Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Glückstüpfi

(Die Oberländer Ausdrücke dieser Erzählung sind durch Herrn Vorsteher H. Würgler in Bern nachgeprüft und berichtigt worden.)

I.

Es war ungefähr in derselben Zeit, als das Elisi Schmocker in Bern seine Abenteuer erlebte, will sagen in den schönen Jahren, da man sich zum Leben Zeit gönnen durfte. Da wußte man in Brienz noch nichts von der wilden Erstürmung der Brünigbahnzüge. — Wer kennt sie nicht? Zu Dutzenden, manchmal zu Hunderten, rennen die Erholungs­bedürftigen aller Nationen und Stände mit Reisetaschen, Rucksäcken, Photographie­apparaten, Botanisier­büchsen, Seilen, Pickeln, Bergstöcken, Staffeleien und anderem Gestänge von der Ländte nach dem Zug, in einer Angst, das schmalbrüstige Lokomotivlein könnte ohne sie durchbrennen. Man stolpert über die Geleise, fällt womöglich hin, und nimmt sich nicht einmal Zeit, den erlittenen Schaden zu besehen, schmeißt sein Gepäck auf Bänke und Netze, tritt mit dem Nagelschuh auf die mit raffinierter Pediküre gepflegten Zehelein einer Lady und entdeckt, daß man den Feldstecher auf dem Salondampfer liegengelassen, 152 rennt wieder hinaus und hinüber, boxend und schimpfend, und kommt endlich schweißgebadet und atemlos an seinen Platz, um dann noch eine Viertelstunde in dem sonnedurch­glühten Wagen zu warten, bis der Zug «obenabe» das Geleise freigibt. — Von alledem wußte man damals noch nichts. Es gab weder Brünigbahn, noch Dampfschiff. Den Seespiegel wühlte niemand auf außer etwa der Föhnsturm, wenn er den Schnee schmelzen ging.

Da merkte denn der Wanderer auch, was eigentlich der Brienzersee ist. Wo könnte sich das ermüdete Auge besser erholen als an dem grünen Samtmantel des Brienzergrates? Ihm gegenüber türmt sich die Kette des Faulhorns, reich bewegt und geheimnisvoll. Kommt aus dem Purpurschatten des alten Tannwaldes das Märlein gelaufen, um seine hurtigen Füße in die smaragdenen Wellen zu strecken, so erzählt ihm der weißschäumende Wildbach von den Gemsen, die droben in lustigen Rudeln um die Grattürme springen und in Alpenrosen Rast halten. Wenn im Sommer die Spiegelung auf dem See liegt, so weiß man kaum, wo das Wasser anfängt und der Berg aufhört. Es ist alles eine stille, durchscheinende Woge von grüngoldenem Duft. Und außer dem fernen Klang der Glocken und dem Rauschen der Bäche vernimmst du keinen Ton. Hoch über dem zarten Schleier zieht in Sonnengold und Himmelsbläue der Adler seine weiten Bogen, während unter dem Schleier, da wo er in den Tannenspitzen 153 sich fängt, das wetterharte Brienzerburli sein Kühlein vor sich hertreibt und philosophierend einen schwehlenden Murtenkabis raucht. Mag aber der Spott derer ihn verfolgen, die schwere falbe Simmentaler zu treiben haben, so ist das struppige arme Mannli doch meiner Liebe wert, und wenn es schon mit Ach und Krach, mit Rank und List sein niedriges Scheuerlein füllt, so sind wir eben doch eines Geschlechtes, und schwindet der Dimer, der uns alle deckt, so stehen wir beide gleich armselig und bedürftig in Gottes Gnaden­sonnenschein. Dieweil das arme Mannli trübselig unter dem Nebel wandelt, kreist seine Seele mit dem Adler droben in der sehnsuchtsvollen Bläue. Und manchmal — wer weiß — schlummert und lebt in so einem Chudermannli voll Trug und Freßgier noch etwas von einem König; denn so gut wie die gekrönten Häupter Europas stammt das Brienzerburli in väterlicher und mütterlicher Linie von dem einen Paare ab, zu dem gesagt ward: «Füllet die Erde und macht sie euch Untertan!»

Laßt sehen!

Singend und summend zog der Maien den Hängen entlang. Die Imlein flogen eine Rute weit über das grüne Bord, und wenn sie im Seespiegel das verkehrte Bild der Blütenbäume geschaut, so flitzten sie mit doppeltem Wonnefleiß in die duftende Herrlichkeit zurück. 154 Am Sonnenfunken sprühenden Brunnen vor dem Schulhause zu Iseltwald wusch Isolte Flück, des Schulmeisters einziges Kind, währschaft gewobenes Linnenzeug. Und ob sie es sehen wollte oder nicht, immer wieder hielt ihr der moosbehangene Racker, der alte und doch ewig junge Brunnen, der Tag und Nacht das Lachen nicht lassen kann und trotz seinem Alter mit jedem Blättlein spielt wie ein Kind, ihr schönes Bild vor. Lustiger noch als an den warmen Schläfen ringelten sich im welligen Spiegel die dunklen Löcklein. Die braunen Augensterne glühten sogar im kalten Wasser noch, und wenn die blanken Zähne zwischen den blutroten Lippen hervorguckten, so galten auch die blinkenden Quarzsteinchen im sonnedurch­fluteten Troge nichts mehr.

Die Schulstubenfenster standen offen, und weit ins Hostettli hinaus hörte man bald Peter Flück vorsagen, bald den Kinderchor nachbrüllen:

«Von Ewigkeit hast du mein Los entschieden.
Was du bestimmst, das dient zu meinem Frieden.
Du wogst mein Glück, du wogst mein Leid,
Und was du schickst, ist Seligkeit.»

«Liselli, wenn d’ mer jetz no eis seischt ‹worgst›, so chumen-i di de gwüß grad eis e chlyn chun gen tschüpen, du Chrottli. — Was han i gseit, was das heißen selli?»

Eine Kinderstimme antwortete: «Es wollt’ sägen wääggen.»

«Henu also. Jetz no nes mal: du wogst...»

155 Der Brunnen kriegte abermals Isoltens Zähne zu sehen und dazu zwei lustige Grüblein in braunen Wangen. Laut sagte sie’s nicht; aber in Gedanken sprach sie’s nach:

«Du wogst mein Glück, du wogst mein Leid,
Und was du schickst, ist Seligkeit.»

Ihr Sinnen aber war gar nicht hier in Iseltwald, sondern drüben am andern Ufer. Und hätte es hier bleiben wollen, so hätt’s doch über den See gemußt, denn von dort her dröhnten von Zeit zu Zeit Kanonenschläge in den Dorffrieden. Und jetzt sangen in das bergauf rollende Echo noch die lieben alten Kirchen­glocken von Brienz. Zu sehen gab es nichts. Der Dimer lag auf dem See. Aber Isolte wußte: jetzt zogen sie drüben den Kirchhügel hinan, Schild-Hannes, der König von Brienz, und sein junges Gemahl, um ihren Ehebund einsegnen zu lassen. Das war ein Erlebnis für alle, die am Brienzersee ihr Brot aßen. Und doch war’s Isolten Nebensache. Vielmehr hatten ihr die Donnerschläge zu sagen, denn die waren Grüße ihres Jugendfreundes, des Andres Anderegg vom Wetzisboden.

Es schlug, Gott sei dank, weder hüben noch drüben eine Kanonenkugel in den lieben Heimatboden, denn sie luden nur Erdmutten; aber der dumpfe Schall jagte doch allemal Isolten das Blut zum Herzen. Er war ein armer Bub, der Dresli vom Wetzisboden. Nichts glänzendes besaß er als die paar Knöpfe seiner Kanonieruniform und das kurze Schwert, das er im vorigen 156 Sommer in Thun gefaßt — halt! — doch noch etwas: ein paar himmelblaue Augen. Die Dorfjungen sagten: «Wa der Herrgott d’Dreslin hed wellen machen, hed grad keiner Böbenougen (= Bubenaugen) meh ghäben, da hed er zwei blaui Chrälleni usem Meitschi­druckli gnuhn.» Aber Isolte wußte besser Bescheid. Solche Augen erblühen droben zwischen den Enzianen, weil dort kein Dimer zwischen den Himmel und die Menschen kommt. O die lieben lieben Augen, die vom Morgen bis zum Abend sagten: «Wart, Isölti, wart!»

Wohl wahr! Dresli nannte nichts sein eigen, war in diese Welt gestellt, wie die rechten Brienzer Burli, die «fascht blutti» den Maiensäßen entfallen. Aber schlank war er und von großer Kraft. Und die Arme, welche einst Isolten in wilder Wetternacht durch die brüllende Runse aus dem zerschlagenen Häuschen auf rettenden Fels getragen, die vermochten heute wohl einen ganzen erwachsenen Menschen und ein halbdutzend kleiner Menschlein auf sichern Boden zu bringen.

Wieder rauschte das Echo dröhnend dem Bergwall entlang, und Isolten klopfte vor Freuden das Herz. Sie wippte mit den Füßen wie die Bachstelze mit dem Schwänzlein, knutschte mit den rosigen Armen des Linnens blendende Bausche ins Wasser und lachte dazu, als blickte sie just in die himmelblauen Augen des Schatzes.

Und abermals brandete eines Schusses Widerhall im Dörflein, lauter und kräftiger denn die frühern. — 157 Dann blieb es still. Es war der letzte gewesen. — Nun hatte der Brunnen wieder allein das Wort. Er brodelte vor sich hin wie zuvor. Aber Isolten wollte das Herz nicht wieder klopfen wie zuvor. Ihr war auf einmal bange geworden. — Warum auch?

Und als sie nun drinnen wieder sagten, diesmal schon ganz fest und sicher, als ob es anders gar nicht lauten könnte: «Du wogst mein Glück, du wogst mein Leid...» zog etwas das Mädchen wie am Kittel. Ihr war, als sollte sie irgendwohin laufen, an den Strand, auf die Burgnase hinaus, von wo man hinüberschauen kann auf Brienz.

II.

Wer im Maien den Karst geschwungen, der prüft ums Vernachten nicht erst mit der Hand, ob sein Bettlein auch weich genug sei. So schlief denn selbigen Tages schon mancher den Schlaf des braven Mannes als die Fluhbänder der Hinterburg erloschen. Nur wer es mit des Tages Lasten nicht zu streng genommen, war noch auf. Ein paar ältere Männer höckelten vor dem Haus und sogen an braungebeizten Pfeifen, indes die jungen Mädchen zu dritt und viert mit engverschränkten Armen durch das Dörflein wandelten. Sie wollten nur noch sehen, was für ein Gesicht der Mond machte, wenn er, über das Simelihorn heraufschwebend, all den honigsüßen Blütenduft zu schnaufen bekam. Einstweilen nahmen sie selbst davon, was ihre übermütigen 158 Stumpfnäschen zu fassen vermochten, und waren darob voll argloser Lebenslust, Nur des Schulmeisters Töchterlein war heute nicht ganz so sangesfroh wie sonst.

Es ward kühl, und eins ums andere verzog sich unter sein trauliches Schindeldach, als ein Jauchzer von der «Burg» den Leuten die Köpfe drehte. Und jetzt sahen sie weit draußen auf den silbernen Flammen, die der Mond in den See warf, ein Schifflein. Dem hatte der Willkomm gegolten. Aber es kam keine Antwort. Regelmäßig, wie ein langsam schreitendes Uhrwerk, sprühten die Ruderschläge. Wer mochte da noch zu Gast kommen? Die wenigen Weidlinge der Iseltwalder lagen auf dem Uferkies. An Schild-Hanses Hochzeit war doch niemand von hier gewesen. Und Hochzeitsgäste pflegen nicht so schweigsam zu fahren.

Es verrann wohl noch eine Viertelstunde, und der Mond stand schon hoch und frei über den Gräten, als man endlich die Insaßen des Schiffes zu unterscheiden vermochte. Im Spitz saß eine Mannsgestalt. Hinten arbeiteten zwei Burschen mit je einem Paar Stehruder. Und in der Mitte lag etwas hingebettet, worauf der Mann im Spitz unverwandt niederblickte.

Während der Nachen durch die Bucht hereinfuhr, sammelten sich unvermerkt die Neugierigen am Strande. Es waren ihrer doch noch mehr auf, als man gedacht. Jetzt knirschte der Bug auf dem Uferkies. Der Mann im Spitz sprang heraus und zog das Schiff an der 159 Kette nach. Dann rief er den Nächststehenden zu: «Ist jemand von Andereggs da oder Flück-Peter?»

«Flück-Peter?» Isolte lief zu dem Schifflein.

Barmherziger Gott! — Da hatten sie ja einen Menschen im Schiff liegen.

«Wer ist’s? — Was hat’s gegeben?» schrie Isolte.

Und nun wollte jedes zuvorderst sein. Mancher trat ins Wasser, um den Hingestreckten zu sehen, der den Kopf so verbunden hatte, daß nur Mund und Nase frei waren.

«Großer Gott! — Der Anderegg-Dresli! — Was hat’s mit ihm gegeben?» riefen sie durcheinander.

«Ist niemand da von Andereggs?»

