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Im alten Füfefüfzgi

I.

O ihr guten Feldgrauen von 1917, so sagte neulich im Eisenbahnwagen ein alter Mann zu einigen Urlaubern, ihr denkt wohl, so wie ihr’s heute treibt, müsse der Krieg geführt werden, und ich will euch in diesem seligen Glauben lassen. Aber das dürft ihr euch trotzdem sagen lassen: Anno dazumal war’s doch eigentlich schöner und hatte entschieden mehr Poesie, als wir noch im Übungslager lernten, wie man Krieg macht. — Sappermost! Was wißt denn ihr heute von Bataillonsschule mit den vier lumpigen Kompagnien, die man in Kolonne stellen kann, grad wie’s kommt, ohne Rücksicht auf die Nummer, mit dem linken oder dem rechten Flügel voran. Und da nehmt ihr womöglich noch das Wort Kriegskunst in den Mund! Zu meiner Zeit hatte man doch noch einen Begriff von Taktik. Das lohnte sich zu sehen, wenn der Kommandant mit seinem Ordonnanz­knebelbart, mit silbernen Epauletten und Rockschößen, die sich im Winde bauschten, vor seinen sechs Kompagnien mit einer fast zeremonial feierlichen Abgemessenheit kommandierte: «Fahne und 39 Hauptführer auf die Richtung!» Das war eine Kleinigkeit; aber schon heikler wurde die Sache, wenn die Kompagnien, auseinander­gezogen, für sich geübt hatten und nun plötzlich in den Bataillons­verband gerufen wurden, in Linie oder Kolonne. Daß Flügelkompagnien und Kompagnien der Mitte wußten, wo sie einzuschwenken hatten, das gehörte zum Elementaren; aber wenn nun einzelne Züge mit dem zweiten Glied vorn, Kompagnien links statt rechts formiert in Linie rückten und im Korrigieren das Ding immer verzwickter, das Wettern immer gräßlicher, die Perplexität von Minute zu Minute vollkommener wurde, der Kommandant und der Major sich fragende Blicke zuwarfen und endlich nichts anderes mehr half als das verzweifelte Kommando: «Tret ab! In rechtsformierter Pelotonskolonne antreten!» O, das waren Allmendfreuden! — Aber schön war’s dann doch auch wieder, wenn man nach getaner Arbeit mit klingendem Spiel ins Städtchen einrückte und der Tambourmajor, durch keinen Telephondraht geniert, seinen Stab so hoch über die Dachfirsten warf, daß man draußen eine Stunde weit sehen konnte, wo jetzt die Tête des Bataillons gerade marschierte.

Also dazumal war’s — und wegen des Weibervolks, das von Taktik und Kriegsgeschichte wenig weiß, muß hinzugefügt werden: Straßburg war noch französisch —, da sagte zu Herzwyl Frau Verena Schmocker eines Abends zu ihrer neunzehnjährigen 40 Tochter: «Elisi, du machst mir Kummer.» Auf dem Läubli war’s, neben der Haustüre. Eine dichte Reihe von duftenden Nelken hing über das braune Holzgeländer, und was die nicht zu verstecken vermochten, das deckte die schon sanft sich rötende Wildrebe, die von der Dachrinne umsonst nach einer Kletterstütze niederwärts fahndete. In der Laube dufteten auf sonnverbranntem Gesimse abgelesene Pfirsiche, und die Wespen, die sich da gütlich taten, überließen die Astern im Gärtlein verächtlich den Bienen. Die ganze Luft ums Haus herum atmete Herbst, nur das Elisi nicht, dem immerfort der Frühling aus den goldgelben Augen lachte.

«Ach, Mutter,» sagte dieses goldgelbe Elisi — es war nämlich noch anderes an dem Mädchen goldgelb, sein Kraushaar und die schönen runden Arme und vor allem sein ganzer inwendiger Mensch — «warum nimmst du auch immer alles von der brand­schwärzesten Seite? Gib her!» Sie griff mit beiden Händen in den Bohnenkorb und nahm der Mutter das Schnitzerli weg, um die Schoten beschneiden zu helfen. «Ui!» schrie es auf. Ja, so ein Schnitzer ist scharf und dringt selbst durch eine arbeitharte Haut. Elisi leckte sich die Blutstropfen ab, während die Mutter sagte: «Schau, da hast’s! Grad so treibst du’s! Wenn du mich auch wolltest machen lassen! Bist fertig mit Abwaschen?»

«Eh bhüet’ is! ’s ist ja bald wieder ums Anrichten.»

41 Und es war so. Die Abendsonne blinkte zufrieden auf den blanken Tassen und Tellern des Kachelbankes in der Küche.

«Und d’Säu?»

«Haben ihre Sache.»

«Und das Milchgeschirr?»

«Ist im Brunnen.»

Auf schoß das Mädchen und lief, den angeschnittenen Finger leckend, zum Brunnen, der drunten vor Jakob Binders, des Nachbars, stattlichem Bauernhause brodelte.

Die rundliche Frau Schmocker wand sich hinter dem Tisch hervor, warf den Schnitzer ärgerlich in den Korb zu den unbeschnittenen Bohnen und stellte sich mit einem tiefen Seufzer hinter die Rebe auf den Auslug. Da kam ihr Mann ums Haus herum zu ihr geschlurft, nicht schön anzuschauen. Sein Kinn hatte schon lange kein Rasiermesser mehr gesehen und noch länger kein Wasser seine runzlichte Zwilchhose.

«Der Brunnen bringt uns noch ins Unglück,» sagte Frau Vreni, ohne sich umzusehen. Ueli Schmocker, weit und breit Chrugle-Ueltschi geheißen, weil er als Drechsler eine Meisterschaft in Kegelkugeln hatte, nahm die Bemerkung als Vorwurf und antwortete: «Tusigdonner. Wie oft muß ich dir’s noch sagen, daß ich nicht neue Schulden machen will, um Wasser zu kaufen zu einem eigenen Brunnen?»

«E so lueg doch selber einmal, wie sie’s treiben!» 42 sagte die Mutter zu dem dicht neben sie Tretenden. Es war sonst keineswegs Ueltschis Art, gleich alles krumm zu nehmen, im Gegenteil. Von ihm hatte das Meitschi den Leichtsinn geerbt, und deshalb trug die Mutter doppelt schwer. Vater und Tochter wußten’s ganz gut, daß ohne der Mutter bangen Herzschlag ihr kleines Heimwesen längst den Gläubigern verfallen wäre. Und wenn schon die Schuldenlast sie oft niederdrückte, so litt sie’s doch mit einer seltsamen stillen Zufriedenheit, denn sie ahnte, daß ihr Mann es nicht ertrüge, frei und ledig zu sein. Er brauchte etwas, das ihm schwer auf dem Nacken lag. Ueltschis und der Tochter Trost waren der Mutter Weisheit und Demut, und so waltete in dem ärmlichen Haushalt ein still leuchtendes Glück. Daß man einen eigenen Brunnen sich anlegen sollte, war gar nicht der Mutter Idee; aber Ueltschi, der es nie über sich brachte, seiner Tochter gegenüber strenge Saiten aufzuziehen, konnte sich eine andere Lösung des Konflikts gar nicht denken und bildete sich deshalb ein, Frau Vreni erwarte von ihm, daß er sich auch in dieser Hinsicht von den Nachbarn unabhängig mache.

Plötzlich fuhren die beiden alten Leutlein unwillkürlich zurück, Frau Vreni mit unwirschem Blick, während Ueltschis borsten­bekränzter Mund sich zum Lachen verzog. Des Nachbars Brunnen hatte zwei Röhren, die aus ein und demselben Stock nach entgegengesetzten Seiten ihre Strahlen in die langen hölzernen 43 Tröge hinausspieen. Während Elisi an der einen Röhre ihre Finger wusch, hatte sich am andern Trog unter losem Hänseln der Melker zu schaffen gemacht. Elisi ließ sich nicht darauf ein, sondern probierte ein böses Gesicht zu schneiden. Aber sie wartete nur auf den Augenblick, da Fritz Gantenbein seinen Mund an die Röhre setzen würde, um zu trinken. Jetzt, eben als droben der Vater zu der Mutter getreten war, tat er’s, und — wutsch! — hatte Elisi den Daumen auf ihre Röhre gedrückt, so daß Fritz den silbernen Strahl mit doppelter Wucht ins lederbraune Gesicht bekam. Fast jeden Abend mußte er Hemd oder Hose zum Trocknen aufhängen, denn, wenn er nicht an die Röhre kam, so kriegte er’s mit der Brente, und manchmal fuhren die Leute ringsherum unter Türen und Fenster, weil ein großes Blechgeschirr — nicht von selber — über die steinerne Bsetzi kollerte.

An jenem Abend erfuhr das Elisi, daß ihre Mutter noch ganz unverbrauchte Kraft in den Fingern hatte. Und wenige Tage später frug sogar Ueltschi mit einem drohend geschwungenen, frisch gedrechselten Kegel in der Hand den Melker von drunten, was er hier oben auf der Scheiterbeige am Haus zu suchen habe.

So, jetzt weiß der geneigte Leser, warum das goldgelbe Elisi seiner Mutter Kummer machte. Er versteht jetzt auch, warum bald nach Fritz Gantenbeins, des Melkers und Tambours vom alten Füfefüfzgi, Rekognoszierung beim obern Haus im Berner Intelligenz­blättlein 44 zu lesen stand: «Gesundes, schaffiges Mädchen ab dem Land, das auch kochen kann, sucht Stelle.»

Während in der Stadt verschiedene Hausfrauen sich fragten, was das Mädchen, das «auch» kochen könne, wohl sonst noch zu leisten imstande sei, schmählte in Herzwyl ein alter Handwerksmann, Gott weiß mit wem — denn er stand allein in der Butik — daß er sein Meitschi hergeben sollte, eine Mutter hatte den «Spiegel» aufgesetzt und nähte auf dem Läubli, so schnell es gehen wollte, ihrer Tochter noch ein ganzes Hemdlein und langte mit einem Zipfelchen davon ab und zu unter die Brillengläser. Das Elisi Schmocker aber sang, wenn es die Schweinetränke umrührte, im Takt dazu: «Und z’Luterbach han i my Strumpf verlore, und ohni Strumpf gah-n-i nid hei.» Und wenn es eine Schnaufpause machte, so sann es darüber nach, daß in der Stadt viele schöne Brunnen liefen, sogar solche mit vier Röhren, und daß da wohl auch ab und zu einer an die andere Röhre käme oder ganz nahe an den Südeltrog, wo ein ganzer Mensch Platz hätte drin.

*  *  *

Nun lebte zu selbiger Zeit auf dem alten Schloß Bremgarten Herr Daniel Schnetzler. «Selb verstehst du jetzt einmal nicht, Stini», sagte er just zu seiner alten Köchin, «schau, das muß man im Handgelenk 45 haben. Den kostbaren Saanenkäs haut man nicht in Möcken herunter, dran der Kindlifresser in Bern erworgen müßte. Schau — so — ganz fein — dünn wie Papier. Guck, wie das röllelet. Akkurat wie feine Hobelspänchen.» Herr Daniel hatte sich eine Küchenschürze umgebunden, den Käseleib gegen sein Bäuchlein gestemmt, und schnitt zweihändig mit dem Zückmesser durchsichtige Rollspäne herunter.

«Jetzt schlägt’s bigost schon zwölf Uhr,» sagte Stini, «ich muß das Bratis kehren.» Die Falltüre des Herdes klappte herunter, und eine Wolke gastronomischen Weihrauches flutete durch die offene Küchentür in die Anrichte, wo die Sonnenstrahlen sich bemühten, durch die uralte Staubschicht der Flaschen ins goldene Dunkel des Elfer Waadtländers zu tauchen. Auf den glänzenden Zwetschgenkuchen krabbelten stichlustige Wespen.

Das alles harrte des Kommandanten Alfred Schnetzler, der heute mit seiner Familie zu seinem älteren Bruder zu Gast kam. Die siebenköpfige Kolonne debouchierte jetzt eben aus der Lisiere des Felsenauwaldes, um sich uneingesehen der südlichen Debarquierungs­stelle der Fähre zu bemächtigen. Damals war nämlich noch die französische Taktik Trumpf, und Kanunnehans, wie man den martialischen Kommandanten des alten Füfefüfzgi nannte, kannte auch im Kontor seiner Indiennefabrik keine andere Ausdrucksweise als die militärische, geschweige denn im Terrain draußen, wo er die Wunderwerke der Schöpfung nur 46 würdigte, soweit sie als Heeresressourcen in Betracht fielen. Er sah auch in seiner ausschwärmenden Kinderschar nicht viel anderes als das heranwachsende Material zur Komplettierung der Cadres in Front und Operationsbasis. Sie wurde, diesem Wert entsprechend, mit patriotischer Hingebung erzogen und streng dazu verhalten, jeden frischen Luftzug mit Vaterlandsliedern zu sättigen. Kommandant Schnetzler war zu Zeiten sogar dichterisch tätig, wobei er sich bestrebte, den vagen Gefühlsäußerungen der vaterländischen Dichter durch taktisch festeres Gefüge Existenz­berechtigung zu verleihen. Manche stille Stunde hatte er am Federhalter genagt, um sein Lieblings­kunststück, das rechts Deployieren aus der linksformierten Doppelkolonne in würdige Reime zu bringen. Das mußte er schließlich aufgeben, so gut wie den verzweifelten Versuch, dem «Schweizerpsalm» eine weitere, militärisch besser befriedigende Strophe anzugliedern. Er kam nicht über die erste Zeile hinaus: «Wallst ihm Piècendampf du auf, faß’ ich fest den Degenknauf...»

Frau Karoline Schnetzler empfand eine grenzenlose Hochachtung für das militärische Genie ihres Ehemannes. Am meisten Verständnis aber bekundete sie für den Begriff Operationsbasis. Der Herr Kommandant hatte oft genug gesagt, ohne gut ausgestattete Operationsbasis bringe die beste Armee nichts zustande. Nach ihrer Überzeugung bildete für die Schnetzlerische Kolonne das Schloß Bremgarten, insbesondere das 47 feuerfeste Gelaß, welches die Kriegskasse ihres Schwagers Daniel barg, die feuerfeste Gelaß, welches die Kriegskasse ihres Schwagers Daniel barg, die Operationsbasis.

Als das Fährschiff die in herbstlicher Klarheit dahinschießenden Wogen der Aare kreuzte, ruhten Frau Karolines Blicke mit stiller Genugtuung auf dem lieblichen Landschaftsbild. Schöneres hatte sie kaum noch gesehen, als die kleine Halbinsel, die in blau gleißendem Bogen der mächtige Fluß umzieht. Wie hübsch zeichnete sich vor den gelb und rot anlaufenden Waldhängen das altersgraue Kirchlein ab! Dort ruhte im rosenduftigen Schatten des verwilderten Friedhofes Onkel Daniels Lebensgefährtin. Wogen und Wald sangen ihr ein ewiges Requiem.

Jetzt erstürmte die Kinderschar den Schloßberg und drang mit wildem Geschrei in den schattigen Hof, wo Onkel Daniel sie empfing. Bis das Elternpaar heran war, sah man ihrer schon keines mehr. Nur das Geschrei, das aus allen Winkeln des Parkes und von der Scheune herauf erscholl, verriet die Dislokation der Kolonne Schnetzler, die, aller Disziplin zum Hohn, plündernd und brandschatzend in Hecken und Baumgärten herumtobte. Da versagte jede Heerespolizei. Der Herr Kommandant pfiff auf der Freitreppe die Signale «Sammlung», «zur Suppe», «Feldwebel heraus», «Generalmarsch» und «Zapfenstreich». Selbst «Achtung Feuer» fruchtete nichts, das sonst auf Ausflügen sagen wollte: «Wer jetzt nicht kommt, kriegt aufgemessen.» Man mußte sie einzeln hereinholen. Bei 48 dieser Gelegenheit fiel Frau Karoline in Schloß und Garten allerhand auf, was sich mit einer geordneten Haushaltung nicht verträgt, und sie konnte sich nicht enthalten, ihrem Schwager in aller Liebenswürdigkeit und schwesterlichen Güte eine Verjüngung seines Dienstpersonals zu empfehlen. Die Notwendigkeit dieser Maßregel drängte sich dann ganz besonders bei der Mittagstafel auf, die an Behaglichkeit viel einbüßte, weil wegen Stinis Unzulänglichkeit immer zwei oder drei der tafelnden Personen im Zimmer herumstürmten, um beim Auftragen und Abräumen nachzuhelfen.

Beim schwarzen Kaffee, den man nach Entlassung der Kinderschar unter einer alten Akazie im Garten nahm, wurde die Dienstbotenfrage wieder angeschnitten. Onkel Daniel hatte mit den Zigarren seine Zeitungen herausgebracht, und nun entdeckte man das Inserat von dem schaffigen Mädchen ab dem Lande.

«Genau, was mir fehlt,» sagte Onkel Daniel.

«Ja,» pflichtete Frau Karoline bei, «nur finde ich, sie sollte zuvor ein wenig angelehrt sein. Man kann nicht jeden Doggel ab dem Lande in ein feines Haus nehmen. Denk’ an deine schönen Sachen, Daniel. Dein hübsches Porzellan, dein Silber, deine Wäsche, das alles will mit Verstand behandelt sein. Weißt du was, ich lasse mir die Figur kommen, nehme sie ein paar Wochen gehörig in die Kur und dann kannst du sie getrost nach Bremgarten holen.»

«Das ist mehr als lieb von dir, Karoline,» sagte 49 Herr Daniel befriedigt. «Weißt, mir sagt das eben zu, daß sie vom Lande ist. Und wenn sie ‹schaffig› ist, wie es da heißt, so ist es wohl eine Person, die auch mal in der Landwirtschaft mit Hand anlegt. Ganz, was mir fehlt.»

«Wir wollen uns die nicht entgehen lassen. Ich schreibe noch heute an die Expedition des Blättlis.»

Kommandant Schnetzler mischte sich grundsätzlich nicht in die Angelegenheiten des innern Dienstes anderer Truppeneinheiten. Er lehnte sich auf die breite Steinbrüstung, wo Eidechsen in der Herbstsonne herumhuschten, und blies seine Rauchwölklein in die warme Luft. — Daß seine Frau die Person ab dem Lande erst anlehren wollte, zeugte entschieden von strategischem Weitblick und tat ihm wohl.

II.

Sonntag war’s. Um Schmockers Haus herum war alles sauber aufgeräumt. Es sah ganz besonders festtäglich aus, beinahe als ob man nun für immer zu feiern gedächte. Was Feld und Garten hervorgebracht, war unter Dach, und für so kleine Leute gab es nun draußen bis zur Einwinterung nicht mehr viel zu tun. Aber so sehr dem alternden Ehepaar diese Rast, der man sich, wie nie sonst im Laufe des Jahres, mit bestem Gewissen hingeben durfte, wohltat, sie vermochten nicht ihre Herzen in Sonntagsstimmung aufgehen zu lassen. 50 Friedlich saßen sie zwar beisammen auf dem Läublein und schwiegen, wie man’s tut, wenn man am liebsten, wie das Büßi auf dem Ofentritt, die Pfötchen einziehen und vor sich hinspinnen möchte: Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft. Aber es schattete doch etwas: Es war für lange Zeit, vielleicht für immer, der letzte Sonntag mit Elisi. Mutter Schmocker gedachte der bangen Winternacht, in der sie das Mägdlein zwischen Todesnot und sternenklarem Hoffen zur Welt gebracht, der trüben Tage, da die glühenden Augen der Kinderseuche in jedem dunkeln Winkel der verfinsterten Stube lauerten, der seligen Zeit, da des Kindes Frohnatur das Haus bis in die Spinnweben der Dachfirst zu erheitern begann. — Und jetzt ging das alles schon zu Ende!

