Auguste Supper
Auf alten Wegen
Auguste Supper

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Auf alten Wegen

Es war im Mai. Mein Freund und ich hatten uns auf die Bahn gesetzt, um mit ihrer Hilfe dem menschenwimmelnden Kreis und Umkreis unserer Stadt möglichst rasch zu entrinnen. Ganz fest stand unser Wanderplan noch nicht. Irgendwo würden wir schon landen und irgendwo einen stillen Weg ins Grüne finden. Aber – so schön es sein kann, planlos auszuziehen – leicht mag es gehen, wie es uns dann ging: wir wußten nicht recht, was wir sollten und wollten.

Einen Ort und einen Weg schlug mein Freund dann vor, den ich in fernen Kindertagen oft gegangen, solange meine Eltern an jenem Ort gewohnt. Mir war's nicht nach dem Sinn. »Warum denn?« murrte ich. »Das alles kenne ich schon lange. Ich möchte neue Wege suchen.«

Da lachte mein Gefährte. »Einen alten Weg mit neuen Augen sehen ist tausendmal schöner. Du bist das Kind von einst nicht mehr. So wird sich auch der Weg für dich gewandelt haben.«

Ich kann nicht sagen, daß ich begeistert zugestimmt hätte; aber der Frühlingsmorgen war zu schön, um sich zu streiten. 8

So stiegen wir auf einer kleinen Station aus und zogen los. Ein Flußtal gingen wir entlang, zwischen bewaldeten Berghängen hin. Die grauen Trümmer einer alten Burg grüßten von der Höhe zu uns nieder. Ich sah sie ragen wie dereinst; aber sie sprachen heute eine andere Sprache. Von einer Zeitentiefe redeten sie, von der das Kind, das nur im Heute lebt, nichts weiß. Das Mauerwerk, das in den blauen Frühlingshimmel stieg, es wuchs sich aus zu stolzen Türmen und Basteien; Wall und Tor, Brücke und Zinnen erstanden, und durch den morgendlichen Wald vernahm ich lang verklungenen Hifthornklang und das Getöse der zu Staub gewordenen Reisigen. Ein leiser Wind ging wie ein unsichtbarer Wandergefährte immer neben uns durch die Wipfel mächtiger Tannen, deren düsterer Ernst jetzt gemildert war durch die zarten, hellgrünen Sprossen, die bei ihrem ungestümen Drängen ans Licht und in die Freiheit die Hüllen ihrer Werdetage mit in die Höhe gehoben hatten und nun als zierliche braune Kappen auf den Köpfen trugen. Das sah drollig aus, und die alten, würdigen Bäume standen wie verlegen, als wüßten sie nicht recht, wie sie sich verhalten sollten zu dem jugendlichen Unfug und Uebermut.

Mitten aus dem Tannenhang ragte jetzt wie eine heitere Insel eine Gruppe von wilden, blühenden Kirschbäumen. »Wie mögen die daher kommen?« 9 fragte mein Freund und deutete hinüber. Ich starrte mit großen Augen. Nie hatte ich früher wahrgenommen, was jetzt so grell und aufdringlich meinem Blick entgegensprang. Und doch konnten diese hohen, blühenden Bäume nicht erst von gestern sein. Es war mir, als gleite ein leichtes spöttisches Lächeln über meines Begleiters Gesicht. Und schon wieder hob er die Hand und deutete nach dem Fluß hinüber. »Wer wohnt wohl dort in dem Häuschen?«

Ich verhielt den Schritt. Einen Augenblick war mir's, als seien wir einen fremden Weg gegangen. Aber der Fluß und die Berghänge, die Mauertrümmer der alten Ritterburg waren ja heute da wie einst. Und auch das Häuschen, oder vielmehr die Hütte dort drüben, mußte einst schon dagewesen sein, denn sie war grau, alt, verwittert. Wo hatte ich nur meine Augen, meine Kinderaugen gehabt? Da, als ich hinüberstarrte, merkte ich, daß die Hütte in der Tat zu meinem Erinnerungsbilde gehörte. Ich hatte sie gesehen, als ich mit meinem schweigsamen, immer gedankenverlorenen Vater den Gang durchs Tal machte. Aber mehr als dieses Sehen hatte ich wohl nie dafür übrig gehabt. Kein Verlangen, kein Wunsch, kein Gedanke hatte sich je an diese ärmliche, einsame, versteckte Wohnung fremder Menschen geheftet, und so war ihr Vorhandensein gar nicht richtig und dauerhaft in mein volles Bewußtsein eingegangen. 10

»Weißt du nicht, wer dort wohnt?« fragte neben mir noch einmal mein Freund.

