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Eines Vaters Liebe

Wo heute der Quaderbau der großen Nydeckbrücke zum gewaltigen Schwung über die Aare ansetzt, stand vor hundert Jahren, eingezwängt zwischen die Häuser an der Mattenenge, ein heimeliges altes Wohnhaus, in dessen tiefliegendem Erdgeschoß Christen Baumgartner seine Drechsler­werkstatt aufgeschlagen hatte. Des Meisters Werkzeuge hingen wohlgeordnet an den Wänden, soweit diese nicht mit den angelehnten Holzvorräten belegt waren. Der ganze Raum war mit dem angenehmen Duft geschnittenen Hartholzes erfüllt, und der grüne Abhang jenseits des Flusses warf das weiche Licht der Abendsonne in die Fenster der Butike zurück. Der freundliche Strahl fiel auch auf das derbe Gesicht des Meisters und ließ seine starr in die Ferne blickenden Augen erglänzen, während seine rauhe Hand ein in die Drehbank gespanntes Tischbein umfaßte. Baumgartner hatte, so schien es, nicht acht auf seine Arbeit. Er sah vielmehr aus, als hätte die gleichmäßige Bewegung der vor den Fenstern rastlos dahineilenden Wellen ihn in staunende Geistes­abwesenheit versetzt. Er achtete auch des Geräusches um ihn her nicht, 6 weder des Surrens seiner Drehbank, noch des leisen Gurgelns des Wassers, noch des Klapperns der Wagen, die ab und zu hinter dem Hause über die rundlichen Pflastersteine der Gasse hinwegholperten. Wer ihn genau beobachtet hätte, würde aber doch bemerkt haben, daß sein Gesichtsausdruck sich hin und wieder veränderte. Manchmal zog sich seine Stirne in bitterböse Falten; dann wieder zuckte es wehlich um seine Mundwinkel, und ohne daß er sich dessen bewußt war, strich er mit dem behaarten Handrücken über die feucht anlaufenden Augen.

In der Brust des wackeren Mannes wogte in wildem Durcheinander ein Kampf von Gefühlen, die man ihm kaum zugetraut hätte. Wie schon seit Jahren, zog ihn etwas mit magnetischer Kraft aus der engen Wohnstätte hinüber auf die jenseitige Höhe, wo der frische Wind durch die Wipfel der hochragenden Eschen strich. Das war ein Gefühl, das er schon vor Jahren niedergerungen hatte, als er, dem wohlgemeinten Rat seines Gönners, des Ratsherrn Berset, folgend, sein Weib heimgeführt. Es war wieder erwacht, als er seine Gattin wenige Jahre später zu Grabe getragen hatte. Aber der muntere kleine Bube, der ihm aus dem kurzen Eheglück geblieben war, hatte ihn an Haus und Werkstatt gefesselt. Der Zug in die weite Welt hatte sich nur noch an einzelnen Tagen kundgetan, wenn etwa Not und Sorge oder ein schweres Erlebnis ihn bedrückten. Das traf nun auch heute zu. Verdruß über den heranwachsenden Sohn und zärtliche 7 Vaterliebe rangen heute in Meister Baumgartner. Ihn hatte eine schlimme Kunde ereilt. Doppelt schlimm. Die Mitteilung des Herrn Berset, daß der junge Ueli seine, des Paten Güte ihm mit heimlicher Entwendung von Tabak, Wein und anderen Dingen vergolten habe, wäre schon genug gewesen. Aber noch viel peinlicher war dem Vater, daß sein Junge seither niemand mehr zu Gesicht gekommen war. Wo mochte er sich herumtreiben? — Was konnte noch weiteres aus der fatalen Sache entstehen?

Herr Berset hatte dem Meister das Versprechen gegeben, den Jungen nicht zu verklagen. Die Sache sollte zwischen ihm und dem Vater bleiben. So stand wenigstens nicht zu befürchten, daß es unter den Leuten ruchbar würde. Für eine angemessene Züchtigung würde Meister Baumgartner schon gesorgt haben. Und sie würde sicherlich nicht zu milde ausgefallen sein, denn der Meister empfand über das Treiben seines Sohnes eine Scham, die sich immer mehr zur Empörung steigerte. Er schämte sich nicht nur seines Jungen; was ihn noch mehr ärgerte, war die Entdeckung, daß all seine väterliche Strenge offenbar nichts gefruchtet hatte. Schon hörte er in Gedanken spöttische Bemerkungen seiner Nachbarn. Sie wußten ja freilich noch nichts von der Geschichte. Aber gegen Sticheleien war Meister Baumgartner dermaßen empfindlich, daß er solche auch dann witterte, wenn sie durch die Umstände ganz ausgeschlossen waren.

8 Der Schatten des Giebels war langsam über die Aare geschlichen, seine Spitze stach schon jenseits die steile Wiese hinan, und immer noch ruhten Baumgartners Blicke auf der den Schatten durcheilenden Wasserfläche, als ihn seine Schwester Marianne, die ihm seit dem Tode seiner Frau den Haushalt besorgte, zum Abendbrot rief.

Zwischen den beiden Geschwistern herrschte seit dem Verschwinden des Buben eine gewisse Spannung, da der Meister in den Augen seiner Schwester Vorwürfe las, die jene allerdings bereit hielt, aber aus Scheu vor einem Zornes­ausbruch bis jetzt noch nicht in Worten auszuprägen gewagt hatte. Als sie selbander der Küche zuschritten, auf deren sauberem Tische der Haferbrei dampfte, hob Marianne, die den Tisch für drei Personen gedeckt hatte, an: «Wenn me doch nume-n-o wüßti, wo ga sueche; i wetti scho...»

«La du ne nume la mache, er wird sech de scho zuechela. Der Hunger wird ne de scho heiwyse», fiel ihr der Meister ins Wort. Im Grunde seines Herzens war er mit der Schwester durchaus einig: Tür und Tor sollten dem Flüchtling offen bleiben, das Bett in der Kammer gerüstet, Speis und Trank sollte er finden und — auch jetzt wieder ein treues Vaterherz. Tief im Innersten hielt er ihm eigentlich schon Vergebung bereit für Unrecht und Schande. Eines nur — das wußte Vater Baumgartner schon jetzt — würde er dem Buben nicht vergeben können: wenn Ueli in das väterliche Haus zurückzukehren sich nicht getrauen sollte. 9 Das war nun aber auch der Gedanke, der in ihm von Stunde zu Stunde mehr obenauf kam und alles andere aus des Meisters Herzen verdrängte. So bestimmt er die Vermutung: «Er wird sech de scho wieder zuechela» aussprach, so schwach war es um seinen Glauben an die Richtigkeit dieser Annahme bestellt. War Ueli nicht in allen Stücken sein echter Sohn? Schlummerte nicht in seinem jungen Herzen, das ja nicht an die heimatliche Scholle gefesselt war, die nämliche Sehnsucht nach der weiten Welt, die auch den Vater zuweilen so schwer quälte? Ohne es selbst zu merken, fuhr sich der schweigsam gewordene Mann ganz gegen seine Gewohnheit einmal ums andere durch das krause Haar. Es geschah jedesmal, wenn aus dem Durcheinander seiner Überlegungen der Vorwurf sich erhob: Großer Gott, wenn nun der Junge mit dieser bösen Anlage in die weite Welt hinausläuft! So vieles hatte ich mir vorgenommen, ihm noch beizubringen! So manches wollte ich seit langem schon ihm sagen, was ein Kind nur von den Eltern auf den Lebensweg mitbekommen kann! — Mein Gott! Führ’ mir in Gnaden das Kind noch einmal ins Haus! Es soll an Vergebung und liebender Fürsorge ihm nicht fehlen.