Ein bekannter Schritt scheuchte plötzlich die beiden Alten auf, und ehe sie sich erhoben, scholl aus der Küche Elisis Stimme:

«Eh der Million. Luegit dir! — Kommst du jetzt gwüß wäger vom Freiburgbiet herüber, mich zu bhüeten. Du bist doch immer der gleiche gute Kerli. Jetzt mußt du flugs dein Kacheli Warms haben. — Ui, hör uf!»

Chrugle-Ueltschis Uelchli, der bei einem Baumeister jenseits der Sense in Arbeit stand, hatte, kaum auf die Laube getreten, seiner Schwester so derb die Hand gedrückt, daß sie aufkreischte.

«Go’ grüeß Ech mitenand,» sagte er und schloß 51 daran gleich die Frage an Elisi. «Bhüeten? Wieso? Willst öppe nach Amerika?»

«Nid grad; aber ga Bern,» sagte Elisi mit leuchtendem Stolz.

«So so? Da können wir ja grad selbander gehen.»

«Kommst du auch auf Bern?»

Nun staunten sie alle mit abstehenden Ohren den Sohn und Bruder an.

«Ihr werdets öppe in Herzwyl wohl vernommen haben, daß das Füfefüfzgi einrücken muß?»

«Wann?» forschte die Mutter mit stechendem Blick.

«Nächsten Dienstag.»

Das wirkte auf Mutter und Tochter wie ein Gigampfi. Mutter Schmocker war’s, als müßte sie grad auf dem Platz a Bode hocke, während es Elisi hoch aufschnellte. Mit der Herzwyler Mannschaft kam ein gut Stück Heimat in die Stadt. Das wußte das Meitschi. Das ganze heimische Gerüchlein brachten sie mit, das Tönlein des Dorfes. Wenn es z’Bern inne einen Herzwyler antraf, so brauchte ihr niemand mehr zu sagen: Elisi, mach’ kein Gesicht, du bist nicht ab der Welt. Und was ein Aufgebot des Füfefüfzgi bedeutete, war dem Schmockerli besser gegenwärtig als dem Militärdirektor. Außer Binder Christe, dem Dragoner, dem Stolzgring vo dertnache, Schmocker Hämis Hans, dem Kanonier, und Schmocker-Burrens Peter, dem Scharfschützen, waren sie suber allsame beim Füfefüfzgi, die Herzwyler, und den übrigen fragte es sowieso nichts 52 nach. Und die von der Landwehr, welche dem Dorf den soliden Halt gaben, lüpften den Hintern erst, wenn die Franzosen schon hienache der Sense waren.

Gern hätte nun die Mutter gefragt, ob Gantenbein Fritz auch bei dem Füfefüfzgi sei; aber sie wollte sich diese Neugier nicht anmerken lassen. Zu ändern war ja doch nichts an der ungeschickten Fügung. Übrigens plagte sie der Gwunder nicht lange. Als sie von der Predigt heimkamen, streckte ihr des Nachbars Haus die Zunge heraus in Gestalt einer Infanterie­uniform, die aus dem Gadenfenster hing. «Da hei mers,» sagte Mutter Schmocker für sich und brachte fortan kein Wort mehr über die Lippen, bis der Vater am Mittagstisch Uelchli fragte, ob noch immer Kanunnehans, der Schnetzler, Kommandant des Bataillons sei. Als der Sohn sagte, er wüßte nichts anderes, gab es einen Riß ins Gewölk auf Mutters Stirne. Es scheint zwar, das Meitschi müsse grad z’vollem in das Militär-Gchütt hinein, dachte sie; aber der Kommandant werde dann doch öppe luege. Gewöhnlich hätten die Soldaten d’Nase nid grad z’nach zueche, wo ein Kommandant umewäg sei.

Als am Dienstagmorgen der Tag anbrechen wollte, lag zwischen dem Mengistorfwald und dem Könizberg ein dicker Nebel. Man wußte nicht, wo es hinaus wollte mit dem Wetter. Das war der Mutter Schmocker auch ganz gleichgültig. Die Hauptsache war, daß man beizeiten wegkam. Sie hatte an alles gedacht. Das Meitschi wollte sie selbst nach Bern bringen. Bei des Vaters 53 Gutmütigkeit und Leichtsinn durfte man es nicht darauf ankommen lassen, daß er mit Elisi fuhr und gar erst an einem Einrückungstag. Da ergab sich die Rollenverteilung von selbst. Uelchli wollte ja doch mit den Kameraden gehn. Jemand mußte bei der War bleiben. Also gab’s nichts mehr zu brichten. Elisi mußte in Gottes Namen dran glauben und den Karren ziehen. Es schadete sowieso nichts, wenn das Meitschi begriff, daß es nicht als Jumpfere nach Bern hineinzutänzeln habe. Ganz gesund war es ihm, wenn ihm der Eltern Mühsal noch als letzte Erinnerung an die Heimat so recht zum Bewußtsein gebracht wurde. Dafür daß es sich nicht übertun und wie ein abgejagter Hund in die Stadt kommen müßte, würde sie, die Mutter, schon sorgen. Da der Vater nicht mitkonnte, übernahm es Frau Schmocker, den Markt zu machen.

Der Nebel hatte sich in den Bäumen verfangen und entzog den Blicken des Vaters schon bald die beiden lieben Gestalten, die auf dem schweren zweiräderigen Karren Elisis Tröglein, ein halb Dutzend Kegelkugeln, Kegel, Melkstühle und hölzerne Rößlein aus des Vaters Werkstatt den Berg hinunterzogen. Den Frauen ward die Arbeit leichter als dem Vater das Zurückbleiben. Trüber Gedanken voll schlich er sich in den Stall, wo Uelchli, bereits in den blauen Militärhosen, die Euter zum Melken anrüstete.

Die Mutter stieß mit der rechten Hand am Karren. Mit der Linken raffte sie ihre Röcke auf, die sie zwar 54 so hoch geheftet hatte, daß ihr feuerroter Unterkittel ein gut Stück weit den Nebel durchschimmerte. Sie schmunzelte darüber, daß es ihr so gut gelungen war bei Nacht und Nebel mit dem Meitschi zu entkommen. Es dünkte sie immer, das Elisi hinterheigi in allem Fahren; aber sie stieß mit der ganzen Kraft ihres mütterlichen Verantwortungs­gefühls, so daß das Meitschi, ganz gegen der Mutter Absicht, zwischen den hochaufragenden Handgriffen des Karrens nur so einhertänzelte. Den Schwefelhut trug es am Rücken aufgehängt. Hätte die Gute geahnt, welch ein liebliches Bild sie vor sich her stieß und wie das immer schöner wurde, als nun vor Köniz die Sonne durch den Nebel brach, des Mädchens krausen Scheitel vergoldete und das auf Elisis schlichtem Kittelbrüstlein aufgesteckte Röslein küßte! — Ob sie wohl nicht daran gedacht hatte, daß auch dieses Dorf zum Füfefüfzgi gehörte? — Erst als unter den Vorschermen allerhand lustige Zurufe ertönten, bemerkte sie Uniformknöpfe und rote Kragen. Auf einem Brückenwagen lag ein Tschako, richtig mit den zwei silbernen Fünfern drauf.

«Hü!» rief sie, «mach’ daß wir ab Fleck kommen.»

«Potz Sterneberg, Mutter, was habt Ihr für ein Rößlein eingespannt!» — «Wie tüür das Fülli?» So scholl es nun bald rechts, bald links von der Straße. Und weit hinten aus der Richtung des Mengistorfwaldes hörte man auch schon Johlen und Pferdegetrappel.

55 «Schaut doch die,» rief jetzt wieder einer, «das ist die verkehrte Welt. Die Rößli auf dem Wagen und das Weibervolk in den Landen.»

«Fahr, Meitschi, fahr!» mahnte die Mutter.

Sie nahten sich dem Ende des Dorfes, und Elisi zog, was die Griffe hielten. Mit keinem der übermütigen Soldaten ließ sich Frau Schmocker ein, obwohl es sie manchmal gelüstete, ihnen zu sagen, was sich für einen rechtschaffenen jungen Mann gezieme. Im Ausgang des Dorfes gabelte sich die Straße. Am Weg nach Wabern wohnte eine Frau, die manchmal Schmockers etwas auf den Markt mitgab. Sie zog Kräutlein für den Apotheker und lohnte den Botendienst mit nützlicher Gegenleistung. Diese Frau ließ man heute beiseite. Schon hatten sie einen Büchsenschuß der alten Bernstraße abgewonnen, als von jenem Hause her der Ruf ertönte: «Vreni, Vreni!»

«Ja, miera,» sagte Frau Schmocker. «Ein andermal!» Aber die Kräuterfrau kam mit einem Säcklein querfeldein gelaufen. Jetzt konnte die Mutter doch nicht anders. Sie rief Elisi zu: «Fahr! Fahr!» und blieb stehen. Und als ob sie vergessen hätte, daß schon seit dem Untergang von Sodom und Gomorrha das Stehenbleiben aller Lebensklugheit widerspricht, ließ sie sich mit der Frau in ein Gespräch ein. Und immer fiel ihnen kehrum noch etwas ein, was gesagt und gehört sein wollte, bis auf einmal — das brave Elisi war schon über die Säge hinaus — trapp trapp holiho ein 56 zweispänniger Leiterwagen voll Soldaten herangerasselt kam.

«Helf mir Gott, es sind Herzwyler!» sagte Frau Schmocker und riß sich von der Kräutlerin los. Keuchend rannte sie der Staubwolke des Wagens nach. Arme Mutter! Als sie um die Holzstöße der Sägemühle herumbog, wollte ihr das Herz versagen.

Da war ihr Karren hinten an den Leiterwagen gekoppelt und holperte davon, und Elisi, das chätzers Täschli, saß auf dem Leiterwagen zwischen den Soldaten. Frau Schmocker reckte drohend ihre hagere Faust in die Luft, und das Meitschi antwortete mit einer Geberde, die sagen sollte: «Ich kann ganz gewiß nichts dafür.»

Was konnte nun mit dem Meitschi in Bern alles geschehen, bis die Mutter es auf dem Markte einholte! Und was machte das für eine Gattig bei des Kommandanten, wenn es so inmitten dieses Mannenvolks anrückte! Lange dauerte es und viel Volks kam ihr zuvor, bis endlich wieder ein Wägelchen mit Marktleuten aus der Gegend von daheim die Mutter einholte. Das freundliche «Hocket uf, Muetterli», klang wie ein Ruf aus besserer Welt, erlöste Frau Schmocker aber noch nicht aus aller Qual, denn sie däuchte, einen so schlampigen Trab wie diese Märe ihn trabte, hätte sie in ihrem Leben noch nicht gesehen.

Wenn sie ihr nur um des Himmels willen das Meitschi nicht unterdessen in eine Wirtschaft schleppten! 57 Sie würde sich nicht enthalten können, es vor aller Welt zu tschuppe.

Es gibt doch wunderliche Vorgänge in der Welt. Man muß es verstehen, wenn der Frau Verena Schmocker, die nun, zornwackelnd, das gewürzduftende Säcklein nach Bern hineintrug, die Soldatenfuhre vorkam wie eine Höllenfahrt ihres Kindes. Nein auch! Daß gerade ihr so etwas widerfahren mußte! An die Brust schlagen, Haare raufen und ein tragisches Geheul verführen würde man zwischen den Schneebergen und dem Jura umsonst suchen. Aber viel mächtiger als solch antik heroisches Getue spricht eine einzige Träne, die über ein bäurisches Tschöpli herunterrollt. Und es fielen ihrer an jenem Morgen vom Liebefeld bis zur Besenscheuer gar manche in den Straßenstaub. So treu hatte sie sich neunzehn Jahre lang um das Dolders Meitschi gesorgt und geplagt und gemeint, jetzt habe sie es dann bald erstritten, und der Ernst des Lebens in der Fremde werde nun das Seine tun. Und nun mußte sie es noch erleben, daß sie mit einer Dampete — und es war doch noch lange nicht von den längsten eine gewesen — alles wieder verschüttet. Die Gute wußte noch heute nicht, daß einer Mutter Gebete nicht ungehört verhallen, sondern nach der Liebe ewigen Gesetzen wieder kommen und Segen stiften wie die Tautröpflein, die verdunsten und doch wieder labend zur Erde fallen. Nein, eine Höllenfahrt gab es nicht, eher hätte von einer Himmelfahrt die Rede sein können trotz dem kriegerischen 58 Mannenvolk. Das Elisi war wohl ein lebenslustiges Vögelein, aber kein herzloses. Erst gefiel ihm, nachdem es den Karren eine Stunde weit selber gezogen, die Fahrt gar sehr, und die jungen Füsiliere ließen es an landläufiger Galanterie nicht fehlen, so daß Elisis Augen vor Lust funkelten. Aber gäb wie sie die schmucken Burschen betrachtete, in ihren Gesichtskreis schob sich immer deutlicher das Bild der Mutter, wie sie die Faust nach ihr gestreckt, wie sie mühselig hinter dem Wagen her gehumpelt, immer kleiner geworden, zuletzt ein dunkles Pünktlein nur auf der weißen Straße gewesen und endlich ganz verschwunden war. Und dann kam wieder die hagere Faust herauf. Ein Gedanke schlich an des Mädchens Herz heran: Wenn das nun das Letzte bliebe in der Erinnerung an die Mutter?

«Meitschi, warum luegst so truurig?» hörte sie einen der Burschen sagen, und eine derbe Hand langte ihr unter das Kinn. Elisi hob den Kopf, lächelte, zwickte dem Zudringlichen eins auf die freche Hand. Ein paar Alleebäume weit war’s wieder lustig. Ein Arm schlich sich um Elisis Taille, und es fühlte sich an den Nachbar herangezogen. Es schlug nach dem Unverschämten und machte sich unter dem Gelächter des ganzen Wagens los. Noch einmal ward es in die Heiterkeit mitgerissen, dann ward es wieder still und stiller, ließ den Kopf hängen, und auf einmal rüttelte ihm der federnlose Wagen Tränen aus den vollen Augen. Es fuhr sich 59 rasch mit dem Handrücken über das Gesicht und half mit dem Fürtuchzipfel nach.

«Was hast jetzt, Liseli?» sagte einer.

Da erhob sich Gantenbein Fritzens Stimme, der vorn im Wagen saß: «Jetzt laßt mir das Meitschi in Ruh, oder ich will euch dann sagen, was Trumpf ist.»

Von da an blieb Elisi unbelästigt. Man kannte des Melkers sehnige Arme. Und nun rasselten sie in die Stadt hinein. Eine neue Welt umfing das Mädchen. Allerhand Leute blickten belustigt und freundlich auf die Schöne im Schwefelhütlein, die da mit den Fünfund­fünfzigern einrückte. Das tat Elisi wohl. Die Tränen waren draußen, und es dünkte es, man könnte eigentlich die Sache auch von einer heiteren Seite anschauen. Nur ab und zu ward ihr wieder bange im Gedanken an die Mutter. An der Spitalgasse sah es wieder aus, als hätte alle Welt Freude an dem lustigen Aufzug. Es winkten sogar Leute aus den Fenstern der lustigen Marketenderin zu. Auf dem Waisenhausplatz, gegenüber dem Holländerturm, hielt der Wagen an. Die Soldaten krabbelten über alle vier Räder hinunter, halfen dem Mädchen ab dem Wagen und beluden sich mit Tornistern und Gewehren. Die weitere Sorge um Elisi überließen sie dem Tambour Gantenbein. Wenn er es doch nicht litt, daß man das Meitschi anrühre, so solle er jetzt selber dazu luege. Als ob solches im Aufgebot gestanden hätte, trotteten sie alle in die «Grüneck», eins zu helten.

60 Der Tambour warf Trommel und Tornister auf Elisis Karren und zog diesen vor das Haus gegenüber der «Grüneck», wo gewöhnlich Vater Schmocker seine Waren feil hielt. Mit Verstand und Geschmack legte er Kugeln und Kegel, Melkstühle und Rößlein auf die Stufen zur Laube. Zuoberst, mitten unter den Laubenbogen, der die Aufschrift trug «Zum Frohsinn», stellte er das Tröglein und daneben Tornister und Trommel. «So», sagte er, «jetzt hock halt in Gottes Namen, bis die Mutter kommt.» Dann drückte er Elisi die Hand und lief den Kameraden nach.

Da saß nun Elisi Schmocker und wehrte den Tränen. Es fühlte sich grusam in der Fremde und ahnte nicht, wie schlecht sein Gesicht diesen Augenblick zu der Überschrift des Laubenbogens paßte. Weit und breit sah es keinen bekannten Menschen und wußte nicht einmal, was des Vaters Waren gelten sollten. Wenn es den Preis nach des guten Ättis Mühe und Kunst hätte bemessen wollen, so wären sie wohl teuer geworden. Sein einziger Trost blieben halt doch die Herzwiler Soldaten, die dort drüben hollejeten und Waadtländer hinter die Binde gossen. Ängstlich guckte es Gaß auf, Gaß ab, wo die Mutter blieb. Gern wäre es ihr entgegengelaufen; aber es durfte doch nicht von der Ware weg.

Eine halbe Ewigkeit, so schien dem Mädchen, war schon abgelaufen, und noch nirgends sah es die Mutter, da ging in der «Grüneck» die Türe auf und die Soldaten 61 kamen heraus. Allen voran kam, den Tschako aufs linke Ohr geschoben, Fritz Gantenbein. Er hopste schwerfällig von einem Bein aufs andere, daß ihm die grünrot gestrichelten Schwalbennester auf den Schultern wackelten. Die Hände warf er in die Luft und knallte mit seinen harten Melkfingern.

«Jitz hei mer, jitz wei mer, jitz git’s no ne Schnitz,
Bi ds Giggels u ds Gäggels u Gantebei Fritz.»

So trällerte er lustig. Und dem Elisi war’s, als lüpfte etwas von innen den Tröglideckel. Es konnte nicht in Trübsal sitzen bleiben, wenn Fritz so aufgeräumt des Weges kam. Wähnend, er komme, seine Ausrüstung zu holen, erhob es sich. Im gleichen Atemzug aber fühlte es sich über die Stufen herunter gehoben und von dem starken Burschen auf der Gasse herumgewirbelt. Es hatte gut schreien: «Hör uf! Hör uf! Wenn d’Mutter das sähe!» Es pläärete ob allem Tanzen; aber der Tambour drehte sich sicher und fast feierlich und sang dazu:

«Jitz ha’n di, jitz ma’n di, jitz gits no ne Schnitz.
Bi ds Giggels u ds Gäggels u Gantebei Fritz.»

Das war für seine Kameraden das Signal zum Mitmachen gewesen. Auf einmal drehte sich einer mit der Kellnerin von der «Grüneck». Andere faßten Kameraden bei den Schultern und drehten sich mit. Zwei Trompeter plöderleten aus ihren Kriegs­instrumenten einen Ländler, und der, welcher auf der größten Baßtrompete 62 den Takt dazu druckste, geriet in Ermangelung einer holderen Tänzerin mit seinem Riesenhorn in zärtliches Walzern. Alle Laubenbogen standen voll Leute, die sich vor Lachen krümmten. Die Fenster flogen auf. Zurufe ertönten. Und je größer der Spaß der Zuschauer ward, desto lustiger drehten sich die Fünfundfünfziger.

Plötzlich zerriß ein Schrei den Jubel. Das Elisi wollte ohnmächtig werden; aber der Tambour merkte nichts. Mutter Schmocker kam die Gasse herunter. Ganz krumme Arme machte sie, und mit ihren Augen hätte sie sieben Zeltwände durchstochen. Durch die Zuschauer drängend, langte sie nach einer Kegelkugel. Mit ihres Mannes hölzerner Munition wollte sie dem gottlosen Getümmel in die Beine schießen. Aber «nid nid, Muetterli!» warnte da einer, «das könnte böse Füße geben.»