Der das wieder und wieder fragte war — man erkannte ihn jetzt — der Brienzer Doktor.

Ja, wer sollte denn von Andereggs da sein? Der einzige Verwandte des Verunglückten war ja sein Oheim, der alte Senn auf dem Wetzisboden, zwei Stund weit auf dem Vorsäß.

Inzwischen war Isolte ins Schulhaus gelaufen: «Vater, Vater! Der Anderegg-Dresli! — Er ist ungfellig worden. — Herrjeses, das Schießen! Jetzt weiß ich’s.»

Und sie kamen atemlos, über Stock und Stein gerannt, Vater und Tochter. Eben hoben sie den Verbundenen mit seiner Matratze aus dem Schiff. Ihrer ein halb Dutzend wollten tragen helfen, traten und stießen sich, und der gute Brienz-Doktor mußte mit 160 ihnen aufbegehren: «Hübscheli, hübscheli! Ihr tut ihm weh!»

Alles trottete wie an einem Imb dem Schulhause zu, schrie nach Laternen und redete kraus durcheinander, und niemand achtete sich des Mägdleins, das seines Wehs nimmer Herr werden konnte und ob den Tränen ins Stolpern kam.

Als sie ihn in des Schulmeisters Küche hatten und das Stubelli zurecht machten, um den armen Ungfelligen auf des Vaters Bett zu legen, trieb der Doktor alle weg, die nichts da zu schaffen hatten. Draußen aber erzählten die Ruderknechte, wie es zu- und hergegangen sei.

Ein paar junge Burschen hatten sich zusammengetan, sie wollten dem Schild-Hannes zur Hochzeit schießen. — Ob solch reiche Leute es gern hören oder nicht, wenn ihre Festtage dem ganzen Lande ausgedonnert werden, sie müssen es geschehen lassen und dafür danken. Das gehört zu des Königs Hermelinschleppe. — Kurz und gut. Einen währschaften Katzenkopf hatten sie bald aufgetrieben, Pulver auch, von der gröbsten Nummer, wie man’s zum Stöckesprengen braucht, und Mutten gibt’s sogar am Brienzergrat genug. Und das muß man schon sagen: Wenn’s irgendwo in der Welt etwas ausmacht, das Schießen, so ist’s zwischen den hohen Bergen, wo den Krach immer eine Fluh der andern zuwirft, bis es rollt, als feuerte ein ganzes Dutzend 161 Haubitzen. Zu dieser festlichen Schlacht gehörte doch auch der schöne Kanonier von Iseltwald. Frühmorgens nach dem Melken war er vom Wetzisboden um das obere Seeufer herum nach Brienz gelaufen. Zum Abendmelken wollte er wieder auf der Alp sein. Es ging alles gut. Kein Butzenscheibchen im ganzen Dorf, das nicht noch in seiner Altersblindheit zu frohlockendem Klirren gebracht worden wäre. Dann aber kam das Verhängnis. Die Hochzeiter hatten den Kirchhügel erklommen und traten in das Portal des Gotteshauses. Auf diesen Augenblick hatten die Burschen einen Hauptklapf gerüstet. Mit dem Verklingen der Glocken sollte das letzte Echo um den See wettlaufen. Aber da fiel der Schwamm vom Zündloch und die Ladung fing nicht Feuer. Jetzt mußte der Kanonier herzu. Er drehte rasch einen Brander, kniete dicht zu dem störrischen Katzenkopf und griff nach der Lunte, als unversehens ein Räuchlein über dem Zündloch aufpaffte und — der ganze Mörser, durch allzu feste Ladung in Stücke sprang. Anderegg lag blutüberströmt im Gras. Die ganze linke Seite seines wetterbraunen Gesichtes schien eine einzige Wunde zu sein. Ihrem Tun nach hätte man glauben können, der Schuß habe der Kameraden Hirn zertrümmert, so verduzt standen sie dabei, bis es einem Zuschauer einfiel, nach dem Doktor zu rufen. — Der nahm den Unglücklichen zu sich und tat an ihm, was seine Kunst vermochte; aber einem erloschenen Auge vermag kein Mensch das Licht wieder zu geben.

162 «Nach Interlaken in den Spital!» befahl der Arzt. Dresli wehrte sich dagegen. «Heim! Nur heim!» wollte der junge Soldat, der zu sterben wähnte. Und weil der Arzt noch nicht sicher war, ob die hotzelnde Fahrt zu Lande das Unglück nicht gar noch voll machen würde, schlug er vor, den Patienten im weicher gleitenden Schiffe den See hinunterzuführen. Man konnte in Iseltwald anlegen und mit des Vaters Einvernehmen weiterfahren. Aus Dresli war etwas anderes als der Wunsch heimzukommen nicht herauszubringen. Er war nicht klar bei Sinnen, und deshalb befahl der Arzt nach seinem freien Gewissen.

«Soll er mir sterben,» sagte der Doktor zu Peter Flück, «so ist’s vom Wetzisboden und von Interlaken exakt gleich weit zu Gottes Erbarmen. Aber bevor ich das Letzte, was in Menschenhand gelegt ist, versucht habe, laß ich den Burschen nicht fahren, mag’s sein Vater verstehen oder nicht.»

Der Schulmeister kraute sich hinterm Ohr und sagte: «Er ist ein Stierengrind, der alt Anderegg. — Ist übrigens nicht sein Vater, sondern des Vaters Bruder; aber das kommt auf eins heraus, der Bub ist ihm eins und alles.»

«Dann kann’s ihm ja nur recht sein, wenn das Äußerste probiert wird, um den Jungen zu retten,» sagte der Arzt ungeduldig.

«Herr, du mein Gott!» jammerte Isolte. «Ist’s so schlimm?»

163 «Der Alte wird tun wie ein Unflat, wenn’s ans Zahlen geht,» sagte Peter Flück halblaut vor sich hin, «aber am End...»

«wär’s doch schade, den Burschen solchem Unverstand zu opfern,» vollendete rasch der Arzt.

«So fahrt in Gottes Namen mit ihm!» entschied der Schulmeister. «Soll ich mitkommen?»

«Recht wär’s mir schon, wenn jemand von hier mitkäme, ’s mag geschehn, was will.»

«Dann komm’ ich auch mit,» erklärte Isolte. Aber davon wollte der Doktor nichts wissen.

«Es wär’ mir nützer, du bliebest hier,» fügte Peter Flück hinzu. «Die Nacht kann lang werden, und ich weiß nicht, ob ich zur Schule wieder da bin. — Am End’ wär’s gescheidter, es ginge ein anderer mit euch.»

«Nein, Vater, geh’ mit. Für das Übrige will ich schon sorgen. Bhüet is Gott! Wegen dem Schüelti t’wegen!»

«Ja, eben grad wegen der Schule. Das ist nid nüt. Jetzt habe ich bald fünfundzwanzig Jahre Schule gehalten und nie nüt ungrads ghäben, jetzt wollt’ ich nicht...»

«Vater, geh!»

Dabei blieb’s. Man bettete den Verunglückten wieder ins Schiff, und der Schulmeister setzte sich zum Doktor. Seine Tochter aber lief über den Burghubel, bis sie zwischen den Blütenbäumen hindurch den Lichtschimmer von Interlaken sah. Langsam, langsam schwamm das 164 Laternen­lichtlein auf der dunkel flimmernden Fläche. Isolte blickte ihm ungeduldig nach. Klein und kleiner ward es und sah endlich aus, als wollte es vollends ersterben. Da legte immer schwerer die Angst sich auf des braven Mägdleins Herz, es möchte auch das andere Lichtlein, das sie dort mitführten und das seines Lebens Freudefackel war, verlöschen. Isolte faltete die Hände über der Brust und betete einfältig und herzinnig um das junge Leben des Dresli Anderegg. Stille lag um sie her. Aus den schlummernden Bäumen flatterten müde Blumenblätter auf der Betenden taufeuchtes Haupthaar. Vom Vergehen des freudenreichen Lenzes flüsterten sie, aber auch vom wachsenden Leben und von herrlicher Reife. Und indem sie sich heimzu wandte, klang ihr aus des Tages Erlebnissen noch einmal das alte Lied auf: «Du wogst mein Glück, du wogst mein Leid.»

Nichts regte sich weit und breit, als sie endlich am flachen Ufer des Bödeli anlegten. Die letzten Lichter waren erloschen; aber der matte Silberglanz der Mondnacht, durch welche von ferne her das weiche Rauschen der Bergwasser zog, kam ihnen zuhilfe. Statt mit Suchen und Anklopfen um Roß und Wagen ihre kostbare Zeit zu vergeuden, zogen die vier Männer Seile unter der Matratze durch und trugen also den Verwundeten behutsam der uralten Allee zu, die der Aare entlang nach dem Städtchen hineinführt. Das erste Lichtlein, das sie zu sehen bekamen, leuchtete aus einem 165 Fenster des ehemaligen Klosters, allwo das Bezirksspital untergebracht war.

Mitternacht war vorüber, als der Spitalarzt kam und in treuer Kameradschaft mit seinem Brienzer Kollegen und einer nimmermüden Krankenschwester den armen Dresli aufs neue in Behandlung nahm.

Unterdessen saß Peter Flück mit den Ruderknechten drunten im Wartezimmer. Die beiden jungen Männer waren eingenickt und schnarchten, als sägten sie einen der Nußriesen vor dem Spital entzwei. Der Schulmeister aber hing seinen Sorgen nach und harrte mit Ungeduld des Berichtes über das Schicksal des Patienten. Er sann darüber nach, wie er mit dem alten Sennen sich abfinden wollte. Eigentlich, sagte er sich, hätte man doch nach dem Wetzisboden hinauf Bericht machen sollen, denn wenn der Senn auf Umwegen Kunde bekam vom Unglück seines Neffen und von seinem Transport in das Spital, dann konnte sich Peter auf einen netten Strauß gefaßt machen. Er nahm sich vor, noch vor Tags auf den Vorsäß zu steigen, um allen andern zuvorzukommen, und darüber schlief er ein.

Es war noch immer Nacht als er erwachte. Vor ihm stand ein breitschultriger Mann, den er erst als den Brienz-Doktor erkannte, nachdem dieser ihn an der Achsel gefaßt und wachgerüttelt hatte. Aufschreckend fragte Peter Flück: «Wie stehts?»

«Schlecht,» sagte der Doktor, «der arme Dresli ist zum längsten Kanonier gewesen. Dazu braucht es zwei 166 Augen; aber wenn er hier in Pflege bleibt, so kommt er doch, will’s Gott, mit dem Leben davon.»

«Das ist ein trauriger Bericht,» murmelte der Schulmeister nachdenklich; «aber der Bursche kann Gott danken, daß es nicht noch übler gegangen.»

«Jetzt wär’ ich Euch dankbar, wenn Ihr der Familie Bescheid machen wolltet,» sagte der Arzt. «Einmal hier, will ich die Gelegenheit benutzen, um allerhand Einkäufe zu machen. Sobald es taget, bekommt ihr Frühstück und könnet dann mit den beiden Burschen heimfahren.»

Der Schulmeister stand auf, reckte sich und trat ans Fenster. Obschon Mitternacht noch nicht lange vorüber war, entschloß er sich zum Aufbruch. «Will lieber jetzt grad gehen,» sagte er. «Frühstück brauch’ ich einstweilen keins.»

«So bhüet Euch Gott, Peter! Redet mit dem Alten ein ernstes Wort, daß er den Dresli hier läßt, solang es nötig ist.»

Peter Flück versprach, sein Möglichstes zu tun, und machte sich auf den Weg. Es war der lebloseste Augenblick. Selbst die Nacht mit ihrem geheimnisvollen Weben schien erstorben. Der Silberglanz war erloschen. Ein finsteres Grau bedeckte Busch und Feld. Der Mond war weg, und die rabenschwarzen Umrisse der Berge zeichneten sich nur undeutlich vom Himmelsgewölbe ab, an dem ein eintöniger Dunst die Sterne ausgelöscht hatte. Wahrlich, ohne das Rauschen der unsterblich strömenden Bergwasser, die an das ewig schaffende 167 Leben erinnerten, hätte der einsame Wanderer wähnen können, er schreite durch eine Riesengruft. Das stolpernde Geräusch seiner ungelenken Schritte ließ ihn fürchten, er wecke irgend Gott weiß was für ein unwirkliches Wesen hinter seinen Fersen, so daß er, der doch kein Furchthans war, lief, als wollte er in des Berges schwärzeste Schwärze hineinschlüpfen.