Lange schon hatten sie ihre Abendmahlzeit beendet, und immer noch saß der Meister in Gedanken versunken am Tische, während seine Schwester an Herd und Schüttstein herumhantierte. Jeder Schritt, der vor dem Hause hörbar wurde, jede Berührung einer Türklinke 10 machte sie aufhorchen, lockte sie ans Fenster. Das entging Baumgartner nicht, weil er bei all seinem Grübeln immerfort auf der Hut war vor ihren Vorwürfen. Nach und nach drängte sich ihm das Bedürfnis auf, aus dieser Spannung wegzukommen, dem Druck, der auf ihm lastete, wenigstens auf einen Augenblick sich zu entziehen. So erhob er sich endlich, als das nächtliche Dunkel die enge Gasse zu beherrschen begann, setzte seine Mütze auf und schritt gesenkten Hauptes dem Wirtshaus an der Untertorbrücke zu, in welchem nach des Tages Mühsal die Handwerksmeister des Quartiers häufig sich zusammenfanden.

Eben wollte er um die Ecke biegen, als durch das offene Fenster der Wirtsstube Worte an sein Ohr schlugen, die ihn zwangen, einen Augenblick stillzustehen. «Wohl, äbe wohl,» hatte die ihm vertraute Bärenstimme des Gerbers Dubach behauptet, und ein knochiger Finger hatte dazu aufs Tischblatt gepoppelt, «das weiß i de hingäge, der Chrischte hets lang nid chönne verworgge, daß sy Vatter ihn nid o het welle la gah.» Darauf antwortete eine andere Stimme: «Si hätte ne-n-allwäg de scho la gah, wenn du nid underdesse der elter Brueder, der Köbel, Anno nünenachzgi z’Paris umcho wäri.» — «Ja, no sauft: aber der Köbel, dä het se groue. Das isch donners e schöne Soldat gsi.» Das hatte wieder der Gerber gesagt, und der andere antwortete ihm: «Aber der Chrischte hätti no schier der schöner gä u de no der difiger, däm schteckt der Trieb im Bluet.»

11 «Das bruuchsch du mir nid z’säge,» brummte draußen Meister Baumgartner und schritt mit krampfhaft geballten Fäusten vollends um die Ecke. Sollte er wirklich in die Gaststube eintreten? — Wie kamen die Leute just diesen Abend dazu, von ihm und seinem Bruder, der vor bald dreiundzwanzig Jahren bei der Verteidigung der Tuilerien gefallen war, zu reden? Christen Baumgartner war nicht aufgelegt, Red’ und Antwort darüber zu stehen, ob er wirklich in seinen Jünglingsjahren so gerne in die französische Schweizergarde eingetreten wäre und warum dieser Traum ihm nicht in Erfüllung gegangen. Seinetwegen mochten die Nachbarn sagen, was ihnen beliebte. Einen Augenblick zögerte Christen. Dann aber packte ihn die Neugierde, er wollte wissen, ob etwa das Ausreißen seines Ueli unter die Leute gekommen und die Männer da drinnen dazu geführt hatte, jene alten Geschichten wieder vorzubringen. Und so trat er ein.

Der erste Blick auf die kleine Tafelrunde in der Ecke erschloß ihm das Geheimnis. Keiner sagte ein Wort; aber ihre Blicke schwatzten wie die Elstern. Ja, von ihm war gesprochen worden, das hätte er jetzt erraten, auch wenn er nicht der unfreiwillige Zeuge ihrer Unterhaltung gewesen wäre. Und sie mußten offenbar einen Grund haben, ihr Gespräch in seiner Gegenwart zu unterbrechen. Auf ihren Gesichtern stand die Absicht, ihn zu schonen, geschrieben.

«Ja, i mueß dänk ga luege,» sagte der Torwart, 12 der eben sein Glas nach der Mitte des Tisches schob, ächzend aufstand und seinen alten Nebelspalter aufstülpte. An Baumgartner vorübergehend, fragte er diesen nicht ohne Teilnahme in vertraulichem Tone: «Isch er no nid umecho?»

Seinem trockenen «Nei» schickte Baumgartner einen verwunderten Blick voraus. Dann setzte er sich zu den übrigen, ihren Gruß kaum erwidernd. Also, die Flucht seines Buben war schon unter den Leuten. Sie hier mit Unberufenen zu erörtern, war er freilich nicht hergekommen. Woher wußten sie’s? Kannten sie auch den Grund der Flucht?

Die Antwort auf letztere Frage erhielt er sogleich, indem einer der Männer, welcher des Torwarts Frage gehört hatte, gegen Baumgartner gewendet, fortfuhr: «Was isch jitz o dä Bursch acho?»

«I weiß es nid,» sagte Christen.

«Eh weder nid isch dä a mene Wärber i d’Händ gfalle,» meinte Dubach, der Gerber.

«Öppe doch will’s Gott nid,» sagte Baumgartner, «aber wär weiß?»

Und der Gerber fuhr fort: «Dir Baumgartnere heit das e chly im Bluet.»

Ja, das hatten sie, dachte Christen. Aber damit war das Rätsel für ihn noch lange nicht gelöst. Man kam ihm erst näher, als sie alle fort waren bis auf den Gerber, der nun in aufrichtiger Teilnahme seinem verstört blickenden Nachbar näherrückte und ihm mit 13 einiger Überwindung freundschaftlich die Frage vorlegte: «Bisch ächt nid mängisch e chly wohl ruuch mit ihm umgange?»

Baumgartner antwortete erst nach einiger Überlegung, ohne merken zu lassen, daß diese Frage ihn an einer sehr empfindlichen Stelle getroffen hatte. Es wäre traurig, gab er zurück, wenn ein so robuster Bursche wie sein Ueli nicht mehr zu ertragen vermöchte als das. Er habe ihn freilich oft etwas rauh angefaßt, ihm aber nie etwas lange nachgetragen. Ueli wisse wohl oder sollte es wenigstens wissen, was er an seinem Vater habe.

