzli in einen Himmel voll rosiger Wolken. Dort oben saß Änneli und «hüselete», und zu ihren Füßen lag ein aufgeschlagenes Sparbüchlein mit vielen vielen Zahlen drin. Wenn Jakob ob solchen «Gesichten» abends einschlief, so war ihm wohl manchmal, als galoppierte einer auf einem Schimmel über das Egghölzli, er hatte rote Hosen an und stach mit seinem Säbel nach dem Sparbüchlein. Aber, das war ja doch dummes Zeug, und Jakob war nicht hurtig, zu glauben. Darum schlief er ungestört den Schlaf des Gerechten.

Diesen schlief er auch an jenem blauen Frühlingssonntag, und zwar des Nachmittags, auf dem zusammen­gesunkenen Heustock über dem Pferdestall, als ihn ein schallendes Gelächter und dröhnendes Händeklatschen aufschreckte. So konnte nur der Herr Forstmeister mit seinen wohlgepflegten fleischigen Händen klatschen. Jakob warf, ehe er hinunterkletterte, einen Blick durch das Gitterwerk der Heubühne. Fast wäre er ins Tenn hinuntergefallen vor Schreck. Ganz Wittigkofen war im Hofe zwischen Stall und Pachtscheune versammelt, vom 232 Forstmeister bis zum letzten Hüterbuben, und schien etwas zu erwarten. Und noch ehe Jakob die Bühne verlassen hatte, sprengte der Franzose, barfuß auf dem Schimmel stehend, in den Hof herein!

Jakob fuhr sich mit der Hand über die Stirn — das war nun — nein — es war kein Traum. Der Franzose war abgesprungen und tätschelte das Pferd. Mit seinen schwarzen Augen prüfte er den Effekt seiner Vorstellung auf Änneli, so daß er das Zigarrenetui nicht einmal gleich sah, welches ihm der herbeihumpelnde Forstmeister hinstreckte.

«Bravo, Bravo, François!» krachte es aus des alten Herrn Munde, als Jakob aus dem Tennstor trat. Zuerst bemerkte ihn niemand, und Jakob konnte sein Augenmerk ungestört auf Änneli richten, welche dem Franzosen aus ihrem Welsch ein gutgemeintes Kompliment zusammen­drechselte. Aber auf einmal entdeckte das Mädchen seinen alten Liebhaber. Da brach aus dem lieblichen Gesicht eine so leuchtende Heiterkeit, daß, ehe es nur auf den Verschlafenen hinzeigen konnte, jedermann nach diesem sich umdrehte. Auch der Forstmeister drehte sich auf seinem hölzernen Kunstabsatz und hub an zu lachen, und sein Lachen dröhnte wie das Triumphgebrüll römischer Legionen. «Ha ha ha! E heitere Wächter — ha ha ha — lat sech vom Franzos der Schümel us em Stall stähle — ha ha ha!» Und diesem Geschrei folgte ein Handschlag auf die Achsel, unter dem Jakob fast zusammenbrach. Dem ganzen Lärm, 233 der nun über Jakob niederging, konnte der Kutscher-Gärtner entnehmen, daß er das Opfer eines zwischen Änneli und dem Franzosen verabredeten Streiches geworden. Änneli hatte sogar leere Säcke herbeigeschafft, auf denen der Schimmel den Stall verlassen konnte, ohne mit den Hufen Lärm zu machen. Dem Herrn Forstmeister war zuerst das Blut ins Gesicht geschossen, da er François wie einen Kunstreiter auf seinem «Bourbaki» nach dem Murifeld hinausreiten sah; als er dann aber erfuhr, daß es sich um einen Scherz handelte, der seinem Kutscher galt, geriet er ins Lachen und hatte schließlich seine helle Freude an des Chasseurs Voltigierkünsten, die der Schimmel sich augenscheinlich gerne gefallen ließ.

