Auguste Supper
Auf alten Wegen
Auguste Supper

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Der Waldbrand

Es denken vielleicht nicht viele mehr an den großen Waldbrand, der damals an der Bahnböschung ausbrach, erst wie eine schleckige Ziege an den dürren Gräsern rupfte, als besinne er sich, ob er fressen wolle oder nicht, dann träg hinüberzog, dem jungen harzigen Tannenwald zu und hier mit einemmal aufsprang in wilder unbeherrschter Gier und viele, viele Morgen des Waldes verschlang, des hoffnungsvollen Waldes, der eben die Millionen hellgrüner, weicher, duftender Triebe herausgebracht hatte.

Ja, mitten im Maien, in seiner allerschönsten Zeit, mußte damals der weite Wald sterben und es ist gar nicht zu sagen, wie viel Getier, von Wurm und Maus im Boden bis zum Bussard auf den höchsten Wipfeln dabei Heimstatt und Nahrung, ja auch das Leben verlor.

Denn manche treue Vogelmutter mag dazumal auf dem Gelege im Neste sitzen geblieben sein, bereit, ihre Brut mit dem Leben zu verteidigen. Aber was nützte ihre Treue, wenn nun der Gluthauch des rasenden Feindes näher und näher kam! Wenn sein röter lohender Mantel zwischen den Stämmen auftauchte! –

Der das Schreien der Raben hört, wie es im Buche 109 heißt, der wird wohl auch gehört haben, wie da aus halbversengtem Schnäbelein ein letzter irrer Schrei brach, irr an der Güte dessen, der den Maien schuf und die Liebe und die junge Brut im Nest.

Als dann endlich aus weitentlegenem Dorf Leute herbeieilten, dem Feuer Einhalt zu tun, da war es schon zu spät. Zu spät für die brütenden Vögel, zu spät für den frischgrünenden Wald.

Nach bangen Stunden kamen Soldaten zu Hilfe. Weit weg vom Feuer schlugen sie eine breite Gasse in den Wald. Dort kam dann später der fressende Unhold zum Stehen. Aber nicht gutwillig und leicht. Im wilden Uebermut seines raschen Siegeslaufes war ihm der Kamm geschwollen, so daß er keinen Herrn und keine Schranke mehr anerkennen wollte. Immer wieder tat er einen Sprung in das ihm verbotene Land, und die Soldaten mußten bis aufs Blut kämpfen, ehe sie die Sieger waren.

Schwarz, wie Kohlenbrenner, schweißüberströmt, keuchend standen sie zuletzt beisammen auf der rauchenden, versengten Lichtung.

Mitten unter den Pionieren, mit blassen Schweißbahnen in dem rußigen Gesicht, stand ein Bub von vielleicht zwölf Jahren. Einen Tannenast hielt er in der Hand, bereit, wie er nun stundenlang getan hatte, auf jeden aufglimmenden Funken an der Erde hineinzuschlagen. 110

Auf einmal flog aus der stinkenden, rauchenden Wüstenei ringsum ein kleiner, rußbedeckter Vogel auf. Man konnte am geschwärzten Gefieder seine Art nicht erkennen.

Schwirrend, wie vom namenlosen Schrecken verwirrt und durchzuckt, war sein Flug; seine kleinen Schwingen schienen kaum zu tragen.

Erst ließ er sich auf dem Tannenzweig in der Bubenfaust nieder. Dann flatterte er weiter auf des Buben Kopf und krallte sich fest im rußigen Haar.

Und hier – als fühle er sich plötzlich geborgen – hub er ein leises, vielleicht sinnverwirrtes Zwitschern an, das kein Menschenohr recht verstand, und auf das doch plötzlich alle die erschöpften Soldaten umher lauschten.

Sie standen und starrten, als sei ein Wunder geschehen. Daß dieses kleine lebendige Wesen der wilden Glut, den todbringenden Fängen des höllischen Ungeheuers, das eben noch durch den Wald raste, entronnen war, das ließ sich kaum fassen.

Das Grauen der letzten furchtbaren Stunden schien sich plötzlich zu ducken vor dem leisen Vogelgezwitscher; die Welt rückte wieder ins Lot.

Reglos stand der Bub, als trage er eine Krone, die leicht herabfallen könnte. Die Augen hatte er geschlossen, das geschwärzte Gesicht bekam einen spitzen, alten Zug unter dem Horchen, als höre er Erschreckendes. 111

Und plötzlich sank der zu Tod Erschöpfte ohnmächtig einem Pionier in die Arme.