Es war zwar finster, aber noch nicht spät, als die beiden Meister schweigsam durch die Mattenenge ihren Häusern zuschritten. Vor Baumgartners Haustüre verabschiedete sich Dubach, indem er sagte: «Wie gseit, a dym Platz gieng i ufem Wärbbureau ga nachefrage.» Baumgartner antwortete mit einem kurzen «Guet Nacht» und verschwand in seinem Hause.

*  *  *

Es hatte lange gedauert, bis Christen Baumgartner durch den Schlaf aus dem qualvollen Wirrwar seiner Gedanken erlöst wurde. Er konnte sich nicht entsinnen, Ueli jemals in Gegenwart des Gerbers hart zurechtgewiesen oder etwa gar gezüchtigt zu haben. Mithin mußte sich Dubach auf ein Geschwätz gestützt haben, als er ihm vorwarf, zu roh mit dem Jungen umgegangen 14 zu sein. Das war der letzte Gedanke des Meisters vor dem Einschlafen gewesen, und er hatte nicht versöhnlich gewirkt.

Den Werbeoffizier zu finden, war weniger einfach, als man sich dies wohl vorstellt. Hätte nämlich der Werber mit jenen Rekruten sich zufriedengeben wollen, die ihn in seinem Bureau aufsuchten, so würde sich der Kaiser Napoleon noch viel mehr über den schwachen Bestand der vier Schweizer­regimenter beklagt haben, als es ohnehin schon geschah. Man mußte den Burschen nachlaufen und sie auf alle mögliche Weise ködern. So wurde in Zeiten starken Mannschafts­bedarfes eine Suche nach dem Werber, ob man’s begehrte oder nicht, zu einem Pintenkehr. Und zählte auch damals die löbliche Stadt Bern noch wenig Wirtschaften, so war nichts­desto­weniger eine solche Schoppenreise ein gefährlich Ding, sintemal die meisten Wirtschaften in tiefen Kellern eingerichtet waren.

Meister Baumgartner fand denn auch andern Tags den Werbeoffizier nach etlichen Stationen erst gegen Mittag in der Tiefe jenes Kellers, dessen Schlund aus der Gerbernlaube gegen das Hôtel de Musique hinausgähnte. Christen hielt sich instinktiv an der glattgegriffenen Lehne, als er in die ihm entgegenquellende Dunstwolke niederstieg. Nur schlecht vermochte er seine Gereiztheit zu verbergen, als er dem Hauptmann sagte, er wisse nicht, in wie manches Loch er heute schon hinuntergegrännet, bis er ihn endlich gefunden habe.

15 «He nu,» schnauzte der Hauptmann, «i mueß o i d’Löcher abe, i cha dene chätzers Bursche nid ga Chlämmerli schtecke wie-n-e Schärmuuser. — Was isch? Wottsch öppe-n-o kapituliere?»

«Dir müeßtet übel Lüt nötig ha,» meinte Baumgartner, «wenn dr afe settig alt Grieggle wurdet yschtelle.»

«Eh bhüet’is,» knurrte der Werber, «i wett, i hätti no kei leidere-n-erwütscht. — Wie alt bisch?»

«O, i chume nid wäge däm.»

«Das isch grad glych. Es nimmt mi nume wunder.»

«Wie alt näht dr se de?»

«Sibezächni bis vierzgi.»

«Öppis tusigs! Da mögt i ja grad no i ds Mäß.»

«Und de nimmt me’s de nid so grüslech schpitz. Me schrybt ne der Jahrgang ja nid uf d’Schtirne.»

«Dir nähmet de mit Schyn o no Jüngeri, wenn si ds Mäß hei?»

«E warum nid? Es isch scho mänge-n-yne, er isch no nid vom Herre cho. Was cha-n-i derfür, wenn si mi alüge?»

Das eben hatte der Meister wissen wollen, und nun bohrte er weiter: «Isch öppe Baumgartner Ueli o bi-n-Ech gsi?» — Der Hauptmann warf bei dieser Frage auf seinen Gehilfen, einen rotuniformierten Unteroffizier, einen Blick, der ungefähr zu bedeuten 16 schien: Korporal, du weißt, was du zu tun hast. Dann sagte der Hauptmann: «Baumgartner?» Und wieder wandte er sich gegen den Unteroffizier: «Hei mer so eine gha?» Der Unteroffizier durchblätterte rasch sein Notizbuch und sagte: «Da isch kei settige.» Und der Hauptmann schloß die Auskunft mit der Bemerkung: «Es chöme halt nid alli zu mir. Dä cha o uf mene-n-andere Bureau gsi sy. Wenn dir dranne lyt, z’wüsse, ob er yne-n-isch, so muesch halt a ds Regimäntskommando uf Paris schrybe.»

Auf weitere Fragen bekam Baumgartner keinen Bescheid, und da der Werber nur noch Versuche machte, Christen selbst für den roten Waffenrock zu erwärmen, fand es der Meister an der Zeit, sich heimwärts zu begeben. Mit der Ahnung im Herzen, daß man ihm den wahren Sachverhalt verschwiegen habe, und daß Ueli dem Baumgartnerschen Familienzug bereits zum Opfer gefallen sei, kehrte Christen an die Mattenenge zurück.

Er war erst etwa in die Mitte der Gerbergasse gekommen, als er vor seinem Hause ein Trüpplein von allerhand Leuten zu enggeschlossenem Kreise versammelt sah. Spitze Ellenbogen ragten rückwärts daraus hervor. Köpfe wackelten und Hände gingen inmitten des Kreises lebhaft auf und nieder. Ab und zu drehte sich eines oder das andere halb um und fuchtelte mit den Händen, als wollte es damit den Weg andeuten, welchen ein entronnenes Haustier oder vielleicht auch ein Dieb 17 eingeschlagen hatte. Es mußte also irgend etwas passiert sein, worüber sich die liebe Nachbarschaft lebhaft aufregte. Zwischen Mißmut und Neugierde schritt der Meister den Häusern entlang, offenbar in der Absicht, dem gestikulierenden Häuflein auszuweichen und ungeschoren in seine Werkstatt zu gelangen. Aber wie er einbiegen wollte, löste sich aus dem Trüpplein erst seine Schwester Marianne, um ihm den Weg zu vertreten, und dann stand er auf einmal mitten in dem Kreise, dessen Hände noch eifriger als zuvor erklärten, woher und wohin. Es sprachen immer zwei oder drei auf einmal, und in hastigem Durcheinander stürmte es in seine Ohren: «Grad hie düre-n-isch er cho, wo-n-i under d’Hustür cho bi. — Da, di schtotzigi Schtäge-n-ab, vo der Junkeregaß här. — Nei, äbe nid, vo der Schiffloube här isch er cho. — Aber wohl, Bieris Hans het ne ja dür ds Herr Früschigs Garte-n-abe gseh schpringe. — Grad wie gschosse-n-isch er zur Hustür wieder usecho und gäge der Längmuur zue.»