Also, Änneli und der Franzose hatten hinter seinem Rücken die Köpfe zusammengesteckt. So viel stand bei Jakob fest. Und dazu hieß nun Änneli auf einmal Jeannie. Da zog in des Geprellten Gemüt ein grimmer Kolder auf, von dem zunächst aber nur der unschuldige «Bourbaki» etwas zu merken bekam, und zwar in der Form groben Reißens am Halfterstrick. Der Zorn und die Angst währten genau vierundzwanzig Stunden, dann ward es wieder friedlich in Jakobs Gemüte. Was sollte ihm denn der Franzose anhaben können? Sie waren ja in Paris dran, Frieden zu schließen, und dann war’s aus mit der Franzosen­wirtschaft. Dann konnte Jakob Änneli für ihr schalkhaftes Spiel mit einer neuen Geduldsprobe entgelten lassen. Er freute sich beinahe 234 über die Entdeckung, daß er solcher Grausamkeit fähig wäre, und abermals kam eine zuversichtliche Stimmung über ihn, die in der Überzeugung wurzelte, daß er das Meitschi in der Hand habe.

Solcher Meinung war nun aber nicht nur Jakob, sondern auch der Franzose, dem der Eindruck nicht entgangen war, welchen seine Schönheit auf Änneli gemacht. Und im Erbauen von Luftschlössern war er Jakob entschieden über, denn wo dieser Sparbüchlein­ziffern zu behäbigem Berner Bauernhaus aufbeigete, da wob der Franzose aus lauter Liebesträumen ein luftig Zeltdach. Das war im Nu über die gähnende Leere seines militärischen Brotsackes gespannt. Was weiß ein Franzose vom Bysluft? Aber ganz nur in den Wolken blieb François mit seinen Plänen nicht. Das liebende Verlangen nach der lustigen Bernerin brachte ihn auf durchaus praktische Gedanken. Er entsann sich des Coiffeurberufes, den er vor seiner militärischen Dienstzeit erlernt und dann beim Regiment mit Gewandtheit ausgeübt. Gegenüber der Heiliggeist­kirche, in welcher viele Leidensgenossen François’ einquartiert lagen, betrieb ein braver und menschen­freundlicher Meister einen Coiffeurladen. Der fand sein Wohlgefallen an dem fixen Chasseur, nahm ihn auf und ließ ihn von Kopf zu Fuß neu kleiden. François wußte nicht, wie ihm geschah. Am liebsten wäre er dem guten Meister um den Hals gefallen: aber er hatte es gleich gemerkt: die Berner lieben dergleichen Gefühls­äußerungen 235 nicht. Die Arme hätte der Mensch zum Arbeiten oder etwa noch zum Dreinhauen — alles am rechten Ort. Das war des Meisters Meinung. So getröstete sich François im stillen der wachsenden Aussicht, diese seine Arme bald um ein ander Menschenkind schlingen zu können. Ja, François war selig.

In dieser Seligkeit und in seinem neuen Zivilanzug eilte er am nächsten Sonntag, Änneli seine Aufwartung zu machen. Er ging wie auf Flügeln. Aber der Eindruck, den er machte, entsprach gar nicht seinen Erwartungen. Änneli sagte einfach: «O wie schad!»

Der Franzose verstand das Wort nicht, aber den Schreck konnte er in Ännelis Augen lesen. Er dachte, es sei das Bedauern um das Verschwinden seiner verschnürten bunten Uniform, und fing an, Änneli darüber zu trösten. Daß in Änneli bei seinem Anblick ein Licht aufgegangen war, das sengend und brennend in des Mädchens harmlose Seele hineinleuchtete, ahnte der verliebte Franzose nicht. Auch Änneli hatte sich auf den baldigen Friedensschluß verlassen, der den lustigen Reitersmann ja wieder fortführen würde, und deshalb mit ihrer Freundlichkeit nicht gegeizt. Daß der arme Mensch darauf bauen würde, war ihr nie zu Sinn gekommen. Jetzt aber dämmerte ihr auf, daß Ungutes daraus werden könnte.

Glücklicherweise kam jetzt Jakob daher und gab ihr einen willkommenen Anlaß, hinter des Schlosses Mauern zu verschwinden. Der Franzose lächelte den biedern 236 Kutscher triumphierend an. Jakob meinte: «E, bisch du’s? I hätt’ di gwüß bald nid umegkennt. — Aber jitz kennt di de der ‹Bourbaki› o nümme-n-ume.»