»Wie sollte ich,« antwortete ich ärgerlich, denn ich fühlte mich beschämt, »wo ich doch so viele Jahre weg bin.«

Aber er ließ nicht nach. »Wer wohnte denn da, als du früher den Weg gingst?«

Mir schoß das Blut in den Kopf. »Ei,« sagte ich, »das ist doch stark, daß ich wissen soll, wer in einer alten Hütte wohnt und gewohnt hat.«

Er wendete den Blick nicht von dem fernen Häuschen. »Weißt du,« sagte er leise und nachdenklich, »da müssen entweder ganz verkommene oder ganz befreite Menschen wohnen, ganz elende oder ganz glückliche.«

»Ja,« sagte ich spöttisch, »oder Bettelleute, die eine Stube voll Kinder haben und in keiner sauberen, ordentlichen Wohnung in der Stadt genommen werden. Das wäre die dritte Möglichkeit und die wahrscheinlichste.«

Mein Gefährte gab keine Antwort. Suchend blickte er den Fluß hinunter und fragte: »Ist keine Brücke in der Nähe?«

»Willst du hinüber?«

»Ja gewiß. Menschen, die so einsam wohnen, muß man kennen lernen.«

»Muß man das?«

»Oh,« sagte er ruhig, »man kann auch blind und 11 stumpf und dumpf durch seinen Lebenstag hinlungern, aber das muß einem gegeben sein.«

»Du wirst grob,« warf ich ihm hin.

Da lachte er hell hinaus und marschierte vorwärts. Weiter unten im Tal ist eine Brücke oder vielmehr nur ein weitgespannter, starker Steg. Für die Arbeiter, die in Scharen von den Höhen zu einer am Fluß liegenden Spinnerei wandern, ist er erbaut.

Zwischen seinen zermürbten, plumpen Bohlen sieht man das klare, flache Wasser über gefleckte Steine und mächtige grüne Algenstränge ziehen. Große silberschuppige Fische stehen nachdenksam und unbeweglich am Grund, und flinke Forellen huschen zwischen dem Nixenhaar. Wer gute Augen hat, mag auch einen wohlgepanzerten Flußkrebs sich über den steinigen Boden schieben sehen, bald vor- und bald rückwärts, wie seine Krebsinteressen das erheischen. Von diesem Steg aus haben wir als Kinder selbstverfertigte Angeln ins Wasser gehängt. Im hohen Gras am Ufer standen unsere Schuhe mit den hineingestopften Strümpfen. Barfuß betraten wir die Bohlen, die sonnenwarm, mürb und weich wie ein Teppich waren. Herrlich wäre die Welt gewesen in diesen Stunden, da das Wasser leise raunend strömte und das Bild der Sonne in den klaren Wellen stand; da von den nahen Wiesen der Heugeruch kam und das Zirpen der Grillen das Tal füllte. Aber als ein dunkler Schatten hing über 12 dieser Seligkeit das Bewußtsein, daß wir auf verbotenen Wegen gingen, daß wir der strafenden Gewalt der hohen Obrigkeit verfallen waren, sobald ein streifender Landjäger, ein Polizeidiener uns über unserem Tun ertappte.

Darum drehten wir beim Angeln unaufhörlich scheu die Köpfe; jeder Laut war uns verdächtig, jede auftauchende Gestalt jagte uns Schrecken ein. Es mag sein, daß deshalb nie einer der nachdenksamen Fische uns an unsere umgebogenen Stecknadeln ging, so reichlich wir auch den Köder bemaßen.

Ueber diesen Steg mit seinen langvergessenen und heute wieder aufgetauchten Erinnerungen schritten wir nun dem andern Ufer zu. Mein Freund war immer voraus, als eile ihm, zu der Hütte am Berghang zu kommen.

Ich aber schritt langsam, denn meine Füße wollten immer wieder irgendwo kleben bleiben und Spuren suchen von einst. Und als hätte die Rüge meines Freundes mir die Augen und alle Sinne weit aufgetan, so tauchte klar und deutlich das Vergangene vor mir empor. Insbesondere sah ich auf einmal eine Frau mit bleichem Gesicht dort am grasigen, besonnten Rain sitzen, wie sie mit emsiger Hand und ohne aufzusehen an etwas nähte. Ihr ungescheiteltes, glatt zurückgekämmtes Haar war tiefschwarz. Aber mitten hindurch zog sich eine weiße Strähne, die mir sehr 13 merkwürdig vorkam; denn es war mir gesagt, daß Haare oft von Sorgen, Kummer oder Schrecken plötzlich erbleichen können. Und nun hatte ich die Vorstellung, die weiße Strähne hänge mit einer bestimmten Sorge, einem geheimen Kummer zusammen. Ich hatte mir einst die einsame, fremde Frau manchmal daraufhin betrachtet. Aber dann war ihr Bild und das Wissen von ihrem Dasein vor anderen Dingen und anderen Menschen, die meinen Lebensweg kreuzten und berührten, zurückgetreten und völlig untergesunken, um erst heute, nach vielen Jahren, Auferstehung zu feiern.

Wir waren jetzt der Hütte nahe gekommen. Ein paar kleine, umfriedete Gartenstücke waren dem Waldboden abgerungen. Ein riesiger, mit Knospen übersäter Heckenrosenstrauch stand zwischen bepflanzten und besäten Beeten.

»Sieh,« sagte mein Freund, der davorstehend auf mich gewartet hatte, »auch Bettelleute leben nicht vom Brot allein.«

Leise und lauernd, fast als ob wir einen Einbruch im Sinne hätten, umgingen wir jetzt die Hütte, nur der rote, trockene Sand, der ringsum gestreut war, knisterte unter unseren Füßen. Ein Hasenstall, ans alten Kisten gefertigt, stand neben einem niedrigen Holunderbusch. Mit den Ohren wackelnd, in freudiger Erwartung, drängten zwei graue Hasen die Schnäuzchen durch den weitmaschigen Draht, um sich erschrocken 14 und entrüstet abzuwenden von den fremden Gestalten, die mit leeren Händen kamen.