Zum Glück schwoll immer mächtiger der Lütschine steinerollender Sturmgesang. Einmal über den Fluß, fühlte Peter Flück sich geborgen. Da war wieder der lebendige atmende Berg, der bei jedem Schritt, den man tut, Aufmerken heischt und auch lohnt. Bald wurde das Tosen des Flusses wieder leiser. Es klang mehr und mehr aus der Tiefe und ging endlich unter im allgemeinen melodischen Sang der Täler. Bedächtig dem Tag entgegensteigend, suchte Peter Flück auch einen Aufstieg aus dem Wirrsal seiner von den nächtlichen Eindrücken erzeugten Gedankengänge. Was da drunten auf dem See und im Spital nur ganz verschleiert vor seinem Geistesauge geschwebt, das enthüllte sich nun in der stillen Bergeinsamkeit immer deutlicher als der zürnende Blick seines Gewissens. Schon die allererste Kunde von dem schrecklichen Unglück des Dresli hatte in seinem Vaterherzen ein Gefühl von Erlösung geweckt und — wie seltsam! — seiner Tochter Angst und Jammer hatte es nur noch verstärkt. Es wollte ihn gar kein ernstes Mitleid mit dem Verunglückten ankommen. Er konnte und konnte eine aufquellende Befriedigung 168 nicht niederkriegen: daß Isolte ihr Herz an den Hirtenbuben vom Wetzisboden verloren, hatte den Schulmeister schon lange geplagt. Er sah den Tag kommen, da er seine Tochter diesem Burschen hingeben mußte. Sauber, rechtschaffen und aufgeweckt war er ja und hatte gewiß das Herz auf dem rechten Fleck, aber das Wahrzeichen seines Standes blieb nun einmal der Melkstuhl, und für seine Tochter hätte sich Peter Flück, wie schon die Wahl ihres Taufnamens andeutete, doch etwas anderes gewünscht. Aber ihrem Wesen nach paßten die zwei zusammen, das ließ sich nicht leugnen, und das kostete den Lehrer gar manchen stillen Seufzer. Nun schien ein grausam Geschick seinen verborgenen Wünschen entgegenkommen und ihn der Entzweiung mit dem Herzen seines Kindes entheben zu wollen. War es ein Verbrechen, wenn er im tiefsten Grunde seiner Seele dieses Schicksal willkommen hieß? Nein, hatte er sich darauf geantwortet, als er gestern abend ins Schiff getreten war. Dann aber hatte des Arztes Sorge um das Leben des jungen Mannes eine andere Antwort ihm gegeben. Und wenn er das leise Stöhnen des im Mondschein so schreckhaft vor ihm liegenden Burschen gehört und das Schwere sich ausgedacht, das diesen nun wohl ein ganzes langes Leben hindurch auf Schritt und Tritt begleiten würde, dann hatte Peter Flück auch des andern Gedankens sich nicht erwehren können: Solch ein Hartgetroffener brauchte eine große Liebe mit auf den Weg.

169 Und abermals ein paar Ruderschläge weiter war die Sorge über ihn gekommen: Muß es nun just meine Tochter sein, die ihm diese Liebe mit auf den Weg gibt? Muß grad ihre Liebe selbdritt wandern mit Leid und Sorge? — Ab und zu hatte er dann einen verstohlenen Blick auf den Arzt gerichtet, als hoffte er, von dessen Lippen den Entscheid zu vernehmen, es sei das entrinnende Leben nicht zurückzuhalten.

Nun trug er die Gewißheit mit sich bergauf, daß Dresli Anderegg mit dem Leben davon kommen werde. Als ein Krüppel mußte er seine Wallfahrt vollenden. Einer großen Liebe bedurfte er jetzt zur glücklichen Vollendung dieser Wallfahrt, und diese Liebe — wer sollte sie ihm schenken?

Peter Flück setzte sich mit schwerem Seufzen auf einen Stein und sann vor sich hin. Plötzlich fiel ihm ein, die Frage ließe sich auch anders stellen. — Es kam nur darauf an, in wessen Haut man steckte. — Nämlich so: Wenn nun Isoltens Liebe gar nicht so stark wäre, daß sie sich entschloß selbdritt zu wandern? Dann — ja, dann mußte der arme Hirte seinen Weg allein gehen, und niemand durfte einst mit ihm vor den lieben Gott hintreten und sagen: wir haben das Leid geteilt; dürfen wir nun auch die Freude teilen? — Oder, wer weiß, vielleicht würde ein ander Mädchen Leid und Freude mit ihm teilen, ein armes, das nichts zu verlieren hat, ein verschüpfter Tschanggel vielleicht? — Das wäre doch ein wenig gschämig.

170 Indes der Schulmeister also vor sich hin studierte, begannen sich drüben die Spitzen des Brienzergrates zu röten, und die Gräue der Täler ward blau und purpurn. Das Himmelsgewölbe begann zu leuchten wie ein Antlitz, das großer Freude entgegenblickt. — Ja, die Sonne hat Lichts genug für alle, auch die tiefsten Täler, und Gott hat Freude die Fülle, auch für das verfinstertste Menschenkind. Wer möchte nicht sein Bote sein?

Und wie es an den Berghängen tagte, so ging auch in des einsamen Wanderers Herzen ein erquickend Licht auf ob dem Gedanken, daß seine Tochter Willens sein möchte, im Dunkel eines geschlagenen Menschenherzens das Lichtlein der ewigen Freude wieder anzufachen und zu nähren. Dazu zwingen wollte Peter Flück sein Kind nicht; aber — das stand ihm jetzt fest — in den Weg legen konnte er ihm nichts mehr.

Steiler ward der Pfad. Ungestümer schossen die Bäche durch ihre Krächen nieder. Tal und See lagen unter einer wallenden Nebelschicht, welche die hohe Bergwelt von der wimmelnden gramselnden Tiefe schied. Durch den immer noch finstern Tannwald klangen dumpf und doch melodisch die kleinen Treicheln einer Herde. Auf eine freie Alpwiese heraustretend, sah er die Rinder vergnüglich ihr tauiges Gras rupfen. Dann und wann hob eins den schweren Kopf, wedelte mit Schwanz und Ohren und streckte glotzend das triefende Maul in die Luft zu einem langgedehnten Muh, um hernach glunggelnd weiter zu grasen.

171 «Nein, ihr guten Hoopen, ich bin nicht, den ihr erwartet,» dachte Peter Flück, der mit langen Schritten und schwerem Herzen dem kleinen Hüttendorf zueilte. In dichtem Haufen belagerten die Kühe den Eingang zur Käshütte. Einzelne standen mißmutig mit übervollem Euter abseits. Aus dem gedrängten Rudel heraus schollen des Sennen derbe Scheltworte, und zwei Hüterbuben suchten mit hellem Gejohle Ordnung in die Herde zu bringen, indem sie hierhin und dorthin durch den fußtiefen Kot, durch Nesseln und Plackenstauden patschten.

Es war gar nicht so leicht durch das Getümmel zu dem melkenden Sennen vorzudringen, der kaum den Kopf umwandte, als der Schulmeister ihm den Morgengruß bot.

«Du wirst mir doch wills Gott nid ebba ungueten Bricht haben — oder?» rief der Senn, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Bei seiner armen Gottesseele schwur er, noch nie eine solche Nacht gehabt zu haben. Abends niemand zum Melken und heute Morgen nicht, wo man schon lang am Käslen sein sollte. Und abermals schwur der Küher, wenn er den Durchbrenner, den Dresli, erwische, dann solle er zu fühlen bekommen, ob der alt Anderegg noch einen Geißelstecken zu führen wisse oder nicht.

Und nun mußte Peter Flück herausrücken. Er war nicht einer von denen, die gerne müßig zuschauen. Rasch warf er den Rock in die Hütte, band sich einen Melkstuhl 172 unter, holte eine Melchter und hockte sich Rücken an Rücken mit dem Sennen unter die nächste Kuh. So ganz aus der Übung war er ja nie gekommen, da er sich immer ein Kuehli gehalten. Und nun spann sich das folgende Gespräch ab, wobei jeder, drauflos melkend, unter sein Tier hineinschrie:

«Was het’s gän? Warum chust grad du? Ist er ebba ugfeliga worden bin däm gottverflüechten Schießen? Old hei si e Schlegleten ghäben? Säg’s numen grad! Ist er no läbiga?»

«Totna ist er grad nid; aber wüest ungfeliga. Er het es Oug verschoßnes.»

«Es Oug? — So, da hed er’s jetz der Leffel. — Wa ist er?»

«Z’Hinderlachen im Spital.»

«Isch usgliffes — ds Oug?»

«Da ist nitmeh usz’loufen gsyn. Der Schutz het ihm’s grad zerschlissen. Si hei ne grad für totna wägtreit. Aber ’s cha syn, er b’chymt si umhi. D’ Dekter hei-n-ihm den Grind suber z’wäg plätzet.»

«Wer zahlt denn das?»

Der Senn fluchte in seine Melchter hinein, daß es seine Kuh fast zum Ausschlagen brachte. Das geschah nun zwar nicht; aber sie tat, was eine Kuh in solchem Fall Gescheites tun kann, sie hieb dem Sennen eins mit dem Wedel um die Ohren, daß es klatschte. Darauf neues Fluchen und: «Wenn i jetz no Chösten han sellti zum andre Schaden...»

173 «Selb gloube-n-i nid,» sagte der Schulmeister. «Das zahlt der Spital.»

«Ja, i wellti denn luegen. Der Schild-Hannes, der Braaschti, mueß ussecklen, so wahr i Anderegg-Menk bin. — Hed er wellen Lärmen han zur Hochzyt, so chan er jetz der Gstouch o han.»

Als Peter Flück seine Kuh gemolken hatte, fand er, seine Aufgabe sei reichlich erfüllt, leerte seinen Kübel in die Brente und wollte sich verabschieden. Aber nun erhob sich auch der Senn und ließ seinen Gast nicht ziehen, bevor er ihm versprochen, bei Schild-Hannes ein gut Wort für den Invaliden einzulegen. Der Schulmeister schlürfte sein wohlverdientes Kacheli Milch und lief dann eilends bergab. Noch war es recht still im Dorf, als er heimkam. Er legte sich aufs Ruhbettlein, und gedachte, einen Schlaf zu tun — wenngleich nicht einen langen — um hernach seines Amtes mit gewohnter Treue zu walten.

Nun war Peter Flück freilich über das Alter hinaus, in dem man ungestraft eine Nacht überspringen kann. Ihm träumte, er höre die Engel singen und brachte das im Halbbewußtsein mit dem Ereignis des vorigen Abends in Zusammenhang, wußte nicht, war er verunglückt und erblindet oder...

Potz Wetter! Da schien ihm ja die helle Sonne in die Stube. Die Kinder! — Die Schule! Mit einem Ruck stand er im niedern Stubelli aufrecht und blickte verwirrt durch das offene Fensterlein. — Da hielt ja 174 seine Tochter vor dem Haus Schule. Den goldenen Sonnenschein im lieblichen Gesicht, wand sie mit der singenden Schar Ringelreihen und war wie die verkörperte Lebensfreude, die der Kinder Herzen regiert.

«Wenn du wüßtest, du arms Huttelti du!» seufzte er halblaut und stand noch eine Weile mausstill, um sich an dem Bild in den neuen Tag hineinzulaben. Dann trat er auf das Läublein hinaus, seiner Tochter die Zügel aus der Hand zu nehmen. Die sah ihn wohl, ließ aber der Kinder Händlein nicht fahren, sondern lachte mit ihren Funkelaugen den Schläfer aus und sang den Reigen zu Ende. Peter ließ die lustige Lehrgotte gewähren. War es zu verwundern, daß ihm, während er ihr zuschaute, von neuem der Aberwille ins Herz schlich: Und ein solches Wesen, das mit seinen Augen allein schon die Menschen zu leiten vermag, sollte eines Hirtenbuben Weib werden?

Isolte erriet nicht, warum ihr Vater den Kopf schüttelte, als er ins Haus trat. Sie glaubte, er mißbillige ihr Treiben, und jagte bald hernach die Kinderschar in die Schulstube.

«Ist’s dir schon verleidet?» fragte der Lehrer.

«Noch lange nicht,» antwortete sie; «aber wenn’s dir nicht recht ist, Vater, so hör’ ich eben auf. Ich wollte dir ja nur die Trybete gaumen.»

«Fahr’ nur fort!» sagte er. «Es kommt mehr dabei heraus, als wenn ich mit meinem übernächtigen Kopf Schule halte.»

175 Als ob der Wind eine Brente voll Lebenslust umgeworfen hätte, so stürmte es von neuem die Läublitreppe hinunter auf den Turnplatz. Isolte blieb im Flur zurück und forschte in des Vaters Augen: «Wie steht’s um Dresli?»

«Er wird vermutlich davonkommen. Aber wie! Weiß nicht, ob’s ihm nicht besser ergangen wäre, wenn er diesem Leben hätte entrinnen können.»

«Der Schulmeister hat mit ihr aufbegehrt, weil sie so lustig mit uns gedorffet hat,» flüsterten die Kinder sich zu, als Isolte mit roten Augen wieder zu ihnen herauskam und sich auf ein neues Spiel besann.

III.

Warum geht dem Hans das Kerzenstümplein erst auf, wenn er schon alt und gstabelig ist, dem Joggi aber schon im Lenz des Lebens? — Sag mir’s, wenn du’s weißt! — Schild-Hanses Vater war genau einer von denen gewesen, die das Lied vom Brienzer Burli schildert:

Im Herbst da zieh si ds Nutzli hein
Uf ihren Horigschlitten,
Und eb si der Chäs abgladen hein,
Su hei s’ ne schon agschnitten.