Ganz harmlos erzählte nun François, wie gut es ihm ergangen und welch ein Glück er gehabt, daß er gerade diesem Meister ins Haus gefallen sei. Jakob schien, wie gewohnt, sehr kühl all den Neuigkeiten gegenüber. Daß ihm fast übel wurde ob des Franzosen Glück, hätte ihm niemand angesehen. François hatte es heute gar nicht eilig, ihn rief einstweilen kein militärisches Signal ins Lager zurück. Den ganzen Nachmittag hockte er auf den Zäunen herum, in der Hoffnung, Änneli nochmals zu sehen. Änneli blieb im Schloß, Jakob länger als sonst in Stall und Sattelkammer, beide sich fragend, ob der Franzose nicht bald weiterziehen werde. Als es damit nicht rücken wollte, schlich Jakob selber sich fort, blieb aber in der Umgegend, um seinen Nebenbuhler nicht ganz aus den Augen zu verlieren. Der Franzose ging erst stadtwärts, als die Sonne untergegangen war und der Nachtwind das Herumstehen und -hocken ungemütlich machte.

Jetzt hätte Änneli Jakob gerne einen Wink gegeben; aber beim Nachtessen, in Gegenwart der andern Dienstboten, ging das nicht an, und so kam die Nacht über sie, in deren stillem Dunkel jedes seinen eigenen Sorgen überlassen blieb. Noch immer baute Jakob auf den Frieden, aber seine Zuversicht hatte einen harten Stoß erlitten. Kam Änneli in jener Nacht zum Entschluß, 237 schon andern Tages den Dienst in Wittigkofen aufzusagen und zu fliehen, so wurde Jakob rätig, der Sache auf den Grund zu gehen, um zu erfahren, ob François die Wahrheit gesprochen habe. Es konnte doch abermals ein Schabernack sein?

Niemand seht sich gern der Gefahr aus, lächerlich zu werden, und mancher hat vor dieser Gefahr so großen Respekt, daß er aus lauter Vorsicht, durch allerlei törichtes Tun erst recht sich der Lächerlichkeit preisgibt, ohne es nur zu ahnen. So auch Jakob. Er mußte um jeden Preis wissen, was der Franzose vorhatte, aber seinen besten Freund würde er jetzt nicht ins Geheimnis gezogen haben. Er entschloß sich, geradeswegs in den Coiffeurladen zu gehen und zu erforschen, ob François dort wirklich um sein Brot arbeite, und wie lange das wohl dauern möchte. Mit diesem Vorhaben war er am Montag morgen bis in die Muri-Allee gekommen, und nun überlegte er von Baum zu Baum, wie und wen er fragen sollte. Er mußte einen Vorwand haben. Sollte er ein Häfelein Pomade kaufen oder ein Gütterli Haaröl? Würde man ihn da nicht auslachen und fragen, was er damit wolle? — Nein, das ging nicht. Schon das Geld reute Jakob, denn solche «Rustig» war obendrein teuer. Besser wäre es wohl, sich etwas am Kopf machen zu lassen, damit man auch ordentlich Zeit hätte, zu «brichten» und «abzulosen». Aber schaben ließ Jakob im Ordinäri nicht, er trug ja einen Vollbart. Daß dieser Ännelis Entzücken war, überlegte Jakob jetzt 238 nicht, wohl aber, daß es Zeit brauchte, dieses Gestrüpp auszumachen, daß es im Sommer angenehmer sei, keinen Bart zu tragen, und daß er vielleicht ohne solchen sogar gattlicher aussehen würde. Die paar Stoppeln wäre seine Seelenruhe schon wert. Natürlich sollte das nur im Notfall geschehen. Jakob hatte kaum die Schwelle des Coiffeurladens überschritten, so kam er in Verlegenheit, und als ihn der Meister fragte, was sein Begehr sei, wußte er nichts anderes zu sagen als: «Der Bart abmache.»

Gesagt, getan. François begrüßte Jakob als seinen Freund, hieß ihn sitzen und begann seelenvergnügt den Gegenstand von Ännelis Stolz herunterzusäbeln. Wohl war es Jakob, als sollte er Halt gebieten. Aber es war zu spät. Immer mutzer wurden die Stoppeln. Der Franzose schwatzte dazu mehr, als Jakob verstand. Jakob fühlte sich ausgeliefert und wehrlos, ja, ihn befiel sogar der törichte Gedanke, wenn François so wild wäre wie die Turkos, so könnte es ihm noch übel ergehen. Unwillkürlich sandte er hilfeflehende Blicke in den Spiegel und im ganzen Laden herum.