«So kann man anders», keuchte sie, ließ die Kugel fallen, griff nach einem Kegel und knirschte: «Uf de Gringe möj si’s de scho erlyde.» Aber das Auseinander­fahren von Zuschauern und Tänzern entwaffnete die Aufgebrachte. Die Bläser verstummten, während Mutter Schmocker das heulende Elisi unter dem Gelächter der ganzen Gasse herausholte und unsanft hinter einen Laubenpfeiler stellte. Während sie ihm hier herunter­kapitelte, ertönte vom Waisenhausplatz her das Signal Sammlung. Der Tambour schlich sich zum Tröglein heran und nahm, nicht ohne einen mitleidvollen 63 Blick hinter den Pfeiler zu werfen, Tornister und Trommel und eilte nach dem Sammelplatz, wo Kommandant Schnetzler inmitten seiner Offiziere Ordres aus seinem gewichsten Knebelbart strich.

III.

Eine halbe Stunde später saß das Elisi in der Staatsküche der Frau Kommandant Schnetzler an der Spitalgaß-Sonnseite zwischen zwei Feuern. Neben ihm auf der Küchenbank saß die Mutter mit brennender Lunte, bereit, die Kartätsche der letzten Ermahnung abzufeuern. Vor dem Mädchen stand Frau Schnetzler. Sie hielt ihm einen Vortrag über seine künftigen Obliegenheiten. Ihre Rede lief hurtig wie ein Brunnenstrahl, aber die einzelnen Worte klepften wie das Aufnageln von dürren Schindeln. Sie war wohl schon am zwölften Gsatz, und Elisi wußte von den vielen Dingen, die mit der Präambel «vor allem aus» eingeleitet worden, fast nichts mehr, um so weniger, als das Verslein: «Jitz hei mer, jitz wei mer» immer noch in seinem Gehörgang herumfuhr und das Loch hinaus nicht finden konnte. War es einen Augenblick überwunden, so fing sicher die Kommandantin just wieder einen Satz an mit «jitz hei mer» oder «jitz wei mer dieses und das». Endlich war auch das erlebt, und die Mutter erhielt das Wort. «Du siehst, Elisi», sagte sie, «jetzt fängt ein neues Leben an, und du hast gehört, 64 wie viel es zu tun gibt. Jetzt stell dich brav! Häb den Gring schön binangere und bim tusig schieß denk mir nicht immer ans Mannevolk. Vergiß nicht, daß du braver Leute Kind bist und wo du hingehörst.» Was mit den letzten Worten gesagt sein sollte, wußte Elisi ganz genau. Sie schlossen der Mutter ganzes Glaubens­bekenntnis in sich und wollten sagen, daß der Mensch von Gott erschaffen sei, Ihm zum Ebenbild, daß er bestimmt sei, die Erde zu bauen und zu beherrschen, zu beherrschen namentlich auch sich selbst, daß er in Demut und Treue dienen, sich seines Erlösers getrösten, ihm vertrauensvoll nachfolgen soll und endlich in die ewige Heimat heimzukehren bestimmt sei. Wie sollte die Mutter das alles sagen? Du weißt, wo du hingehörst, punktum. Wohl den Eltern, die ihren Kindern zur rechten Zeit den Weg gewiesen. Sie können ihnen in entscheidenden Augenblicken mit einem einzigen roh behauenen Satz, mit einem Blick vielleicht nur, die Gesamtsumme ihrer Erziehungs­weisheit in Erinnerung bringen.

Elisi überblickte kaum die schöne Küche mit all dem glänzenden Porzellangeschirr, den blanken Messingpfannen und Kupferkesseln, die seine Arbeitslust weckten, geschweige denn das endlose Register seiner Pflichten oder gar die Lehren, welche der Mutter Worte enthielten. Aber eines war ihm Sporn und Zügel genug: die Liebe zu dem treuen Mutterli, das jetzt auf den Markt zurückkehrte und auf staubiger Straße den Karren 65 allein heimziehen mußte, vielleicht mit dem größten Teil der vom Vater in harter Arbeit hergestellten Ware. Es dachte daran, wie die zwei daheim genug tun mußten, um ehrbar durch das Leben zu kommen, wie sehr ihnen die Kinder fehlen würden. Konnte es da anders, als selber in bravem Fleiß der Eltern Ehre suchen?

Als die Mutter weg war, fing Elisi an, auf alles zu achten, was die Frau Kommandant sagte. Es lernte sogar recht bald, ihr ab den Augen zu lesen. Frau Schnetzler machte sich selber viel in der Küche zu schaffen und wußte in Haushaltungs­sachen Bescheid, so daß die junge Köchin in einem Tage mehr lernte als früher in einem Monat. Gegen Mittag und Nachmittags empfing die Madame Besuche, so daß Elisi meist allein seines Amtes waltete. Es kam hier nicht in Versuchung, zum Brunnen hinunterzulaufen und mit dem Mannsvolk Unfug zu treiben. Das Wasser wurde von einem ältern griesgrämigen Mann in der Brente heraufgetragen, der gelegentlich in dem engen kleinen Hofe auch Holz klein machte. Vertrug es sich nicht mit dem Wesen eines ehrbaren Mädchens, dem Alten, als er gar zu umständlich seine Pfeife stopfte, eine Kartoffel auf die knochigen Hände zu werfen? Elisi Schmocker hatte nicht Zeit zu langen Überlegungen. Die Knolle war auf eins drunten, die Pfeife in den Scheitern und der Tabakbeutel daneben. Bis der Wasserheiri den Schaden gebührend bestaunt und seine Blicke unter Fluchen der 66 Hauswand entlang hinaufgekrochen, war die Attentäterin längst vom Fenster verschwunden.

Daß solch alter Hausvasall sein Höflein vom verborgensten Schlupfloch der Kanalratten bis zum Schwalbennest am Vordach kennt und ungefähr von jedem Topf auf den Gesimsen weiß, was drin ist, war der neu Eingetretenen nicht gegenwärtig, geschweige denn, daß der Mann die Kunst der Handgelenke und gar die Gedankengänge der Mägde aller Stockwerke erriet.

Als Heiri am andern Morgen mit dem Wasser in die Küche geschnauft kam, hantierte Elisi am Herd und tat, als achtete es seiner nicht. Ob er keine Ahnung hatte, wer der Wurfschütze war? Erst als er sich zum Gehen wandte, spähte Elisi nach dem runzligen Gesichte. Da kreuzten sich beider Blicke. Heiri blieb stehen und sagte: «Meitschi! Wenn’s dann wieder Rösti gibt...» Weiter kam er nicht. Elisi hatte, weil es die Frau Kommandantin kommen hörte, den Finger bedeutsam auf seine rosigen Lippen gelegt und dem Alten mit den goldgelben Äuglein zugezwinkert. Solchen Appell an sein freund­schaftliches Verstehen hatte der noch nicht erlebt. Er tat ihm unsäglich wohl. Das war doch etwas anderes, solch lustiges Meitschi, als all die wunderlichen, ergrauten und meist recht bösen Köchinnen, die er nun seit langen Jahren ohne Dank zu bedienen gehabt. So viel Treppenstufen er hinunter­zu­steigen hatte, so viele Gesichter hatte er in den drei Küchen des Hauses schon erlebt und wahrlich nimmer geglaubt, daß ihm in seinen 67 alten Tagen noch ein solches Sternlein aufgehen würde. Heiri gemahnte in seinem mühseligen Gewerbe das Elisi an seinen Vater. Darum ward es ihm gut. Es bereute seine Tat, wußte ab und zu dem Trabanten etwas aus dem Küchenschrank bereitzustellen, und so entstand aus dem übermütigen Streich ein gar freundliches Einvernehmen. Die andern Mägde des Hauses zäpfelten den alten Racker und machten ihn damit eifersüchtig.

Elisi hatte das Vertrauen seiner Meisterin so gewonnen, daß sie es am nächsten Mittwoch nachmittag mit dem Päuli, ihrem Jüngsten, spazieren schickte. Es habe ja von der Stadt noch nichts gesehen. Sie sollten etwa den Kehr über die Kleine Schanze zum Hirschengraben nehmen oder allenfalls zum Bärengraben hinunter gehen. Päuli war für die Kleine Schanze. Aber kaum hatten sie die Haustüre hinter sich, so zog er stadtabwärts. Er wollte an der Kaserne vorbei und auf die Große Schanze, seinen Vater zu sehen. Den Herrn Papa zu sehen, trug Elisi kein besonderes Verlangen; aber wo der Kommandant sei, dachte es, würden wohl auch die Tambouren nicht sehr weit sein. Und das hatten sie nun einmal für sich: bei dem Lärm, den sie verführten, waren sie leicht zu finden. Diesmal hatte das Mägdlein Zeit genug zum Überlegen, und es überlegte sich, daß der Mutter Warnung vor dem Mannevolk sich nicht über diesen Fall erstrecke, und — man sieht, das Elisi fing an städtisch zu denken — 68 daß das Mannevolk in größerem Verbände durchaus ungefährlich sei. So wanderten sie an der Kaserne vorbei zur Schützenmatte, wo eine Kompagnie übte, dann hinauf auf die Schanze, wo zwei weitere Abteilungen Soldatenschule betrieben. Aber weder Päuli noch Elisi kam auf seine Rechnung. Endlich hörte man in weiter Ferne Trommelschlag. Sie schlugen die Richtung dorthin ein und gelangten in die Brückfeldallee, an deren äußerem Ende das Bataillonsspiel übend marschierte. Das beschleunigte Päulis Schritte, und auch Elisi war seit langem nicht mehr so leichten Fußes gewandert. Eben schlugen die Turmuhren in der Stadt 4 Uhr. Da bog die Kolonne ab, in den Schatten der hohen Eichen, und löste sich auf. Die Soldaten fielen ins Gras und ließen sich von einem Marketender Bier einschenken. Päuli fand das gräßlich dumm, Elisi hingegen sehr zweckmäßig. Es dauerte nicht lange, so löste sich einer der Kalbfell­musikanten aus dem Haufen und kam auf das Elisi zu. Ungestört war das Wiedersehen nicht; denn Gantenbeins Kameraden fingen das Mädchen zu necken an. «Pläärisch geng no abem Tanze?» — «Chunt d’Muetter bald mit der Chrugle?» So tönte es. Und einer fing auch schon an einen Tanz aufzuspielen. Päuli machte sich gar nichts daraus. Er schlenderte rings um die Soldaten herum und ließ seine Hüterin bei dem Tambour, der ihn wenig interessierte.

Daß es etwa zu besondern Zärtlichkeiten oder Neckereien 69 gekommen wäre, kann man nicht sagen. So was war gut am Brunnen zu Herzwil, wo man dicht beieinander wohnte, durch ein wenig Schabernack Abwechslung ins Alltagsleben brachte und sich weiter nichts dabei dachte. Hier war es ganz anders. Man traf sich gewissermaßen in der Fremde. Fritz und Elisi hatten hier, wo sie beide ein wenig wider des Herzens Lust folgen mußten, ein gemeinsames Heimweh nach den Fleischtöpfen von Herzwil und eine wohleingesessene Sehnsucht nach gemeinsamer und ungestörter Fortsetzung des Lebensweges. Keines sagte ein Sterbenswörtlein davon; aber das stille Einvernehmen der Beiden prägte sich um so deutlicher aus in der Art, wie sie da nebeneinander auf der Promenadenbank saßen. Der Tambour machte einen Katzenbuckel, ließ seine Pfeife zwischen den gespreizten Knien baumeln und stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel, zwischen denen die Hände untätig niederhingen.

Das Elisi lehnte sich nach hinten und spielte mit den Fürtuchbändern. Beider Augen blickten in die weite Ferne und suchten sich nur ab und zu, als wollten sie sagen: «I bi de geng no da.» Und in dieser stummen Erklärung lag nun auch wieder ein ganzes Stück Geschichte vergangenen, gegenwärtigen und erst noch kommenden Zusammenlebens. In den Blicken lag auch die Bereitwilligkeit zur Besiegelung des stillen Einvernehmens, das sich etwa in der Frage ausgedrückt hätte: du, wenn öppe nes Müntschi möchtisch... Daß 70 diese Frage unbeantwortet bleiben mußte, verstand sich von selbst. Zwanzig Schritt hinter der Bank lag das ganze Musiker- und Tambourenkorps des Füfefüfzgi im Gras. Aber sie waren’s auch so zufrieden. Jedes war dem andern eine Viertelstunde Daheimseins.

Die Seligkeit hatte noch nicht lange gedauert — immerhin für Fritz lange genug, um zu erfahren, wo Elisi wohne — so hieß es: «Achtung, ds Rößlispiel!» Die Soldaten sprangen auf und stellten sich in Reih’ und Glied. Päuli war freudig verwirrt. Woher sollte denn ein Karussel kommen? Aber statt eines Zuges von Meßwagen mit hölzernen Rößlein, Gondeln und Drehorgeln kam niemand geringeres als Kommandant Schnetzler mit dem Bataillonsstab silberfunkelnd aus der purpurnen Waldnacht des Bremgartens herangetrabt. Päuli wußte nicht, was mit sich anfangen vor Freude. Nach allen Seiten schrie er: «Der Papa, der Papa!» — Wie die ganze Musik das Mandli machen mußte vor Papa Schnetzler! Auch Elisi staunte ob der stolzen Pracht ihres Hausherrn und kam sich beinahe selber vor wie jemand, der etwas zu sagen hat. Aber was jetzt kam, hatte es Mühe zu begreifen. Der Herr Kommandant befahl dem Tambourmajor durch alle Trommler einen wilden Wirbel schlagen zu lassen, und dann rief er, im Bestreben, auch den berittenen Teil seiner Truppe feldtüchtig zu machen, seinen Offizieren zu: «Dicht heran reiten, meine Herren, ganz dicht heran!» Man wußte ja, was des Trommelns ungewohnte 71 Pferde in den erhabensten Augenblicken der Bataillonsschule oder des Defilierens für Geschichten anstellen konnten. Zwei-, dreimal ritten sie heran. Des Kommandanten Pferd schien Wohlgefallen zu haben an dem kriegerischen Lärm. Andere guckten schief, wollten nicht heran, bockten, wandten um, stiegen. Kurz, es war ein Getümmel, vor dem alles bürgerliche Leben der Promenade reißaus nahm. Nach allen Richtungen sah man Bonnen und Kinderwagen und erschreckte Kinder aus dem Gebüsch ins freie Feld fliehen, wo sie übrigens erst recht ihres Lebens nicht sicher waren. Dort draußen nämlich stand, wie zu Holz erstarrt, der schwarze Gaul des dicken Aidemajors und reagierte auf die wütendsten Sporrenhiebe seines Herrn nur mit einem malitiösen Zucken des Bauches. Die Ohren hatte der Rappe ganz flach aufs Genick gelegt. Die Nüstern streckte er wie erwartend in die Luft. Auch der Aidemajor erwartete augenscheinlich etwas. Er blickte ängstlich auf diese unheimlichen Ohren seines Pferdes. Und das ganze Publikum rings herum erwartete etwas. Man wagte nur nicht recht zu denken was.

Die Tambouren wirbelten, was die Felle hielten. Gantenbein blickte drein, als sänge er für sich: «Jitz hei mer, jitz wei mer, jitz git’s no ne Schnitz.»

Aber der Schnitz kam nicht. Kommandant Schnetzler winkte ab. Der Lärm verstummte. Der Aidemajor streckte aufatmend seine kurzen Beine und sah mit 72 Wonne seines Rappens spitze Öhrchen in die Höhe steigen.

Im Wegreiten — o Wonne! — rief Papa Schnetzler dem Elisi zu: «Komm mit dem Kleinen in die Enge hinüber!»

Die kleine Reiterschar trabte quer über die abgeernteten Felder der Innern Enge zu, wo der Herr Kommandant den coup de l’étrier zu nehmen gedachte. Nun fiel es ihm ein, die Rast ein wenig auszudehnen. Er sprang aus dem Sattel, ohne das sehr lang werdende Gesicht des Herrn Aidemajors zu beachten, übergab das Pferd dem Stallknecht und schritt seinen Offizieren voran auf die schattige Terrasse des Restaurants hinaus, wo er ganz gern die ehrfürchtige Aufmerksamkeit einiger Kümmikuchen essenden Bürgersfamilien auf sich ruhen ließ. Während man auf den bestellten Trunk wartete, ließ er mit auf der Brust verschränkten Armen väterliche Blicke über die Bundesstadt schweifen. Noch stand er so da, als etwas an den langen Schößen seines Waffenrockes zupfte. Es war Päuli. Elisi stand von ferne. Während die ehrsame Bürgerschaft in Betrachtung des Garnisons­kommandanten ihre fetttriefenden Kümmelkuchen erkalten ließ, erfreute sich Elisi der ungeteilten Aufmerksamkeit der Herren Offiziere. Kommandant Schnetzler unterhielt sich mit seinem Söhnchen, bis die Kellnerin mit einem Brett voll Gläser und Flaschen angeklirrt kam. Dann ließ er an einem besondern Tisch Päuli und seiner Behüterin Sirup und 73 Tirggeli reichen. Als man wieder aufbrach, tätschelte der eine und andere der Herren Offiziere den Sohn des Kommandanten freundlich auf die Wangen. Eigentlich galt es nicht ihm. Päuli wollte die Herren zu Pferde steigen sehen, und Elisi folgte dem Kleinen. Der Kommandant schwang sich rasch in den Sattel und ritt, von den übrigen gefolgt, schon stadtwärts, als der dicke Aidemajor noch verzweifelt nach einer Rampe Umschau hielt. Schon lange krampfte sich seine Linke mit den Zügeln in die Kammhaare des Pferdes. Aber jedesmal, wenn er mit dem linken Fuß nach dem Bügel schnappte, tat der Gaul einen ungeduldigen Schritt, und der schwere Herr hopste mit dem linken Fuß in der Schwebe pustend und schimpfend nach. Der Stallknecht konnte nicht helfen, denn er mußte auf der andern Seite des Pferdes aus allen Kräften am Bügelriemen Gegengewicht machen. Elisi dauerte der Herr in seiner Not. Wie gern hätte es ihm am Hosenringgen nachgeholfen! Endlich kamen zwei Feldarbeiter des Wegs. Die gingen auf des Mädchens Wink zu Hilfe, machten aus ihren Schultern Sitzbretter und aus dem Aidemajor einen dankbaren Mann. «Ja», sagte das Elisi zu den Braven, «wenn man sie albe so stolz durch die Stadt fahren sieht, so kommt einem nicht der Sinn dran, was das z’tüe gä het.»

74 Einmal droben, fühlte sich der Aidemajor wieder recht herrig, und es gelüstete ihn, die unerbetene Begutachtung aus dem Volksmund scharf zurückzuweisen, wie es das Ansehen der Armee erheischte. Doch zog er in Erwägung, daß diejenigen, die ihm in den Sattel geholfen, ihm leicht auch wieder aus dem hohen Sitz helfen konnten, und ritt seinen Kameraden nach.

Das Füfefüfzgi machte in Bern gut Wetter, und bei des Kommandanten an der Spitalgasse trug man sich zehn Tage lang ungewöhnlich aufrecht. Wenn Madame Schnetzler ans Fenster trat, so fühlte sie viel mehr Blicke auf sich gerichtet als Augenpaare die Gasse belebten. Der größte Tag aber war der letzte des Wiederholungs­kurses, da das Bataillon draußen am Wangenhubel eine glorreiche Schlacht gegen ein Dutzend Markierfähnchen lieferte. Das Gefecht wickelte sich streng nach den akademischen Regeln von St. Cyr ab, zog sich aber ziemlich in die Länge. Die berittenen Herren mußten nämlich des Stadtbaches wegen, der sich zwischen Vor- und Haupttreffen hindurch schlängelte, immer nach Bümpliz hinein reiten, um das nasse Hindernis trockenen Hufes zu passieren. Einzig der dicke Aidemajor verschmähte diesen Umweg. Er hielt ziemlich weit abseits vom Haupttreffen im furchtbarsten Feuer der Fähnchen-Kompagnien getreulich aus und erreichte durch diese kluge Taktik, daß er an dem heißen Tage nur zweimal seinen Rappen erklettern mußte.