Eins aber hatte er heraus­philosophiert und seinem barfüßigen Söhnlein beigebracht, wenn er’s mit den drei Ziegen den Hägen entlang schickte: Nichts gäbe es 176 auf der Welt, woraus nicht noch etwas zu gewinnen wäre. «Wäre» pflegte der Alte zu sagen. Dann stopfte er sich seine Pfeife neu und philosophierte weiter. Der Bub jedoch machte aus dem «wäre» ein «ist» und fing, schon bevor er sein erstes Paar Mannsschuhe an die Füße bekam, an, auf alles wohl zu achten, was nutzlos am Wege lag. Dadurch bekam er einen besondern Blick. Wo andere nur noch einen heillosen Schaden sahen, erkannte Hannesli eine Wieder­herstellungs­möglichkeit, und wenn ein geflickt Häfelein auch nichts Erbauliches mehr ist, so kann’s doch ein nutzbar Ding sein. Hannesli hob auf und sammelte an verborgenen Örtern erst rostige Nägel, Hufeisen, Faßreifen, und als er merkte, daß daraus wieder Geld werden konnte, hielt er auch auf Holz und Leder, Papier und Lumpen. Er merkte nebstdem, daß ein Käsrauft wieder etwas wird, wenn ihn das Säulein frißt, daß das Huhn aus verzatterten Körnlein Eier zustande bringt. Kurz und gut, Zerfall und Auferstehen wurden dem Büblein interessant, und das Interessanteste war, daß sich bei diesem wunderbaren Vorgang immer etwas zwischen herausnehmen ließ. Darauf verstand er sich von Jahr zu Jahr besser, und so ward er endlich der Schild-Hannes, dem heute die «Gemse», die Säge und die Mühle gehörten, ein Stall voll schwerer Kühe, starker Rosse, feister Säulein und gackernder Hühner, zwölf Bienenvölker und — eine reiche Frau. So aber kam es auch, daß zahllose Menschen rings um den ganzen See, die doch auch ein 177 rechtschaffen Brienzer Burli zum Vater gehabt und Geißen gehütet, es aber trotz allem Philosophieren kaum zu einer einzigen Kuh gebracht, den Schild-Hannes grimmig beneideten. Ein paar von den Gescheiteren hingegen hielten zu ihm, blieben in seiner Nähe, halfen ihm Geld verdienen und waren dann auch nicht weit weg, wenn einmal den Sparhafen des großen Mannes das Überlaufen ankam.

Und wie nun der geschickte Haushalter es mit den allerhand zerbrochenen Dingen trieb, die, sonst niemandem mehr etwas wert, in seinen Händen schließlich noch zu Gold wurden, so hielt er’s auch mit den zerschlagenen Menschen. Er hob sie auf in ihrem Elend und betrachtete sie mit seinen schlauen Äuglein um und um. Fand er an ihnen irgend eine Tugend, irgend eine Leidenschaft, die zu etwas zu gebrauchen war, so stellte er sie an ein Rad, in einen Stall oder auch an einen Tisch und lehrte sie das Goldmachen — für seinen Beutel zwar; — aber bei manchem kam doch etwas heraus, und er betrachtete seinen Ausbeuter als Wohltäter, weil er wußte, daß er ohne diesen untergegangen wäre.

Schild-Hannes hatte nicht gewartet, bis der Senn vom Wetzisboden mit seinen groben Schuhen um den See herum gelaufen kam, um mit geballten Fäusten und wilden Worten des Brienz-Königs Gnade zu erwirken. Ja, noch ehe der Schulmeister von Iseltwald über den See gefahren kam, hatte er sich nach dem 178 Anderegg-Dresli umgetan und den Halbblinden d’un noble geste in seinen Dienst genommen. Ganz Brienz war gerührt, und über Ebligen und Oberried bis nach Ringgenberg hinaus erzählten sie bald, wie schön Schild-Hannes sich des armen Ungfelligen angenommen habe. Ein Einäugiger sei nur noch ein halber Mensch, hatte mancher gesagt. Aber Schild-Hannes hatte sich das eine gesunde Auge des schlanken Mannes besehen und überlegt, daß ein rechtschaffener und kluger Knecht mit einem Auge weiter sehe, denn ein Schalk mit zwei Sperberaugen.

Dresli ward zum Fährmann und Boten bestimmt, weil er das Vertrauen des Gewaltigen gefunden hatte. Das verdroß den Sägeknecht, den Mani, der schon einige Jahre in Schild-Hanses Dienst gestanden und gerne über Land und See gegangen wäre. In jungen Jahren ein wüster Tunichtgut, hatte er über seine Eltern Schande gebracht. Dann hatte Schild-Hannes den ungeberdigen Kerl an seinen Hof genommen, weil er seine Stierenkraft brauchen konnte. Und nun meinte der Mani, weil ihn seither der Landjäger niemehr geholt, er sei der brävste von allen und niemand außer ihm sollte was gelten. Dresli aber ging still seines Weges und erlugte seinem Meister mehr als alle andern mit ihren gesunden zwei Augen.

Eines Tages zwischen Heuet und Ernte hatten Dresli und Mani an der Aaremündung Trämel eingefangen, welche das Hochwasser der Aare von einem Wald des 179 Hannes im Oberhasli herabgeschwemmt. Müde von der schweren Arbeit kamen sie von der Ländte herauf. Da saß der Schulmeister von Iseltwald mit seiner Tochter vor der «Gemse» und ließ sich bewirten. Schild-Hannes stand am Tisch, hemdärmelig, und hielt die Daumen in die Armlöcher der Weste gesteckt. Von seinen tiefliegenden Äuglein strahlte ein Bündel Runzeln gegen die gestutzten Backenbärtchen, und es lag eine feine Lustigkeit in den Runzeln. Der Schulmeister war gekommen, um sein Versprechen einzulösen, worauf der Schild-Hannes vergnüglich antworten konnte: «Da kommt er just, der Dresli.»

«Der tausend auch!» sagte Peter Flück, «hab’ gemeint, du liegest noch im Spital.»

Dresli legte die Ellbogen breit auf den Lattenzaun und lachte: «Bin schon seit vierzehn Tagen hier, und es gfallt mir bas wann uf Wetzisboden im Küehdreck.» — Das war eine Dankeskundgebung an den Meister. Man lachte und redete weiter. Der Lehrer hieß Dresli mithalten, und sie tranken zu vieren ihre halbe Maß. Aber was geredet wurde, war Nebensache. Unter den Scherzworten hielt sich ein tiefes schweigendes Weh versteckt. Kann man’s einem Mädchen verdenken, wenn es erschrickt ob dem Anblick eines zerstörten lieben Gesichtes? Ja, er sah «leid» aus, der gute Dresli. Wohl hatte der Ärzte geschickte Hand das Lid über die Höhle des entfernten Auges gezogen; aber die häßliche Narbe verzerrte das Gesicht. Wäre ich nur nicht hierher 180 gekommen! dachte Isolte, dann hätte ich ihn in schönem Besinnen behalten. An seine lieben blauen Augen hätte ich mich erinnern dürfen wie an ein Stück sonniger Kinderzeit. Beweint und beklagt hätte ich ihn, aber meine Längizyti nach ihm wäre in allem Weh etwas Wohltuendes geblieben. Dem Mädchen war, als müßte es dem armen Burschen etwas Liebes sagen; aber es fiel ihm in aller Welt kein Wort ein, das nicht hohl geklungen hätte. Darüber ward es mißmutig und blickte so wenig wie möglich nach dem zerstörten Gesichte hin, in dessen einem Auge es die Frage zu lesen fürchtete: «Gelt, jetzt bin ich dir nichts mehr?»

Das war aber auch der einzige Gedanke Dreslis. Nach allen Richtungen hatte er schon während der langen Spitaltage die Folgen seines Unglücks sich ausgesonnen und dabei gedacht, daß er Isolten werde preisgeben müssen. Aber das alles war nur ein blasses Überlegen und Vorstellen gewesen, an das sein Herz doch nicht so recht glauben wollte. Jetzt hingegen stand die gefürchtete Erfüllung seiner Sorge leibhaft vor ihm. Hatte er in seiner angeborenen Leichtlebigkeit gedacht, so groß wäre der Unterschied gegen früher nicht, so ward er’s nun in grausamer Klarheit inne, daß er mit der Hälfte seiner Sehkraft auch den ganzen Auftrieb seiner Lebenslust eingebüßt habe. — Da wollte ihm der Glaube erlöschen.

Auch Peter Flück legte sich’s eng um das Herz, und er strengte sich an, durch vieles Reden über die 181 Bangnis hinwegzukommen. Schild-Hannes streckte im Bewußtsein, daß einzig er dem harten Schicksal seines Knechtes etwas abgemarktet habe, sein Bäuchlein recht rundlich heraus, worüber ihm keineswegs entging, daß der Schulmeister ein ungewöhnlich hübsches Kind habe. Und wie er denn gar nicht anders konnte, als ein jeglich Ding, das ihm vor die Füße kam, nach seinem Nutzeffekt einzuschätzen, so kreiste Isolte auch schon auf den Fittichen von Hannesens Phantasie in kühnen Bogen über dem See. Er sperberte nicht lange; aber dem Schulmeister sagte er einstweilen noch nicht, wo er mit der schönen Last niedergehen würde.

Als Peter Flück von den runden Armen seiner Tochter durch den im Abendrot glühenden See gerudert, wieder zwischen Erlösung und Mitleid schwankte, schlich Anderegg-Dresli zur Säge hinauf und machte sich dort zu schaffen. Mani, der Sägeknecht, hatte längst die Arbeit eingestellt. Er tat das mit ruhigem Gewissen, denn in der Säge gab es nicht nach Stückzahl abgemessene Tagwerke. Solange die Trämel zu haushohen Haufen getürmt lagen, blieb für Bach und Menschen genug zu tun. Also ließ man sich die Feierabendstunde durch die Turmuhr der Kirche vorschreiben und hatte seine Ruhe. Was brauchte nun der Einaug noch zu werken? Mani ahnte nicht, daß Dresli seine Feierstunden nur zu kürzen trachtete, um nicht mit seinen trüben Gedanken allein zu sein. Er lief zum Meister und verklagte seinen Kameraden, der hätte überhaupt 182 in der Säge nichts zu schaffen. «Laß ihn machen!» sagte Schild-Hannes, «er wird schon aufhören, wenn er nicht mehr mag.»

Der Brienz-König war nicht vom Achtstundentag reich geworden. Bei ihm hieß es wirken, solange der Tag währte, die Nacht brauchte er zum Schlafen und die Dämmerung zum «Spinnen». Er spann feine, lange Fäden. Die liefen von der Handegg bis nach Unterseen und rings um den See, um Äcker, Bäume und Häuser, aber auch um Menschen. Ließen sie sich einspinnen, so ging es Hannes wohl und den Eingesponnenen nicht übel; zappelten sie, so gab es ein Ghürsch, in dem der Spinner sich gewöhnlich besser auskannte als die Gefangenen.

Peter Flück und seine Tochter schwammen mitten auf dem See im Glutstrom der sinkenden Sonne und dachten gar nicht ans Zappeln, trotzdem sie gehörig in den Fäden waren. Und es ging ihnen auch nicht übel. Schild-Hannes hatte sich die Sache so ausgedacht: So ein klug und hübsch Meitschi gehörte zu einem tüchtigen Mann, und dieser Mann wohnte im Oberdorf und war des Brienz-Königs Neffe und Göttibub und seit Jahren fest eingesponnen. Wider diesen Plan konnte der Schulmeister nichts haben; es sollte ihm dabei wohl ergehen. Auch er kam so ins Gespinnst, und Hannes gewann an ihm einen Verfechter seiner Sache auf der Gießbachseite. Damit aber das Meitschi seiner Aufgabe gerecht werden konnte, mußte es in eine entsprechende 183 Lehre. Ins Gießbachhotel wollte Hannes es placieren. Damit leistete man dem Wirt daselbst einen Dienst, der einen gelegentlichen Gegendienst wert war. Gelang alles gut, so kriegte der Göttibub eine perfekte Wirtin zur Frau, und das Hotel stand in Hanses Kopf schon auf der schönsten Warte des Amtsbezirks.

So liefen die Fäden vorerst nur in des Spinners Hirnkasten. Waren sie aber einmal dort angedreht, so dauerte es gewöhnlich nicht mehr lange, bis die Leute daran nach Programm tanzten. Ein paar Wochen nur verstrichen seit jenem Hock vor der «Gemse», und Isolte Flück war im Gießbachhotel angeworben. Ein klein wenig Überwindung hatte es Peter Flück schon gekostet, sein Töchterlein aus dem Hause zu geben. Aber er mußte doch einsehen, daß solch eine Lehrzeit Isolten einen sonnigen Pfad durchs Leben öffnen konnte, wenn er auch nicht ahnte, daß drüben in Brienz ein königlicher Göttibub auch auf diesen Pfad gereiset wurde.