Neben einem hochgeschichteten Haufen trockenen Reisigs stand auf der Erde eine flache, irdene Schale mit einem Milchrest, und in einer verkümmerten, wipfeldürren Fichte hinter der Hütte waren ein paar Wursthäute ins Geäst gebunden. Ich bemerkte wohl den hellen, erfreuten Blick, mit dem mein Freund sich umsah, aber ich hatte nicht im Sinn, jetzt schon klein beizugeben und mich zu schämen wegen meines vorschnellen Urteils. Mit prüfenden Augen suchte ich nach dem Schmutz und der Unordnung, die ich nun einmal in meinem Herzen dieser armseligen Hütte und ihren Bewohnern angedichtet hatte. Aber – um ehrlich zu sein – ich kam nicht auf meine Kosten. Zwar sah ich rundum manches, was ich vielleicht geändert hätte. Aber wenn ich nachdachte, so mußte ich gestehen, daß jede Aenderung wahrscheinlich eben Geld erfordert hätte. Und daß nicht alle Menschen Geld aufzuwenden haben, das mußte ich notgedrungen in meinem Innern zugestehen. So waren die Beete des Gartens mit zerbrochenen Ziegelplatten, Flaschen und Mineralwasserkrügen eingefaßt, und vor den hinteren Fenstern der Hütte standen Geranien in zerbeulten Blechdosen statt in ordentlichen Töpfen. Ein paar Wäschestücke, die zum Bleichen auf einem Rasenstück lagen, waren so dünn und zerschlissen, daß das Grün des Grases durch die 15 Dürftigkeit schimmerte, und die kleine Bank, auf die ein Bettstück in der Sonne gebreitet war, stand schief und bekümmert, weil in dem altersfleckigen, dünnen Kissen die Federn auch in der schönsten Maiensonne nicht mehr zu einer richtigen Prallheit aufquellen konnten.

So weit und so scharf ich auch spähte, es war nichts zu entdecken, was Entrüstung oder Verachtung gerechtfertigt hätte; aber manches, was mit ein paar Nickel oder Silberstücken wesentlich hätte verbessert werden können. Doch kann man keinem Menschen zumuten, immer die nötigen Nickel und Silberstücke zu haben.

Wir waren jetzt rings um das Haus gegangen und standen vor der niederen Türe. Es war kein Laut zu hören, außer dem leisen Rauschen von Fluß und Wald und dem schmetternden Singen eines Finken, der auf der halbdürren Fichte saß. Mir war ganz feierlich zumute. Gar nicht so, als ob ich Bettelleute in schmutzigen Stuben besuchen wollte. Eine Scheu, eine fast bange Bescheidenheit überkam mich in der großen Stille und Einsamkeit.

Wir lauschten eine Zeitlang an der Türe, klopften dann und drückten endlich, als sich gar nichts hören lassen wollte, auf die Klinke.

Mein Freund war auch jetzt voraus, und hinter ihm trat ich in eine große, helle Stube, die, ohne jeden 16 Vorplatz oder Nebenraum, das ganze Erdgeschoß der Hütte bildete.

Es lag so viel Licht da drinnen, daß ich zuerst gar nichts sah, als diese Sonne, die durch die Fenster brach und über den bretternen Fußboden zu mir herflutete in goldener Fülle. Das war wie eine große Ueberraschung. Denn immer ist mit äußerster Armut doch der Begriff des Dunklen, Sonnenlosen verbunden. Eine Leichtigkeit, eine Freudigkeit überkam mich, als sei ich nun plötzlich all der Pflichten des Mitleids enthoben, die mahnend und unbequem herantreten, wenn Dürftigkeit unsern Weg kreuzt.

Ich sah mich um und sah weiße, gekalkte Wände, an denen kleine Kränzchen aus Heidekraut und jenen Immortellen hingen, die man bei uns Himmelfahrtsblümchen nennt, und die das Haus vor Blitzschlag und Feuer schützen sollen. Dann waren bunte Bilder angenagelt, ungerahmte Blätter aus Zeitschriften oder Kalendern: Jesus mit der Samariterin am Jakobsbrunnen und ein Hirte mit seiner Herde auf der Heimkehr. Ein kleiner Spiegel, steil gehängt und mit papierener Rosenkette umwunden, war das Prachtstück. Darunter hing ein kleines, rundes, altes Bild.

Eine hölzerne Bank und ein Tisch davor waren übergossen vom Sonnenlicht, und ein kleiner, eiserner Ofen stand auf dünnen, hohen Füßen von der Wand ab, als 17 wolle er im nächsten Augenblick einen stelzenden Gang durch die Stube antreten.

Das alles erfaßte mein prüfender Blick, dann blieb er erstaunt, oder vielleicht erschrocken an einem sauberen Bett hängen, das in der Ecke stand, und auf dem angekleidet eine schlafende Frau lag.

Sie hatte ein gelbliches, von vielen Fältchen und Runzeln zerfurchtes Gesicht, das einen merkwürdigen, halb strengen, halb leidvollen Ausdruck zeigte. Durch das dunkle, kaum angegraute Haar lief eine schneeweiße einzelne Strähne.