Als gegen Abend Kommandant Schnetzler mit 75 klingendem Spiel durch die Spitalgasse marschierte, lag die ganze schnetzlerische Verwandtschaft so dicht aufgegeschlossen in den Fenstern, daß das arme Elisi von dem Bataillon nichts anderes zu sehen bekam als den Stab des Tambourmajors, der vor des Kommandanten Haus besonders hoch in die Luft flog. Aber es hörte mit seines Herzens Gehör ganz deutlich Fritzens Trommelschlag aus dem Dröhnen des Marsches heraus.

Übrigens sollte Elisis großer Tag noch kommen und zwar behende. Am andern Morgen nämlich wurde das Füfefüfzgi entlassen. Die Mannen begaben sich auf verschiedene Rendez-vous-Plätze, wo sie mit Wagen aus den Dörfern abgeholt wurden. Fritz Gantenbein trug Tornister und Trommel in die «Grüneck»; aber ehe er nach Herzwyl zurückkehrte, wollte er doch sein Elisi nochmals sehen. Es konnte lange währen, bis ihn sein Weg wieder nach Bern führte. Als er vor das schnetzlersche Haus kam, erschien just der Wasserheiri unter der Türe. Der konnte dem Tambour ganz genau sagen, wo er das Elisi Schmocker finde. Ein schadenfrohes Zwinkern seiner Augen wollte sagen: geh nur hinauf. Du wirst dann schon an die Rechte kommen. Fritz konnte das nicht erraten. Und diesmal hatte sich auch Heiri getäuscht. Die Frau Kommandant war freilich vor kurzem noch in der Küche gewesen, aber inzwischen hatte sie das Haus verlassen, um noch Delikatessen einzukaufen. Ihr Mann wollte einige seiner Offiziere zum Mittagessen heimbringen.

76 Beinah hätte Elisi in freudigem Schreck aufgeschrien, als Fritz Gantenbein seinen dicken Kopf zur Küchentüre hereinstreckte. Jetzt lag niemand im Gras hinter ihnen, und Fritz müßte auch gar nichts von einem Soldaten an sich gehabt haben, hätte er nicht sein Elisi gehörig obenyne genommen.

«Hör uf! — Denk doch!» schmählte das Mädchen. «Es könnte ja jemand von drüben es sehen.»

«Ich habe dir nur wollen adie sagen», erklärte Fritz. «Wir sind entlassen, und ich fahre in einer Stunde heim.»

«Das ist brav von dir. Aber und der Uelchli? Kommt der nicht einmal mit zu mir? — Das ist mir ein Bruder!»

«Weiß nicht, wo er ist; aber ich glaube beinah, er habe begriffen, daß jetzt der Kehr an mir sei. Ich ginge auch nicht z’Visite mit ihm — Bin ich dir etwa nicht genug, he?»

«Bhüet’is, mehr als genug.»

«So so?»

«Los, Fritz, du bist wäger ein lieber, daß du gekommen bist; aber jetzt nimm Vernunft an. Geh’ lieber! Denk doch, wenn sie dich hier fände!»

«Wer?»

«He, sie, d’Frau.»

«He, z’Gugger! Bin ich öppe nicht einer vom Füfefüfzgi? Ich gehöre doch zu ihrem Mann. Wenn der Uelchli statt meiner da wäre, so hätte wohl niemand nüt z’muggle — oder?»

77 «Du bist eben nicht der Uelchli. Geh jetzt! Der tusig Gotts Wille.»

«Ja nu, drein bringen möchte ich dich nicht. Also, so bhüt dich Gott, Liseli. Aber eins mußt jetzt noch haben.»

Elisi riß sich los. Mit allen Zeichen des Schreckens starrte sie plötzlich den Tambour an, während sie nach dem Korridor horchte.

«Jetzt ist sie my Tüüri hock a Bode schon da. Eh um Gotts Wille, was soll ich jetzt machen? Du kannst nicht hinaus, sonst plötschist du ihr grad an die Nase. — Komm, hock da hingere, auf den Holzkrumen.»

«Weißt was, wenn’s fehlen sollte, so heiß mich nur Uelchli!»

Elisi schob Fritz auf den Holzkasten und hing das große Aschentuch vor ihm an eine zum Wäschetrocknen gespannte Schnur. Wenn er sich in der dunklen Ecke mausstill hielt und die Frau Kommandant nicht zu lange in der Küche herum nuschete, so konnte es noch geraten, ihn unbemerkt hinauszubringen. Es währte nicht lange, so trat Madame Schnetzler ein. Der Tambour konnte sie durch das Tuch ganz gut sehen. Nach der Art, wie sie ihre Sachen auf den Küchentisch auskramte und mit Elisi sprach, schloß er, Kanunnehans müsse doch noch der angenehmere Meister sein als seine Frau. Sie schien nichts zu merken; aber es konnte noch kommen. Sie brauchte sich nur umzudrehen. Das Gefährliche war, daß das Tuch seine Füße freiließ. 78 Sie heraufzuziehen wagte er nicht, weil der Holzkrumen ihn durch Quietschen verraten konnte. So suchte er das Tuch ganz sachte ein wenig herunter zu zupfen, ohne zu bedenken, daß es dabei das Gleichgewicht verlieren könnte. Plötzlich saß der Tambour wie ein enthülltes Denkmal da. Aber es rief niemand ah und oh. Immerhin bewog das leise Geräusch des fallenden Tuches die Frau Kommandantin, nach der dunkeln Ecke zu schauen. Sie stieß einen Schrei aus, der sämtliche Köchinnen an die Hoffenster zauberte. Man dachte schon, Elisi habe sich verbrüht. Dann folgte ein Augenblick stummer Erstarrung. Man wußte nicht, was kriegerischer blitzte, die Augen der Madame Schnetzler oder des Tambours Uniformknöpfe. Merkwürdiger­weise war Fritz Gantenbein der erste, der Worte fand. Wahrscheinlich trieb ihn die Angst, Elisi könnte in seiner biederen Aufrichtigkeit alles verraten, zum Reden. Er sprang auf die Füße, salutierte und sagte: «Frau Kumedant, es ist nume mi, ich habe nach meiner Schwester schauen wollen. Ich wäre nämlich dem Elisi der Bruder, der Uelchli Gante... Schmocker.»

«So?» sagte Frau Schnetzler, die Hände auf ihre stattlichen Hüften stemmend. «So so, Elisis Bruder seid Ihr? — Wozu um alles in der Welt versteckt Ihr Euch denn da hinten? Es hat doch keine Art, einen so zu erschrecken.»

Elisi fühlte die bohrenden Blicke der Madame auf sich ruhen und suchte seine Schamröte zu verstecken, 79 indem es an der Kachelbank sich zu schaffen machte. Sollte es lügen helfen?

Fritz Gantenbein machte weitere Beruhigungs­versuche, indem er beteuerte, er habe sich aparti nicht verstecken wollen, er habe nur gefürchtet, es könnte der Frau Kommandant nicht recht sein, wenn man das Elisi so bei der Arbeit störe.

«Das ist allerdings so», sagte die mißtrauisch Gewordene.

«Nüt für ungut», entschuldigte sich Fritz weiter, «ich muß jetzt ohnehin fort und will Euch nicht länger versäumen. Behüt Euch Gott miteinander!» Im Hinausgehen wandte sich der Mann mit den grünroten Schwalbennestern noch einmal um und sagte zu Elisi: «Also kann ich der Mutter sagen, du seiest hellauf und ds Gäggels

Als zwei Minuten nach Fritzens Abgang die Frau Kommandant immer noch dastand wie ein vergessener Türlistock, fand Elisi, sie habe es nun genug gschauet und wurde rumpelsurrig, was sich in seinem lauten Hantieren mit dem Geschirr kundgab.

«Elisi», fragte Madame Schnetzler ernst und eindringlich, «hast du noch mehr solcher Brüder?»

«Miera», brummte das Mädchen, «warum hat man das Milidär grad just auf diese Zeit aufgeboten?»

IV.

In Jakob Binders Stall zu Herzwyl standen zwölf schwere Kühe. Sie schnauften mit Behagen und wehrten den Fliegen. Irgendwo hörte man Milch in die Melchter zischen. Da kam ein Mann gelaufen und rief in das schwüle Dunkel des Stalles: «Gantebei! — Gantebei!»

«He?» hörte man durch das Geschnaufe.

«Komm heraus, aber gleitig e chly!»

«Was soll ich?»

«Herauskommen.»

«Häb nicht Kummer. Wenn ich dann fertig bin, komm ich ganz von selber.»

«Es pressiert drum. Du sollst generalen und das sofort.»

«Was soll ich?»

«Generalmarsch schlagen. Sternstusig D... Willst jetz machen, daß es rückt?»

«Wer bist eigentlich?»

«Kennst mich etwa nimmer? Der Sektionschef.»

«Was Teufels ist denn los?»

Der Sektionschef stand jetzt hinten im Stallgang und redete zwischen zwei Kühe hinein, indes Fritz Gantenbein unentwegt weiter molk.

«Es gibt Krieg,» schrie der Vertreter der Staatsgewalt.

«So?» antwortete der Melker. «Wo?»

81 «Spaß beiseite, komm jetzt! Das Füfefüfzgi muß marschieren.» Endlich erhob sich Gantenbein, aber nicht aus Gehorsam, sondern weil er mit seiner Kuh zu Ende war. Er ging an dem Sektionschef vorbei und goß den Kübel in die Brente aus. Der Sektionschef trat zu dem Milchbänklein und redete weiter: «Krieg just ist es nicht. Aber in Bern zerschlagen sie sich die Köpfe.»

«So?» sagte Gantenbein. «Die haben recht. Sie sollen sich die Grinde zerschlagen, wie mehr, desto besser.» Damit setzte er sich an die siebente Kuh und molk weiter. «Je mehr sie ihrer zerschlagen, desto weniger bleibt uns zu tun.» Und brr brr brr schoß die Milch in den hölzernen Kübel.

Was wollte da der Mann von der Obrigkeit noch? Er zählte die Kühe ab, die noch auf Erleichterung warteten und fand, daß es wohl noch reichte, um inzwischen einen Anschlag ans Spritzenhaus zu machen, worin der wehrhaften Mannschaft von Herzwyl kundgetan wurde, daß in der Stadt Bern wegen des Vorkaufs der Lebensmittel durch Zwischenhändler ein Krawall ausgebrochen sei und daß die Regierung beschlossen habe, das Bataillon zur Wieder­herstellung der Ordnung einzuberufen, welches zuletzt geübt habe.

«So mach, daß es rückt!» sagte der Sektionschef, und schlich davon.

«Erst kommt die Christenpflicht und dann das Vaterland,» rief ihm der Melker nach.

82 «Wenn der Franzose käme», wandte sich der Sektionschef auf der Schwelle nochmals um, «so nähme er die Kühe ungemolken.»

Aus der Finsternis antwortete es übermütig:

«So chäm er u nähm er, da gäb’s no ne Schnitz,
Wär ds Giggels u ds Gäggels wie Gantebei Fritz.»

Der Herr Gemeindeschreiber — das war er nämlich auch noch — trottete seiner Behausung zu. Als er aber am Wirtshaus vorbei kam, fiel ihm ein, er sei schon seit drei Stunden nicht mehr dort gewesen, und wenn die Erleichterung der Kühe nach dem Urteil des Volkes dem dringenden Ruf des Vaterlandes vorgehe, so habe er auch Anspruch auf Erleichterung des Kropfes. Zuerst saß er allein in der Wirtsstube. Als man ihn aber mit lauter Stimme von Kartoffelpreisen, Händlern und blutigen Köpfen poleten hörte, kamen bald andere Leute zum Vorschein und setzten sich zu ihm an den Tisch. Statt des Anschlages am Spritzenhaus schlug er ein mündliches Promulgations­verfahren ein und vergaß darob den Generalmarsch.

Plötzlich fuhr die ganze Kannegießer-Gesellschaft zusammen, und die Aufwärterin brüllte vor Schreck alle Gredi use. Das ganze Haus dröhnte von einem wütenden Trommelwirbel. Man stürzte zur Türe der Gaststube und fand Fritz Gantenbein bloß in Flanellhemd und Zwilchhose. Der wirbelte und generalete im Hausgang, daß kein Mensch sein eigen Wort verstand. 83 Als es ihm beliebte, eine Pause zu machen, hielt er beide Schlägel in die Höhe und fragte den Sektionschef, ob der Franzos die Pintehöcker wohl auch nähme, bevor sie z’vollem sturm wären.

«Nei», sagte einer, der hinter ihm hergelaufen war, «aber der Tüfel.»

Langen Trommelns bedurfte es nicht. Der Alarm hatte sich von Haus zu Haus verbreitet, und man besprach sich schon, wie man die Arbeit nach dem Wegzug der Jungmannschaft verteilen wollte. Beim Vernachten stand ein zweispänniger Leiterwagen vor dem Wirtshaus bereit, und die Soldaten nahmen unter allerhand guten Räten Abschied von ihren Verwandten und Meistern. Die jüngern Leute glaubten einheizen zu müssen und riefen: «Gebt ihnen nur recht auf den Grind!» Die Alten hingegen mahnten: «Macht’s nicht zu strub!» Man schleppte noch eine Maß Wein herbei und bot Gläser zum Abschiedstrunk herum. Dann rasselte die kriegerische Fuhre in die kalte Novembernacht hinaus. Eigentlich wußte auf dem Wagen niemand bestimmt, wem man auf den Grind geben sollte. Diejenigen, die zum Dreinhauen sie ermuntert, dachten sich, es gehe auf die Zwischenhändler los. Was brauchten die zwischen herauszunehmen? Wenn man aus der Ware mehr lösen konnte, so sollten doch die Bauern den Nutzen davon haben und nicht die Vorkäufer. Die erfahrenern Mannschaften hingegen vermuteten, es werde mit der Gelegenheit zum Prügeln kaum sehr 84 weit her sein. Man brauche das Militär gewöhnlich nur, damit es öppe chly luegi, daß es nicht zu wüest getrieben werde. Fritz Gantenbein war’s nicht sonderlich ums Dreinschlagen; er sann vielmehr auf Kriegslisten, nicht zur Überrumpelung der Händler, sondern des Elisi Schmocker. Der Holzkrumen hatte sich als Hinterhalt nicht bewährt, und so mußte er auf einen andern Zugangsweg Bedacht nehmen.

Diesmal fuhr man an der Grüneck vorbei zum Zeughaus, in dessen Hof das Bataillon bei Laternenschein organisiert wurde. In den frühen Morgenstunden bezogen die Mannschaften Quartier. Fritz Gantenbein kam zur Wache und konnte während der ganzen Nacht das Treiben am Eingangstor beobachten. Viel Lärm gab’s nicht. Dann und wann wurde ein Bürger eingeliefert, der seine Haustüre nicht finden konnte und dafür die Obrigkeit verantwortlich machte. Dagegen erwartete man für den kommenden großen Markttag starken Zuzug vom Lande her. Wenn die Rauflustigen sich unter diese Menge mischten, so konnte es schon noch ungemütlich werden. Daß man sich darauf gefaßt machte, ließen schon die beiden Kanonen schließen, deren blanke Bronzerohre im Laternenschein schimmerten. In der Kavallerie­kaserne am Bollwerk war eine Dragoner-Kompagnie eingerückt.

Schon vom ersten Tagesgrauen an mußte der Patrouillen­dienst verstärkt werden. Wie erwartet, wurde der Markt stark befahren, und es sah aus, als hätte 85 jedes Bauernweiblein zu seiner Bedeckung ein paar handfeste Burschen mitgebracht. Gegen Mittag begann sich auf dem Kornhausplatz eine große Menge Volks zu sammeln. Man wußte nicht, was sich da vorbereitete, ob es eine harmlose Volksversammlung werden sollte oder ein Demonstrationszug oder gar ein gewaltsamer Angriff auf die Magazine der Händler und die sie bewachende Polizei. Der Platzkommandant wollte vorbeugen und ließ die Artillerie­sektion vor der Hauptwache auffahren. Der Theaterplatz wurde durch Infanterie gesperrt. Dann wurden die beiden Geschütze bis auf die Höhe des Zeitglockenturms vorgeschoben, und die Kanoniere stunden mit brennender Lunte bereit, um die immer drohender werdende Volksmasse mit Kartätschen zu zersprengen. Sei es nun, daß man nicht an die Kartätschen­ladung glaubte, sei es, daß der kriegerische Aufmarsch die Menge nur noch reizte, statt auseinander­zugehen, machte man Miene, Widerstand leisten zu wollen und drängte gegen die Truppen hin. Der Kindli­fresser­brunnen war von einem riesigen blau- und braun­gesprenkelten Menschenstrom umbrandet, der sich langsam in der Richtung nach der Hauptwache zu bewegen begann. Hätte nicht ein vernünftiger Wachtmeister einem Kanonier die Lunte aus der Hand gerissen, so würde sich ein Blutbad abgespielt haben. In der Erkenntnis, daß der Anblick der Geschütze seine Wirkung verfehlt habe, ließ nun der Platzkommandant die Dragoner in breiter Front aufmarschieren und mit 86 blanker Waffe auf die Menge antraben. Da gab’s ein Schauspiel für Götter. Plötzlich wandte sich die Spitze des Volkshaufens zur Flucht. Von hinten wurde aber immer noch gegen die Truppen gedrängt. Wo die Pferde der Dragoner vor der Menschenmauer sich zu bäumen, zu tanzen und zu schlagen begannen, erhob sich ein wildes Kreischen und Fluchen, und nach einem Gedränge, in dem die einen in die Höhe gehoben, andere zu Boden gedrückt, mehrere in den Brunnen geschoben wurden, flutete endlich alles gegen den Graben hinunter. Siegestrunken jagten die Dragoner die sich lichtenden Haufen vor sich her, unschuldige Hiebe mit flacher Klinge austeilend. Aber sie hatten nicht mit den Gewölben der Kornhaushalle gerechnet. Diese boten mit ihren hohen Stufen nach dem Platz hin gerade dem widerstrebendsten Teil der Menge einen ausgezeichneten Schutz gegen die Kavallerie, die nun im Vorüberreiten von den erbosten Flüchtlingen in der Flanke gefaßt und mit einem furchtbaren Hagel von Kartoffeln und runden Pflastersteinen überschüttet wurde. Wehrlos gegen diese Festung, mußten die Reiter von der Verfolgung abstehen und sich aus dem Bereich der Wurfgeschosse zurückziehen.

Die Freude währte indes nur wenige Minuten; denn kaum hatte man militärischer­seits die Lage erkannt, so vernahm die Menge von der Zeughausgasse her Trommelschlag. Eine Reserve­kompagnie rückte aus dem Zeughaus heran und stürmte die schützende Halle von der Rückseite mit gefälltem Bajonett, so daß die 87 heldenmütige Besatzung zwischen Infanterie und Kavallerie geriet und nun in alle Winde stob, um in der Flucht ihr Heil zu suchen.

Mitten in dem Gewölbe stießen die ergrimmten Füsiliere auf ein Mädchen, das sie in dem Halbdunkel mit goldgelben Augen anfunkelte und nicht zu begreifen schien, daß auch es den Platz räumen müsse.

«Use da, Meitschi!» hieß es aus rauhen Kehlen.

Elisi Schmocker sprang auf einen Kellerstein und dachte die Soldaten an sich vorüberstürmen zu lassen. Schon nahten die Sturm schlagenden Tambouren. Das Gewölbe dröhnte.