 

In dem kleinen Dorf, das der Brandstätte zunächst lag, gab es einen einzigen Bäcker. Er hätte wohl im Ort zu Ansehen und Wohlstand kommen können, wenn die Hintertüre neben der Backstube nicht gewesen wäre.

Durch diese Hintertüre ließ sich mit ein paar Schritten über den Hof die Hintertüre des Gasthauses »Zum Löwen« erreichen.

War in der Backstube der Ofen heiß, so gab es Durst. War er kalt, so mußte sich der Bäcker mit Wein und Bier warm erhalten. Und all das von Hintertüre zu Hintertüre.

Neben der Backstube, ebenerdig und gegen den Hof zu wie diese, lag noch eine Stube. Groß war sie und vielfenstrig und doch, das weiß Gott, lichtlos genug. Nicht nur, daß die Sonne nur in kurzen Hochsommerstunden ein wenig an den Fenstern leckte – auch sonst kam nicht viel Helles hinein.

Die Schlafstube war's der Bäckersleute, und das Bett des einzigen, zwölfjährigen Buben stand auch in einer Ecke hinter rotem Vorhang.

In jenem fernen Frühjahr hockte und lag das Bäckerweib viel in dieser Stube und kümmerte sich nicht um das Schelten ihres Eheherrn. 112

Dieser, mit seinen von Bier und Wein geklärten Ansichten, war der Meinung, die Anna, sein Weib, solle entweder gesund werden und arbeiten oder sterben, damit man wisse, wie man dran sei. Er hielt das Kränkeln der noch nicht Vierzigjährigen für eine Bosheit, die sie ihm zufüge.

Darin täuschte er sich, wenn er auch im Löwen hinter dem Schoppenglas sonst immer der Gescheiteste war. Er täuschte sich, weil er ja nicht wissen konnte, wie gründlich sich seines Weibes Herz längst von ihm gelöst hatte. So gründlich, daß es ihm weder zulieb noch zuleid weiterklopfte in der eingesunkenen Brust.

Mit den paar Schritten von Hintertür zu Hintertür hatte der Bäckermeister nach und nach das starke, lebensfrohe Herz zertreten, das dereinst für den Bäckergesellen so heiß geschlagen hatte.

Wer kann schildern, wie schrecklich das ist, wenn dort, wo junge Liebe, wo Glück und Glauben, Hoffen und Vertrauen war, langsam, aber unaufhaltsam Bitterkeit einzieht, wenn Zorn, Schmerz, Ekel, Verachtung Wurzel fassen und zuletzt jenes Entsetzlichste: die hoffnungslose Gleichgültigkeit, dieses ätzende Nichts, das kein Etwas mehr aufkommen läßt und das Herz, das Leben zur dürren Wüste macht.

Als vor Jahren die Anna zum erstenmal Mutter wurde, war es noch nicht so weit, wenn auch schon manche Blume im Innern des blühenden Weibes welk 113 geworden war. Es lebte noch Hoffnung, noch Sehnsucht in ihr.

Es wurde ein Knabe geboren. Hart ging es her und das Kind schien nicht eintreten zu wollen in diese Welt und dieses Vaterhaus. Schütteln, bürsten, reiben, schwingen mußte der Arzt den Jungen, bis endlich der erste Schrei durch die Stube gellte und anzeigte, daß Heinrich Schwarz, des Bäckermeisters Karl Schwarz Sohn, diese Erde und seine Laufbahn auf ihr betreten habe.

Vielleicht hätte man den Widerstrebenden gar nicht zu dieser Sache zwingen sollen! – Später dachte es die Mutter ein paarmal. Vorläufig aber füllte die Freude das junge Weib mit neuer Kraft, so daß sie selbst überhören konnte, wenn die Hintertüre ging.

Sogar das freute sie damals, daß der Bub äußerlich seinem Vater glich. Oder war schon das nicht reine Freude? Fing schon da der Wurm zu nagen an?

Die Anna war als die Tochter eines Forstwarts in einem Häuslein auf sonniger Blöße mitten im Tannenwald geboren und aufgewachsen. An allen schönen Sonntagnachmittagen zog es sie hinaus in den Wald, wo die Luft so köstlich rein und stark um Leib und Seele streicht.

Aber ihr kleiner Sohn wollte schon früh lieber mit dem Vater auf die Kegelbahn gehen.

Im stillen, feierlichen Wald belauschte und kannte 114 das Försterkind jedes scheue, heimliche Leben, wie es sich in den dunkeln Wipfeln und an der moosbedeckten Erde rührt, und sie freute sich daran.