Wer der Flüchtling gewesen, sagte niemand; aber Christen brauchte nicht erst zu fragen, es konnte sich um niemand anders als um seinen Ueli handeln. Was er dem Gestürm entnehmen konnte, war, daß Ueli vor ungefähr einer Stunde in das Haus gekommen sei und es bald darauf wie ein gehetztes Wild wieder verlassen habe. Marianne hatte sich mittlerweile an den Pfosten der Haustüre gelehnt und heulte, während eine teilnehmende Nachbarin ihr tröstlich versicherte: «Dä gseht 18 dir allwäg nümme läbig ume, dä het Handgäld gnoh u geit i Chrieg.» In Christen zuckte es, das Plappermaul handgreiflich zum Schweigen zu bringen; aber er nahm sich nicht Zeit dazu, sondern rannte schnurstracks nach der Langmauer.

Mit Kopfschütteln blickten sie lange noch dem Meister nach. Keines raffte sich auf, ihn zu begleiten. Die Finsternis der Nacht legte sich auf die Gasse, ohne daß eines von den Neugierigen ihn hätte heimkehren sehen.

In der Wirtschaft am Läuferplatz wußte am Abend ein Stadtsoldat nur zu erzählen, daß er den Christen Baumgartner heute weit vor dem Oberen Tor auf der Murtenstraße angetroffen habe.

Baumgartner kam erst tags darauf im Vernachten zurück. Bis nach Gümmenen war er gelaufen, ohne eine Spur von seinem Sohn gefunden zu haben.

Still und trübe verflossen die nächsten Tage. Alle Nachforschungen blieben erfolglos. Und so mußte sich der Meister damit abfinden, daß er sein Schicksal mit vielen andern Vätern teilte. Wie sie alle, so klammerte auch er sich an die Hoffnung, daß er nach Jahren doch vielleicht den Verlorenen werde heimkehren sehen. Diese Hoffnung würde ihn wohl durch die Trübsal hindurchgerettet haben, hätte nicht eines Tages seine Schwester ihn an eine Drohung erinnert, die er einmal gegen Ueli ausgestoßen haben sollte. Er erinnerte sich nicht mehr daran. Wie sollte man auch jedes Wort im Gedächtnis behalten, das einem gelegentlich im Zorn entwischte?

19 «Wohl,» sagte Marianne, «du hesch einisch so ab allem Brichte dem Ueli gseit, alles chönntisch ihm verzieh, nume nid, wenn er er bim Herr Berset Schand anemiech. Wär weiß, was er sech du dänkt het, was ihm gschäch. Du bisch halt mängisch e chly schtrub mit ihm umgange.»

Ueli war verschollen. Und wenn es auch das Wahrscheinlichste war, daß der Junge Soldat geworden, so blieb es doch nicht ausgeschlossen, daß er anderswohin ausgerissen und zugrunde gegangen war. Mehr und mehr quälte sich der unglückliche Meister mit solchen Überlegungen, und als es endlich wie ein undurch­dringlicher, düsterer Nebel auf sein Gemüt sich zu legen begann, entschloß er sich Hilfe zu suchen.

Es kam den eher verschlossenen Christen nicht leicht an, jemand ins Vertrauen zu ziehen. Nützlichen Rat konnte er jedenfalls nur von einem Mann erwarten, der einem höheren Stande angehörte und wußte, wo man angreifen mußte, um etwas zu erlangen. Es sollte womöglich einer sein, der auch den Werbern Respekt gebot. Da stand denn niemand Baumgartner näher als der Ratsherr Berset, dessen Wohlwollen er schon mancherlei zu verdanken gehabt. Nachdem aber Ueli gerade dieses Herrn Güte schnöde mißbraucht hatte, war es dem Meister doppelt peinlich, sich nun wieder an ihn zu wenden. Hätte Christen Baumgartner nicht zu jenen braven Menschen gehört, die für sich selber von jedermann volles Vertrauen beanspruchen, 20 weil sie sich keiner Untreue bewußt sind, so würde er es kaum über sich gebracht haben, den Ratsherrn aufzusuchen. Aber er dachte, so gut wie ihm selber jedes Mißtrauen, das ihm begegnete, tief in die Seele schneide, so gut könne der Ratsherr auch von ihm erwarten, daß er vertrauensselig sich an ihn wende.

Herr Berset saß in seiner großen sonnigen Wohnstube an der Junkerngasse am herunter­geklappten Brett seines Schreibbureaus und ließ seine Blicke ab und zu aus den Kolonnen seines Hausbuches durch das offene Fenster in die Gärtlein hinter der Gerbergasse hinunterschweifen, wo die Weiber sich emsig um ihre Krautbeete bemühten. Er hatte das Klopfen an der Türe überhört und blickte sich erst um, als Baumgartner schon in der behaglichen Stube stand. Sein Gesicht war daher nicht besonders freundlich, als er des Meisters höflichen Gruß erwiderte. Es heiterte sich aber zusehends auf, als er Christens Worten entnehmen konnte, daß es sich weder um Bürgschaft noch um Darlehen handelte. Des Meisters Blicke heischten Trost, seine Lippen guten Rat. Der Ratsherr strich sich mit dem Gänsekiel mechanisch über die Schläfe, während er den Klagen des Drechslers zuhörte, den er mit keinem Wort unterbrach. Erst nachdem Baumgartner sich ausgeredet und darüber gejammert hatte, daß aus den Werbern nichts herauszubringen sei, hub er an zu antworten. Das wäre ihm der geringste Kummer, meinte der alte Herr. Baumgartner solle ihm diese Sorge überlassen. 21 Die Welt sei freilich groß, aber das müßte doch der Kuckuck holen, wenn man solch jungen Ausreißer, der keinen Batzen sein eigen nenne, nicht sollte ausfindig machen können. Die Flucht des Jungen fand bei dem Ratsherrn kein gnädiges Urteil. In seinen Grundsätzen spielte die Regel «Bleibe im Lande und nähre dich redlich» eine große Rolle, und jedes Mißgeschick, das einen Auswanderer traf, war in seinen Augen nichts als eine gerechte Strafe. Neben diesem Sprichwort stand in des Ratsherrn Spruchbüchlein: «Unkraut verdirbt nicht.» Seine Schlußsentenz lautete: «Ob er i französische Dienscht isch, will ig Ech scho usebringe; da leut mi nume la mache. Und underdesse würd’ i mi um dä Schlingel nid z’hert plage. Dä wird jitz de syni Heilige scho erläbe, und gäbs lang geit, heit Dir ne de wieder vor der Hustüre. Das isch ihm ganz gsund, wenn ds Läbe ne ghörig nachenimmt. Es mueß e jede-n-einisch derzue cho, z’säge: ‹Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen.› Der verlore Suhn im Glychnis het o nid gwüßt, wie guet er’s daheime het, bis er het glehrt usem Säutrog frässe. Das isch e-n-alti Gschicht.»