«Fritz, Fritz!» schrie das Mädchen und spähte nach seinem Retter. Aber wer sollte in dem Höllenlärm seinen Namen hören? — Ein frecher Soldat holte mit dem linken Arm aus, um des Wildfangs Kniee zu umfassen. Da flog, von derber Weiberfaust getroffen, des Füsiliers Tschako zur Erde. Ein halbes Dutzend Hände haschten nach Elisis fliegendem Kittel, seinen herunter­gefallenen Zöpfen. Bajonette guselten nach ihm. Aber sie stachen in die Luft. Der Vogel war entwischt, auf den Platz hinaus. Zwei Soldaten purzelten hinter ihm her die Stufen hinunter und flogen bäuchlings auf den Platz hinaus. Dafür waren wohl ihrer zehn der Fliehenden auf den Fersen mit dem wilden Gebrüll: «Heit se! Heit se!» Und nun setzten sich auch Dragoner in Bewegung. Elisi wußte nicht mehr wo ein und aus, als es vor einen offenen Kellerhals geriet. Husch! war 88 es drin. Aber im nächsten Augenblick ward es unter wildem Gelächter herausgeholt. Da half weder Beißen noch Kratzen. Ein Dragoner führte es, nachdem man ihm die Hände auf den Rücken gebunden, an seinen schönen goldenen Zöpfen über den ganzen Platz auf die Hauptwache. Hier stand es nun inmitten einer Horde von Radaubrüdern, die man, gleich ihm, auf der Flucht oder im Handgemenge eingefangen. Nachdem es begriffen, daß da kein Aufbegehren etwas nütze, fing es jämmerlich zu weinen an und beteuerte unter dem Hohngelächter der ganzen Wachtstube seine Unschuld. Als einer der wüstesten Kerle ihren Schürzenzipfel faßte, um der armen Gefangenen die Tränen, welche sie mit den gebundenen Händen nicht abwischen konnte, zu trocknen, gab sie ihm einen währschaften Fußtritt. Endlich erbarmte sich ein Landjäger­wachtmeister des Mädchens, nahm ihm die Fesseln ab und sperrte es in das Weiber­kämmerlein. Aber da kam es vom Regen in die Traufe, denn es mußte den übelduftenden Raum mit zwei Vagantenweibern teilen.

Unterdessen litt Fritz Gantenbein große Pein um sein Elisi. Er war eben noch zeitig genug unter dem Gewölbe hindurch gekommen, um zu sehen, wie die Dragoner seinen Schatz aus dem Keller holten und fortschleppten. Am liebsten hätte er seine Trommel weggeworfen und wäre über den Platz gerannt, um den Häschern im Raupenhelm die Beute zu entreißen. Aber da hieß es plötzlich: «Halt! Ralliieren?» Und nun stand 89 die Kompagnie schon seit zwei Stunden vor der Hauptwache auf Piket, weil man fürchtete, der Pöbel könnte die Gefangenen befreien wollen. Das war ein bitter Wachestehen, denn Fritz Gantenbein stellte sich das Speckkämmerlein, wie man die Souterrain­gefängnisse der Hauptwache nannte, noch schlimmer vor als sie in Wirklichkeit waren. Nachdem er mehrmals umsonst die Landjäger beschworen, sie sollen doch das Elisi Schmocker freilassen, es sei ehrbarer Leute Kind, gelang es ihm gegen Abend, Elisis Bruder, den Uelchli, zu erhaschen. Der war erst im Laufe des Tages eingerückt und hatte noch nichts gewußt. Auf Fritzens Bericht hin verlangte er sofort vor den Kommandanten Schnetzler gelassen zu werden. Nach vielem Hin- und Herlaufen fand er ihn endlich im Kasernenhof, wo die Offiziere zum Rapport befohlen waren.

Durch das Mißgeschick seiner Schwester keck geworden, trat er stramm vor den Gewaltigen hin und meldete: «Herr Kumedant, Ihr werdet schon wissen, daß Eure Dienstmagd, das Elisi Schmocker, gefangen und eingesperrt worden ist...»

Das war dem Kommandanten das Neueste, da es seiner Frau, die immer noch auf den Marktkorb und die Köchin wartete, noch nicht gelungen war, bis zu ihrem Gemahl durchzudringen. Aber er ließ nichts merken, sondern prautzte: «Und was geht das Euch an, Füsilier? Wer seid Ihr?»

«Ich bin eben Elisis Bruder, Ueli Schmocker.» 90 «So so? Ich habe gemeint, Elisis Bruder sei Tambour.»

«Zu Befehlch, Herr Kumedant. Der Tambour Schmocker heißt Gottfried, der geht uns nichts an. Der ist von Englisberg. Wir sind von Herzwyl.»

«Da soll der Kuckuck draus kommen. Also seid nicht Ihr neulich bei dem Mädchen zu Besuch gewesen?»

«Nicht daß ich wüßte, Herr Kumedant.»

«Seid Ihr besoffen oder...»

«Zu Befehlch, Herr Kumedant, noch kein Tröpfli hab’ ich heut’ gehabt.»

«So macht jetzt, daß Ihr zu Eurer Kompagnie kommt! — Abtreten!»

Uelchli zeigte noch gar keine Lust abzutreten. Er blieb ganz ruhig stehen, heftete ein paar böse Augen auf den gestrengen Herrn und fragte: «Aber und jetzt das Elisi?»

«Macht jetzt, daß Ihr fortkommt! Die wird den Weg heim schon finden.»

Damit drehte sich Kommandant Schnetzler so unwirsch auf dem Absatz um, daß seine langen Rockschöße sich zur Krinoline blähten.

Uelchli begriff nichts. Was konnte der Tambour Schmocker, der wüste Gesell, mit Elisi gehabt haben? Wenn er den erwischte, so würde er ihn nicht übel zur Rede stellen. Aber jetzt war das Bataillon über die ganze Stadt zerstreut. Es blieb Uelchli nichts anderes übrig, als sich bei seiner Kompagnie zurückzumelden.

91 «Albernes Weibervolk!» brummte der Kommandant in seinen Knebelbart. «Werde wohl Zeit haben, mich um dieses Babi zu bekümmern, solange es gilt, Regierung und Volk gegen die verdammten Aufrührer zu beschützen!» Nun konnte aber jeden Augenblick Madame Schnetzler auftauchen. Vermutlich war sie schon jetzt auf der Suche nach ihrem Ehegewaltigen. Rasch entschlossen kritzelte der Kommandant auf einen Meldezettel: «An das Polizeikommando. Hauptwache. Bitte die Köchin Elise Schmocker unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Schnetzler, Kommandant.»

Nach einer Viertelstunde kam die Ordonnanz mit einem Zettel von der Hauptwache zurück. Er lautete: «An Kommandant Schnetzler. Nicht kompetent. Die Schmocker hat am Aufruhr tätigen Anteil genommen. Bleibt in Haft. Tschachtli, Ldjgr. Hptm.»

Unterdessen waren doch Gerüchte über Elisis Verbleib zu Madame Schnetzlers Ohren gedrungen. Leider waren sie sehr unvollständig und verworren. Das Einzige, was von «Augenzeugen» «verbürgt» werden konnte, war, daß Elisi Schmocker von den Soldaten in einen Keller geworfen und dort eingeschlossen worden sei. Die Kommandantin hatte darauf sofort den Wasserheiri ausgeschickt, etwas Näheres zu erfahren. Seither war Heiri nicht mehr zum Vorschein gekommen. Der Biedermann hatte gewartet, bis das Schlachtfeld geräumt war. Dann war er auf dem Kornhausplatz den Häusern entlang gegangen und hatte sich jeden Kellerladen 92 besehen und überlegt, unter welchem wohl das Elisi schmachten konnte. Offen hatte er einen einzigen gefunden: den Sackträgerkeller unter der Wirtschaft zum «Anker». Dort war er dann aber tapfer eingedrungen, in der Hoffnung, wenigstens etwas Sicheres zu vernehmen. Wann Heiri wieder ans Tageslicht gekommen, steht nirgends zu lesen. Man weiß nur, daß er andern Tags seinen Dienst als Wasserträger, wenn auch beschwerten Hauptes, wieder aufgenommen hat.

Es half überhaupt an jenem Abend gar nichts mehr. Eine fürchterliche Szene zwischen der in die Hauptwache eingedrungenen Madame Schnetzler und dem Landjäger­hauptmann verlief gänzlich ergebnislos. Die Stunde der Erlösung schlug für Elise erst, nachdem der Herr Kommandant gegen Leistung einer hohen Kaution vom Regierungs­statthalter die Haftentlassung erwirkt hatte.

Heulend kehrte gegen Abend des folgenden Tages die schwer Vermißte in ihre Küche zurück. Nun mußte Elisi zuerst in den Badkasten, was es sonst noch nie im Wintermonat getan. Dann ward es von der Madame ins Verhör genommen, wobei sich herausstellte, daß Elisi, vom Markt an der Kramgasse heimkehrend, die Straßen beim Zeitglocken abgesperrt gefunden hatte. Es hatte dann versucht, durch das Zwiebeln- und das Statthalter­gäßlein nach der Zeughausgasse zu gelangen; aber da sei es vom Regen in den Trauf gekommen. Ob es gewollt oder nicht, es sei vom Haufen mitgerissen worden. Es habe dann allerdings auch sehen 93 wollen, was da oben beim Zeitglocken gehe. Auf einmal aber seien die Dragoner in den hähligen Sätzen gekommen, und in dem Drück sei ihm der Korb verchrutet worden. Es habe bald nichts mehr davon gesehen und noch Gott danken müssen, daß es mit heiler Haut davon gekommen. Die Füße habe es von Heftis Laden bis zum Kindlifresser nirgends mehr am Boden gehabt. Als es luggete, sei es unter das Kornhaus geflohen. Aber da seien sie auf einmal von hinten gekommen, und zwar «dieser». — Daß es gehofft, unter den Tambouren seinen Fritz zu finden, für den es eine tolle Yanten Ankeruumi­chueche im Korb gehabt, behielt Elisi für sich. — Mit Paginettern seien sie auf ihns z’Dorf gekommen. Es habe sich nicht anders zu helfen gewußt als durch Hinaufgogern auf einen Kellerstein. Aber nicht einmal da sei man sicher gewesen vor den Ufläten. Da habe es einen zum Grind gezwickt, daß ihm der Kübel davon geflogen sei. Und bevor der sich noch besonnen, sei es auf den Platz geflohen, wo es dann den Dragonern in die Hände fiel. Wenn es den noch einmal zu Gesicht bekäme, der es an den Züpfen geschrissen, wolle, der könne sich freuen.

«Ja schau, Elisi,» hub dann Frau Schnetzler an, «ich hoffe, du habest jetzt auf Lebenszeit genug für den Gwunder. Hättest du deiner Mutter gehorcht, so müßtest du jetzt nicht die Schande erleben und noch vor Gericht. Das kommt davon, wenn man dem Mannevolk nachstreicht.»

94 «Ihr werdet mir doch nicht angeben, ich müsse noch vor Gericht?»

«Ebenwohl mußt, du Babeli. Das hast jetzt davon.»

«Da gehe ich lieber vorher noch heim, nach Herzwyl.»

«Ja, gelt, das gefiele dir besser? — Wenn dich der Landjäger dort holen soll, kannst du ja gehen. Da gibt’s nichts draus. Viele hundert Franken hat der Herr Kommandant für dich hinterlegen müssen. Meinst etwa, wir wollen das noch verlieren deinetwegen?»

Es folgten tränenreiche Tage. Die Jungfer Elise Schmocker, Ulrichs und der Verena, geboren zu Herzwyl Anno dannzumal, mußte manchen halben Tag im Gerichtsgebäude zubringen, ehe ihre Unschuld anerkannt wurde. Jetzt hatte sie für einstweilen Mannsvolk genug um sich gehabt, und sie dankte dem Himmel, als ihr die strenge Madame Schnetzler verkündete: «Elisi, du kannst zwar noch nichts. Deine Lehrzeit wäre noch lange nicht aus. Aber es geschieht aus Sorge für dich, daß wir dich jetzt schon hinausschicken zu meinem Schwager in Bremgarten.»

V.

Als der Christmonat mit seinem kalten Hauche die Leute überall da zusammenwehte, wo eine Ofenritze Behaglichkeit ausstrahlte, mußte der Wasserheiri manchem Neugierigen Auskunft geben. Der Ausläufer der Indiennefabrik, 95 der Briefträger, der Metzger, der Bäckerbursche, der Polizeier, die Holzhauer und mancher Handwerksmann, alle wollten wissen, wo das lustige Schmockerli hingekommen sei. Hätte es zu jener Zeit schon Ansichtskarten gegeben, so würde das Elisi, die Heldin des Kornhausplatzes, in allen Briefkästen der Stadt Bern Wohnung gefunden haben.

Statt dessen saß es draußen in Bremgarten, in einem wunderhübschen Rokokozimmer, stopfte Strümpfe und sah zuweilen, das Herz voll Heimweh, durch das zehn Fuß hohe Fenster dem Flockenwirbel zu. Das alte Stini, des Herrn Daniel Schnetzler Köchin und bislang Hausmeisterin, hatte sich energisch geweigert, das Gäxnäsi zu sich in die Mägdestube zu nehmen. Da war denn Herrn Schnetzler nichts anderes übrig geblieben, als die neue «Figur» in eines der vielen unbenützten Herrschafts­zimmer einzulogieren. Und wenn etwa der geneigte Leser sich einbilden sollte, die goldumränderten Holzpanneaux hätten sich vor Ärger über diese Einquartierung gespalten, so vergißt er, daß sie Ähnliches in ihren jungen Jahren auch schon gesehen. Nicht zwar, daß damals Dienstmägde in den lichten Räumen gewohnt hätten, aber doch hübsche weibliche Wesen in ländlicher Tracht. Sie dufteten nur ein wenig künstlicher.

Nein, dem prächtigen Zimmer tat das Elisi Schmocker nichts zu Leide. Aber statt daß die Helligkeit der hohen Räume, in denen die Kammerjungfer nun schaltete und wirkte, ihr Herz erheitert hätte, ward ihr immer 96 trauriger zu Mute. Sie hätte sich in Paris oder London nicht fremder und einsamer fühlen können als hier. Über den Herrn hatte sie nicht zu klagen. Der war ihr gut. Aber er war doch eben ein Herr und kein Herzwyler. Und Stini, die doch auch vom Lande kam, gönnte der jungen Gehilfin kaum das Wort. Zuweilen war die Alte sogar dracksböse. Arbeit gab es wenig, dafür aber viel Zeit zum Nachdenken. Elisi wurde von Tag zu Tag trauriger und vergoß inmitten der flatterhaft fröhlichen Dekoration des Schlosses viel heimliche Tränen. Oft dachte sie nachts ans Davonlaufen. Aber wo sollte sie hin? Heim? Die Eltern würden ihr den Marsch gemacht und sie gleichen Tags wieder nach Bremgarten zurückgeschickt haben. Und doch zog es sie an allen Fasern heim, in die dumpfe Stube. Was hätte sie drum gegeben, wenn sie auch nur eine Stunde bei dem Vater in der niedrigen Werkstatt mit den verklebten kleinen Fensterscheiben hätte weilen dürfen! Mitten in des Wintersturms wildem Gesange sah sie das Läublein in seinem sommerlichen Blumenschmuck. Sie hörte den Brunnen des Nachbars sprudeln, hörte die Milchgeschirre klirren, hörte — Fritzens Holzschuhe auf dem Pflaster schlurfen, hörte ihn zwischen den Kühen jodeln.

Hatte denn nicht die Mutter selbst ihr noch eingeschärft: «Vergiß nicht, wo du hingehörst!» — Gehörte sie etwa in ein Schloß? Gehörte sie zu Herrenleuten, deren Leben sich zwischen Büchern am Kamin abspielte?

97 Eines Tages riet Stini — aus andern Gründen als solchen des Mitleides — ihrem Herrn, er solle das Meitschi heimschicken, es hintersinne sich sonst noch. So eines sei nicht für feine Häuser gemacht, es tauge besser als «Jungfrau» auf einen Bauernhof. — Ob die Alte vermutete, daß Elisi nicht der einzige Mensch im Hause war, den die Langeweile plagte? Sie erreichte jedenfalls mit ihrem Rate nicht, was sie wollte, denn Herr Daniel Schnetzler hielt dafür, mit Elisis Wegzug würde sich die Stimmung im Schlosse noch lange nicht aufheitern, höchstens in der Küche. Er wollte wenigstens noch einen Versuch machen, dem Übel auf andere Weise abzuhelfen. Und dieser Versuch kostete Stini beinahe Glück und Gesundheit, um so mehr, als er mit jeder Wiederholung besser gelang.

Eines Abends nämlich, als abgeräumt war, befahl Herr Daniel seine Kammerjungfer ins Eßzimmer, sie müsse ihm bei etwas behilflich sein. «Schau, Elisi, ich möchte da etwas zu meinem Zeitvertreib tun. Das kann ich allein nicht, und darum mußt du’s lernen.» Er legte ein Damenbrett auf den Tisch und begann, Elisi das Spiel zu erklären. Erst tat es verschüchtert; aber bald gewann es Interesse an den Zügen und erwies sich als geschickt dazu. Aus einem Spiel wurden zwei, und ob Stini den Tag über den Koller kriegte und gar manches gute Stück Geschirr in Scherben gehen ließ, so grämte sich Elisi wenig darum. Es freute sich mehr und mehr auf die langen Abende, ward allmählich 98 heiterer und gab sich Mühe, damit ja dem Herrn diese Unterhaltung nicht verleide.

Das glückte Elisi vortrefflich, und weil es so gar nicht den Versuch machte, gebildet zu reden, sondern schlicht und einfältig Bescheid gab, wie ihm der Schnabel gewachsen war, fand Herr Schnetzler immer sein Vergnügen bei dem Spiel. Was ihn aber dabei festhielt, war nicht nur Elisis artiges Benehmen. Er liebte noch mehr die stillen Minuten, in denen seine Partnerin ihre Schachzüge überlegte. Da konnte er ungestört den schönen blonden Scheitel unterm Lampenlicht betrachten, die faltenlose Stirne und den im Überlegen lustig lispelnden Mund.

Die Zufriedenheit und Güte des Herrn hatte allgemach den alten, fröhlich leuchtenden Ausdruck auf Elisis Gesicht zurückgerufen, und niemand, außer der griesgrämigen Köchin, würde sich an dem Kontrast zwischen der Figur vom Lande und den Rokokowänden gestoßen haben. Im Gegenteil. Eines Tages war ein Freund des Herrn Schnetzler aus der Stadt gekommen, ein Maler. Der betrachtete, wie Elisi dünkte, die Kammerjungfer mehr als nötig, und einmal, als sie mit dem Kaffeegeschirr ins Zimmer trat, hörte sie den Gast zu Herrn Daniel sagen: «Schade, daß Freudenberger nicht mehr lebt!» — Was das wohl bedeutete?

Bildete es sich das ein, oder musterte wirklich Herr Schnetzler seine Spielpartnerin seit jenem Besuche mit andern Augen? — Nach und nach beschlich eine gewisse 99 Bangigkeit das Mädchen. Es geriet in eine seltsame Verwirrung, aus der nur das in ganz stillen Stunden von Neuem einsetzende Heimweh es rettete. In seinen Gedankengängen hatte sich etwas merkwürdig verschoben. Als es während der ersten Wochen in Bremgarten so unglücklich und fremd sich gefühlt, hatte es nie begriffen, wie sich der Mutter Mahnung «vergiß nicht, wo du hingehörst» mit dieser Verbannung aus der Heimat reimen sollte. Jetzt, da es in dem Schlosse zusehends heimischer wurde, begann es mehr und mehr sich an das Wort der Mutter zu klammern. Ja, wenn es darüber nachsann, so kam ihm vor, es stecke noch etwas anderes in dem «wo du hingehörst» als bloß der Stand, aus dem es hervorgegangen. Es gab noch eine Heimat, der eben all die Menschen entstammten, die, wie es, brav sein wollten und lauter und sauber. Zuweilen kam’s wieder über Elisi, als müßte es doch fliehen, als müßte es dem Herrn ausweichen. Und doch wäre das schnöder Undank gewesen. Er war ja so einsam. Und seine Herzensgüte verdiente es wahrlich nicht, daß man sich scheu vor ihm zurückzog. Hatte er nicht einen ganz berechtigten Anspruch auf Liebe und Treue seiner Dienstboten?