Neben der Schlafenden auf dem Bett, als sei es ihr eben aus der Hand gesunken, lag ihr Nähzeug.

Mir klopfte das Herz. Die Haarsträhne, die meiner kindlichen Neugier vor vielen Jahren zu schaffen gemacht hatte, – da war sie wieder. Ohne sie hätte ich einst diese Frau nicht beachtet, heute nicht wiedererkannt. Nun aber war mir's, als schritte ich neben meinem Vater her auf dem stillen und mir oft so langweiligen Abendspaziergang an der fremden, nähenden Frau vorüber. – Ich sah zu meinem Freunde auf und wollte ihm leise den Sachverhalt erklären. Aber er hatte jenen besorgten Ernst auf dem Gesicht, der darauf tritt, wenn sich der Arzt in ihm rührt. Sachte schob er mich weg und beugte sich über die Liegende.

Leise sagte er zu mir: »Sie scheint tief erschöpft, es ist kaum ein Puls zu finden.« 18

Ich erschrak und trat näher und schaute mit meinem Freunde auf die Schlafende hin.

Wie ein Bild, eine Verkörperung äußerster Müdigkeit lag sie da, mit der den Händen entsunkenen Arbeit neben sich.

Sollten wir wieder davonschleichen, wie wir gekommen waren? Sie ihrem erquickenden Schlaf überlassen, oder uns um sie bemühen zu irgendeiner Hilfe?

Da, als wir vor ihr standen und sie teilnehmend betrachteten, schlug sie langsam die Augen auf und sah uns an. Sie schien nicht erschrocken über die fremden Eindringlinge. Ein verwirrtes, verlegenes Lächeln, das ihr runzeliges Gesicht verjüngte, glitt über ihre Züge. »Oh,« sagte sie leise und fragend, »bin ich eingeschlafen?«

Sie richtete sich auf, ohne daß wir ihr dabei helfen durften, und erklärte: »Früh aufgestanden bin ich heut'. Das macht's. Aber wenn die Morgen so schön sind, dann hält es einen nicht.«

Mir fiel beschämend ein, daß es mich hält, auch wenn die Morgen noch so schön sind; sie aber fuhr fort: »Man wird halt älter. Früher, als Sie noch mit Ihrem Vater durchs Tal kamen,« – »Sie kennen mich?« – stieß ich in namenloser Ueberraschung hervor. »Sie sehen fast noch aus wie dazumal,« erklärte sie ruhig, »wer Sie sind, weiß ich nicht und will's auch nicht wissen, weil es für mich keinen Wert hat.« Sie 19 blickte mir dabei lächelnd ins Gesicht, und ich sah, daß sie sehr dunkle Augen hatte, die tief in knochigen Höhlen lagen.

»Es ist schon lange her,« sagte ich verwirrt.

Sie nickte. »Ja, die Zeit geht. Mein Justin ist jetzt auch kein Kind mehr.«

Sie schien vorauszusetzen, daß ich ihren Justin kenne, von ihm wisse. Und wie ich dies in mir erwog und dem ungebräuchlichen Namen nachsann, stieg es mir plötzlich auf, daß damals beim Angeln auf dem Bohlensteg ein kleines, verkümmertes, seltsames Wesen auch eine Rolle gespielt hatte. Als Aufpasser bei den Schuhen und Strümpfen im Ufergras, oder als Lieferant von Würmern und Heuschrecken für Köderzwecke oder als Warner, wenn ferne Gestalten auftauchten. Nicht für vollwertig hatten wir ihn genommen, den stillen, etwas verwachsenen kleinen Kerl, der sich immer zu uns gesellte, ohne daß jemand ihn gerufen hätte.

Daß er Justin hieß, das war uns das Verwunderlichste und das einzig Bemerkenswerte an ihm. Das war es auch, was meinem Erinnern die Handhabe bot.

Wie aus einer Versenkung tauchte neben dem verwachsenen Knaben das Einst herauf. Ich erschrak fast vor all der Deutlichkeit. Es war, als ob auf einer Heide, die seither der Blick ungehemmt überflog, 20 plötzlich Berge und Hügel, Bäume und Häuser emporgewachsen wären.

Ein Ahnen dämmerte in mir, wie bunt und reich, wie vielgegliedert und inhaltsschwer selbst ein ganz einfaches Leben ist, und wie nur das verhüllende Vergessen, das sich so rasch und dicht über die Einzelheiten senkt, uns hinwegtäuscht über diese Wahrheit, die wohl für jeden wieder einmal an den Tag kommt. Deutlich, als stünde er da, hörte ich den kleinen Justin neben mir auf einer blühenden Wiese zu uns andern etwas sagen von einer Heuschrecke. Weil aber der Verwachsene stotterte, so klang es Heuschre-schre. Und wir nannten ihn von Stund an den Heuschre-schre. –

Seine Mutter sah mir ins Gesicht, als lese sie meine Gedanken. Leise, und wie mir vorkam, traurig, sagte sie: »Heuschre-schre nennen sie ihn immer noch. Aber ihm machts nichts aus und mir auch nicht. Er ist ein guter Sohn. Er ist« – sie sah uns an, als lehne sie zum voraus jeden Widerspruch ab – »er ist ein sehr guter Mensch.«