Lange wußte Dresli Anderegg nicht, wo seine Jugendfreundin hingekommen war, und wenn er, sein Botenschiff dem Ufer entlang rudernd, immer wieder vergeblich nach ihr ausspähte, so ward er von neuem inne, wieviel von seinem Augenlicht er eingebüßt. Oft verwünschte er den Tag von seines Meisters Hochzeit und meinte, es wäre ihm wohler, wenn er tief da drunten im grünen Wasser läge.

«Wo zum Guggerschieß ist denn das Isölti hingekommen?» 184 fragte Dresli einmal den Schulmeister, als er ihn auf dem Markte zu Brienz traf.

«Das Isölti?» wich Peter Flück aus. «Das ist in der Fremdi zum Lernen. Weiß nicht, ob es je wieder zu mir heimkommt, so gut gefällt’s ihm dort.»

Dresli merkte wohl, warum der Schulmeister mehr nicht verraten wollte. «Verhan wollt’ er mir das Meitschi,» sagte sich der Invalide, «und Oug han i bloß no eis zum suechen; aber i wollt’ doch guggen, ob d’Liebi’s nid mag b’sien».

Eines Tages nun, als die Wildrebe schon blutrot über die braune Holzwand der «Gemse» hing und gegenüber die Felsbastionen der Hinterburg vom ersten Schnee verzuckert erschienen, mußte Dresli seinen vielgeschäftigen Meister nach dem Gießbach hinüberrudern. Das war nichts Auffallendes; denn Hannes hatte oft dort zu tun, und dem Schiffer hatte das nie zu denken gegeben. Diesmal aber war doch etwas Besonderes dabei.

Erquickend warm schien die Herbstsonne, als Dresli auf die weiße Linie zusteuerte, welche der schäumende Wasserfall in die schattenblaue Waldbucht zeichnet. Schild-Hannes hockte im Spitz und schien in der wohligen Wärme, die seinen leicht gekrümmten Rücken streichelte, eingenickt zu sein. Vermutlich «spann» er. Näher und näher scholl das dumpfe Brausen der stürzenden Wasser, beruhigend und einschläfernd. Der Meister schien einen Punkt im grell besonnten Schiffsboden zu fixieren, als plötzlich ein wilder Jauchzer des Ruderers 185 über sein eingesunkenes Haupt hinwegfuhr und in herrlichem Echo von Fels und Wald zurückscholl. Ungehalten war der Blick, den er auf den Halbblinden warf. Dresli hatte seinen Haltepunkt verändert. Nicht mehr der zur Gischtwolke ausgewachsene Strich des Wasserfalls gab dem Kiel die Richtung, sondern ein anderer weißer Strich. Der hatte die Form eines Menschen und stand gar lieblich zwischen den Bäumen des Ufers. Dresli hatte Isolten auf eine Entfernung erkannt, die nur ein scharfes Auge durchmaß. Als der Bug auf die Brügi stieß, wechselten die Jugendfreunde einen frohen Gruß; aber zu Weiterem ließ Schild-Hannes es nicht kommen. Das rührige Männchen stand schon auf festem Boden, als Dresli seine Rudergriffe noch in den Händen hielt. Und noch ehe er seinem Meister nach ans Ufer sprang, die Schiffskette nach sich ziehend, hatte Hannes an der Seite des schmucken Jungfräuleins den jäh ansteigenden Pfad gewonnen.

Dresli blickte dem sehr ungleichen Paar nach, bis es in einer Biegung verschwand. Dann setzte er sich, den Kopf in die Hand gestützt, auf ein Bänklein an der Landungsstelle. Aber nicht lange litt es ihn da. Entschlossenen Schrittes trat er wieder in das Schiff und begann in der kleinen Bucht zu kreuzen. Schärfer hatte vom See aus noch kein menschliches Auge den Wald abgesucht, durch den in vielen Windungen der Weg zum Gießbachhotel hinaufführt. Noch sah der Schiffer das Paar auf schmalem Steg die Wasserstaubwolke 186 des Baches passieren, dann verschlang sie der Tann. Aber Dresli hörte nicht auf zu spähen. Und indem er darüber nachsann, was Schild-Hannes mit Isolte vorhaben mochte, tauchten seine Gedanken in die ferne sonnige Vergangenheit, in die Zeit, da jeder Tag es darzutun schien: Dresli und Isolte gehören zusammen. Von der Sturmnacht, in der er das schlaftrunkene Kind dem Tod in der Runse entrissen, durchging er in süßer Marter all ihre Begegnungen bis zu der schmerzvoll seligen Stunde, da er, verbunden im Schiff liegend, Isolte um sein Leben jammern gehört, und bis zu dem furchtbaren Augenblick, der ihm die Folgen seiner Entstellung so grausam zum Bewußtsein gebracht. Damals hatte er den tapfern Entschluß gefaßt, Isolte einem unverkümmerten vollwertigen Manne zu überlassen und seinen Weg in Gottes Namen allein zu gehen. Dieser Verzicht hatte seinem Leben neue Kraft gegeben. Er glaubte schon mit seinem Schicksal sich ausgesöhnt, die Sehnsucht nach dem lieben Mädchen überwunden zu haben. In nüchternen Stunden rückender Arbeit war er sogar herzlich froh darüber, daß Isolte aus seinem Gesichtskreis verschwunden war. Er schämte sich beinah, daß er den Schulmeister noch einmal nach ihr befragt. Heute aber, da ein Anderer in das Leben des Mädchens einzugreifen schien, ging Dresli ein Licht darüber auf, warum er über ihr Verschwinden fast froh gewesen. War es nicht bloß deshalb, weil er doch noch mit seinem ganzen Herzen an ihr hing?

187 Ganz unvermutet war sie vorhin aus dem Waldesdunkel in seinen verengerten Gesichtskreis getreten — wie ein Märchen. Aber wirklich wie ein Märchen — verfeinert, sozusagen in eine andere Welt gerückt und für ihn unerreichbar geworden. — Nun denn! Sollte er sich nicht noch einmal aufraffen und sagen: Fahr hin, wie meine Jugend und meine Manneshoffnung!?

Dresli lachte bitter über sich selbst; er wußte ganz bestimmt, daß er mit all diesen schönen Vorsätzen seine Liebe doch nicht zu ersticken vermochte. Und nun drehte sich sein auflebender Groll gegen den, der in Menschengestalt sein Schicksal in die Hand genommen hatte. Sein Wohltäter war der Schild-Hannes. Alles vermochte der. Einen mächtigen Freund und Beschützer hatte er in ihm gewonnen; aber hatte der Brienz-König auch ein Recht über seines Knechtes Liebe? Konnte man von Dresli verlangen, daß er stillschweigend zuschaue, wie Isolte einem andern zugespielt wurde?

Schild-Hannes war aber kein schlechter Mensch. Es war ihm längst hinterbracht worden, daß sie ihn den Brienz-König nannten, andere sogar den Hasli-Herrgott. Gut, sagte er sich, ob König oder Gott, eines armen Burlis Sohn wird nie der Armen vergessen, und was königliches oder göttliches ich an ihnen tun kann, soll mir Pflicht und Freude sein. Schelm bin ich keiner.

Das gewaltige Männlein empfand gar keine Freude, als es nach einer Stunde wieder den Berg herabgetrabt kam und den Schiffer so düster blickend fand. 188 Auf der Heimfahrt fixierte er nicht einen Nagel im Schiffsboden, sondern das Gesicht seines Fährmanns. Und wider den anklagenden Blick des liebekranken Einauges verteidigte er sich vor seinem Gewissen wie gewohnt: «Wart nur, Dresli! Ich bin kein Schelm.» — Ganz, als ob er des Schiffers Entschluß von dessen Stirne gelesen hätte: «In den See geh ich, wo er am tiefsten ist, wenn du mir meine Liebste stiehlst.»

Der Brienz-König spann weiter, und wär’ er wirklich auch nur ein wenig Gott gewesen, so würde er keinen Faden lätz gesponnen haben, geschweige denn, daß er sich selbst darein verwickelt hätte. Aber auch das Wohltun ist keinem Menschen schrankenlos anheimgegeben.

In einer lauen Hornernacht blinzelten die schwarzbraunen Heuschoberlein unter ihren fußdicken Schneekappen verwundert über die Wächten. Grau lag der Seespiegel, und die Tannen ragten schwärzer als je aus dem weißen Mantel. Da ritt ein gar seltsam Brienzer-Burli auf magerer zottiger Geiß dem See entlang. Das Burli hatte die Kappe tief über den hohläugigen Schädel gezogen und klapperte mit den Zähnen, die an keiner Süßigkeit mürbe geworden. Aus dem zerrissenen Hemde leuchteten blanke Rippen, und mit der beinernen Ferse spornte der kleine Reiter die Geiß. Er trug in der Rechten eine Sichel, gebogen wie ein Geißenhorn. Was willst mähjen im Horner? riefen ihm spottend die Tanngrotzen von den Flühen nach.

189 «Was im Maien gepflanzt ist,» antwortete das klappernde Burli. «Habt ihr’s nicht donnern gehört an den Wänden, he? — Ist nicht das Gras blutrot geworden? Zum ersten Leid gehört ein zweites und drittes. Bhüet Gott.» Und weiter träbelte das klefelnde Mähderlein, hurtig, hurtig. Und nach drei Tagen verkündeten allen gesponnenen Fäden entlang, von der Handegg bis nach Unterseen die Glocken von Brienz, daß dem König ein groß Leid geschehen. Der schönste Faden, den er zeitlebens gesponnen, lag zerschnitten, von scharfer Sichel. Schild-Hanses Gattin legten sie mitsamt ihrem Erstgeborenen zu Füßen der Kirche in die hartgefrorene Erde.

Und als Schild-Hannes, der Glückesmächtige, heimkam in seine Wohnstube, da ging es ihm wie im vorigen Sommer dem Dresli Anderegg: er ward auf einmal inne, was er an Licht eingebüßt hatte. Er setzte sich auf die Fensterbank, stützte den Kopf in die Hände und probierte weiterzuspinnen. Aber weil ihm niemand dazu sang, wollte ihm lange lange kein Faden mehr gelingen.

Der Föhn räumte auf, und der Frühling lief mit Frohlocken am Ufer hin und schöpfte Grün die Fülle aus des Sees Tiefe. Heller und lieblicher ward die Welt mit jedem Tag. Aber dem Schild-Hannes gelang das Spinnen nicht mehr. Alle seine Fäden wehte ihm der Wind nach dem stillen Hügel hin, wo das Kirchlein drauf steht. Da sagte sich Hannes: «Es muß mir 190 jemand singen, dann laufen meine Fäden wieder nach meinem Herzen. Eine Spinnerin muß ich haben, und das eine lustige.»

Und eh’ er sich’s versah, war Hannes in sein eigen Gespinst verhürschet. In seinem Besinnen tauchte eine Sängerin auf, dort drüben aus dem dunklen Tannwald, im lieblichen Regenbogenglanz des Wasserfalls. — Im Oberdorf, ja da wohnte der Göttibub. Der — ach, der war noch jung, der konnte warten.

Aber da drunten lief eben der Anderegg-Dresli vorbei. Der — ja, ja! «Schelm bin ich keiner, ganz gwuß nit. Wäder ds Hemli isch dem Lyb necher wan d’Hosi. Häb’s nid ungäre, Dresli.»

Zur Ehre des kleinen Gewalthabers muß es gesagt werden: er gehörte nicht zu den Leuten, welche ihre anfechtbaren Unternehmungen mit schönen Vorsätzen rechtfertigen, die von vornherein bestimmt sind, nie in die Tat umgesetzt zu werden. Sollte Hannes dem armen Burschen zumuten, daß er ihm, seinem gefährlichen und aller Wahrscheinlich­keit nach siegreichen Rivalen, den postillon d’amour mache? — Übrigens traut kein Oberländer dem andern zu, daß er solchen Dienst ahnungslos leiste. — Durch eine regelrechte Beförderung sollte Dresli aus dem zarten Gespinste losgewickelt werden. Schild-Hannes gründete die erste Rheederei auf den idyllischen Gewässern seines Reiches, und Dresli wurde zum Admiral der Handelsflotte ernannt. Vorerst bestand diese nur aus einem Schiff. Ein braver Nauen 191 wurde gebaut, der seine dreißig Zentner ohne Gefahr trug. Ein Segelbaum verkündigte, daß Schild-Hannes nun auch die Winde des Haslitales sich dienstbar machen werde. Mit diesem währschaften Nauen sollte Dresli von Dorf zu Dorf fahren und den Handel in Gang und tunlichst in Hanses Hand bringen. Das Fährgeld sollte dem Invaliden gehören. Hannes wollte sich aus dem Ertrag des Handels bezahlt machen.

Beide waren’s zufrieden, und je toller der Wind Dreslis Segel blähte, desto vergnügter blickten seines Oberherrn verliebte Äuglein, besonders wenn er vom Rinden-Kabinetli ob dem Gießbach seinen Kauffahrer zwischen Ringgenberg und Bönigen kreuzen sah. Das weiße Segel gab der Landschaft einen neuen Reiz. Wenn es so majestätvoll durch das Geglitzer der Wellen­silberlinge hinglitt, so tat Hannes einen andächtigen Zug aus seinem Weinglas und sürmelte vor sich hin:

O simpli sampli si
O fäseli duseli da.
Es isch kei Narreti
Es Brienzer Biirli z’sin.