Aber ihr Knabe scheuchte, fing, vernichtete, was er von Lebendigem erhaschen konnte, und statt in schweigender Andacht auszuschreiten, erfüllte er den Wald mit Johlen und Krakeelen, so jung er noch war.

Die Kraft der Anna reichte noch immer. Ein prächtiges Kerlchen war ihr Heiner; man hätte den Fünfjährigen für sieben halten können, sagten die Nachbarinnen.

Einmal ertappte sie ihn, wie er die Katze angebunden hatte und ihr mit einem Streichholz das Fell anzünden wollte. Damals fuhr gerade ein rauher Ostwind durch den Hof und die Anna spürte von Stund an etwas wie eine böse drohende Last auf der Brust. Aber ihre Kraft reichte immer noch fürs Nötigste.

Das Zündeln war in dem heranwachsenden Buben wie eine Leidenschaft. Sein Vater nahm ihn bisweilen mit in den Löwen hinüber. Dort standen auf den Tischen überall Zündhölzer. Die Mutter fand sie büschelweise in ihres Buben Hosentaschen.

Auch daß der Kleine manchmal, wenn sie sich über sein Bett beugte, nach Getränken aus dem Löwen roch, fand sie.

Ihre Kraft reichte immer noch. Aber der Husten wurde schlimmer. 115

Eines Tages tauchte vor der zermürbten, der entsetzten Frau die Ahnung, nein, die Gewißheit auf, daß sie nach zwölf Jahren wieder gesegneten Leibes sei. – Gesegnet? – Sie fror bis ins Innerste. Verzweiflung fiel sie an wie ein reißendes Tier.

Sie, die sonst keine Vielbeterin war, schrie nun Tag und Nacht ohne Laut, ohne Worte, es möge doch nicht noch einmal eines faulen Trinkers Kind hereingeboren werden in das Elend ihrer geschändeten Welt.

Hatte sie seither immer noch einen letzten verhüllenden Schleier übrig gehabt, um notdürftig des einst geliebten Mannes wahres Bild vor sich zu verdecken – jetzt gab es das nicht mehr.

Durch ihre Kinder hindurch, durch das lebende und das ungeborene, sah sie unerbittlich klar, und sie sah nur Schmach und Laster und Elend.

Da zerbrach ihre Kraft. Sie hockte und lag viel in der Schlafstube.

Es gab eine weise Frau im Dorf, Dorle hieß sie, die war immer noch den Weibern gerne mit Rat und Tat zur Hand, wenn sie auch längst zu alt und von Amts wegen durch eine jüngere Kraft ersetzt war.

Ein verhutzeltes, unansehnliches Weiblein war sie, das nur ein Auge hatte. Ueber dem zweiten lag dicht und reglos das lahme Augenlid. Es hob sich niemals, als wolle es mitleidig verdecken, was einst geschehen war. 116

Eine Wöchnerin, ein starkes, hartes Bauernweib, das den Tod herantreten fühlte und ihn noch einmal scheuchen wollte, hatte in heißen Fieberkrämpfen so unglückselig nach der Helferin geschlagen, daß deren linkes Auge verloren war.

Erst erschien das dem Dorle als ein großes Unglück. Aber bald merkte sie, daß man auch mit einem Auge noch genug Jammer sehen kann. Ja, nach und nach wurden ihr die Dinge des Dorfes und der Erde immer klarer und schärfer und das Wesentliche schied sich deutlicher vom Unwesentlichen.

Dieses einäugige Dorle saß eines Tages am Bett des Bäckerweibes.

Sie waren beide erschöpft, als sei ein Sturm über sie hingegangen.

Von jener Hoffnung, die für die Anna ein furchtbares Schreckgespenst gewesen, war nicht mehr die Rede. Das Gebet der zerbrochenen Frau hatte schnell irgendwo seine Erhörung gefunden. Das keimende Leben fiel ab wie eine erfrorene Knospe; aber den Preis mußte die Anna voll bezahlen.

Zerstört und verfallen lag sie da und Tränen liefen über das frühgealterte Gesicht. Sie hielt des Weibleins Hand, als erwarte sie von daher Trost und Hilfe. Sie hatte sonst keinen Menschen auf Erden.

Erstickt sagte sie jetzt: »Dorle, gibt's noch ein elenderes Weib auf der Welt, als mich? Mein 117 Ungeborenes muß ich im Mutterleib totbeten, damit nicht ein Lump mehr auf der Welt sei.«

Dorle gab keine Antwort, wenn auch ihr zahnloser Mund sich ein wenig bewegte. Sie wußte gut, daß auf Fragen dieser Art nicht viel zu sagen ist und daß auch nicht viel darauf erwartet wird.