Aus diesem wunderlichen Wirrsal war schwer zu entkommen. Elisi wollte sichs noch nicht recht eingestehen; aber es war ihr deutlich bewußt, daß nur einer sie daraus befreien konnte, nur der Mann, der zuerst 100 Verlangen nach ihr getragen. Der mit den grünroten Schwalben­nestern. Und ob er wohl sein Leben in harter Arbeit, im Kuhmist herumstapfend, fristen mußte, während sie zum reinlichen Kammerkätzchen sich aufgeschwungen, ja sogar zur Gesellschafterin im vornehmen Schlosse, so konnte sie doch keines andern Lebensgefährtin werden. Aber Gott wußte, wie sie einander wieder finden sollten. Elisi konnte sich keinen Ausweg ersinnen. Täglich zwar studierte sie dran herum und grämte sich. Sie wußte noch nicht, daß eben denen, die sich ihres Gottes getrösten, geholfen ist, ehe sie es ahnen und daß der Vater aller Menschen oft gerade die vor den Glückswagen spannt, die andern das Glück mißgönnen.

An einem glanzvollen Wintertag konnte Herr Kommandant Schnetzler der Versuchung auszufliegen, nicht länger widerstehen. Er brach gegen 11 Uhr mit dem Gros seiner Heeresmacht von Bern auf, um über die Neubrücke gegen Bremgarten vorzustoßen. Die zwei ältesten hatte er als aufklärende Kavallerie zwei Stunden früher detachiert mit dem Befehl, den «Gegner» so zeitig anzufallen, daß er die nötige Zeit finde, ein bescheidenes Gastmahl für den einziehenden Sieger herzurichten. Damit die «Kavallerie» rascher ans Ziel gelange, hatte man ihr erlaubt, die Handschlitten, zwei solide, schwarzrot geflammte Hocker mit vielen Schellen und Ringen mitzunehmen. Hei, wie das durch den großen Bremgartenwald hinuntersauste!

101 So schön, daß die lustigen Reiter, bei der Neubrücke angelangt, beschlossen, gleich wieder in den Wald hinaufzusteigen und den «Stutz» nochmals zu nehmen. Und zum drittenmal taten sie’s, und dann zeigte der Weg am jenseitigen Ufer so wundervolle «Sprenggen», daß man mitsamt dem Schlitten einen Luftsprung tun konnte. Es wurde probiert und wieder probiert. Und einmal, als es besonders scharf ging, fuhren sie beide bis tief in die gedeckte, alte Neubrücke hinein, direkt in — die Kolonne des nachrückenden Gros. Das gegenseitige Erstaunen war nicht gering. Auf die erste Überraschung folgte ein gewaltiges Wetter aus dem Munde des Kommandanten. Er schwang drohend sein spanisches Rohr: «Ihr sapperlots Buben. Heißt man das Befehle ausführen? Jetzt lauft, was eure Sohlen halten, sonst kriegt ihr nichts zu mittag. Verstanden? Die Schlitten laßt ihr hier!»

An der Haustüre zu Bremgarten feierten die beiden mit dem lustigen Elisi ein freudiges Wiedersehen. Auch der gutmütige Onkel Daniel freute sich der bevorstehenden Invasion. Aber Stini tat wie ein Wildschwein im Burgerwald. Wo man jetzt die Sache hernehmen, wie man sie gar kochen solle? Das habe keine Art noch Gattung, einem so ins Haus zu brechen, wenn man schon bald am Anrichten sei. Und als nun gar das Elisi meinte, man sollte nur munter angreifen, es sei Saches genug da, und Herr Daniel sichs herausnahm, beifällig zu lachen, da ward Murten vollends 102 über. Wer zum Helfen Hand anlegen wollte, mußte es fast heimlich, flink und unter gehöriger Sicherung tun, sonst riskierte er einen wüsten Durchzieher mit der rußigen «Hafentatze.» Aber nichts lockt mehr als solch harmloses Wagnis. Und so war das Schlimmste schon eingeholt, als das Gros eintraf. Zum Glück flog, während das Geschrei der Begrüßung im Korridor widerhallte, die Küchentür knallend ins Schloß. Wäre das nicht geschehen, so würde Frau Karoline sehr wahrscheinlich gehört haben, was Stini für sie bereit hatte: «Sie soll mir nur nicht auch noch ihren Schmöcker hier herein strecken, die chätzers Regänte!» Madame Schnetzler liebte es zwar, solchen Stürmen zu trotzen, und nichts hatte für sie mehr Reiz, als sich schweigend auf dem Punkt aufzupflanzen, wo sie tunlichst jedermann im Wege stand. «Ich bin die Frau Kommandant» stand dann auf ihrer Stirne geschrieben, und aus ihren Augen leuchtete Genugtuung darüber, daß man mit siedendheißen Schüsseln, überkochenden Pfannen und andern pressanten Dingen einen Bogen um sie herum machen mußte. Gnad’ Gott, wenn jemand ein Ende ihrer Haubenbänder streifte!

Heute aber fand sogar sie, es sei kluger, die Küche zu meiden, und diese Weisheit hielt vor bis zum Dessert. Länger konnte sie sich nicht enthalten, von Stini die 103 Bestätigung einzuholen, daß sie ihrem Schwager in Elisi zu einer ganz hervorragenden Stütze verholfen habe.

«Und jetzt, Christine», sagte sie, in die Küche tretend, «wie seid Ihr zufrieden mit der neuen Gehilfin? — Ich hoffe, sie habe Euch doch manches abnehmen können.»

Stini verführte einen Heidenspektakel mit dem Geschirr im Abwaschzuber.

«Christine», wiederholte Frau Schnetzler eindringlich, und als das auch überhört wurde, ergriff sie eine auf dem Küchentisch liegende Platte voll Speisereste, als wollte sie beim Abwaschen mit Hand anlegen. Da kam das Stini wie geschossen und langte hastig nach der Platte, aber Frau Karoline ließ sie nicht fahren.

«Christine», sagte sie, «Ihr werdet wohl noch wissen, daß Ihr mir eine Antwort schuldig seid — oder nicht?»

Da fuhr Stini heraus: «Abnehmen! — Was nimmt mir die Täsche ab? Für das, was das Meitschi schafft, hätte man sich den Lohn ersparen können. — Selb ist wahr: um mit dem Herrn den Ganggel zu machen, bin ich zu alt.»

«Christine, was soll das?»

«Nun ja! Was hat das Meitschi jeden Abend drinnen zu schaffen in des Herrn Stuben?»

Frau Schnetzler rang nach Worten. «Christine, Ihr werdet mir doch nicht...»

Jetzt streckte die alte Köchin drohend ihre derbe Hand aus:

104 «Miera, es geht mich nichts an. — Aber das sollt Ihr wissen, Frau Kumedant, wenn das Mensch unsern Herrn herumbringt, es zu heiraten, dann soll er nach einer andern Köchin sich umtun. Einer Madame, wo aus dem Specker kommt, mache ich nicht den Puduhung

«Christine», würgte Frau Karoline heraus. «Ich möchte nur wissen, ist das jetzt lauter Neid von Euch oder... Ich müßte dann doch mit meinem Schwager...»

«Fragt, wen Ihr wollt, Frau Kumedant. Ich will nichts gesagt haben; aber man müßte ja mit Blindheit geschlagen sein, wenn man hier wohnt und nichts merkte.»

«Aber, so sagt mir doch» — Frau Schnetzler trat dicht an Stini heran — «was habt Ihr denn gesehen?»

«Eh apparti nüt, aber...»

In diesem Augenblick kam Elisi mit einem Servierbrett voll gebrauchter Gläser herein. Das Gespräch war abgeschnitten, und Frau Schnetzler verließ die Küche.

Es gelang ihr nur dank dem eifrigen politischen Disput, in den die beiden Brüder sich verwickelt hatten, ihre Aufregung einigermaßen zu verbergen. Und früher, als es sonst üblich gewesen, gab sie das Zeichen zu dem unabänderlichen Digestionsbummel um die Kirche herum. In wolkenloser Bläue dehnte sich der Himmel 105 über der selbst im Winter noch lieblichen Aare-Halbinsel. Tiefblau schimmerten die scharfen Schatten der Grabmäler auf dem blendenden Schneemantel. Noch weltvergessener als im Sommer schien das malerische Friedhöflein, so recht angetan, um die Menschen an die Hinfälligkeit alles Irdischen zu mahnen. Frau Karoline mußte an die Vergänglichkeit insbesondere kinderlos verwitweter Schwäger und an das Hinwelken elterlicher Hoffnungen denken, was einen fast leidenden Zug auf ihr blühendes Angesicht brachte. Man weiß nie, wie lange man seine Lieben noch um sich hat, und darum erschien die Liebens­würdigkeit, mit der die nachdenklich gewordene Kommandanten­gattin ihren Schwager auf diesem Spaziergang umgab, ganz natürlich.

«Lieber Daniel,» sagte sie, «bist du auch wirklich zufrieden mit der Figur, dem Elisi?»

«Vorzüglich! — Es ist genau das, was mir all die Jahre fehlte.»

Diese Antwort machte um so tieferen Eindruck, als man sich eben der Stätte näherte, wo Onkel Daniels Gattin im Schoß der Erde ruhte. Frau Karoline fror in ihren dicken Handschuhen und mußte sich doch beinah den Schweiß von der Stirne wischen.

«Nun,» sagte sie, «das sollte mich sehr freuen; denn weißt du, ich müßte mir furchtbare Vorwürfe machen, wenn sie etwa Anlaß zu Ärgernis geben würde.»

«Wem sollte sie denn Ärgernis geben, ich bitte dich?»

106 «Ach weißt du, solchen Personen fehlt es doch oft recht an Takt.»

«Dem komme ich zuvor, liebe Karoline, indem ich ihr ein weitgehendes Vertrauen schenke und...»

«Daniel, ich bitte dich, gib acht. Zehn Schritt vom Leibe muß man sich solche Menscher halten.»

«Das mag im allgemeinen richtig sein; aber ihr müßt euch ein wenig in meine Lage versetzen.» — Herr Daniel hatte mit Vergnügen den Schrecken wahrgenommen, der sich zusehends unter der mit Stiefmütterchen inwendig bekränzten Kapote sammelte. «Wie würde es bei uns aussehen, wenn ich in meiner Einsamkeit noch die einzigen Menschen, die mein Obdach teilen, mir zehn Schritt vom Leibe hielte? — Rein umkommen müßte ich vor Langerweile.»

«Lieber Daniel, du wirst mich doch nicht mißverstehen. Man kann sozusagen am gleichen Tisch sitzen mit einem Menschen und trotzdem Distanz behalten.»

«Gewiß, meine Liebe. Aber das ist gar nicht nach meinem Geschmack. Ich muß nun mal Gesellschaft haben, und nun sagt mir gerade dieses Mädchen in seiner köstlichen Natürlichkeit und Offenheit ganz besonders zu. So eine plaudern zu hören geht mir für ein Witzblatt, und ich muß sagen, gegen ihre natürliche Freundlichkeit nehme ich das Bißchen halbleinener Manieren — die ich ihr übrigens mit Erfolg abgewöhne — gern in Kauf. Und dann, weißt du, Karoline, bin ich schließlich gar nicht so unempfänglich für den täglichen Anblick 107 eines hübschen Ges... Liebe Karoline, ist dir nicht wohl? — Wollen wir umkehren?»

Frau Schnetzler stärkte ihre wankenden Knie durch eine unvermittelte Umschaltung ihrer Taktik.

«Daniel!» sagte sie tief eindringlich. «Daniel, ich hoffe, du vergessest auch nicht, was du dieser Unschuld vom Lande schuldest. Du trägst eine schwere Verantwortung. Ewig müßte ich mich anklagen, wenn dieses Kind, das man mir anvertraut hat, hier moralisch zugrunde ginge.»

«Bitte, bitte! Ich hoffe, du habest denn doch eine bessere Meinung von mir. — Überhaupt! Ich liebe es gar nicht, mich bevormunden zu lassen. Wenn mir das angenehm wäre, so würde ich nicht zögern, mein Domizil in eure Nähe zu verlegen.»

«Ach, sei doch nicht böse, lieber Daniel, so mein’ ich’s ja gar nicht.»

«Also gut. Meine Meinung kennst du nun.»

Herr Daniel blieb stehen, um mit seinem hinterher kommenden Bruder ein anderes Gespräch anzuknüpfen. Seiner Schwägerin gönnte er von Herzen die peinvolle Aufregung, aus der sie sich nun selber zurecht finden mochte.

Als die Familie Schnetzler gegen Abend den Heimweg antrat, begleitete sie Onkel Daniel ein gut Stück weit. Mehrmals noch versuchte Frau Karoline doch wenigstens den status quo ante, das heißt ein harmlos freundliches Verhältnis zu ihrem Schwager wieder herzustellen. 108 Aber jedesmal, wenn sie begann: «Lieber Daniel...» fiel ihm just ein, daß er Päuli, den er als guter Pate auf seinem Hockschlitten hinter sich herzog, wohl wieder ein Galöpplein schuldig sei. Als man sich bei der Neubrücke trennte, war Mama so geschlagen, daß sie beinahe nicht mehr zu gehen vermochte. Gerne wollten die Buben sie den steilen Rain zum Bremgartenwald hinaufziehen; allein, das Problem, eine würdevolle Dame im Reifrock auf einem Hockschlitten zu transportieren, erwies sich schlechterdings als unlösbar. In seiner Unlösbarkeit noch weit verhängnisvoller erschien der Kommandantin das Problem der Rettung ihres Schwagers in seiner Eigenschaft als Erbonkel. Wenn sie in diesem Augenblick erst noch einen Blick in Herrn Daniels Herz hätte tun können! — Da hätte sie einsehen gelernt, welches Unheil unbegründetes Mißtrauen anrichten kann. Aus dem einsamen Heimweg durch das «Ländli» ließen sich die durch Frau Karoline angeregten Gedankengänge herrlich weiterspinnen. — Dieses Elisi Schmocker! Du liebe Zeit! Gewiß war es lieblich anzuschauen. Und seine naive Fröhlichkeit vermochte den verhärtetsten Griesgram aufzuweichen. Aber bei aller Lieblichkeit war das Mädchen dem Schloßherrn von Bremgarten doch immer ein wenig ungelüftet vorgekommen. Nun schien ihm das auf einmal gar nicht mehr so unabänderlich. — Schließlich...!

Besonders schwer fiel in die Wagschale die Anspruchs­losigkeit des Mädchens. In der Regel bezahlt 109 sich Schönheit und Unterhaltsamkeit mit den unerschwing­lichsten Ansprüchen. Das stand hier gar nicht zu befürchten.

Und trotzdem nahm sich Herr Daniel im Weitergehen fest vor, keine Eselei zu begehen. Der Frau Karoline wegen würde er sich allerdings nichts versagen. Aber seinem Bruder brachte er gern ein Opfer, und den Buben gönnte er von Herzen eine solide Unterlage zur Erleichterung ihres Fortkommens. Das war ja immer sein fester Vorsatz gewesen.

Ein Vorsatz ist nun freilich kein Eid — hm — aber immerhin an der Art, wie einer mit seinen Vorsätzen umgeht, läßt sich erkennen, was er sich unter einem Mann vorstellt.

Wie gerne wäre Daniel Schnetzler mit seinen Überlegungen noch unterwegs ins Reine gekommen! Ihm war, als dürfte er sein Haus in dieser unfertigen Gemütsverfassung gar nicht betreten. Er konnte nicht mehr harmlos in sein trauliches Nest hinein. Und daran war nur die Karoline schuld — die dumme Gans.

Auf einmal stand er beim Schulhaus des Dörfleins, von wo der Weg über den zugeschütteten und verwachsenen Wallgraben in den Schloßhof hineinführt. — Er wußte, drinnen, in seinem behaglichen Rauchzimmer, knisterte jetzt ein Kaminfeuer. Wer hatte es ihm angezündet? — Etwa die Schwägerin?

Nein, nein — da hinein durfte er jetzt noch nicht. Sonst — beim Kuckuck, wußte man nicht, was werden 110 würde. Erst mußte er noch ein Seil aus Vernunftfasern drehen und es um sein zappelndes Herz knoten — fest, hart, bis das Ding Blut schwitzte.

Herr Daniel zog seinen Überzieher enger und lief in langen Schritten Reichenbach zu. Unterdessen war die Sonne vom Horizont verschwunden. Das Farbenmeer auf dem Schneefeld der Äschenbrunnmatt war erloschen, und eisig kalt kam’s aus dem kahlen Gebüsch herauf, hinter dem in der Tiefe die Aare an den bloßgelegten Kiesbänken hinmurmelte. Die grünen Wellen zischten ärgerlich auf an den Felsschneiden, die ihnen die Flucht nach einem sonnigen Liegeplatz irgendwo drunten, in der mildern Welt, verlegten. — Auch dem einsamen Wanderer glitt ein Zischlaut über die blauen Lippen. Ihn fror an den Fingerspitzen. Unsinn, hier herum zu stürmen, wo doch daheim das Flackern seines Kaminfeuers im Zimmer herumtastete, ihn zu streicheln. — Daheim? — Ja, sapperlot, daheim. Und jetzt bleib’ ich nicht länger der Narr. Heim will ich. Mögen sie in der Stadt ihre Gesichter schief ziehen! Ich, Daniel Schnetzler, gehe jetzt — hhheim. Punktum. Und wer mir das Heim wieder gemütlich machen könnte, weiß ich. — Jedenfalls nicht der ewig knurrende Hausdrache, der alte Stinoggel.

Als Daniel Schnetzler die Haustüre hinter sich schloß, widerhallte sein Heim von Schimpfwörtern und Türschmettern. Zwischen Küche und Speisekammer lieferten sich die beiden Trabanten eine Schlacht. — Das reine 111 Bombardement von Würzburg. — Herr Schnetzler lauschte einige Minuten. — Potz tausend! Das Elisi Schmocker kann’s auch. Hmhm. So so. — Da hätte ich ja gar nicht erst so weit zu laufen gebraucht.

«Elisi, du kannst ins Bett. Meinetwegen brauchst nicht aufzubleiben. Ich mag heute nicht Brett spielen.»

Das Elisi machte ein paar Augen von den dümmern. «Will denn der Herr nicht zu Nacht essen?»

«Ach so?» — Herr Schnetzler warf einen Blick auf die Uhr. Es war ja erst halb acht. «Nun denn, meinetwegen.»

«Sie können sich gleich zu Tisch setzen. Es ist aufgetragen.» Daniel Schnetzler streckte seine Füße unter den Eßtisch und ließ das Summen des Teekessels, das heimelige Blinken seines altmodischen Geschirrs und der braunen Tischplatte im Lampenschein auf sein Gemüt wirken.

Unachtsamerweise fragte er Elisi: «Die Alte hat sich offenbar noch immer nicht beruhigt?» — Die Frage war dem Mädchen willkommen. Es erging sich in bittern Klagen über die Köchin, die ihm immer wieder das Speckkämmerlein vorhalte und von Läusen rede, wo es doch in seinem ganzen Erdenleben nicht eine einzige auf seinem Kopf gehabt, während seine Schulkameraden fast alle kehrum...

«Elisi, das interessiert mich durchaus nicht.»

Die aufgeregte Stimme des Mädchens hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Man hörte vom Korridor her 112 etwas, ungefähr als käme eine hundertjährige Uhu-Glucke herangehüstert. Und — plarautz! — flog die Türe auf. «Jetzt will ich aber dem Herrn auch sagen, was das Mensch...»

«Himmeldonner­wetter!» schoß Herr Daniel auf. In der Hast griff er nach dem erstbesten waffenartigen Gegenstand und kriegte das eben angeschnittene Steckenbrot zu fassen. Drohend schwang er es. «Hinaus! — Wollt ihr machen, daß ihr hinaus kommt, sag’ ich.»