Der Trost des Ratsherrn war wohl der eines erfahrenen Mannes, sagte sich Baumgartner, aber er kam nicht aus einem Vaterherzen. Es wäre ja wohl zu hoffen, daß Ueli einmal reuig zurückkäme; aber der Krieg verschlang Tausende von Menschen.

Es dauerte nicht lange, so erhielt Christen Baumgartner 22 durch des Ratsherrn Vermittlung den Bericht, daß sein Sohn beim 3. Schweizer­regiment in Frankreich eingestellt worden sei, und zwar, weil er das Alter für einen Füsilier noch nicht erreicht hatte, als Tambour. Von der Stunde an weilten nun Baumgartners Gedanken Tag und Nacht draußen bei der napoleonischen Armee. Und als eines Tages die Kunde nach Bern kam, die vier Schweizer­regimenter seien zur großen Armee aufgebrochen, die nach Rußland hinein­marschieren sollte, da verfolgte mit immer größerer Spannung Meister Baumgartner die Zeitungsberichte, die freilich spärlich genug kamen. Oft war ihm, als sähe er seinen Ueli weiter und weiter marschieren in unbekannte, grausame Fernen, als hörte er seinen Trommelwirbel im schrecklichen Donner der Schlacht untergehen. Alles, was er je von den Schrecken des Schlachtfeldes gehört, und von den Leiden der langen Märsche, das wurde nun wieder lebendig in seiner Seele und schien ihm die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit seinem Sohne zu erwürgen. Manchmal erfaßte ihn in stiller Nacht ein furchtbarer Zorn. Es war ihm, als müßte er zum Werber laufen, ihm die derbe Faust vors Gesicht halten und ihm fluchen, weil er seinen Ueli ihm gestohlen. Was hätte er darum gegeben, wenn er an des Sohnes Statt seine Haut hätte zu Markte tragen dürfen, wie er in seinen Jünglingsjahren es sich gewünscht! — Ach, wenn der arme Junge zu sich gekommen war! Wenn das Heimweh ihn doch endlich befallen hatte, 23 wenn er des Vaters Vergebung suchen wollte und durch des Dienstes eiserne Strenge gezwungen wurde, darauf zu verzichten! Wenn er sein Leben lassen, einsam sterben und hinüber mußte, ohne daß der Vater ihm sagen konnte, wie lieb er ihn trotz allem noch behalten habe!

Je länger desto seltener ward Christen Baumgartner unter den Leuten gesehen, und wer ihn einmal sah, dem fiel auf, wie des Meisters Blicke immer auf etwas Unsichtbares gerichtet schienen.

Eines Tages klopften die Kunden vergeblich an die Türe seiner Werkstatt. Es rührte sich nichts mehr, und als man in der Wohnung nachfragte, teilte Marianne den erstaunten Leuten mit, es habe ihren Bruder nicht mehr gelitten, er hätte sich noch hintersinnet, wenn sie ihn nicht hätte ziehen lassen. Er sei dem Buben, dem Ueli, nachgelaufen. «So?» meinte der Gerber Dubach, «hets ne jitz doch no möge? — I ha doch geng dänkt, es bheig ne de z’letscht nümme.»

*  *  *

Christen Baumgartner hatte nur noch einen Gedanken: seinem Sohne sagen zu können, daß er ihm ja alles vergeben habe. Seiner Lebtage wollte er zufrieden sein und nie mehr etwas zu klagen haben, wenn es ihm gelingen würde, seines Ueli wieder habhaft zu werden. Freilich, wenn er auf seiner Wanderschaft stundenlang dahinschritt und sich überlegte, was ihm bevorstund, so hätte ihm leicht bange werden können. 24 Französisch verstund er kein Wort, und weltgewandt war er auch nicht. Aber zu der Zeit liefen die Leute ja zu Hunderten nach Frankreich hinein, und nicht mancher unter ihnen hatte zuvor Welsch gelernt. Christen war ein kerngesunder Mann, wußte, was er wollte, und an Wagemut tat es ihm nicht leicht einer zuvor. Davon hätte daheim an der Matte manch einer zu erzählen gewußt. In seiner Lehrzeit hatte er fast jede freie Stunde auf den wilden Wassern der Aare zugebracht und dabei oft genug dem Tod lachend ins Gesicht geschaut.

Der Meister hatte sich nicht getäuscht. Wo immer er den Schlagbaum einer französischen Stadt passierte, war Nachfrage nach gesundem Mannenvolk. Der Kaiser war längst auf dem Wege nach Rußland und schalt seine Obersten aus, wenn ihre Regimenter nicht komplett waren. Nur mit Anwendung von allerhand List gelang es ihm, an den lauernden Schildwachen der Mannschafts­depots vorbeizukommen. Er hatte die Adresse des Obersten Jonathan von Graffenried, in dessen Regiment sein Ueli als Tambour stehen sollte. So war er bis in die Gegend von Paris gekommen, als er einem Truppentransport begegnete, der eben in einem Dorfe haltgemacht hatte. Es waren Ersatz­mannschaften des kaiserlichen Geniekorps. Als richtiger Mätteler konnte Christen Baumgartner nicht anders, er mußte einen Augenblick stehen bleiben, um das schöne Pontonmaterial zu betrachten, welches diese Truppen begleiteten. Er 25 benutzte die Gelegenheit, um abermals nach dem Depot des dritten Schweizer­regiments zu fragen und die Adresse des Obersten vorzuweisen. Der Offizier, an den er sich gewendet hatte, lachte den guten Mann aus und erklärte ihm, dieses Regiment sei zur Stunde vermutlich in Polen, sein Mannschaftsdepot irgendwo in Deutschland. Christen war wie vom Donner gerührt. Es fehlte nicht viel, so wären ihm die Tränen über die Wangen gelaufen. Der Offizier schien ein gewisses Mitgefühl für ihn zu empfinden und fing an, ihn über seine Herkunft und seine Absichten auszufragen. Ob ihn der Offizier verstanden oder nicht, war Christen nicht klar; wohl aber wußte man ihm beizubringen, daß er sich dem Truppentransport anschließen könne und so am sichersten sein Ziel erreichen würde. Er hatte nur eine Bedingung zu erfüllen: sich vorläufig als Rekrut bei dieser Truppe einstellen zu lassen. — Ob man ihn anlog? Wie hätte er das erfahren sollen? Christen genügte die Hoffnung, auf diesem Wege in die Nähe des 3. Schweizer­regiments und seines Sohnes zu kommen, und so ließ er mit sich geschehen, was die Franzosen wollten.