IV.

Peter Flück saß an einem stürmischen Apriltage in seiner Stube und schnitt Gänsefedern auf Vorrat für die Oberschule, als unversehens und sehr heftig die Türe aufflog. Der Schulmeister glaubte, ein Wetterstoß habe 192 sie aufgedrückt, denn es blies kalt in seinen Nacken. Aber während er just einen geschickten Hick fertigzog, war ihm doch, es sei etwas Lebendiges hereingeflogen, und wie er über die Brille hinweg nach dem Ruhbettlein sah, saß dort, halb hingeworfen, sein Töchterlein und heulte und lachte durcheinander. Nur mit den Augen fragte der Vater nach dem Sinn dieses Aprillenspuks.

Da heulte Isolte heraus: «Der tusig Gotts Willen, Vatter. Zur Frau han wollt’ er mi.»

«Wer eso?»

«He der Schild-Hannes.»

Nun gab’s auch in des Schulmeisters Gesicht ein wunderlich Spiel. Erst wollte er sich’s nicht anmerken lassen, welch ein Himmel ihm aufging. Um das Isölti wollte ihn schier das Grännen ankommen; aber wenn er an die äußere Zukunft seiner Tochter dachte...

Was sollte bei dieser seltsamen Verfassung seines Gemüts anderes herauskommen als das große feuerrote Schnupftuch aus der Tischschublade? Und was er damit aus seinen Runzeln auftupfte, waren’s Perlen der Freude oder des Leides? Als Isolte das sah, wußte sie erst recht nicht mehr woraus und worüber, kam und setzte sich auf des Vaters Knie, schlang ihre Arme um den alten Kopf und schüttelte ihre schwarzbraunen Ringellöcklein gar wunderlich.

«Dumms Meitschi,» machte sich endlich der Alte Luft, «so freu’ dich doch!»

193 «Wenn ich’s nur könnte!» sagte Isolte.

«Warum solltest du dich denn nicht freuen können? So manches Meitschi z’ringum sein Gesicht im See beschaut, so manches würde dich beneiden. Denk doch! Ds Schild-Hanses Frau ist Königin im Land.»

«Bin eben ein einfalts Meitschi und keine Königin. Wollt lieber eines braven Mannes herzwarmer Schatz und Hausmütterli sein.»

«Aber denk doch! So aller Sorgen ledig, sein Lebtag. Was willst mehr! Und dem Schild-Hannes seine Frau kann hunderte von Menschen glücklich machen.»

«Mir würd’ es halt doch mehr gelten, könnt’ ich einen glücklich machen. Den aber ganz.»

«Wer sagt dir denn, daß du Schild-Hansen nicht glücklich machen würdest? Denk doch! Der hat ein schwer Leid zu tragen gehabt um seine erste Frau.»

Isolte schien sich besinnen zu wollen. «Das freilich schon,» sagte sie wie in einen Traum versinkend. Dann schwieg sie lange. Das Wort vom Leid just hatte sie stille gemacht. Es war ihr, als hörte sie den Vater vorsagen: «Du wogst mein Glück, du wogst mein Leid...» Sie stand auf und blickte durch das Fenster, als sähe sie da draußen etwas Besonderes. Aber sie würde auch dann nichts gesehen haben, wenn ein ganzer Jahrmarkt auf dem Turnplätzlein sich gedreht und verorgelt hätte. Nur einen zerschlagenen Menschen sah sie in ihren Gedanken. Schon war Peter Flück im Begriff, seine Federschneiderei wieder aufzunehmen, als das 194 Mädchen sich plötzlich nach ihm umwandte und sagte: «Weißt Vater, daß es mir bei dem Hannes gut ginge und auch dir die Sorgen abgenommen wären, mag sein; aber ich hab halt doch mit dem Dresli das Glück aus dem gleichen Tüpfi gelöffelt. Sollte ich ihn nun die böse Ruumi allein ausessen lassen? War ihm vordem Glücks genug für zwei zugewogen, so wird wohl auch sein Unglück für zwei gemessen sein.»

Der Schulmeister wischte sich umständlich die Nase. Dann würgte er heraus: «Hab’ wohl gewußt, daß du ein braves Meitschi bist; aber ich möchte doch nicht, daß du dir zuviel zutraust. Schau, das Leben ist lang und leichtet mit dem Alter nicht.»

«Ja,» sagte Isolte, «aber niemand kennt des Lebens Länge besser als der, der uns Glück und Leid zuwägt.»

«Je nun,» lenkte der Vater ein, «wenn Du’s von der Seite nimmst, so kann’s dir nicht fehlen. Da rede ich dir gar nicht drein. Du hast übrigens Zeit, dich zu besinnen.»

«Eben nicht lang,» sagte Isolte. «Der Hannes will Bescheid haben.»

So gab es denn bis zum Abend noch viel Besinnens und Überlegens; aber jedes von den beiden tat das für sich, und es webte in dem traulichen Schulhaus jene gottfrohe Friedensstille, die nach einem großherzigen Verzicht in Menschenherzen zu walten pflegt. 195 Wenn Isolte sich überlegte, was Großes sie an dem armen Dresli zu tun entschlossen war, so kam’s ihr vor, als würde ihr der wackere Bursche von Stunde zu Stunde lieber und ginge die Sonne eines stillen Glückes immer größer über ihrem Herzen auf. Aber des Schulmeisters Töchterlein war bei aller Reife doch noch ein Kind und konnte das große Erlebnis mit dem Hannes nicht für sich behalten. Wie es eigentlich geschehen konnte, vernahm Peter Flück nie, daß die Base Luise, Isoltens Gotte und freiwilliger Beistand in weiblichen Angelegenheiten, andern Morgens im Aprillen­rieselsturm gezwirbelt kam, um und umgetrieben von der Nachricht, daß Schild-Hannes des Schulmeisters Eidam zu werden begehrte und daß Isolte Babis genug sei, sich noch zu besinnen.

«Ü — ü — ü» pustete die Base, «denk doch, Peter! Wenn einem das Glück so ungsinnet grad an eim Pätsch über ds Hüsli kommt — ü — ü! — Und das Babi, das Dolders, macht noch Komplimente. Jesis Gott, man weiß ja gar nicht, was man von so einem denken soll.» Die Base fuhr sich dabei mit den abgewerkten Händen so sinnlos um den Kopf herum, daß Peter Flück vor allem sich fragte, was von ihr zu denken sei. Noch hatte er keine Antwort gefunden, als sie weiter sprudelte: «Weiß schon, weiß schon, den Dresli hat’s noch immer im Kopf, aber ü — ü — wenn eins Schild-Hansen haben könnte und würde dem einen Hirtenbuben vorziehen! Es weiß nicht, was es tut, noch denkt. So 196 einer, wo von allem immer nur das Halbe sieht. Dem könnte es ja nie genug aufstellen, und was alles so einem entgeht!»

«Ei nun,» spaßte Peter, «das wäre für ein jung Fraueli noch nicht einmal das Leideste; aber...»

«Aber denk doch, Peter! Denk doch! Die Leute würden ja irr an dir.»

Wenn man einem armen Dorfschulmeister die Speckseite so nah vor die Nase hängt, ist es ihm nicht zu verargen, daß ihn schließlich danach gelüstet. Er war in seinen Entschlüssen schon etwelchermaßen erschüttert, als die Base endlich von ihm abließ und ihr ü — ü gedämpft von des Nachbars Pflanzplätz herüberklang. Und nun ging’s mit der großen Mär wie mit dem Feuer im Föhnsturm. Eine Stunde lang geht’s die Dorfgasse entlang, dann wendet es plötzlich und fährt über die bisher verschonten Dächer, um hernach in unvermuteter Richtung dem Dörflein den Rest zu geben. Steuri-Bäbeli und Bohren-Änni hielten am Brunnen Meinungsaustausch, Gaden-Marei und Brantschen-Bethli hinter des Wirts Speicher. Alle fanden bald Mittel und Weg, dem Schulmeister und seiner Tochter Glück zu wünschen, denn daß man z’Grechtem eine solche Partie ausschlagen könnte, lag weit außerhalb des Fassungs­vermögens der öffentlichen Meinung. Je länger desto weniger wagte sich Isolte mit ihrem tapferen Vorsatz ans Tageslicht, und nach einigen Tagen wunderte sie sich selbst über ihre «Wunderlichkeit» gegen 197 das große Los. Als sie nach vierzehn Tagen wieder ins Gießbachhotel hinaufging, um bei den Vorbereitungen für die Saison zu helfen, ward sie aus allen Türen und Fenstern als die beneidenswerte Braut des großen Hannes willkommen geheißen. Nun bekam sie’s zu fühlen, was das ausmacht. Und es hätte den zwiefachen Mut gebraucht, um zu sagen: «All der Reichtum sagt mir nichts.» — So gefeiert sein, ist halt doch schön.

Ab und zu kam jetzt Hannes herüber. Er kramte Isolten allerhand, bewirtete sie und redete von großen Plänen. Seinen Zärtlichkeits­anläufen gegenüber blieb Isolte sehr zurückhaltend, und das gefiel dem Hannes ausnehmend gut. Er wußte dem Schulmeister nicht genug zu rühmen, welch ein wohlgezogenes Kind seine Tochter sei. Manchmal freilich hätte er etwas mehr Eingehen auf seine Galanterie gerne gesehen. Aber man sollte nicht meinen, er wisse den edlen Anstand nicht zu schätzen. Nur so ein Müntschi — das wohl — das hätte er nicht verschmäht. Das wollte er jetzt einmal haben, und drum führte er Isolte an einem herrlichen Maientag in das Rindenkabinetli, von wo man an die dreißig Äcker und Häuser zählte, die Hansen gehörten oder zinspflichtig waren. Seine Äuglein blinkten. Aber ihm war, als müßte er Isolten immer weiter in die Sonne seines Glückes hinausziehen, weil immer noch ein Schatten auf ihrer Stirne lag. «Das ist auch meins,» sagte er aufleuchtend, als drunten auf dem See das Frachtschiff auftauchte. Da verfinsterte sich aber des 198 Mädchens Gesicht noch mehr, und nach Küssen sah es schon gar nicht mehr aus.

Aha, dachte Hannes, und eine Ahnung setzte sein «Spinnrad» in surrende Bewegung. Merken ließ er sich nichts, sondern nahm in aller Holdseligkeit Abschied, noch einmal ohne sein Müntschi. — Aber jetzt mußte etwas gehen.

Noch vor Ablauf einer Woche klagte Hannes dem Schulmeister, er halte es nimmer aus, von Isolte so weit getrennt zu sein. Am nächsten Dienstag sei großer Markt in Brienz, da sollte er seine Tochter herüberbringen. Wohnen könne sie bei Hanses Tante in Ebligen. Am Sonntag drauf könnte man verkünden lassen. Es müsse jetzt ohnehin rücken, denn die vielen Geschäfte erlaubten Hansen nicht, all Bott über den See zu schifflen.

«Je nun,» sagte Isolte mit einem Seufzer, als ihr der Vater diesen Bericht brachte, «einmal wird’s sein müssen. So kann’s nicht immer fortgehen.» Sie zog ins Schulhaus hinunter, rüstete mit der Base das Tröglein mit der bescheidenen Aussteuer und hielt sich bereit. Am Montag Abend saßen Vater und Tochter zum letztenmal beisammen im heimeligen Stubelli und redeten einander allerhand vor, um sich über die trüben Gedanken hinwegzuhelfen. Als sie sich trennten, kam der Vater noch einmal gelaufen. Er hatte sein großes Taschentuch in der Tischschublade vergessen. Isolte aber stand in ihrer Kammer noch lange vor dem schönen 199 blauen, mit Blumen reich bemalten Tröglein, das offen auf zwei Stühlen stand. Grad wie ein Sarg, dachte sie. Muß da meine Freude hinein? — Und sie ließ den Deckel noch offen.

Seit Sonnenaufgang lag Hanses Nauen in der blustumkränzten Bucht von Iseltwald, und der Kapitän ging im Dorf hin und her, den Marktfahrern zu helfen. Hannes selbst konnte natürlich an einem solchen Geschäftstag ersten Ranges nicht von Brienz fort und wartete dort inmitten all seiner Kunden, Lieferanten und Tribut­pflichtigen mit Ungeduld des großen Augenblicks, da seine Brigg aus dem Bergschatten tretend, in Sicht kommen würde. Nicht daß er diese Ungeduld seinen Leuten zu verhehlen außerstande gewesen wäre; aber ausgekommen war die Sache doch. Und die Kanoniere hatten ihre Katzenköpfe heimlicherweise ob dem Dorf in Batterie gebracht. Daß Hannes ihnen das Salutschießen verboten hätte, konnte man annehmen; aber deshalb verzichtete man noch nicht auf die Gelegenheit, ihn zur Erfüllung seiner Repräsentations­pflichten — Ehrenwein! — zu verhalten.