Der Befehl galt beiden; aber während Stini mit Fauchen und Poltern im Dunkel des Korridors verschwand, hatte sich Elisi hinter die Türe verzogen und die Hand auf die Klinke gelegt. Rasch schloß es sie von innen und trat triumphierenden Blickes hervor, seinen Herrn und Retter zu bedienen. Der schien jedoch gar nicht geneigt. Er warf das Brot auf den Tisch und sagte: «Elisi, hier ist nicht der Kornhausplatz.»

Da mußte das Elisi lachen, machte ein schelmisches Gesicht und fuhr fort auf leisen Sohlen für des Herrn Wohlergehen zu sorgen.

Damit hatte der Aufruhr sein Ende erreicht. Sein Ergebnis war ein doppeltes. Stini, durch die Zurücksetzung zu Tode gekränkt, kündigte auf Lichtmeß den Dienst, und Herrn Daniel Schnetzler war es endgültig verleidet, sich mit dem weiblichen Dienstpersonal herumzuschlagen. Nun mußte sich auch Elisis Schicksal bald entscheiden. Sollte es auf Lichtmeß an Stinis Stelle in die Küche kommandiert werden oder...?

113 Er wußte nicht recht, warum er es tat; aber eines Tages setzte sich der einsame Mann an den Schreibtisch und wandte sich in einem Briefe vertrauensvoll an seine Schwägerin. Er erzählte ihr, was sich ereignet habe und fuhr dann fort: «Nun möchte ich Elise Schmocker nicht ohne weiteres in die Küche verbannen. Ich will wenigstens für einige Zeit eine Köchin anstellen, um Elise Gelegenheit zu bieten, den major domus zu machen. Ich werde dann am besten sehen, ob sie wirklich nur zur Magd taugt, oder ob sie an einen andern Platz gehört. Willst du die Güte haben, liebe Karoline, dich ein wenig nach einer Köchin umzusehen. Etwas weniger räß als die alte Stine darf sie schon sein. Im übrigen kennst du ja meine Bedürfnisse.»

Dem Inhalt dieses Briefes entsprach immer deutlicher die höfliche, oft ans Freundschaftliche grenzende Art, wie sein Verfasser mit der Kammerjungfer verkehrte. Und wenn das Elisi trotzdem nichts gemerkt hätte von den stillen Absichten seines Herrn, so würde die böse Christine mit ihren hämischen Anspielungen reichlich dafür gesorgt haben. Aber es war selber merkig genug und geriet manchmal darob in tiefe Verwirrung. Und da war etwas besonders merkwürdig: Wenn es so in stillen Stunden sich auf die Gedanken über seine Zukunft einließ und sich ausmalte, wie es seine Rolle als Madame Schnetzler spielen würde, dann konnte es die Erinnerung an jene Fahrt nach Bern gar nicht los 114 werden. Immer sah es wieder sein gutes Mutterli hinter dem Wagen herlaufen. Kleiner und kleiner ward das Fraueli — ganz wie damals — und dann war es auf einmal wieder groß und nah und warf der davonfahrenden Tochter traurige Blicke nach. Nachts erwachte die Kammerjungfer manchmal ganz jäh, und es dünkte sie, die Mutter habe ihr zugerufen: «Elisi, du machst mir Kummer, vergiß nicht, wohin du gehörst.» — Ob wohl der Mutter etwas Schlimmes zugestoßen war, daß sie ihr immer im Traum vorkam? — Nein, wenn man dem Elisi ein Schloß aus lauter Gold und Edelsteinen versprochen hätte und Samt und Seide halb­jucharten­weise, seinem Mutterli konnte es nie wieder davonfahren. Gwüß gwüß nid.

VI.

Wenn der Herr Kommandant durch die Lauben von Bern schritt, so konnte man an dem stattlichen Herrn nicht achtlos vorübergehen. Zwar ließen seine gewaltigen Mac-Mahonhosen, die oben sehr weit, auf den Knöcheln ganz eng geschlossen waren und auf der ganzen Länge einen großzügigen Faltenwurf zeigten, die Füße etwas groß erscheinen; aber sie standen in ganz richtigem Verhältnis zu dem breiten Oberkörper, der den langen Taillenrock sehr würdevoll trug. Der graue Zylinder neigte ganz leicht nach links. Aber der Kopf saß lotrecht auf den Schultern, und trotz der etwas 115 knolligen Schnupfnase war Herr Schnetzler schon oft mit Louis Napoleon verglichen worden. Ja, man erzählte sich, der Handschuh­fabrikant Knülltschi habe ihn einst auf der Enge-Promenade, in der stillen Hoffnung auf das Kreuz der Ehrenlegion, mit den Worten angesprochen: Sire, puis-je vous offrir mon parapluie?

Man kann es also verstehen, daß Frau Karoline alle Sorgfalt auf die Garderobe ihres Eheherrn verwendete. Heute jedoch war ihr das alles ganz gleichgültig. Sie würde es kaum beachtet haben, wenn Herr Alfred im Schlafrock von Hause gegangen wäre, lag doch ein Brief aus Bremgarten neben ihrer Kaffeetasse, der all ihre Hoffnungen zu zerstören schien.

Da mußte natürlich sofort eingeschritten werden. Das Nächstliegende wäre doch wohl gewesen, Herr Alfred Schnetzler hätte sich in den Sattel geschwungen und wäre hinausgeritten, seinem betörten Bruder das Mißliche einer Alliance Schnetzler-Schmocker klarzulegen. Aber ein Garnreisender aus Lyon wartete in der Fabrik auf ihn. Es war überhaupt riskiert, Herrn Daniel zu widerraten. Wenn er den Eindruck gewann, man wolle ihn bevormunden, so war alles verloren. Nun erinnerte sich Frau Karoline plötzlich des Mannes mit den grünroten Schwalbennestern. Aufleuchtend sagte sie: «Mir kommt eine herrliche Idee, eine wahre Eingebung. Wie wär’s, wenn wir da den soi-disant ‹Bruder› herbeschickten, weißt du, den Tambour, der einmal im Herbst bei dem Elisi in der Küche saß? Man könnte 116 ja etwas an ihre Aussteuer wenden. Dann wäre wohl das Meitschi schon zu bereden.»

«Es kommt nur darauf an,» meinte der Herr Kommandant, «wie weit Daniel schon gegangen ist; aber nach dem Brief kann ein Eheversprechen noch nicht vorliegen. Da wäre es wenigstens zu versuchen.»

«Kannst du den Mann nicht herbeschicken?»

«Natürlich kann ich das — kraft meiner Kontrollgewalt. Ich werde das besorgen. — Tambour ist er, sagst du?»

«Ja, er hatte doch so grün und rot gestreifte Dinger, weißt du, so eine Art Epauletten.»

«Aha, jawohl. — Also ich werde nachschlagen und ihn herbeordern. Auf wann?»

«Wenn wir’s auf acht Tage vor Lichtmeß täten? — Dann kann man das Meitschi auch herbeschicken. Das wird Daniel sicher einleuchten. Er wird das Schmockerli, wenn’s doch ‹Maschor Domüß› spielen soll, bei der Wahl der Köchin wollen mitreden lassen. Er wird sich wundern über meine Willfährigkeit und gar nicht merken, was wir eingefädelt haben.» Die Frau Kommandant leuchtete auf, pützerlete ihrem Papali an der schwarzseidenen Kravatte herum und meinte: «Gelt, dein Karolinchen ist gar nicht so undiplomatisch.» Herr Alfred schmunzelte gutmütig und kriegte dafür einen Schmatz.

Nun glich Frau Karoline Schnetzler jenen nicht seltenen Prinzipalen, die, nachdem sie einen Untergebenen 117 mit einer wichtigen Aufgabe betraut haben, dann doch alles selber machen wollen, um ja sicher zu sein, daß es auch wirklich so herauskomme, wie sie sich’s gedacht. Kaum war der Herr Kommandant weg, so fiel ihr ein, daß heute Markttag sei, daß also möglicherweise jemand von der Familie Schmocker auf dem Stand bei der «Grüneck» zu treffen wäre. Mochte der soi-disant Bruder von zwei Seiten Bericht erhalten, was verschlugs? — Doppelt genäht hält besser. Hihihi.

Eine Viertelstunde später sah sich das Ehepaar Schmocker von Herzwyl, das heute des Schnees wegen seine Marktware zweispännig nach Bern gezogen hatte, durch den Besuch von Madame Schnetzler überrascht. Nicht daß sie einen Melkstuhl benötigt hätte; aber ein Bund Wäscheklämmerli kann man immer brauchen. «Und nun, was ich schon lange fragen wollte, Frau Schmocker, Ihr könnt mir doch wohl zu einer Adresse verhelfen, die ich suche. — Nämlich — es kam da seinerzeit einer zu dem Elisi. — Es war kurz vor dem Putsch. Er stand hier im Militärdienst. Das Elisi sagte mir, es sei sein Bruder.»

«Das wird wohl so gewesen sein,» meinte die Mutter. «Der Uelchli war ja hier im Dienst mit dem Füfefüfzgi.»

«So? — Ja nun. Aber — nehmt mir’s nicht übel, Frau Schmocker, ich hatte so ein klein wenig Zweifel daran, ob es wirklich Elisis Bruder war. Geglichen haben sie sich grad gar nicht.»

118 «Eh aber der tusig Gottswille, Frau Kumedant, Ihr werdet mir doch nicht angeben wollen, das Elisi habe Zuzug.» Mutter Schmocker kriegte etwas zornig Wackelndes in die Stimme, als sie fortfuhr: «Das hingegen höre ich jetzt nicht gern. Es ist manchmal schon ein wenig ein Ruedi, das Elisi. Aber wegen dessi ist es dann nüschti ein braves Meitschi und gwüß wäger suber über ds Nierestück, sünst gäll, Vatter?»

«Ja, ich will gewiß nichts gesagt haben, Frau Schmocker, aber das wäre ja nicht so zu verwundern, wenn ein so hübsches Meitschi öppe einen rechtschaffenen Schatz hätte.»

«Frau Kumedant, was das ist, so kann ich Euch nur sagen: wir haben Euch das Meitschi subers und rechtschaffen gebracht. Wenn seither etwas anderes aus ihm sollte geworden sein, so können wir nichts dafür; aber dann will ich’s enangerenah wieder heim haben. Fürs la z’gschändte haben wir’s nicht in die Stadt gegeben.»

«Ei ei, Frau Schmocker, nehmt doch die Sache nicht für schlimmer als sie ist! — Es kann ja schließlich Elisis Bruder gewesen sein. Das Beste wird schon sein, Ihr macht dem Bescheid und schickt ihn zu mir, acht Tage vor Lichtmeß. — Dann wird sich’s ja bald weisen, was wahr und nicht wahr ist.»

«Ich kann Euch nur sagen: das Lügen war sonst Elisis Brauch nicht. Es ist immer ein aufrichtiges Kind gewesen, ja wäger.»

119 «Das ist wahr. Ich habe es sonst nie über einer Lüge ertappt. Übrigens hat jener Soldat selber gesagt, er sei Elisis Bruder. Das Elisi hat nur geschwiegen dazu.»

«He nu also, was wollt Ihr mehr? Ihr würdet wohl schön aufbegehren, wenn einer käme und siege, er sei Euer Bruder, wo er’s doch gar nicht wäre.»

«Ja wohl. Frau Schmocker.»

«Also acht Tag vor Lichtmeß?» Mutter Schmocker zählte an den Fingern nach. «Das wäre also der sechsund­zwanzigste Jänner. Gut, wir wollen dem Uelchli Bescheid machen.»

«Oder wartet einmal...,» sagte Frau Schnetzler nachdenklich.

Jetzt griff Vater Schmocker ein: «Wie hat er denn ausgesehen, der selb?»

«Er ist untersetzt, hat einen runden Kopf und ein kleines rötschiges Gitzibärtli, sonst war er sauber rasiert, kein Stöppelchen unter der Nase.»

Jetzt tauschten Vater und Mutter überrascht fragende Blicke.

«Tambour ist er, glaub’ ich,» ergänzte Madame Schnetzler ihren Steckbrief.

Nach abermaligem Staunen platzte die Mutter heraus: «Ja, dann ist’s, der Güggel soll mich picken, der Gantebei Fritz.»

«Der wäre Tambour,» meinte Vater Schmocker.

«Und der hat Euch angegeben, er sei Elisi der 120 Bruder? — So, so, dem wollen wir’s reisen. — Aber dem Meitschi auch. Das soll wieder einmal erfahren, ob es noch eine Mutter hat, das Täschli. Ich bin Euch gut dafür.»

«Also, nicht wahr,» triumphierte nun Frau Karoline, «Ihr schickt mir den Mann?»

«Es soll nicht fehlen,» antwortete rachedurstig Frau Schmocker.

Unterdessen hatte der Kommandant in der Original-Stammkontrolle des Füfefüfzgi nachgeschlagen und dank der sauberen Nachführung auch gleich den Tambour Gottfried Schmocker von Englisberg herausgefunden. — Was war doch schon während des Putsches mit dem Manne los gewesen? — Ach, richtig, Elisis Bruder hatte ja eben erklärt, daß der Kerl nicht sein Bruder sei. Das stimmte also. Und kraft der Kontrollgewalt des Herrn Kommandanten erhielt der Tambour Schmocker einen Zettel, sich am 26. Januar in der Wohnung des Kommandanten einzufinden.

Als er heimkam, meldete Herr Alfred Schnetzler seiner Frau beruhigend, der Tambour sei zitiert. Wunderbar, dachte Frau Karoline, diese militärische Maschinerie! Da kann keiner durchschlüpfen.

Auf dem Heimweg studierte das Ehepaar Schmocker, er vorn in den Landen, sie hinten stoßend, was wohl Kommandantens im Schilde führten. Am Besen­scheuer­stutz machten sie einen Schnaufhalt. «Das Chrotte-Meitschi!» murmelte Vreni. Und der Vater antwortete: 121 «Den Gantebei-Fritz hat’s schon lang im Grind. Das hab’ ich wohl gemerkt.»

«Ei der Tüüner auch! Das konnte der Dümmst blinzlige merken,» gab die Mutter zurück. «Jetzt wäre mir einer lieber, wo merkte, was sie mit dem Friedel vorhaben. — Was wollen sie nur? Das Meitschi ist ja in Bremgarten draußen.»

«Das kann uns ja gleich sein, was sie mit dem Gantebei wollen. Sie werden ihm öppe hingerdry über öppis gekommen sein. — Man wird ihm halt doch Bricht machen müssen, er kann dann selber luegen.»

«He ja, ausrichten muß man’s. — Aber der Uelchli soll es auch wissen. Er ist nicht aufs Muul gheit. Er kann dann grad mit dem Gantebei z’Bode stellen. Das ist keine Art, sich für einen andern auszugeben. Da steckt neuis derhinger.»

«Er wird ihnen öppe angegeben haben, er sei der Bruder, damit er ringer zu dem Meitschi komme.»

«Eben! Aber wenn man das gewußt hätte, so hätte man das Meitschi äbesomähr hier behalten können. — Hü jetzt, so kommen wir heuer noch heim!»

Der Vater spuckte sich in die Hände und zog an.

Wo einer nicht die nötige Kommandogewalt hat, soll er seine Pläne nicht allzu fein ausspinnen, oder er darf sich dann wenigstens nicht wundern, wenn das Gespinnst an einem Dorn hängen bleibt und alles schief herauskommt. Bataillons­kommandant ist man aber nicht umsonst, und darum mußte es gut kommen. Wie auf 122 Schwingen der Morgenröte schwebte Frau Karoline Schnetzler dem Polykarpustag entgegen. Herr Daniel hatte in einem artigen Brieflein seine Schwägerin gebeten, darüber zu wachen, daß Elisi beim Engagieren einer Köchin nicht allzu selbstherrlich vorgehe, sondern warte, bis er selbst eintreffe, was nach Erledigung seiner Geschäfte in der Stadt — spätestens um 12 Uhr mittags geschehen werde. — Man sah also ganz deutlich, daß ein gütiges Geschick über der Sache waltete.

Es war schon 10 Uhr vorüber, am 26. Januar, als die Hausglocke bei Frau Schnetzler das erste Herzklopfen auslöste. Die Magd hatte Weisung, den erwarteten Tambour zum Herrn Kommandanten ins Eßzimmer zu führen, das Elisi in die Hofstube, wo die Madame es vorbereiten würde, bis es auf das Glockenzeichen des Herrn Schnetzler zu dem soi-disant Bruder ins Eßzimmer geschoben werden konnte. — Gottlob! Man hörte eine Trommel im Korridor abstellen. Frau Karoline erblickte durch einen Türspalt ein grün-rot gestreiftes Schwalbennest und ein paar Uniformknöpfe schimmern. Es klappte also. Wenn jetzt nur das Elisi auch bald kam!

Der Soldat, welcher nichts anderes vermutete, als daß er noch irgend etwas über die Vorgänge beim Putsch würde zu bezeugen haben, war recht sonderbar berührt von dem fast jovialen Empfang seitens des Kommandanten. «Herr Kumedant, Tambour Schmocker» 123 meldete er, mit seiner mächtigen Erdknechtenhand an der unbedeckten Schläfe unbeholfen salutierend.

«Schön!» sagte der Kommandant. «Brav, daß Ihr so exakt gekommen seid. Es soll Euch nicht reuen, Schmocker. Da! Sitzt ein wenig ab. — Werdet wohl auch eins tobaken, was?»

Der Kommandant schnitt einer «Deutschen» die Spitze ab und bot sie dem Tambour. Dann schenkte er zwei Gläser voll goldenen Waadtländers. «Auf das Füfefüfzgi,» hieß er Schmocker anstoßen und dann mit einem pfiffigen Blinzeln «auf den Schatz!»

Die gute Laune des Kommandanten wurde dem Soldaten unheimlich. So hatte er Kanunnehans noch nie gesehen. — Jetzt fing er richtig an von dem letzten Dienst zu reden. Wie der ihm, dem Tambour gefallen hätte? Das sei doch jetzt einmal was anderes gewesen, beinahe etwas wie ein Ernstfall.

Schmocker tat genau, was jeder Berner tut, bevor er die Situation überblickt, er blieb stumm und spitzte die Ohren. Dann und wann nur zog er den Mund etwas breiter, als ob er lächeln wollte. Sonst aber hätte man meinen können, er sei ausgestopft.

«Ja nun,» fuhr dann der Kommandant mit einem Blick durch das Fenster fort, «das ist nun alles schon lang vorüber und wird bald vergessen sein. Aber» — jetzt traf den Tambour ein forschender Feldherrenblick — «warum ich Euch herbeschieden habe, Schmocker: Ihr habt wohl das Elisi nicht mehr gesehen, seitdem 124 es in Bremgarten ist, he? — Habt Ihr nicht ein wenig Längizyti nach ihm?»

Der Tambour überlegte, ob er nicht den Kommandanten, der ihn jedenfalls für den Bruder des durch seine Heldentaten im ganzen Bataillon bekannt gewordenen Elisi hielt, über seinen Irrtum aufklären sollte. Aber einem Vorgesetzten die Nase auf einen Irrtum stoßen, ist ein Unterfangen, das wohl überlegt sein will, und so fuhr Schmocker fort zu schweigen. Die letzte Frage des Kommandanten beantwortete er nur mit einem Schmunzeln, das Herr Schnetzler sich als den Ausdruck einer Verschämtheit erklärte, die ihm an dem Manne gar nicht übel gefiel.

«Das ist ein wackeres Meitschi,» sagte er, «das hat das Herz auf dem rechten Fleck, sappermost! Und treu und ankehrig ist’s. Eine gute Hausfrau gibt das. Könntet nicht leicht eine bessere finden. — So eine ließe ich mir auch nicht entgehen.»

Tambour Schmocker nickte beifällig lachend.

«So eine,» fuhr der Kommandant fort, «die sich vor der bewaffneten Nacht nicht fürchtet und aus allem sich nichts macht, die ist geschickt zum Kampf mit den Wider­wärtigkeiten des Lebens. Mit so einer kann man’s getrost wagen, einen Hausstand zu gründen. Die wird für ihren Mann einstehen. Da nimmt man schon ein wenig Räßigkeit mit in Kauf. Meint Ihr nicht auch?»