Nun marschierte Meister Baumgartner durch die weite Welt, ohne viel anderes zu wissen, als daß die Reise von Westen nach Osten ging durch endlose flache Gegenden, durch fremde Städte und Dörfer, unaufhaltsam und in eiserner Disziplin. Ob er wohl fern an der Grenze seines Vaterlandes vorbeimarschierte? Er wußte es nicht. Er wußte kaum mehr, woher er 26 kam, er kannte nur sein Ziel, das Wiedersehen mit seinem Sohne. Unerträglich schien ihm oft die enge Montur, der schwere Tschako, der Staub der Landstraße. Aber das alles würde ja einst im Nu vergessen sein, wenn er in Uelis verwunderte Augen blickte. Seinen Dienst versah er fleißig und mit einem den Franzosen ungewohnten Ernst. Bald hatten sie herausgefunden, daß sie an dem alten Rekruten einen ebenso gewandten wie unerschrockenen Pontonier gewonnen hatten, gerade wie der Kaiser sie brauchte. Manchmal dünkte ihn, der Marsch gehe in die Ewigkeit hinein. So weit weg hatte er sich seinen Jungen nicht gedacht. Und endlich ging der Herbst zur Neige, der Winter hatte die weite Welt in Beschlag genommen. Es wurde bitter kalt. Im glitzernden Schnee knirschte der Schuh. Weit, unermeßlich weit hinter den Soldaten lagen die stattlichen Bauernhäuser der Heimat. Ringsherum dehnten sich unter der grauen Wolkendecke die öden Ebenen und die schauerlich düsteren Wälder des Zarenreiches. Es war kaum zu glauben, daß da vor ihnen immer noch Menschen wohnen sollten.

Wo war sein Ueli hingekommen?

Schon regten sich in des Vaters Herzen Zweifel daran, daß er ihn je wieder finden werde. Nun, dann wußte wenigstens der liebe Gott, daß Christen seinem Ueli nachgelaufen war bis an das Ende der Welt.

Aber endlich stieß man auf Spuren, welche des Meisters Herz aufs neue in Spannung versetzten. Es 27 wurden ab und zu auf Schlitten Verwundete zurückgebracht, und hin und wieder lag am Wege ein zertrümmerter Wagen, ein totes Pferd. Baumgartner musterte aufs genaueste alles, was an ihm vorbeiging. Aber er hatte bis jetzt noch nicht einen einzigen Rotrock entdecken können.

Nach abermals langen Märschen schlug an das Ohr der Marschierenden dumpfes Rollen. Dort — dort mußten sie im Kampfe liegen. Von jetzt an verspürte Baumgartner keine Müdigkeit mehr. Jetzt quälte ihn nur noch die entsetzliche Langsamkeit des Marsches.

Der ferne Donner hatte aufgehört, und weiter marschierte man in die dunkle Ferne.

*  *  *

Es war am 26. November des Jahres 1812, als an der Spitze der stark zusammen­geschmolzenen Armee Napoleons die Schweizer­division Merle von Borissow auf schlechten Knüppeldämmen durch trauriges Moorland nach Studianka marschierte. Es galt dort den Bau der beiden Brücken zu sichern, auf denen die französische Armee die Beresina passieren sollte. Das Dritte Regiment, einst eine Truppe von mehr als 2000 Mann, zählte nur noch wenige hundert gänzlich ausgehungerte und durch die ungeheuern Strapazen des langen Feldzuges hart mitgenommene Krieger. Das tapfere Häuflein marschierte neben der Brückenbaustelle am linken Ufer des Flusses auf. Von da konnten die Grenadiere, 28 während hinter ihnen und am linken Flügel des Regiments die übrigen Schweizer und schließlich auch die Kroaten in Sammelstellung aufmarschierten, die Pontoniere bei ihrer mühsamen Arbeit beobachten. Jeder suchte sich gegen die grimmige Kälte zu wehren, wie er eben konnte. Man träppelte auf und nieder und verwarf die Hände. Aber die da draußen! Die hatten in die dünne Eisdecke des Flusses Löcher geschlagen und standen bis an die Hüften, ja mitunter bis an den Hals, in den tiefschwarzen schlammigen Fluten, um die Brückenböcke aufzustellen. Unter den Männern, die solchergestalt ihr Leben einsetzten, den Kaiser und seine Armee zu retten, arbeitete auch einer, der, so oft es ihm möglich war, seine Blicke nach den Reihen der Schweizer hinüberschweifen ließ. Aber selbst seine Sperberaugen vermochten den nicht zu entdecken, den er seit Monaten gesucht. Er sann auf eine Gelegenheit, an das Ufer zu kommen; aber noch bevor eine solche sich ihm geboten, geschah etwas, das zugleich die Aufmerksamkeit der Grenadiere von der Brücke ablenkte und die Emsigkeit der Pontoniere auf das höchste steigerte. Von Borissow her kam eine lange Kavalkade von dicht vermummten Gestalten. Aus der Menge der weißverbrämten Nebelspalter, die sich an der Spitze des Zuges schwankend bewegten, war deutlich zu erkennen, daß der Stab eines hohen Befehlshabers sich nahte. Und nicht lange währte es, so unterschied man einen Reiter, der allen andern voraus, finstern Trotzes voll, 29 in schnurgerader Linie dem Brückenkopf entgegenritt. Er trug einen grauen Pelzrock mit goldgelben Husarenschnüren, eine große Pelzmütze und hohe russische Pelzstiefel. Sein Herannahen ließ auf einmal die unruhige Masse der Schweizer wie zu Marmorbildern erstarren. Dann sah man einige Degen blitzen. Hüte schwenken und aus den Regimentern erscholl in heiserem Chore das « Vive l’Empereur!» — Arme Schweizer! Hier bedeutete ihr Ruf nichts anderes mehr als: ave Cæsar, morituri te salutant! Mit Blitzesschnelle hatte das Flammenauge des Gewaltigen vom linken Flügel aus den zusammen­geschmolzenen Bestand seiner Regimenter gemessen. Dann ritt er, scheinbar ohne von dem Gruß Notiz zu nehmen, dem Ufer zu. Von jetzt an hatte er nur noch für die Arbeit der Pontoniere ein Interesse. Und so oft man ihm beteuerte, die Brückenbauer bedürften der Ablösung, lehnte er das Ansinnen mit eiserner Ruhe ab. Selbst die dicke Pelzverhüllung seiner Gestalt vermochte die furchtbare Ungeduld des Kaisers nicht zu verbergen. Sie stieg von Stunde zu Stunde und erreichte ihren Höhepunkt, als hinter Borissow, im Rücken der ununterbrochen anmarschierenden Armee, Kanonendonner erscholl. Die Ungeduld teilte sich mehr und mehr der gesamten Mannschaft mit, die sich in der Umgebung des Brückenkopfes anhäufte, während weiter nordwärts in langen rasselnden Zügen die ganze kaiserliche Artillerie in Park auffuhr, um sofort nach Vollendung der zweiten, stärkeren Brücke den Fluß passieren zu können.