Aber auch in Iseltwald war das Gerücht von Isoltes Brautfahrt von Haus zu Haus gegangen, und nun wollte auf einmal alles z’Märit. Weiber, die überhaupt nie an dergleichen gedacht, entdeckten plötzlich etwas, das ihnen mangelte oder irgend ein Gut, das verkauft werden konnte. Dem Bäbeli Steuri mußte Dresli ein Stücki Gewobenes ins Schiff tragen. Bohren-Änni 200 rüstete einen Korb mit Eiern, Brantschen-Bethli war eine Korbflasche Enzianwasser feil. Dann erscholl die Dorfgasse vom Gequietsch eines Ferkelchens, das Dresli für Gaden-Marei mitnehmen sollte. Es kam in einen Korb neben Tännler-Kaspars Geißen, und so ging es fort, bis Dresli erklären mußte, mehr vermöge sein Schiff nicht zu fassen. Das gewichtigste Stück kam ja noch, und dem hatte er einen Ehrenplatz freibehalten — das himmelblaue Tröglein!

Ja, Dresli hatte längst erfahren, was ihm Schmerzliches bevorstand. Daß er gegen Hanses Übergewicht nie und nimmer aufkommen würde, hatte er eingesehen. Hart und bitter war’s ihn angekommen. Aber einmal konnte er seinem Meister und Wohltäter auf die Länge doch nicht trotzen, und wenn die Heirat mit dem Gewaltigen solch großes Glück war, wie die Leute sagten — sollte er das seinem Isölti mißgönnen? — Diese Überlegungen waren nicht billige Eingebungen eines Augenblicks. Auf mancher einsamen Fahrt, in stillen, schmerzenreichen Nächten hatte Dresli eins um das andere errungen, mit viel viel gutem Willen, mit Aufwendung aller Kräfte, die seine Mutter, der Alte vom Wetzisboden, der Pfarrer und der Lehrer mit ernsten Worten in seinem Herzen angepflanzt. Als ein Sieger war er dann endlich an diesem Morgen in die Bucht gesteuert. Wie er Wind und Wasser gezwungen, so wollte er sich selbst zwingen, seinem Herrn ein treuer Knecht zu sein.

201 Wie nun aber Dresli zum Schulhause hinaufschritt, die teure Last zu holen — sein Kreuz — da dünkte ihn, als regte sich eine noch größere Kraft, in ihm, eine, die seinem Willen sich nicht beugen wollte. Und doch — und doch — jetzt galt’s. Dresli wollte den Segen seines Verzichtes nicht fahren lassen. Fest biß er die Zähne aufeinander.

Als er in die Küche des Schulmeisters trat, da lehnte Isolte, von Jammer durchzuckt, am Pfosten der Kammertüre. Die Freundin seiner Jugend barg ihr sonst freudesprühendes Angesicht ans altersdürre Gebälk ihres Vaterhauses und zerfloß in Tränen.

In tiefster Verwirrung stand Dresli mitten in der Küche. Fragend wandte er sich nach dem hinter ihm eintretenden Schulmeister um. Diesen packte ob dem Anblick der jungen Leute das Gefühl: Hier hast du nichts zu tun. Er wollte sie allein lassen, als zu seinem Erstaunen Isolte den Dresli am Ärmel in die Kammer zog, zum Tröglein, als wollte sie in tapferem Entschluß den Fährmann zur Erfüllung seiner herben Ritterpflicht auffordern. Wozu aber warf sie denn hinter ihnen die Türe zu? Er hörte von drinnen neben ein paar halblauten Worten ein Geräusch wie vom Aufsperren des Trögleins. Er ging hinaus und träppelte langsam der Ländte zu. Im Sonntagsstaat kam er des Weges, wie es sich schickte: In der halbleinenen Speckseiten­kutte mit Vatermördern. Sein ergrautes Haupt deckte ein majestätischer Strohzylinder. Das am Ufer versammelte 202 Volk der Marktfahrer und der Neugierigen fand nichts Besonderes an dem ungewöhnlich ernsten Gesichte des Lehrers, der sich anklagte, das Glück seines Kindes durch seine Nachgiebigkeit gegen die Base aufs Spiel gesetzt zu haben. Sie schauten alle an ihm vorbei, da sie nun auch die beiden jungen Leute kommen sahen. Voraus schritt Dresli, das Tröglein auf der starken Schulter. Isolte, so däuchte die vielen Weiber, sah lieblicher aus denn je: Wie gut stand ihr doch die so einfache Tracht! Und das liebreizende Gesichtlein. Ein wenig verweinte Augen — just, wie es sich schickte. Aber ein schelmisches Lächeln lag in den dunkeln Sternen. — Ja, wenn man solch großer Zukunft entgegenging!

In stiller Bewunderung sahen die einen den gewandten Dresli hantieren. Es sei doch schön, wie der arme Bursche nun auch dieses Ungfell auf sich genommen habe, flüsterte Marei ihrer Nachbarin zu. Ja, meinte die, so schwer wie an diesem Tröglein habe der gewiß in seinem Leben noch nie getragen.

Als endlich Weiber und Männer, Geißen, Färli, Hühner und Sachen richtig verladen waren und das Bräutlein auf seiner Truhe saß, stieß Dresli ab, sprang in das Heck und faßte die Ruder.

Ein zarter Nebelschleier lag auf dem See, und es war empfindlich kühl. Um so mehr regte sich das Bedürfnis des Gedanken­austausches. Die Weiber holten ihre Strickstrümpfe hervor; aber lebhafter noch als die Finger rührten sich die Zungen, so daß anfänglich kein 203 Mensch sich der Fahrt achtete. Kaspar Tännler, ein steinalt Mannli, fragte Dresli, ob er nicht segeln wolle. Aber Dresli sagte: «No nid. Ebben denn, wenn mer in Hasliluft chemen.»

Aber nun fiel Brantschen-Bethli auf, daß man immer noch nicht recht in der Richtung auf Brienz fahre. Er solle mehr links halten, rief man Dresli zu. Sie möchten ihn nur machen lassen, antwortete er, er kenne den See wohl. Nach einer Weile kam das Vertrauen in Dreslis Navigation wieder ins Schwanken, und als der Ruderer immer noch mehr rechts hielt, als wollte er gar dem Gießbach zusteuern, zischelte die Base Luise dem Schulmeister zu, da hätte man’s ja, der Dres sehe nur auf eine Seite. So käme man erst auf Martistag nach Brienz. Er, der Schulmeister, solle doch dem «Sturm» zurecht helfen. Da Dresli keinen Wank tat, sondern ganz ruhig seinen Kurs weiter verfolgte, der Gießbachnase zu, wurde die Aufregung immer größer. Was er eigentlich wolle, rief man ihm zu. Ob er sie alle zum Narren halte. Sie wollten nicht erst um Mitternacht z’Märit kommen. «Häb jitz uberhi!»

Jetzt stand schon eines der Weiber auf, um Dresli mit der Hand zu weisen, wo ungefähr Brienz liege. Indes der aber nur lachte, schrieen die andern Weiber: «Blyb hocken! — Usläären wei mer denn nysten nid! — Aber jitz häb’ uberhi, Dresli!»

Statt dessen zeichnete das Kielwasser einen prachtvollen Bogen um die Gießbachnase herum, und der 204 Bug zeigte in eine ganz kleine, zwischen bewaldeten Felsköpfen absteigende Wiesenkehle des Südufers.

Was das geben solle, wurde aufbegehrt. «Er ischt gsturna,» hieß es. Und selbst der Schulmeister sah nun sehr verwundert auf. Aber das half alles nichts. Dresli steuerte dem Ufer zu, gab, als er es schon fast berührte, dem Nauen eine jähe Wendung, so daß der Hinterteil gegen den Strand zu liegen kam. Ein paar Ruderstöße rückwärts. Ein furchtbarer Ruck. Und plötzlich sprang Isolte in Dreslis Armen ans Ufer.

«Jetzt fahrt meinetwegen z’Märit!» rief Dresli, «wir zwei fahren ins Glück! Bhüet Gott euch allesamt!» Er stieß mit dem einen Ruder das Schiff vom Lande, wobei die Ruderschaufel vom Stiel brach. Die Stücke warf er dem langsam abschwimmenden Nauen mit einem wilden Jauchzer nach und stieg dann mit dem Bräutlein die grüne Kehle hinan.

Als der verblüfften Markt­gesellschaft aufzudämmern begann, was dieser Tellensprung zu zweien bedeute, hallte, dem Weckruf einer Sirene gleich, das ü — ü der Base von Fels zu Fels. Zunge um Zunge löste sich aus der Starre des Staunens. Die einen wollten die Entflohenen zurückrufen, die andern zählten bereits auf, was alles sie dem Dresli tun wollten — wenn sie ihn erst hätten. Ein zeterndes Durcheinander war’s, unter dem sich das Schiff allmählich drehte, so daß es 205 halb breitseits dem offenen See zutrieb, gerade als wollte sich der hölzerne Knecht nach seinem Meister umsehen. — So kam man natürlich nicht nach Brienz. Das sahen alle ein. Ein Streit hob an, ob man nicht besser umkehren und landen würde. Aber jetzt begehrten die auf, denen der Markt nicht bloß Vorwand gewesen. Man sehe grad, warfen sie ein, daß dieses und jenes nur aus Gwunder mitgefahren sei. Deß wollte nun niemand den Namen haben, und es ergab sich eine große Mehrheit für die Fortsetzung der Reise. Die große Frage war bloß noch die, wie man weiterkommen sollte mit nur einem ganzen Ruder. Aller Blicke richteten sich auf den Schulmeister, der mit seinem Nachdenken nicht zurechtkam, ob er sich des Streiches der Jungen freuen solle oder nicht, und deshalb an dem Aufruhr keinen Anteil nahm. Eigentlich hatte der verwegene Sprung Dreslis, der einer Entführung sehr ähnlich sah, ihm einen Stein vom Herzen gestoßen. Anderseits kam er sich mit dem blauen Tröglein unter den Marktfahrern weidlich lächerlich vor. Froh, sich nützlich machen zu können, stellte er sich an das Ruder, tat ein Dutzend Züge links und setzte es dann rechts ein, um nach abermals einem Dutzend Zügen wieder zu wechseln. Das war ungewohnte Arbeit, und trieb dem alternden Manne mehr Schweiß aus, als er sonst in zwei Schuljahren vergoß.

Jetzt scholl von einem Felsvorsprung Dreslis Stimme herab. Ja, da oben — man sah sie nur schemenhaft 206 durch den Dimer — saßen die zwei und lachten der Mühsal. Aller Ohren spitzten sich und vernahmen die Weisung, man solle das Tröglein Schild-Hannes bringen.

Mit dieser Zickzackfahrerei im Nebel kamen aber die Brienzfahrer nur langsam vom Fleck. Irgendwie mußte nachgeholfen werden. Da scholl die Stimme der Base Luise erlösend in die auf- und abschwellende Beratung: «Zieht doch d’Storren uehi!»

Natürlich! Warum war denn bis jetzt niemandem das Segel eingefallen?

Aber Gaden-Marei protestierte: «Da füehren mier wohl uf Bönigen ahi. Der Luft chunnt ja vom Horen.»

Kaspar Tännler, der sehr gelassen im Spitz saß und seine Ziegen hielt, rief: «Warum nit? Wenn dier alli toll in die Blachen blasit, so chemen mer denn z’Wiehnachten schon gan Brienz anhi.»

Die Base hielt’s aber mit dem Probieren und hieß den Schulmeister Hand anlegen. Der war gar nicht abgeneigt und begab sich nach vorn, um das große Tuch loszuwickeln. Dabei gab es ein paar leichte Schwankungen. Bohren-Änni schrie laut auf wegen seiner Eier, und das ängstliche Bäbeli Steuri hielt den Schulmeister mit aller Kraft an den Frackschößen zurück, so daß dieser in den Krumen trat und mit seinem Stiefelabsatz das Säulein zu wildem Gequiek brachte.

Man sollte überhaupt die Viecher da wegnehmen und nach hinten stellen, sagte der Lehrer, sonst bringe er das Ghürsch nicht los.

207 «Chumm du, chumm!» tröstete Gaden-Marei und zog das kreischende Säulein an den Hinterfüßen auf seinen Schoß, während die andern Weiber aufbegehrten und mit Händen und Füßen sich der ungeberdigen Geißen erwehrten, die man hindertsi, füretsi und z’tromsig nach hinten schob, wobei sie bald hier einem Weiblein auf den Kropf traten, bald dort einem die Nase ableckten. Unter vielen Ratschlägen und unter jähem Aufkreischen und Abmahnen der um ihr Leben bangenden Gesellschaft entwickelte endlich Peter Flück das Segel und zog es auf. Da legte sich der Nauen derart linksüber, daß die ganze Weibsame eines einzigen Akkordes laut aufschrie. Einen Augenblick später rollte von Brienz her ein Böllerschuß über den See her, denn man hatte das Segel in einem durchbrechenden Sonnenstrahl wie ein mattgoldenes Blatt erschimmern sehen und den Verzweiflungs­schrei als Jauchzer aufgefaßt.