»Das spürt man, wenn man gegen das Häuschen herkommt,« sagte ernsthaft und ruhig mein Freund. Dann fragte er: »Haben Sie nicht eine kleine Stärkung zur Hand? Ein Tröpfchen Wein, ein Schlückchen Milch?« –

Die Frau stand vom Bettrand auf. Ihr Gesicht war verlegen. »Wenn Ihnen mit einem Stückchen Zucker 21 gedient ist?« meinte sie und schaute fragend auf meinen Freund. Er lächelte mit einem Blick auf mich. »Für uns nicht. Wir sind reichlich spät aufgestanden und haben ausgiebig gefrühstückt. Aber mir kommt vor, als hätten Sie heute noch nichts gegessen.«

»Ich« – sie besann sich – »ja, ich habe in der Frühe mit Justin Kaffee getrunken, ehe er in die Spinnerei ging. Nachher habe ich die Stube sauber gemacht, die Hasen, die Vögel und die Igel gefüttert. Ueberm Nähen bin ich dann scheint's eingeschlafen. Meine Mutter hat immer gesagt: Ein kurzer Schlaf ist mehr als eine lange Mahlzeit.«

»Ihre Mutter war eine kluge Frau,« entgegnete mein Freund, »aber ein Schluck Milch könnte Ihnen jetzt gewiß nichts schaden.« Sie lachte ein wenig. »Ich habe den letzten Schluck den Igeln in den Scherben gegossen. Draußen neben dem Reisighaufen. Die warten drauf. Dafür fangen sie mir alle Mäuse weg. Ich setze mich in die Sonne, das gibt Kraft, hat meine Mutter gesagt.«

»Lassen Sie immer die Tür unverschlossen, wenn Sie so allein sind?« fragte mein Freund.

Sie schaute ihn verwundert an. »Warum denn nicht? Einem alten Weib wie mir tut niemand etwas. Und Fuggers Gut ist bei mir nicht zu holen. Ich wüßte auch nicht, daß in den dreißig Jahren, seit ich da wohne, ein einziges Mal ein schlechter Mensch 22 wäre vorbeigekommen« – sie unterbrach sich und setzte dann hinzu: »Ich meine einer, den man hätte fürchten müssen.«

»Haben Sie nur den einen Sohn, den Justin?« fragte ich. Sie blickte mich groß und verwundert an. »Ja – die Martha – wissen Sie denn nicht mehr – die Martha.«

Mir stieg das Blut in den Kopf unter ihrem Blick. Eine Sekunde lang war mir's, als müßte ich heucheln und tun, als erinnere ich mich klar dieser fernen Martha. Aber dann schämte ich mich doch dieses Gedankens. »Ach,« sagte ich, »es ist schon sehr lange her, und ich habe inzwischen viel erlebt.«

Sie lächelte. »Ja, ich glaub's! Da draußen geht es immer zu wie auf dem Jahrmarkt« – sie machte mit der Hand eine Bewegung, als deute sie in unbestimmte Weite – »da muß einem alles durcheinanderkommen und verschwimmen. Ich bin froh an meiner Einsamkeit.«

»Was wurde aus der Martha?« fragte ich nach einiger Zeit, weil ich mich so gern zurechtgefunden hätte im versunkenen Einst.

»Sie ist mit achtzehn nach Amerika. Schmidts Gustav, den Sie ja auch gekannt haben, hat sie kommen lassen. Sie haben drüben geheiratet. Er ist Gärtner bei einem Fabrikanten. Es geht ihnen gut. Zwei Kinder haben sie.« –

Schmidts Gustav! Es war auf einmal silberner 23 Mondschein um mich, und eine weiße Landstraße dehnte sich am Fuß eines waldigen Berges hin. Daneben glänzten des leise rauschenden Flusses Wellen und spiegelten das Bild des stillen Hüters der Frühlingsnacht.

Am Straßenrand aber kauerte eine dunkle Gestalt und blies auf der Mundharmonika leis und rein und mit der Sicherheit des Musikalischen Lied um Lied und Weise um Weise, als schöpfe sie aus einem ewig strömenden Quell.

Das war Schmidts Gustav.

Ich aber war, die Abwesenheit der Eltern benützend, daheim entwischt und saß mit ein paar abenteuerlichen Kindern der Gasse, die mir eine immer verwehrte und immer begehrte Gesellschaft waren, neben dem Musikanten, in die fremde, tiefe Schönheit der Nacht versunken.

Schmidts Gustav! – Er war eine Persönlichkeit in diesem Kreise. Sie redeten alle mit jenem besonderen Ton von ihm, den sie nur den Uebergeordneten gönnten, den Führenden. Ich habe Schmidts Gustav wohl nie bei Tageslicht gesehen. Keine Erinnerung wollte mir sagen, wie er aussah. Aber der Dunstkreis, der ihn umgab, seine Geltung, sein Wesen waren wieder für mich da, und ganz leise, wie ein begleitender Schatten, tauchte nun auch jene Martha wieder auf.

Wir waren jetzt aus der Stube wieder hinausgetreten. Die alte Frau setzte sich mit ihrem Nähzeug in 24 die Sonne. Sie lud uns ein, neben ihr auf dem Bänkchen, von dem sie das Kissen weggenommen hatte, Platz zu nehmen.