«Wohl wohl, Herr Kumedant.»

«Seht, Schmocker, das ist noch etwas von alter 125 Schweizerart, so grad und aufrecht und frisch. Und dazu hat das Elisi gewiß ein Herz voll lauterer Liebe.»

Der Tambour wurde nicht klug aus des Kommandanten Lobrede, bis er endlich fragte: «Sagt einmal, Tambour, wie steht’s denn eigentlich um Eure Mittel! Habt Ihr gar nichts auf die Seite bringen können, oder meint Ihr, es wäre bald zu wagen mit einem eigenen Hausstand? Darauf abgesehen habt Ihr’s doch wohl?»

Jetzt kam es Schmocker nachgerade vor, als sollte die Lobrede auf Elisi doch einen besondern Hintergrund haben. Demgemäß zog er sein blühendes Gesicht fröhlich staunend in die Breite und sagte, grad apparti pressiert hätte es ihm mit dem Heiraten nicht, aber wenn ihm so eine wie dieses Elisi über den Weg liefe, so sage er nicht, daß er sie von der Hand weisen würde.

«Ihr dürft ganz ungeniert reden,» ermunterte der Kommandant. «Bin auch einmal jung gewesen und weiß, wie man’s etwa so hat. — Und um Euch nicht länger im Unklaren zu lassen, will ich gleich mit der Sprache herausrücken. Seht, einerseits ist uns das Elisi in der kurzen Zeit, da es bei uns gedient hat, so lieb geworden, daß wir ihm gern den Weg zu seinem Glück ein wenig erleichtern, und anderseits gönne ich als guter Soldatenvater jedem meiner wackern Füsiliere eine schöne Zukunft. Da habe ich mir gedacht, wenn es etwa nur an dem hapern sollte, so wollte ich Euch gern zu einem gfreuten Heimetli verhelfen. Ich würde Euch wohlfeiles 126 Geld verschaffen und wäre Euch kein böser Hypothekar­gläubiger, sobald ich sähe, daß Ihr dem Elisi ein guter Mann wäret. — Was meinet Ihr dazu?»

Schmocker dünkte, die Welt sei entschieden nicht so schlecht, wie man sie immer darstelle, sonst käme ein gewöhnlicher Tambour, der doch bei der Niederwerfung des Putsches nichts als seine Hundspflicht getan, nicht so ring zu einer braven Frau und einem Heimetli. Er sagte:

«Ja, Herr Kumedant, ich hätte nie so uverschant sein dürfen, Euch um diese Hilfe anzugehen; aber ich meine, es wäre schier nicht zu verantworten, wenn ich da nein sagen wollte.»

«Eben, das mein’ ich auch,» sagte Papa Schnetzler. «Also auf meine Hilfe könnt Ihr zählen, vorausgesetzt — daß Ihr dem Elisi ein guter solider Mann sein wollt. — Und nun müßt Ihr halt mit dem Elisi selber eins werden. Darin muß ich Euch nun machen lassen.»

Damit stand der Herr Kommandant auf, riß an dem gestickten Klingelband und zog sich in seinen Salon zurück, wo alsbald Madame Schnetzler mit fieberhaft leuchtenden Äuglein zu ihm stieß. Sie war mit ihrem Einreden auf Elisi noch nicht über das allgemein Grundsätzliche hinausgekommen. Immerhin dünkte es sie, was das Mädchen über die Folgen einer Heirat außerhalb — wollte sagen oberhalb — ihres Standes zu hören bekommen, könne seine Wirkung nicht verfehlen. Und doch — und doch — wenn sie sich Elisis Benehmen 127 vergegenwärtigte, so wußte sie nicht recht Bescheid über den hellen Blick der goldgelben Augen, der ihr zu sagen schien: «Ja ja, red’ du nur!» Das beunruhigte Frau Schnetzler sehr. Als Herr Alfred zum Reden sich anschickte, legte sie ihm die Hand auf den Arm und machte ein Gesicht, als ob sie einer Stimme aus dem Jenseits zuhörte. Herr Schnetzler vermochte mit dem besten Willen keinen Ton aus dem Eßzimmer zu vernehmen, und er war’s auch, der richtig hörte.

Als nämlich das Elisi, ins Eßzimmer geschoben, den wildfremden Tambour dasitzen sah, begriff es nicht recht, worauf es hier noch warten sollte. Aber in seiner Dienstzeit bei Kommandantens hatte es oft Leute in diesem Zimmer warten geheißen, und so tat es eben, wie jene Leute auch zu tun pflegten: es setzte sich auf einen Stuhl neben der Türe und — wartete geduldig.

Daß des Soldaten Blicke unabläßig auf ihm ruhten, wunderte Elisi nicht im geringsten. Das war ja immer so gewesen. Darin unterschied sich keiner vom andern. Die feine Pariser Pendule hatte wahrlich nicht das geräuschvolle Gangwerk einer Turmuhr. Trotzdem hörte man wohl fünf Minuten lang nichts als ihr leises Ticken.

Beinahe erschrocken wäre Elisi, als endlich Schmocker einen seiner schwerbeschuhten Füße unter den Stuhl zog. Etwas schien den Mann zu beunruhigen. Er machte den Stuhl knacken. Dann spuckte er auf den Fußboden und zerrieb mit der Schuhsohle die Spur. 128 Endlich kam’s langsam über seine Lippen: «Bist du nicht Schmocker Lisi?» — Schneller kam die Gegenfrage:

«Das könnte dich wunder nehmen, he?»

«Ho wegen dessi — man kennt dich öppe — im Bataillon.»

«So? — Warum fragst denn?»

«Hab’ dich gar lang nicht mehr gesehen.»

«Wenn’s dir da drum zu tun gewesen, hättest mich ja suchen können.»

«Unsereiner hat nicht Zeit, solchen Gitzeni nachzulaufen. Aber wenn es sich doch grad so schickt, so könnte man doch miteinander reden.»

«So red, wenn’s dich freut!»

«Was meinst?»

«Ob ich was meine?»

Jetzt erhob sich der Tambour und setzte sich neben das Elisi; aber das Elisi erhob sich auch und rückte um einen Stuhl von ihm ab.

«Du wirst wohl wissen was, du chätzers Chrottli.»

«Woher sollte ich erraten, was du in deinem struben Grind hast?»

«Sie werden dich wohl auch brichtet haben?»

«Wer? Was brichtet?»

«Tu’ doch nicht so!» sagte Schmocker und suchte mit seinem Ellbogen der Spröden einen vertraulichen Mupf zu geben.

«Seh da! Laß mich in Ruh!»

129 Nun schwiegen sie wieder eine Zeitlang und kehrten sich voneinander ab. Aber bald merkte jedes, daß das andere zuweilen verstohlen nach ihm hinschielte. Dann hub Schmocker wieder an:

«Du, wenn wir noch lang warten, so ist dann die Zeit um, und ich muß wieder heim.»

«Geh du nur heim. Ich hab dich nicht geheißen herkommen.»

«Wie gesagt, wenn du noch lang willst der Löl mache, so ist’s dann verkafelt.»

«Was denn?»

«He, sie werden’s dir wohl auch gesagt haben. Wegen dem Heimetli.»

«Wegen welchem Heimetli?»

«He, wo sie uns dazu verhelfen wollen.»

«Wer?»

«He ds Kumedante.»

«Du bist denk ein wenig lätz im Kopf.»

«He, nein. Er hat mir’s doch versprochen, so wahr ich hier hocke. — Wenn wir zwei eins werden...»

«Du wirst mir doch nicht sagen wollen, ich soll dich nehmen!»

«He, was denn sonst?»

«Potz Heitere!» Elisi sprang auf und trat hinter den Eßtisch. «Du kannst mich dauern, wenn du dir so etwas in den Grind gesetzt hast. Wenn ich heiraten wollte, so könnte ich an jedem Finger einen Schönern haben.»

130 «Aber nicht mit einem saubern Heimet.»

«O bhüet’ is. Das wird so ein Heimet sein, wo man all Morgen wieder der Berg uf tragen muß, was Härds über Nacht abegrütscht ist. Und dazu Schulden, daß es dem Tüfel drab gruuseti.»

Vom Korridor hörte man schwere Schritte und eine Mannsstimme. Elisi, dem das Blut zu Kopfe stieg, achtete sich dessen nicht, sondern fuhr eifrig weiter: «Weißt, wenn ich wollte, grad heut noch könnte ich Schloßherrin werden. Ich brauchte nur zu blinzeln, und die Sache wäre richtig. Da werde ich wohl ein Babi sein und mich an einen Strupfi hängen, wie du einer bist.»

«So?» gab jetzt der Tambour zurück. «Bist du so eins? — Das hätte ich nicht geglaubt von dir. Man weiß öppe, wie das zugeht, wenn so ein armes Meitschi über Nacht Schloßherrin wird.»

Schmocker hatte noch nicht ausgeredet, als Schnetzlers Magd einen neuen Gast in die «Wartstube» führte. Es war Elisis Bruder.

«Ei der Tag und ds Leben!» rief Elisi. «Grüß dich, Uelchli. Wo kommst jetzt du her?»

«He, die Mutter hat mich geheißen herkommen, es sei da Neues im Tun. — Was ist los?»

«Du kommst grad im rechten Augenblick. Schau, da ist einer, wo mich hätte welle. Und jetzt, wo ich ihn nicht begehre, hat er just angefangen, mich herunterzumachen.» — «Sag’s jetzt noch einmal,» wandte 131 sich Elisi an den Tambour, «was du vorhin gesagt hast! — Gelt, jetzt schweigst? Du weißt warum.»

Uelchli maß den Soldaten mit kampflustigem Blick. «Was hast du hier zu schaffen? — Mußt öppe einen Arrest cho abhocke, he?»

«Du,» sagte der Tambour, nicht minder streitlustig, «besinn dich, Bürschli, sonst könnte es dich dann noch reuen. Ich bin vor dir hier gewesen. Es wäre eher an mir zu fragen, was du hier zu suchen habest.»

«Hat der mir nicht angeben wollen, ds Kumedante würden ihm zu einem Heimetli verhelfen, wenn er mich zur Frau bekäme,» Elisi sagte das sehr laut, in der Berechnung, daß man es auch in den anstoßenden Zimmern höre und erfahre, was für ein Lugipeter der Tambour sei.

«So?» brüllte Uelchli und trat mit geballten Fäusten dicht vor den Tambour hin. «So? Bist du etwa der, wo sich für Elisis Bruder ausgegeben hat, he?»

Jetzt wurden die beiden handgemein, wobei zwei Stühle zu Fall kamen. Die Gläser klirrten jämmerlich. Das Elisi schrie laut auf: «Hörit! — Hörit uf! — Dir syd hie nid daheime!»

Zum Glück öffnete sich just im Augenblick, da die Ringenden den Eßtisch mit sämtlichen Stühlen und dem dahinter mit dem Regenschirm wehrenden Elisi unter großem Gepolter in eine Ecke schoben, die Türe zum Salon. Der Herr Kommandant trat ein und 132 schrie: «Ruhig da! — Was soll das?» — Hinter ihm stand Frau Schnetzler mit Augen wie Schiffsluken.

Die Kämpfenden ließen sich fahren.

«Herr Kummedant, jetzt könnt Ihr grad selber sagen, ob ich es erlogen habe oder nicht.»

«Zu Befehl, Herr Kumedant, das ist jetzt eben der Fötzel, wo sich für Elisis Bruder ausgegeben hat.»

Die beiden brüllten das gleichzeitig. Frau Karoline schlug die Hände über ihrer Haube zusammen und rang nach Worten. «Aber um des Himmels Willen, Alfred, das ist ja gar nicht... Wer seid ihr denn, um alles in der Welt?»

«Ruhig!» befahl der Kommandant. «Kein Wort mehr! Hier rede ich und sonst niemand. — Wer seid Ihr, Mann?»

«Ich bin der Uelchli Schmocker, Elisis Bruder.»

«Aber um Gottes Willen! Und Ihr?» schrie Frau Schnetzler den Tambour an, wofür sie einen streng verweisenden Blick von ihrem Mann erntete.

«Ich bin der Gottfried Schmocker von Englisberg.»

«Aber, so hör’ doch, Papali, das ist ja der lätz!»

«Ueli Schmocker. — Elise Schmocker. — Gottfried Schmocker. — Alles verschmockeret!» rief jetzt eine Stimme ganz heiter in die Stille des Raumes. — Unbemerkt war Herr Daniel Schnetzler in das Zimmer getreten. «Jetzt nähm’s mich aber beim Donner bald wunder,» reklamierte der Tambour, «wo noch Recht und Ordnung 133 ist. — Jetzt sagt selber, Herr Kumedant, habt Ihr mir versprochen, mir zu einem Heimet zu verhelfen, wenn ich das Elisi nehme, oder nicht?»

Da redeten ihrer fünfe gleichzeitig:

«Aber Papali, du bist ja an den Lätzen geraten. Das ist ja gar nicht der soi-disant Bruder.»

«Und ich lasse mich nicht für den Narren halten. Entweder ein Mann ein Wort, Herr Kumedant, oder Ihr werdet dann schon erfahren, ob es in Bern noch Richter gibt.»

«Aber der tusig Gotts Wille! Ich will ja gar nicht heiraten. Warum reiset man mir denn diesen Strupfi an?»

«Ich lasse mir’s nicht gefallen, daß einer sich für mich ausgibt. Das muß vor den Richter. Ja beim Donner, und das muß es.»

«Ich glaube, ihr seid alle miteinander um den Verstand gekommen. Das Elisi mangelt doch kein Heimetli und keinen Mann.»

Jetzt trommelte der Kommandant mit beiden Fäusten auf den Tisch und brüllte: «Ruhe! sag’ ich. — Wollt ihr wohl alle das Maul halten? — Hier rede ich und sonst niemand. Sapristi!»

Von der eintretenden Stille wollte jedes Gebrauch machen und reden; aber Herr Daniel trat groß und energisch in die Mitte:

«Liebe Leutlein. Ihr könnt euch allen weitern Zank ersparen. Wie ich sehe, dreht sich alles um das Elisi 134 Schmocker. Ich weiß nicht, was ihr mit dem Meitschi vorhabt; aber ich möchte euch bitten: Macht euch nicht weiter Mühe. Das Elisi hat am Schloß Bremgarten Heimets genug, und ich denke, ich werde ihm Manns genug sein. — Oder meinst du nicht, Liseli? — Komm, gib mir ein Müntschi, so werden sie’s am besten begreifen, was die Uhr geschlagen hat.»

Mit einem Schrei war Frau Karoline auf den letzten noch aufrecht stehenden Stuhl gesunken, indes nun alle andern Augen machten wie Pflugsräder, nicht die kleinsten das Elisi, das unbeweglich hinter dem Tisch blieb.

«Komm, Liseli!» wiederholte Herr Daniel. Er bemühte sich, den Tisch wegzuschieben, um das Mädchen hervorzuholen. Aber Elisi flüchtete sich in die Fensternische hinter seinen Bruder und wehrte hinter dessen Rücken hervor ab: «Laß mich in Ruhe. — Ihr seid mir alle zusammen vürig. Einer wie der andere. Ich begehre gar nicht zu heiraten. Will lieber heim zur Mutter, in Stall und Plätz, wo ich hingehöre.»

«Aber Liseli, was kommt dich an? Sei doch vernünftig!» lockte Herr Daniel. Uelchli trat zur Seite und ließ das Mädchen frei.

«Bleib da, Uelchli!» sagte es. «Verlaß mich nicht. Ich will nicht öppehi, wo ich nicht hingehöre. Bin wäger keine Schloßmadame. — Uelchli komm, wir wollen auf Herzwyl, zu den Alten.»

«Ich bitt’ euch, liebe Leutlein,» wiederholte Herr 135 Daniel. «Laßt mich einen Augenblick allein mit dem Liseli. Ihr habt’s mit eurem Lärm aus aller Fassung gebracht.»

In diesem Augenblick ging abermals die Türe auf, und mit dem Ausdruck höchster Verwunderung über die vielen Leute, die er hier versammelt fand, trat Fritz Gantenbein ein.

«Hu, das ist er ja!»

«Fritz, Fridu!»

Die Frau Kommandantin und Elisi riefen’s gleichzeitig. Das Elisi stürzte sich auf den verblüfften Melker und schloß ihn mit Ungestüm in die Arme.

«Gäll, du bist myne, he? Gäll dys wirde-n-i? Ich will keinen andern. — Und wenn du mich schon nicht willst, ich komme doch mit dir. Lieber meiner Lebtag mit dir am Brunnen chosle, als Schloßmadame spielen. Fridu, Fridu! Gäll!»

Da war niemand mehr im Zweifel, wem das Elisi gehöre. Keines erhob Widerspruch, nicht einmal der Tambour von Englisberg. Frau Karoline hing sich unter Freudentränen an ihren Mann:

«Dem gehört das Heimetli, Alfred.»

Aber das Elisi rief: «Es manglets nid, Herr Kumedant. Gwüß nid. Wir werden unser Obdach schon finden, wenn’s Zeit ist. — Gäll Fritz? — Säg ume nei!»

Ob so viel alter Schweizerart war sogar Herr Kommandant Schnetzler erstaunt. Sie kam ihm übrigens recht erwünscht.

136 Herrn Daniel ging auch ein Licht auf. Er konnte auf einmal gar nicht mehr verstehen, was ihm eingefallen war. «Ist’s Euch ernst?» fragte er Fritz Gantenbein.

«Öppe schier ist’s mir ernst,» antwortete der vor Glück strahlende Melker. «Und damit ihr alle zusammen wißt, wie es gemeint ist, lassen wir nächsten Sonntag in Köniz verkünden, so hört das Gstürm uf, gäll, Elisi?»

«Ja wäger,» sagte Elisi, «und das tüe mer. — Nüt für unguet, Herr Schnetzler.»

«Jetzt schnell eine Flasche vom Bessern, Mama,» befahl schmunzelnd der Herr Kommandant, und er ließ keines ziehen, bevor es auf das Wohlergehen der Verlobten mit ihm angestoßen.

*  *  *

Nicht lange mehr blieb Elisi Schmocker in Bremgarten. Als der Frühling auf den silbernen Weiden an der Aare saß und dem Steigen, der Gletscherwasser zusah, da kam eines Tages Fritz Gantenbein mit einem Berner Wägelchen gefahren und holte sich das Elisi mitsamt seinem buntbemalten Tröglein. Herr Daniel Schnetzler lud das Paar zu Tisch, und die böse Stine, die nun auf dem Schlosse verblieb, mußte der verachteten Kollegin noch eine Art Hochzeitsmahl kochen.

Vater und Mutter hatten nachgeben müssen, und so fuhr nun das Elisi doch schließlich seiner Mutter 137 z’grechtem davon, und — das war das Merkwürdige dran — just deshalb fuhr es ihr davon, weil es hinkam, wo es hingehörte. Über Jahr und Tag erstritten sie sich in treuer Arbeit ein eigenes Heimetli. Da bauten sie selbander frei und ehrbar ein Stück guten, harten Schweizerbodens und zeugten Söhne und Töchter.

Sie haben auch diesen beigebracht, wohin sie gehören, und weil sie selbst es nimmermehr vergaßen, so blieb ihnen immer ein Restchen stiller Lebensfreude, das sie durch alle Not und Mühsal hindurchtrug. Längst schon schläft der wackere Tambour von Herzwyl in seines Vaterlandes Erde der letzten Tagwacht entgegen. Die Mutter Gantenbein aber hat ihre Enkelbuben noch ausziehen sehen, als der große Krieg anhub. Und als sie zum erstenmal feldgrau in Urlaub kamen, da hat die Großmutter sie stolz betrachtet und mit ihren harten Fingern die grauen Röcklein gestreichelt. «Aber wißt, Buben,» hat sie mit goldig lachenden Augen gesagt, «zu unsrer Zeit ist das Milidär doch schöner gewesen».



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