Wenn jetzt der Franzose mit seiner fürchterlichen Schere die Bande zerschnitt, die ihn mit Änneli verknüpften?

Das war noch schlimmer als der große Säbel, der in Jakobs Traum nach dem Sparbüchlein gestochen.

Dem Geplauder des flinken Barbiers war zu entnehmen, daß der Waffenstillstand abgeschlossen sei und 239 daß die Internierten heimgeschoben würden. Da ward es Jakob leichter ums Herz. Seine Unterwerfung unter das Schermesser hatte sich also gelohnt.

Jetzt wurde er zur letzten Politur eingeseift, und dabei erzählte ihm François weiter, seine Dienstzeit sei abgelaufen, und sein guter neuer Meister habe mit Hilfe hoher Herren vom General Clinchant, den er täglich im Bernerhof rasiere, die Erlaubnis erwirkt, daß er, François, bis auf weiteres in Bern bleiben dürfe.

Und das sagte der Franzose leuchtenden Blickes, während er Jakob mit dem Rasiermesser um den Kehlkopf herumfuhr. Jakob zuckte und schluckte, und François sagte fürsorglich: «Äbe still, suns i schnyde dyne Gropf abe.»

Als die Schur beendet war, blickte Jakob mit verbissenem Ingrimm auf die Bartlöcklein, die um ihn her am Boden lagen. Was der Franzose noch weiter schwatzte, er hörte es nicht. Wie sauber er aussah im Spiegel, er sah es nicht. Jakob bezahlte und rannte nach Wittigkofen hinaus.

Dort war sein erstes, Änneli zu suchen. Jetzt galt’s, jetzt lag Gefahr im Verzug. Nicht einmal an sein Sparbüchlein dachte der Geängstigte. Änneli stand im Holzhaus und füllte einen Korb mit Scheitern. Als Jakob heranhastete und unter die Türe trat, wandte sie sich um und — tat einen Schrei. «Um ds Himmels Gotts Wille, was chunt di jitz a?» sagte sie. «Wo hesch dy Bart?»

240 «I bi wöhler däwäg,» meinte er. «Aber los säg,» fuhr er gleich fort, «du wirsch mer öppe nid welle mit däm Franzos abändle?»

Änneli zwang sich zu einem bösen Gesicht und machte nur so «hm» vor sich hin. «Du gfallsch mer emel nüt meh.»

«Änni!» sagte Jakob, beinahe zitternd, «bsinn di!» Er wollte sie bei der Hand fassen. Aber Änneli riß sich los und grollte: «Warum hesch mi so la beite? — Jitz hesch es.»

Jakob wurde bleich und maß das Mädchen mit stoberem Blick. Änneli wandte sich von ihm ab. Ihn dünkte, sie schluchze. Mit verhaltenem Atem trat er auf sie zu, legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: «Aber Änneli, isch dr ärnscht? — Wottsch nüt meh vo mer?» — Sie bedeckte ihr Gesicht mit der Schürze. «Änneli,» jammerte Jakob weiter, «säg mer: Wottsch mi oder wottsch mi nid? Bi-n-i dr nümme guet gnue?»

Da platzte Änneli heraus: «Mira wohl.» Sie ließ die Schürze fahren und lachte hell heraus: «Aber gäll, du hesch Angscht gha? — ’s gscheht dr rächt.» Darauf antwortete Jakob, indem er die Wiedergewonnene in die Arme schloß und ihr einen herzhaften Kuß gab.

Jakob und Änneli sind ein glückliches Paar geworden. Den guten alten Schimmel, der ihnen zum Glück verholfen, haben sie, solange er noch lebte, aufs zärtlichste gepflegt.

241 Der arme François dagegen hatte ein traurig Los. Sein alter Kriegsherr würde ihn wohl in Bern gelassen haben. Aber nun brach in Paris die Revolution aus, und ein anderer kam ans Ruder. François wurde zurückberufen und fand nach wenigen Tagen, als tapferer Soldat, den Tod vor den Barrikaden der Communards.



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