Mein Freund lächelte. »Wird es uns alle drei wohl tragen?«

Sie nickte. »Es ist von meiner Art. Sieht immer aus, als wolle es zusammenbrechen, und bleibt immer immer aufrecht. Ein wenig Krachen schadet nichts.«

Wir setzten uns. Es krachte ein wenig; aber das schadete nichts. Die Oase der blühenden Waldkirschen leuchtete hell aus den Tannen. Die alte Frau deutete danach. »Schön ist das jetzt wieder. Justin sagt immer, wie die weiße Strähne auf meinem Kopf sei es. Aber der sagt mir lauter solche Sachen. An seiner Mutter ist dem alles schön, alle Flecken und Krähenfüße. Ich muß ihn dabei lassen. Ihn freut's und mich macht's nicht eitel.«Wie sie das sagte, hatte die Alte ein ganz edles und frohes Gesicht. Das mochte wohl sein, weil die große Liebe zu ihrem verwachsenen Sohn darüber hinleuchtete.

In mir wachte jene alte Kinderneugierde wieder auf, die es fertiggebracht hat, daß mir die Frau mit der weißen Haarsträhne im Gedächtnis geblieben war.

»Man sagt,« begann ich vorsichtig, »ein jäher Schrecken oder ein jäher Schmerz könne den Menschen das Haar bleichen. Aber woher beim Wald die weiße Platte kommt« – ich lachte und wurde rot, weil 25 Freund mir, wie mir schien, spöttisch ins Gesicht blickte.

Die Frau hob den Kopf und ließ ihr Nähzeug sinken. »Oh,« sagte sie, »beim Wald ist's ganz das gleiche. In dem Jahr, als mir das geschah« – sie deutete nach ihren weißen Haaren – »ist auch das andere geschehen. Es zog ein Wetter daher, ich sah es kommen und sah, daß es schwer war, der Blitz fuhr herab, und es flammte dort im Wald. Flößer vom Fluß und Waldarbeiter haben das Feuer gelöscht. Dann sind, wie über Nacht, die wilden Kirschen dort gewachsen. Mein Justin ist in dem gleichen Jahre geboren.«

Sie schwieg, und ich mochte nicht mehr fragen, weil so viel Schwere in ihrem Ton lag. Aber dann fing sie von selbst wieder an. »Damals, als Sie mit Ihrem Vater manchmal an mir vorüberkamen, hat es noch gebrannt in mir. Seither sind auch die wilden Kirschen gewachsen wie dort aus der Blöße.«

»Sie hatten aber damals schon das Weiß in Ihren Haaren,« sagte ich, froh, ihr zeigen zu können, daß ich sie beachtet und nicht, wie die Martha, völlig vergessen hatte.

Sie nickte. »Ja, das habe ich seit dem Tag, da der Blitz bei mir einschlug. Seit mein Mann in den Fluß ist. Es haben ihn Lumpen hineingetrieben. Meine Martha war zwei Jahre alt, mein Justin noch gar nicht geboren. Ich bin dagestanden, ganz arm und 26 verlassen. Zuerst war ich wie lahm. Und dann wie wild. Für den Toten und für mich habe ich Gerechtigkeit gesucht. Und keine finden können.« Sie blickte an uns vorüber in den Wald hinein. Man sah ihrem Gesicht plötzlich an, welcher Leidenschaft die Frau fähig war. Dann glitt es wie lächelnde Ruhe über ihre Züge.

»Ein alter Mann, ein guter Nachbar, hat mir dann gesagt: Wenn Ihr Kind ein Bub ist, heißen Sie ihn Justin, ist's ein Mädchen – Justine. Dann haben Sie Ihre Gerechtigkeit.

So habe ich's gemacht, und in diese Einsamkeit bin ich gezogen. Die Hütte hat jenem guten Nachbar gehört, einem Bauwerkmeister, der sie vor vielen Jahren für seine Steinbrecher gebaut hat. Er hat sie mir überlassen aus Mitleid.«

»Es war wohl der alte Berthold Richter?« fragte mein Freund leise.

»Ja, der war's. Haben Sie den gekannt?« –

»Er war mein Großvater.« –

Wir saßen verstummt und ergriffen, und es rauschte vom Tannenhang herüber so feierlich und geheimnisvoll, als grüßten Stimmen aus anderen Lebenstiefen, anderen Welten. Auf einmal sahen wir, wie der alten Frau die Tränen übers Gesicht rollten. Wir taten, als bemerkten wir es nicht, und schauten schweigend in die sonnige Stille hinein, in diesen tiefen Frieden, von dem man im lärmenden Getriebe der Stadt nichts weiß. 27

Und wie sich so gar nichts rührte ringsum, knisterte es kaum hörbar in dem Reisighaufen, und das zierliche Schnäuzchen, der kluge Kopf eines Igels wurden sichtbar. Zögernd und mißtrauisch erst, dann rasch und zuversichtlich kam das schöne, seltsame, wehrhafte Tierchen an den Scherben herangeschritten und machte sich über den Milchrest.

Es war zum erstenmal, daß ich einen Igel unaufgerollt und richtig lebendig sah. Wie im Märchen kam es mir vor, und es bewegte mir das Herz auf sonderbare Weise. Mir kam zum Bewußtsein, wie fremd unsere Menschenwelt neben der Welt der Tiere hergeht. Wie sie, die doch unsere Mitgeschöpfe und die Kinder der gleichen Erde, der gleichen Sonne sind, scheu, entrechtet und angstvoll unsere Pfade meiden, unsere Nähe fürchten und ihr ganzes Leben verborgen vor uns führen.