»Schlaf jetzt ein Stündle!« riet sie der Hingestreckten.

Aber die mochte denken, daß sie zum Schlafen später noch lange Zeit habe. Es quoll aus ihrem Herzen heraus wie ein gestauter Schwall. Nicht von dem Mann, der ihr Leben so jämmerlich zerstört hatte; alle ihre heißen, fiebernden Reden gingen um ihr Kind.

Den Heiner sah sie in einen Sumpf hineinwaten, tiefer und immer tiefer und sie konnte ihm nicht heraushelfen. Die Qual ihres kranken Körpers und die Qual der lang gemarterten Seele flossen in dieser Stunde zusammen und das Wasser des Elends trat über die Ufer.

Das Dorle saß mit gefalteten Händen und horchte. Das meiste, was sie da hörte, wußte sie längst.

Eben wollte sie den Mund auftun, da gellte es von der vorher stillen Gasse herein: »Feuer«!

Dem alten Weiblein war's, als habe ihr eine fremde Macht das Wort aus dem Munde genommen, um nun selbst zu reden. Verwirrt schaute sie um sich.

Die Kranke zuckte zusammen und fuhr auf. »Der 118 Heiner hat angezündet,« schrie sie gellend hinaus und sank zurück.

Jetzt kam der Bäcker hastig in die Stube. Gurt und Feuerwehrhelm riß er aus einer Lade. Für sein Weib hatte er keinen Blick.

»Wo brennt's?« fragte zitternd die Alte.

»Im Wald, am Bahndamm,« schrie er und war fort.

Man hörte Lärm und Gelaufe draußen. Auf dem Turm wimmerten die Glocken.

Die Kranke in ihrem Bett lag jetzt ganz ruhig mit weitoffenen Augen. ^

Das Dorle, in der Bedrängnis ihrer inneren Unruhe, fing an, in der Stube aufzuräumen. Dann trat sie ans Fenster und sah hoch am Himmel qualmenden Rauch sich gegen die lichte Bläue des Frühlingstages wälzen.

Ein Ruf des Schreckens wollte ihr entfahren. Wenn es die Schwaden so weit herübertrieb, mußte der Brand furchtbar sein. Aber sie schwieg. Sie war froh, daß Anna von ihrem Bett aus nichts sehen konnte.

Da kam es aus dem fiebernden Mund: »Schlimm ist's! Der Wald steht im Harz, das loht wie eine Pechfackel!«

Das alte Weiblein erlebte es nicht zum erstenmal, daß Sterbensnahe diesen Blick in die Ferne hatten. Aber sie wunderte sich und erschrak, daß es bei Anna schon so weit sei. 119

Still setzte sie sich neben das Bett. Da merkte sie – was sie auch schon aus früheren Erfahrungen kannte – daß der Anna Inwendiges ein wenig vor die Türe des armen Leibes gegangen war, so, wie eine Schnecke in sorglosen Augenblicken aus ihrem Haus schlüpft, um sich in der Welt umzusehen.

Das dauerte reichlich lange; aber die Alte verlor die Geduld nicht. Es kam sie auch keine Angst an; sie kannte sich aus in solchen Dingen.

Plötzlich rührte sich die Kranke und bat: »Dorle, waschet mir den Ruß vom Gesicht!«

Die Alte wollte erst sagen, sie könne an dem Gesicht auf dem weißen Kissen keinen Ruß sehen. Aber dann fiel ihr ein, daß Sterbende immer recht haben.

Still tauchte sie den Schwamm in das Essigwasser, das auf dem Tisch stand und fuhr der Anna über die Stirne.

»Ah,« seufzte die wohlig auf, »das tut gut nach der Feuersglut.«

Dann fing sie ganz klar und wie eine Gesunde zu erzählen an vom brennenden Wald, von heimatlos werdendem Getier, von schreienden Vögeln auf glostenden Nestern.

Ein wehes Schluchzen klang auf, wie von einem Kind, das tiefen Jammer hat.

Vielleicht war die freiwerdende Seele wieder in der Kindheit und erlebte von hier aus das Leid um den geliebten Wald und alle seine Gäste. 120

Jetzt furchte sich die bleiche Stirne. Ein Ausdruck herbster Qual kam in das kranke Gesicht.