Wahrhaftig, der Nauen kam in Fahrt. Die Gesellschaft söhnte sich mit ihrem Schicksal immer mehr aus, während sie auf kräuselndem Buge dem Kanonendonner entgegensegelte. Zum Glück nahm die Navigation des Schulmeisters ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, denn je näher sie Brienz kamen, desto weniger wollte ihm einfallen, was er Schild-Hansen sagen könnte. Wenn doch jetzt noch der Wind gedreht und eine Landung vereitelt hätte! Aber wenn einmal das Schicksal mit Spott in den Muuleggen dahinschreitet... Die beiden 208 Republiken wollten zusammen, die auf dem Schiff schnatternde und die auf dem Dorfplatz orgelnde. Und wenn der ursprüngliche Zweck des Zusammenkommens längst in der Tiefe des Sees lag, die Vermählung der Massen war nicht mehr aufzuhalten. Dort tummelte sich ganz Brienz. Durch das glucksende Konzert eines Drehorgelmannes scholl das Glöckeln und Meckern der Ziegen, das Bääggen der Schafe, das Mööggen der Rinder, das «chumm ßä ßä» der Bäuerlein, das Jodeln der Geißbuben und von Zeit zu Zeit schlitterten alle Fensterlein ob den Böllerschüssen. Inmitten der am Ufer harrenden Neugierigen stand im Sonntagsstaat Schild-Hannes. Er allein bemerkte, daß Isolte nicht im Schiffe war. Doch sah er den Schulmeister beim Wenden und Festmachen des Nauens hantieren. Nun sprang in lustigem Getümmel alles ans Ufer, die Weiblein ihre Gloschli hochaufreffend, dazwischen die ungeduldigen Geißen und das unentwegt quiekende Säulein. Kaum stiegen die ersten die Brügi hinan, setzte sich ein Handorgeler an die Spitze des Zuges und lockte das Volk hinter sich her, der «Gemse» zu. Daß die Braut fehlte, hatten der Musikant und seine Begleiter, die natürlich mit den Salutschützen in Verbindung standen, gar nicht bemerkt. Schild-Hannes hatte Mani befohlen, dem Schulmeister das Tröglein abzunehmen. So wurde denn der himmelblaue Schrein unter Musik und Kanonendonner hinter Schild-Hannes und Flück-Peter durch das Dorf getragen, während die Weiber von Iseltwald, einem 209 aufgescheuchten Fliegenschwarm gleich, die erschütternde Mär von Isoltens Entführung in das Marktgewimmel aussummten.

Noch ahnte Hannes nicht, wie viel spottende Blicke ihm folgten. Daß etwas anders gekommen, als verabredet war, lag auf der Hand. Der Schulmeister hatte gleich gesagt, er müsse ihm brichten, es sei neuis lätz gegangen. Als er auf die Frage, ob Isolte etwa krank sei, antwortete: «Das grad nid,» begann er zu vermuten, was lätz sei. Er wurde knurrig und befahl Mani, nachdem er das Tröglein in seine Stube gestellt: «Si sellen enandrenah ufheren schießen.»

Die Türe fiel hinter dem Knecht ins Schloß, und die beiden Männer standen gesenkten Hauptes vor der blauen Truhe. Ihre stattlichen Strohzylinder hatten sie links und rechts davon auf Tisch und Kommode gelegt, was sehr feierlich aussah. Peter Flück löste den an den Handgriff gebundenen Schlüssel, gab ihn dem Wirt und begann stotternd und verworren zu erzählen. Dabei ließ er in bunter Reihe Entschuldigungen und Begründungen einfließen. An Zureden und Ermahnungen habe man es wahrlich nicht fehlen lassen; aber das Meitschi habe offenbar seine alte Liebe nicht mehr loswerden können. Erst heute morgen müsse es zum Entschluß gekommen sein, denn es habe auch nicht den geringsten Versuch gemacht, sich zu wehren, als Dresli es mit sich ans Land gehoben. Und doch habe man noch gestern abend an nichts derartiges gesinnet.

210 Inzwischen hatte Hannes das Tröglein aufgeschlossen und nichts anderes drin gefunden als die Geschenke, welche er in dem kurzen Brautstand Isolten gemacht. Er sagte kein Wort. Während draußen im Wispern und Rollen des Marktes Dreslis Gewaltstreich von Mund zu Mund ging, glitten seines Meisters trübe Blicke zwischen der Truhe und dem eingerahmten Perlkranz an der Wand hin und her, der das Andenken an Hanses Frau verkörperte. Der Schulmeister wagte nicht weiterzureden. Mochten Spott und Schadenfreude den Schritten dieses arbeitsamen Mannes folgen, mochte er einen deutlichen Fingerzeig, daß der Reichtum nicht alles vermöge, nötig gehabt haben, vor dem Herzeleid, das ihn ergriffen, mußte man stille werden.

Nach langem Schweigen ließ sich Schild-Hannes auf einen Stuhl fallen und sagte: «Ja, ja, wenn där da oben es Glick zerschlad, denn wird’s nümma ganzes. — Und wider d’Liebi vermag der Mensch niid.»

Als Peter Flück abends mit den Iseltwaldern heimfuhr, gerudert von einem Nachfolger Dreslis, nahm er nebst dem leeren Tröglein seiner Tochter in seinem beschwerten Herzen einen Teil von Schild-Hanses Leid mit. Es fehlte übrigens auch ihm nicht an Nachbarn, die das Scheitern seiner Hoffnung mit hämischer Befriedigung vernommen hatten.

Aber was fechten einen braven Mann der Neid und die Mißgunst an, die unter dem Dimer um sein Haus schleichen! Sein Herz findet den Weg über die 211 Wolken, wo nichts mehr zwischen ihn und die Sterne kommt.

Noch am Abend der denkwürdigen Brienzfahrt fand Peter Flück seine Tochter am heimischen Herde. Er war nicht wenig erstaunt, als er, dem Schiff entsteigend, ein blaues Räuchlein seinem Dach entsteigen sah. Da krachten keine Böllerschüsse, orgelte niemand, aber unter der Küchentüre leuchteten zwei Äuglein vor Glück und Wonne. Isolte hatte ihm das Abendbrot hergerichtet und überschüttete den väterlichen Murrkopf mit so viel Freude über den gelungenen Streich, daß die zurechtgelegte Strafpredigt sich in nichts auflöste. Wohl hob er den Drohfinger; aber dabei blieb es. Isolte bog mit ihren kleinen kraftbewußten Händen den derben väterlichen Knoden herunter. «Abha mit däm!» befahl sie und erzählte dann in sprudelnder Lust, wie sie von dem Felskopf ob dem Gießbach noch lange das Geschwätz aus dem Nebel herauf vernommen und sich gefragt hätten, ob das Schiff heute noch über den See gelangen werde.

«Hast du denn keinen Augenblick an mich gedacht?» fragte der Vater, dem in der Erinnerung an die Erlebnisse des Morgens ein leiser Groll aufwachte. «Es hätte doch auch krumm herauskommen können. Und dann... glaubst, es sei ein Schleck für mich gewesen, dem Schild-Hannes...»

Isolte war noch näher an den Alten herangerutscht. Sie schnitt ihm mit bittenden Augen das Wort ab, 212 legte ihm die Hand vor den Mund und sagte: «Nid schmähle, Vatterli! — Geleichtet hat’s mir schon ein wenig, als wir dann hoch oben, von der sonnigen Alp aus, das Schiff drüben anlegen sahen. Aber weißt, diesmal gings halt nicht anders. Dem Glück hab’ ich vertrauen müssen, und hab’s um so ringer getan, weil es sich uns so zutunlich gezeigt hat. Wenn du gesehen hättest, was alles aus dem einen lieben Auge herauszündete, als ich ihm versprach: ‹Gelt, Dresli, jetzt machen wir das Tüpfi zusammen aus, bis auf die klebrigste Ruumi!› da erst habe ich erraten, was Leids hinter ihm gelegen und was die Freude aus einem Menschen machen kann.»

«Schon recht,» sagte Peter Flück. «Hast aber auch überlegt, was du tust?»

«Zu überlegen hat’s da nichts mehr gegeben. Wie er heute morgen hereingekommen ist in die Küche, da ist’s auf einmal von mir gefallen wie mürber Bstuch. Seine Stimme hat mich wieder zu mir selbst gebracht, und ich habe gar nicht anders gekonnt, als mit beiden Händen ins Tröglein fahren. Usi mit däm Zyg! hat’s in mir gemacht. Und dann hab’ ich ihm gesagt: ‹Jetzt hock’ ich zu dir ins Schiff, fahr’ mit mir, wohin du willst!› Und weißt, Vater, es ist gut so, denn dort oben, auf der Fluh, hat er gesagt: ‹Schau, Isölti, wenn du ds Schild-Hanses Frau worden wärst, hier 213 hinunter wär’ ich in den See gesprungen.› Und ich weiß nicht, ob er’s nicht getan hätt. — Wenn einer nur noch mit einem Auge d’Heiteri sieht im Leben...»

«Ja nun,» lenkte der Schulmeister ein. «Wenn es ihm an Heiteri gemangelt hat, so kommt er an die rechte. Aber hast du dann auch noch für mich ein Restlein übrig, wenn ich einsam werde?»

«O gwüß, Vater, jetzt erst recht. Heut’ ist sie mir ja erst aufgegangen, die Heiteri, wo ich ein Stücklein Fyschteri einem andern abgenommen habe.»

Jetzt kam dem Schulmeister wieder das Beißen in die Augen; aber Isolte merkte es nicht, denn es war ganz finster geworden in der Stube, und aus der traulichen Dunkelheit heraus vernahm sie nur des Vaters Lachen. Es hudelte ihn, wenn er an die Seefahrt dachte.

Anderntags schlurften schwere Schuhe über die Laubentreppe herauf, und zwei mächtige Schatten traten in die Küchentür. Der Alte vom Wetzisboden war’s, und hinter ihm stand Dresli.

«So isch’s jetz doch no guet usi chon,» begann der Senn. Und dann wurde am saubern Küchentisch beraten, was nun weiter geschehen solle. Die blanke Kaffeekanne spiegelte vier frohe Gesichter. Wie unmenschlich sie die Bilder auf ihrem runden Bauch verzerrte, das Glück strahlte nur um so heller aus jedem Dümpfi.

214 Auf einmal aber fiel ein Wolkenschatten auf den Tisch. Dresli hatte dargelegt, er werde nun selber einen Nauen anschaffen und damit sein Brot verdienen.

Da schlug Peter Flück mit der knochigen Faust auf den Tisch: «Das tust mir jetzt aber nicht zu leid, Dresli. — Das soll dem Schild-Hannes seine Sache bleiben. Er hat’s ersinnet. Er hat dich das Arbeiten gelehrt. Und wenn er dir nun das Beste hat abtreten müssen, was er schon in Händen hatte, so sollst du ihm nicht noch mehr wegnehmen.»

«He he,» sagte die Kaffeekanne aus ihrem möschigen Zauggen und hob eines ihrer drei krummen Beine, denn auf Peters Rede hin war eine noch dickere, mit Melkknuppen gezierte Faust auf den Tisch gefahren. «Das wär’ mir jetzt auch,» grollte der Senn. «Was bei euch da unten unterm Dimer der Brauch ist, davon weiß ich grad nit viel. Aber droben auf’m Berg überschau ich den ganzen See, und der ist große gnue für mängen. Der Schild-Hannes soll bhalten, was er erwerchet und erlistet hat; aber das Wasser ist nid alls sys, und da chan druff fahren und Brot machen, wer will. — Und was ds Schaffen isch, so weiß der Bürschtel bi Gott schon von mier nahen, was arbeiten heißt.»

Der alte Anderegg hatte die Mehrheit für sich. Und so geschah es denn, daß Dresli seinen Nauen baute und auf dem See sein Brot redlich erwarb. Erfahren freilich 215 mußte er, daß das Leben unter dem Dimer Kampf bedeutet, denn auch Schild-Hannes hielt seine Rheederei aufrecht, und sie rangen miteinander in ehrlichem Streit um die Seeherrschaft, bis nach langen Jahren der stolze Bug des ersten Dampfers dem Streit und der Rheederei hüben und drüben ein Ende machte.

Da saßen sie einmal friedsam vor Dreslis stattlichem Hause, er und seine heitere Frau und der Schulmeister. Wohlgemut sahen sie den Dampfer anlegen, die bunte Fracht der Touristen abladen und abfahren, während Dreslis Nauen seeuntüchtig am Strande lag. Das gehörte zum Lauf der Dinge unter dem Dimer. Gelassen kann dem zuschauen, wer mit seinem Herzen droben geblieben ist in der klaren Bläue, wo der liebe Gott dem Adler zeigt, was er dem Brienzer Burli nehmen darf.

«Schön zu fahren wär’s schon auf dem Dampfschiff,» sagte Frau Isolte zu ihrem Mann; «aber da kann eins nicht ländten, wo es will. Und wenn’s grad unterwegs einmal zu sich selber kommt und weg möchte aus dem Trubel...»

«Zu sich selber kommt?» fragte Peter Flück.

«He ja, ich meine...»

«Zu sich selber kommen!» Der Schulmeister lachte hell auf. «Das tun sie heutzutage nicht mehr.»



 << zurück weiter >>