Die alte Frau neben mir berührte meinen Arm und deutete nach der Fichte, in deren dürren Wipfel die Wursthäute gebunden waren. Da sah ich kleine Vögel an diesem wunderlichen Baumschmuck hängen, wie sie emsig pickend, zerrend und fressend an ihrer Beute schaukelten. Das alles war mir so neu, so wunderbar und geheimnisvoll, daß ich mir auf einmal wie verzaubert vorkam. Ich hielt fast den Atem an, um die Tierlein nicht zu stören, nicht scheu zu machen, und eine Angst war in mir, irgendein frecher Laut möchte 28 in die Stille hereinbrechen und mein Märchen versinken lassen. Gelbe, spielende Schmetterlinge gaukelten an unserem Bänkchen vorüber, die Hasen in ihrem Ställchen saßen lautlos am Gitter und schnupperten mit zitternden Schnäuzchen, der Igel schmatzte, und in der Ferne schrie der Nußhäher. Dann aber kam das Allerschönste. Das, was wir schier selbst nicht glauben konnten, von dem wir erst meinten, es äffe uns ein Schalk.

Ganz nahe, so nahe und laut, daß wir zusammenschraken, klang es plötzlich: Kuckuck, Kuckuck.

Mein Freund preßte meinen Arm. Ich spürte, wie mir ganz kalt wurde vor seltsamer Ergriffenheit. Die Augen riß ich auf, um ihn zu suchen, den sagenhaften, geheimnisvollen Gesellen des Frühlings und der Waldestiefe, den so selten ein Lebendiger erblickt.

Und da, im Tannengeäst, nahe am Stamm und kaum von ihm abgehoben, saß ein braungrauer, stark amselgroßer Vogel mit steil aufgerecktem Schwanz und schrie den trauten, alten, frühlingsseligen Ruf. –

Ich weiß nicht, ob es lange währte oder kurz. Mir kam es vor, als sei keine Zeit mehr da und kein Alltag.

Dann ein leises Rauschen in den Tannen, und der Märchenvogel war verschwunden. Und auch der Igel hatte sich davongemacht, und nur der säuberlich geleerte Scherben bezeugte, daß ich nicht geträumt hatte.

Ich atmete tief auf. Eine große Dankbarkeit und 29 Freude über dieses Erlebnis war in mir. Es kam mir vor, als hätte ich in eine Stube blicken dürfen, die Gott sonst vor den Menschen verschlossen hält, weil sie ihm leicht Unfug darin anrichten.

Die dunklen Augen der Frau sahen mich leuchtend an. »Ist das nicht schön? Schöner als alles, was man mit Geld kaufen kann? Wir sind reich, ich und mein Justin.«

»Ja,« meinte mein Freund, »mancher denkt nicht, wenn er die alte Hütte von weitem sieht, daß so reiche Leute darin wohnen. Schmutzige Stuben und verwahrloste Kinder schweben denen vor, die dort drüben vorübergehen.«

Die Frau konnte nicht wissen, daß das ein Hieb auf mich war. Sie nickte. »Ja, man lebt aneinander vorbei auf dieser Welt. Keiner weiß viel vom andern. Ist auch bei den meisten nicht der Mühe wert, daß man sich um sie kümmert.« Sie sagte das bitter und mit einem feindseligen Aufblitzen in den Augen. »Oho,« verwahrte sich mein Freund, »was die Igel und die Meisen und Finken wert sind, werden wohl auch noch Menschen wert sein, sollte ich meinen.«

Sie schaute weg. »Sie sind noch jung. Ihnen ist noch nicht alles zerstampft und zertreten worden. Sie können nicht wissen, wie das ist.«

Es blieb ganz still, nur das tiefe Rauschen der Tannen kam vom Hang. Dann lächelte die Alte. »Es ist ja 30 schön,« sagte sie, »daß Sie den guten Glauben haben. Mein Justin hat ihn auch. Wenn man den Weg erst anfängt, muß man noch frische Beine und Wanderlust haben; aber ich.« – – Sie schüttelte den Kopf.

»Sie schlafen in Ihrer Stube und schließen nicht einmal die Tür. Wenn das kein guter Glaube ist!« – entgegnete lachend mein Freund. Sie sah ihn verwundert an. »Ach, deshalb! Das ist wieder 'was anderes. Mir tut niemand etwas.«

»Oho,« rief er, »ich habe mich stark besonnen, ob ich Sie nicht etwa erdrosseln und die Kostbarkeiten in der Stube mitnehmen soll. Wäre ich allein gewesen – wer weiß!«

Nun lachte auch sie. »Ihr Großvater wäre Ihnen da im Weg gestanden. Er läßt es nicht zu, daß unter seinen Augen ein Unrecht geschieht. Die ganze Hütte hält er uns sauber, sagt mein Justin.«

Sie stand auf, ganz rasch und wie jung geworden, und holte aus der Stube ein kleines Bild, das sie uns hinreichte.

Wir sahen stumm und fast andächtig darauf nieder. Es war das Jugendbildnis eines Mannes, den der Enkel selbst kaum noch gekannt hatte.