»So weit hast du es gebracht,« stieß sie hervor, »bist ein Brandstifter, bist ein Mörder und zählst noch keine vierzehn Jahre.« –

Das Dorle legte ihr die Hand auf die Stirne. »Laß,« sagte sie mahnend, »es kann doch auch ein Funke von der Lokomotive gewesen sein, wie schon einmal.«

Aber die Kranke schob die Hand unwillig weg. »Er ist's gewesen,« sagte sie hart, ohne die geschlossenen Augen aufzutun.

Und dann fing sie an, hastig und aufgeregt von rußigen Männern zu reden, die wie Soldaten aussähen, und daß der Heiner immer mit einem Tannenast auf die Funken schlage.

Plötzlich sagte sie voll Zärtlichkeit: »Ach, der rußige Vogel! Flieg' doch meinem Heiner auf den Kopf! Auf mich hat er nie gehört, der Bub. Sag ihm, was er getan hat!«

Sie hob den Finger, als wolle sie zum Horchen mahnen. Es ging wie ein Glänzen über ihr Gesicht.

Jetzt tat sie die Augen auf und fragte verwirrt: »Hat nicht irgendwo ein Vogel gesungen?«

Das war ihr letztes Wort auf der Erde. Wie lauschend kehrte sie den Kopf zur Seite; aber was sie vernahm, sagte sie niemand mehr. 121

Jenen Waldbrand im fernen Mai haben schon viele vergessen. Man suchte damals keinen Brandstifter, weil es offenkundig schien, daß ein Funke von der Lokomotive das Unheil angerichtet hatte.

Auch daran dachte man bald nicht mehr, daß Anna Schwarz, das Bäckersweib, starb, solange Mann und Kind im Wald beim Löschen halfen.

Die verkohlte Strecke wurde, so rasch es ging, wieder aufgeforstet, und ehe die letzten Brandspuren verschwunden waren, leuchteten schon wieder Beeren und nisteten Vögel auf der Schonung.

Sie vergißt schnell und willig, die Natur, und wo sie mißhandelt wurde, schenkt sie meist in doppelter Fülle.

Der Bäcker nahm bald ein zweites Weib, die von anderer Art war und keine Bedenken trug, einem Säufer Kinder zu schenken.

Ueber ihren eigenen vergaß sie den Stiefsohn. So führte der sein Leben für sich, ein schweigsamer, scheuer Mensch, der keine Freunde hatte und suchte und beim Vater das Handwerk erlernte, als ihn die Schule entließ.

Sie hatten viel Streit, die beiden. Dann schrie und tobte der Vater und der Sohn blieb gelassen und eisig.

Oft ging der Unfriede um die vielen Käfige, in denen der Junge sich Vögel hielt. Aber nicht, wie 122 vernünftige Leute, muntere Sänger, sondern allerlei krankes und halblahmes Zeug, das er, weiß Gott wo, auftrieb. Von überall her brachten sie ihm die Lerchen, die Grasmücken, die Wiesenschnäpper, die sie beim Mähen mit der Sense in die Flügel oder sonstwie getroffen, und er pflegte sie wochenlang.

Es stecke in jedem ein Stück von einem Narren, sagten die Leute, und beim Heiner Schwarz sei dies die Narrheit, die immer noch besser sei, als wenn er, wie sein Vater, zu oft durch die Hintertüre ginge.

Bald kam der junge Bäcker in die Fremde. Niemand weinte ihm nach, die Seinen am wenigsten.

Und dann wurde er Soldat.

Jener Hochsommer kam, da der Riesenbrand über der Welt aufloderte.

Nun ging es nicht nur für das Waldgetier um Leben und Heimat.

Und doch wurde auch dieses wahnsinnig Schreckliche bald fast vergessen.

Aber manchmal – etwa wenn alte Kriegskameraden zusammenkommen – sprüht wieder ein Funke von der furchtbaren Glut auf.

Dann geht die Rede hin und her: »Kamerad, weißt du noch? – –«

Auf diese Weise steigt wohl auch Schicksal und Tod des Leutnants Heinrich Schwarz aus jener brüllenden, dunklen, flammendurchblitzten Steinwolke auf, die bei 123 einer großen Sprengung den tapferen, bewährten, vor dem Feind beförderten Mann verschüttete.

Er hätte sich in Sicherheit bringen können, so gut wie die zusammengeschmolzene Kompagnie. Aber er wollte durchaus die Feldlerche retten, die, flügellahm oder vom Schrecken verstört, über die Furchen flatterte, geradeswegs der Gefahr entgegen.

Mit dem Vogel in der Hand sah man ihn noch, als schon die Erde bebte.

Dann nie wieder. 124



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