30 Um 1 Uhr mittags meldete General Jomini, der wackere Waadtländer, der, obwohl schwer krank, mit seinen Pontonieren bis an die Brust im Wasser gestanden, daß die leichtere Brücke passierbar sei. Sofort setzten sich die Kolonnen der Schweizer in Bewegung. In einem der ersten Pelotons, welche die Brücke überschritten, marschierte Ueli Baumgartner, das Gewehr auf der Schulter. — Ueli hatte sich wohl seinerzeit als Tambour rekrutieren lassen, weil er das vorgeschriebene Alter für einen Füsilier noch nicht erreicht hatte; aber sein Hauptmann hatte den schlanken Burschen schon in den ersten Tagen zu etwas anderem ausersehen und es seither nie bereut. Ueli wußte Gewehr und Bajonett zu führen, wie kaum einer seiner Kameraden, und war einer der feldtüchtigsten Soldaten geworden. Die Zeit, da ihm das Gewissen schlug und ihn auf einsamer Schildwache das Heimweh quälte, lag weit hinter ihm. Sein Regiment war seine Heimat geworden, und an die Zukunft dachte er jetzt weniger als je, rechnete doch keiner mehr darauf, wieder in die Schweiz zu kommen. Heute gar hatten sie alle nur noch einen Gedanken: die Ehre, den Kaiser gerettet zu haben, sollte den Schweizern zufallen, und in diesem Streben wollten sie ihr Leben teuer verkaufen.

Es hieß, die Russen lauerten schon jenseits des Flusses. Und so waren aller Augen auf den Saum des gegenüber­liegenden Waldes gerichtet. Dennoch war Uelis Blick im Hinüber­marschieren auf einen der Pontoniere 31 gefallen, der mit andern zusammen noch an der Festigung der Brücke arbeitete. Der Mann schien während seiner schrecklichen Arbeit die über ihm Vorbei­marschierenden zu mustern, als suchte er unter ihnen einen, der ihm am Herzen lag.

Ueli war mit seinem Peloton längst am andern Ufer angelangt. Man war in Front aufmarschiert und bewegte sich mit der gespanntesten Aufmerksamkeit gegen den unheimlichen schweigenden Wald hin. Aber ihm war wie dem Menschen, der einen Augenblick in die Sonne geschaut und auf allem nur noch lichtumrandete blaue Flecken sieht. Ob er in den Schnee zu seinen Füßen starrte, ob er in das Dunkel der Tannen spähte, unauslöschlich erschien ihm das Gesicht des Pontoniers mit dem suchenden Blicke. Hätte ihm jemand nur die allergeringste Möglichkeit nachweisen können, daß sein Vater auch unter die Soldaten gegangen sei, so hätte Ueli eine Wette darauf getan, daß... aber das lag ja himmelweit außerhalb des Denkbaren. Die Menschheit war, das hatte er nun oft wahrnehmen können, unzählbar. Da konnte unter Hunderttausenden leicht einer dem andern täuschend ähnlich sein. Als es Abend ward und die Vision ihm nicht aus den Augen kam, wurde Ueli mit sich eins, daß ihn das böse Gewissen verfolge, und schrecklich wurde ihm bei dem Gedanken zumute. Tausende von Meilen war er gelaufen. Er meinte alles vergessen zu haben, den Zorn und — ach Gott! — auch die Liebe seines Vaters. Und jetzt war 32 es wie ein Gespenst aus dem schwarzen grausigen Fluß aufgetaucht und hatte ihn umklammert.

Die ganze schauerliche Nacht hindurch, die nun folgte, überlegte Ueli, wie er wieder an die Pontoniere herankommen könnte, um sich zu überzeugen, daß sein Vater nicht unter ihnen sei. Aber er sah wohl ein, daß dies ohne Desertion kaum möglich sein würde. Und so verlegte er sich mehr und mehr darauf, sich seine Ahnungen als Folge der nerven­zerrüttenden Strapazen zu erklären und sich die Möglichkeit ihres Zutreffens auszureden.

Die Nacht war ohnehin entsetzlich, auch für diejenigen, die nicht von Gewissensbissen gepeinigt waren. Man war zu der absolutesten Untätigkeit verurteilt. Die Fuhrwerke waren mit allen Lebensmitteln in Borissow dem Feinde preisgegeben worden. Hier war man noch nicht recht im klaren, wo der Feind stand und welche Rückzugslinie man zu wählen hatte. Die einzige Beschäftigung bildete die Unterhaltung der Biwakfeuer, auf denen man aus den letzten Resten von Handproviant, aus Moos, Baumrinde und Unschlitt­stümpfchen eine Suppe zubereitete, die letzte, welche die Soldaten in diesem Feldzug zu genießen bekamen. Die Kälte war so, daß man die Gewehrläufe kaum anzurühren wagte. Und dabei vollendete ein anhaltender Schneefall die erdrückende Melancholie der Landschaft.

Fast noch schlimmer wurde es tags darauf. Abgesehen von einigen unbedeutenden Plänkeleien blieb es im Lager der Schweizer ganz still, während am jenseitigen 33 Ufer der Beresina der Feind die Nachhut bedrängte und seine Kanonenkugeln in die Massen der Nachzügler, die sich in dichten Knäueln auf die Brücken stürzten, blutige Gassen rissen. Schrecklich tönte das Angstgeschrei der um ihr Leben Ringenden, und immer näher kam das Getöse des Kampfes. Ob wohl die wackeren Pontoniere, die den andern den Weg aus dem Feindeslands gebahnt, mit dem Werk ihrer Hände untergehen mußten? Schon waren 24 Stunden verstrichen, seit Ueli die Brücke passiert hatte, und immer noch verfolgten ihn die Blicke des Geniesoldaten.

In der zweiten Nacht herwärts des Flusses war der Proviant vollends ausgegangen. Hunger und Kälte quälten die Soldaten dermaßen, daß jeder den Kanonendonner, unter welchem der Morgen des 28. November anbrach, als das große Signal zur Erlösung begrüßte. Nun ging es endlich dem Tod entgegen. Hinter der roten Mauer der Schweizer marschierten die Reste der kaiserlichen Garde vorüber.