Ein volles, kräftiges Gesicht mit breiter Stirn unter glatt zurückgekämmtem Haar, starker Nase und energischem und doch feinem Mund. Lebensvoll, klug und gütig zugleich schauten die Augen uns entgegen. 31 Der hohe Vatermörder und die schön geknotete Halsbinde standen dem jungen und doch schon gereiften Gesicht vortrefflich, gaben ihm eine merkwürdige Gediegenheit, eine ruhige Würde. Es war wirklich, als ob dieses Bild vom Unrecht zurückhalten könne, als ob sich unter diesen Augen nichts Schlechtes ans Licht getraue.

»Wie kommen Sie dazu?« fragte mein Freund, nachdem wir es lange schweigend betrachtet hatten.

Ein heller Schein glitt über das Gesicht der alten Frau.

»Am ersten Sonntag ist es gewesen, als ich da außen wohnte. Ein Tag im Mai wie heute; sonnig und schön und still. Aber in mir war's nicht sonnig, nicht schön, nicht still. Einen ganzen Berg von Haß hatte ich mit in die Einsamkeit geschleppt. Da sah ich nichts von dem Maientag. Sah nur mein dunkles Elend.

Am Abend kam der Nachbar, Ihr Großvater. Wie ich mich eingerichtet hatte, wollte er sehen. Er war selber ein einsamer Mann, darum dachte er an die Einsamen.

In der Stube lagen meine beiden Kinder im Bett und schliefen. Er sah lange über sie hin, sehr lange. Nachher stand er mitten in der Stube und sagte: »Dort das Bett mit den beiden und der Spiegel über der Bank, das sind Ihre Kostbarkeiten, Nachbarin. Sie haben für nichts zu sorgen als dafür, daß aus 32 dem Bett und dem Spiegel immer freundliche Augen Ihnen entgegenblicken, dann sind Sie reich wie Salomon.« Ich mußte den Kopf schütteln, denn mir war's nicht, als ob ich es noch einmal so weit bringen könnte.

»Ach,« sagte er, »Sie glauben mir wohl nicht? Machen Sie ein Rosenkränzlein um den Spiegel. Das hat meine Mutter immer getan. Sie hat gesagt: Zwischen Rosen kann keiner ein böses Gesicht sehen, darum lacht, wer bei mir in den Spiegel schaut. Und dann hat sie noch eines ganz guten Freundes Bild daneben gehängt. Davon werden die Augen hell.«

Müde und mutlos, wie ich war, sagte ich darauf: »Eines guten Freundes Bild hat kein Bettelweib.«

Er gab keine Antwort darauf und sprach von anderen Dingen. Nach ein paar Tagen ist dieses Bild da unter meinem Spiegel gehangen. Heut' noch weiß ich nicht, wie es hinkam.«

Mein Freund stand auf. Sein Gesicht war ganz bleich, seine Augen glänzten. »Frau,« sagte er, »uns geht es heute wie Saul, als er seines Vaters Esel suchte. Ein wenig abseits wollten wir gehen, und nun sind wir in eine ganz andere Welt geraten. Mein Großvater begegnet mir da mit einem neuen, mir unbekannten Gesicht. Für mich war er immer nur ein tüchtiger Mann und begüterter Steinbruchbesitzer, der seiner Tochter, meiner verstorbenen Mutter, ein schönes 33 Erbe hinterließ. Mir scheint jetzt, er hat noch anderes hinterlassen.«

Die Alte nahm das kleine Bild wieder zu sich. »Er hat hinterlassen, was man nicht zählen und schätzen kann,« sagte sie leise und erhob sich; »von ihm gilt's: Das Gedächtnis des Gerechten bleibet im Segen.«

In die tiefe Stille herein, in der man der Zeit vergaß, klang jetzt der schrille, ferne Klang einer Fabriksirene. Mein Freund sah nach der Uhr und trieb zum Aufbruch. Die alte Frau lächelte. »Wie hab ich's doch so gut, daß ich nicht mit hinaus muß!«

Wir nahmen Abschied und versprachen ein Wiederkommen. »Grüßen Sie Justin,« sagte ich, und dann fiel mir ein, daß sie doch nicht wissen konnte, von wem. »Sagen Sie, ein Stück Kinderzeit sei dagewesen,« setzte ich hinzu.

Sie schaute uns freundlich nach und legte dann ihr ärmliches Bettstück wieder auf das Bänkchen.

Weiter unten im Tal sahen wir einen verwachsenen, kleinen Mann durch die Wiesen schreiten. Er sang mit heller Stimme: »Im schönsten Wiesengrunde steht meiner Heimat Haus.«

»Justin,« sagte ich und wollte auf ihn warten. Aber mein Freund wies mir seine Uhr vor.

Da packte mich ein großer Neid auf die Menschen aus dem schönsten Wiesengrunde, die nicht eingeschmiedet sind in die erbarmungslosen Fesseln der 34 Stunden und Minuten, Neid auf die Genossen der Igel, der Häher, der Meisen und des scheuen Kuckucks.

Zwei kleine Mädchen saßen am Straßenrand. Ich deutete auf den Singenden zwischen dem hohen Gras. »Wer ist es?«

»Der Heuschre-schre,« antworteten sie freundlich, als müsse das jedem Menschen genügen. 35



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