In den Reihen der aus den Wäldern hervorbrechenden Russen richtete das wohlgezielte Feuer der Schweizer furchtbare Verheerung an. Aber unheimlich rasch füllten sich die Lücken wieder, und als die Masse der feindlichen Infanterie sich zu entwickeln begann, war das Feuer der Schweizer am Erlöschen. Der uner­schütterlichen Schar war die Munition ausgegangen. Schon begannen die Reihen zu wanken, und noch war die Aufgabe der Schweizer nicht gelöst; denn ununterbrochen 34 marschierten in ihrem Rücken Regimenter, Schwadronen und Batterien vorüber. Da baten die Söhne der Berge ihren General, sich mit dem Bajonett auf den Feind werfen zu dürfen. Der General nickte. Die Befehle flogen durch die Reihen. Die Tambouren schlugen zum Sturm, und mit dem Mute der Verzweiflung stürzten sich die Rotröcke, unterstützt von den Kürassieren der Division Doumerc, dem Hagel der russischen Geschosse entgegen. Der Feind wich. Eine kostbare halbe Stunde war gewonnen. Siebenmal hintereinander wurden die Russen mit dem Bajonett zurückgeworfen. Unterdessen war endlich neue Munition eingetroffen, und das Feuergefecht wurde wieder aufgenommen; aber nun waren die Reihen der Braven so gelichtet, daß das Häuflein der Übriggebliebenen dem Ansturm des Feindes nicht mehr zu widerstehen vermochte. Wie die Sturmflut durch die Breschen des gesprengten Dammes, fluteten die russischen Heeresmassen aus den Wäldern hervor und trieben die letzten Standhaften vor sich her in den Knäuel der Fliehenden.

Gräßlich dröhnte hinter diesen das Krachen der in Brand gesteckten Brücken. Durch den kahlen Wald brauste wie Sturmgeheul der viel­tausend­stimmige Verzweiflungs­schrei der Abgeschnittenen, die über die brennenden Trümmer in das eisige Grab der Beresina sich stürzten.

Die Schrecken der letzten Stunden hatten Ueli Baumgartner, der nun inmitten wildfremder Leidensgenossen 35 dahinlief, die Besinnung geraubt. Selbst das grauenhafte Getöse des Brücken­einsturzes hatte er kaum wahrgenommen. Aber als die Nacht wieder hereinbrach und man sich da und dort um ein an der Heerstraße angezündetes Feuer scharte, begann ihn aufs neue die Frage nach dem Schicksal der Pontoniere zu beschäftigen. In den ersten Tagen und Nächten nach der Schlacht waren die Soldaten der einzelnen Regimenter noch truppweise beisammen­geblieben. Dann aber löste sich alle Ordnung. Es war nur noch das Maß der schwindenden Lebenskraft, welches die Menschen gruppierte. Die Kräftigsten waren voraus, die Schwachen blieben zurück, und wer auf dem Marsche stürzte, ward nicht mehr beachtet; man gab ihn ohne weiteres verloren. Die Gefallenen wurden ausgeplündert. Jeder riß von Kleidern an sich, was er erwischen konnte, um sich gegen die grimmige Kälte zu schützen. So schwanden die Abzeichen der Regimenter und der Vorgesetzten. Der gemeine Soldat hüllte sich in den Mantel des gefallenen Obersten, der Offizier ging im Kaput des Soldaten einher. Verwilderte Bärte überwucherten die Gesichter. Aus den zu Totenschädeln abgemagerten Gesichtern stierten blutunterlaufene Augen. Es kannte keiner mehr den andern, jeder lief, auf seine Rettung bedacht, teilnahmlos dem andern vor. Kaum hielt der Instinkt die Fliehenden noch in Haufen zusammen. Wer sich aus der Schar loslöste, fiel rettungslos den Kosaken anheim.

36 Eines Abends stand Ueli Baumgartner zwischen andern vermummten Gestalten an einem Feuer. Der Kreis verdichtete sich allmählich. Keiner sprach zum andern ein Wort. Fiel einer vom Schlafe übermannt zu Boden, so ließ man ihn liegen, man wußte: er hatte ausgelitten.

Je weiter die Nacht vorrückte, desto enger schloß sich der Kreis. Ueli hatte sich an seinen Nachbar gelehnt, und beide stützten sich gegenseitig, ohne sich darum zu kümmern, wer der andere sei. Im Morgengrauen stürzte Uelis Nachbar rücklings in den Schnee, und Ueli, seines Haltes beraubt, taumelte auf den Leblosen nieder. Wohl wissend, daß Liegenbleiben den sicheren Tod bedeutete, schnellte er sich mit der letzten Kraft wieder auf die Füße. Aber im Aufspringen war sein Blick auf das Gesicht des Hingestürzten gefallen. Das war — sein Pontonier! Er mußte es sein. Gräßlich durchzuckte es den unglücklichen Burschen. Jetzt mußte er wissen, wer es sei. Steif und gläsern starrten die dunkeln Augen aus dem zerfallenen Gesicht in die Luft. Sie waren gebrochen. Ueli kniete nieder und riß dem Toten Mantel und Rock auf. Er trug die Uniform der kaiserlichen Geniesoldaten. Zitternd grub Ueli weiter. Seine Hand durchwühlte die Taschen des Toten. Da entrang sich seiner Brust ein wilder Schrei. Er hielt in seiner Hand die abgegriffene lederne Brieftasche seines Vaters. Mit beiden Fäusten packte der Unglückliche den aufgeknöpften Mantel des Toten, und 37 einmal übers andere gellte sein Ruf in die schreckliche Einsamkeit: «Vater! Vater! Bisch du’s? — Säg mer öppis! — Wie chunsch du dahäre? — Vater, red’ doch!»

Verwundert hatten die um das Feuer Stehenden nach der Gruppe hingeblickt. Aber keiner hatte sich gerührt, Ueli beizustehen. Als der Tag anbrach und das Feuer verglomm, wandte sich einer nach dem andern, dem Zuge der Fliehenden sich anzuschließen.

Wie lange Ueli sich um die Leiche seines Vaters bemüht, wer weiß das? Er merkte es selbst nicht, wie lange er da kniete. Kaum fühlte er, daß er sich nicht mehr erheben konnte. Er war mit den Knien am Boden festgefroren. In seine Glieder kam es wie schwerer Schlaf, und, Auge in Auge mit dem Vater, dem er nicht zugetraut hatte, daß er ihm die Sünde seiner Jugend vergeben könne, ging Ueli Baumgartner hinüber in jene Welt, wo das Erbarmen des himmlischen Vaters ausreicht für alle Sünde.



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